Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb - Sue Townsend - E-Book

Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb E-Book

Sue Townsend

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Beschreibung

An dem Tag, als ihre geliebten Zwillinge ausziehen, entschließt sich Eva Beaver ins Bett zu gehen und nicht mehr aufzustehen. In den 17 Jahren, in denen sie sich um ihre Kinder, ihren Mann, den Haushalt und um das tägliche Abendbrot sorgte, dachte sie immer wieder an eine Flucht aus dem täglichen Trott. Nun ist ihre Chance, der große Tag für den Streik, gekommen: Eva bleibt im Bett. Ehemann Brian, der zwischen seinem Job als Astronom und seiner Affäre hin und her eilt, ist nicht gerade begeistert. Entweder muss Eva einen Nervenzusammenbruch haben oder verrückt geworden sein. Doch die Nachricht von ihrem Ausstieg verbreitet sich wie ein Lauffeuer, vor Evas Haustür versammeln sich begeisterte Anhänger und skurrile Besucher kündigen sich an. Ein höchst komischer Roman über den Rückzug von alltäglichen Anforderungen und über die tragikomischen Absurditäten des modernen Familienlebens, der sich in England in den ersten sechs Monaten über 150.000 mal verkaufte.

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SUE TOWNSEND

Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb

SUE TOWNSEND

Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHENVONJULIANE ZAUBITZER

Die englische Orignalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »The Women who Went to Bed for a Year« bei Penguin Books, London. Copyright © Sue Townsend.

Für meine Mutter Grace

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage, August 2013

© 2013 Haffmans & Tolkemitt GmbH, Inselstraße 12, D-10179 Berlinwww.haffmans-tolkemitt.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile.

Lektorat: Katharina Theml, Büro Z, Wiesbaden. Umschlag von Hendrik Hellige. Herstellung von Urs Jakob, Werkstatt im Grünen Winkel, CH-8400 Winterthur. Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten. E-Pub conversion by Calidad Software Services, Puducherry, India

ISBN 978-3-942989-53-4E-Book ISBN: 978-3-942989-57-2

»Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schweren Kampf.«

Platon und vielen anderen zugeschrieben

1

Nachdem sie weg waren, schob Eva den Riegel vor die Tür und stöpselte das Telefon aus. Sie liebte es, das Haus für sich allein zu haben. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, räumte und wischte und stellte Tassen und Teller weg, die ihr Mann und die Kinder überall stehen gelassen hatten. Jemand hatte einen Esslöffel auf die Lehne ihres Lieblingssessels gelegt – den sie bei einem Volkshochschulkurs selbst bezogen hatte. Sofort ging sie in die Küche und studierte den Inhalt der Kiste mit den Putzmitteln.

»Womit könnte ein Heinz-Tomatensuppenfleck aus besticktem Seidendamast rausgehen?«

Während sie suchte, machte sie sich selbst Vorhaltungen. »Du bist selbst schuld. Du hättest den Sessel im Schlafzimmer lassen sollen. Es war pure Eitelkeit, ihn ins Wohnzimmer zu stellen. Du wolltest, dass er Gästen auffällt, damit du erzählen kannst, dass du zwei Jahre daran gestickt hast und dass dich Claude Monets ›Wasserlilienteich‹ dazu inspiriert hat.«

Allein für die Bäume hatte sie ein Jahr gebraucht.

Auf dem Küchenfußboden befand sich eine kleine Tomatensuppenpfütze, die sie erst bemerkte, nachdem sie reingetreten war und orangefarbene Fußspuren hinterließ. In dem kleinen beschichteten Kochtopf auf der Herdplatte köchelte immer noch die Hälfte der Tomatensuppendose vor sich hin. »Zu faul, einen Topf vom Herd zu nehmen«, dachte sie. Dann fiel ihr ein, dass die Zwillinge von nun an das Problem der Universität Leeds waren.

Sie erhaschte ihr Spiegelbild im rußigen Glas des Wandbackofens. Eilig wandte sie den Blick ab. Hätte sie länger hingeschaut, hätte sie eine fünfzigjährige Frau gesehen mit hübschen, zarten Gesichtszügen, hellen, neugierigen Augen und einem Clara-Bow-Mund, der immer so aussah, als wollte er gerade etwas sagen. Niemand – nicht einmal Brian, ihr Mann – hatte sie je ohne Lippenstift gesehen. Eva fand die roten Lippen einen schönen Kontrast zu den schwarzen Sachen, die sie gewöhnlich trug. Manchmal gestattete sie sich auch ein wenig Grau.

Einmal war Brian nach Hause gekommen, als Eva in ihren schwarzen Gummistiefeln im Garten stand, in der Hand ein Bündel Steckrüben, das sie gerade gezogen hatte. »Mein Gott, Eva!«, hatte er gesagt. »Du siehst aus wie Polen nach dem Krieg.«

Ihr Gesicht war gerade in Mode. »Vintage«, so das Mädchen am Chanel-Stand, wo sie ihren Lippenstift kaufte (wobei sie nie vergaß, den Kassenzettel wegzuwerfen – ihr Mann hätte den unverschämten Preis nicht verstanden).

Sie nahm den Topf, ging von der Küche ins Wohnzimmer und kippte die Suppe über ihren geliebten Sessel. Dann ging sie nach oben ins Schlafzimmer, legte sich, ohne sich ihrer Kleider oder Schuhe zu entledigen, ins Bett und blieb ein Jahr darin.

Sie wusste nicht, dass es ein Jahr sein würde. Sie hatte nach einer halben Stunde wieder aufstehen wollen, aber das Bett war so gemütlich, die weißen Laken waren so frisch und dufteten nach Neuschnee. Sie drehte sich zum offenen Fenster und sah zu, wie der Ahorn im Garten seine flammend roten Blätter verlor.

Sie hatte den September immer geliebt.

Sie wachte auf, als es dunkel wurde, und hörte ihren Mann draußen schreien. Ihr Handy klingelte. Auf dem Display sah sie, dass es ihre Tochter Brianne war. Sie ignorierte den Anruf. Sie zog die Decke über den Kopf und sang den Text von Johnny Cashs »I Walk The Line«.

Als sie das nächste Mal den Kopf unter der Decke hervorstreckte, hörte sie die aufgeregte Stimme von Julie, der Nachbarin von nebenan: »Das gehört sich nicht, Brian.«

Sie standen im Vorgarten.

Ihr Mann sagte: »Ich meine, ich bin ganz bis nach Leeds gefahren, und zurück, ich brauche eine Dusche.«

»Natürlich.«

Eva dachte über diesen Wortwechsel nach. Warum benötigte man nach einer Fahrt nach Leeds (und zurück) eine Dusche? War die Luft im Norden schmutziger? Oder hatte er auf der M1 geschwitzt? Die Lastwagenfahrer verflucht? Drängler beschimpft? Wütend die Wetterlage angeprangert?

Sie schaltete die Nachttischlampe an.

Darauf ging das Geschrei draußen weiter. »Lass den Scheiß und mach die Tür auf.«

Ihr wurde klar, dass sie, obwohl sie nach unten gehen und ihn reinlassen wollte, das Bett nicht verlassen konnte. Es kam ihr vor, als wäre sie in einen Bottich warmen, schnellhärtenden Beton gefallen und als könnte sie

sich nicht bewegen. Sie fühlte, wie sich eine köstliche Trägheit in ihrem Körper ausbreitete, und dachte: »Ich wäre verrückt, wenn ich dieses Bett verlassen würde.«

Sie hörte Glas splittern und kurz darauf Brian auf der Treppe.

Er rief ihren Namen.

Sie antwortete nicht.

Er öffnete die Schlafzimmertür. »Da bist du ja«, sagte er.

»Ja, hier bin ich.«

»Bist du krank?«

»Nein.«

»Warum liegst du mit Klamotten im Bett? Was willst du damit erreichen?«

»Keine Ahnung.«

»Du hast das Empty-Nest-Syndrom. Ich habe im Radio eine Sendung darüber gehört.« Als sie nicht reagierte, sagte er: »Also, stehst du jetzt auf?«

»Nein, hab ich nicht vor.«

Er fragte: »Was ist mit Abendessen?«

»Nein danke, keinen Hunger.«

»Ich meinte, was ist mit meinem Abendessen? Ist was da?«

Sie sagte: »Keine Ahnung, sieh in den Kühlschrank.«

Er stapfte nach unten. Sie hörte seine Schritte auf dem Laminat, das er im Jahr zuvor so unbeholfen verlegt hatte. Sie hörte am Knarren der Dielen, dass er ins Wohnzimmer gegangen war. Binnen kurzem kam er wieder nach oben gestapft.

»Was zum Teufel ist mit deinem Sessel passiert?«, fragte er.

»Jemand hat einen Esslöffel auf die Lehne gelegt.«

»Das ganze Ding ist voll mit Suppe.«

»Ich weiß. Das war ich.«

»Du hast die Suppe drübergekippt?«

Eva nickte.

»Du hast einen Nervenzusammenbruch, Eva. Ich ruf deine Mutter an.«

»Nein!«

Die Wucht ihrer Stimme ließ ihn zusammenzucken.

Sein schockierter Blick verriet, dass seine traute heimische Welt nach fünfundzwanzig Jahren zerbrochen war. Er ging nach unten. Sie hörte ihn über das ausgestöpselte Telefon schimpfen, dann, kurz darauf, wie er eine Nummer wählte. Als sie den Hörer des Schlafzimmeranschlusses abnahm, meldete sich ihre Mutter umständlich mit ihrer Telefonnummer: »0116 2 444 333, Mrs. Ruby Brown-Bird am Apparat.«

Brian sagte: »Ruby, hier ist Brian. Du musst sofort herkommen.«

»Geht nicht, Brian. Ich lasse mir gerade eine Dauerwelle legen. Was ist denn los?«

»Es geht um Eva …« Er senkte die Stimme. »… Ich glaube, sie ist krank.«

»Dann ruf einen Krankenwagen«, sagte Ruby gereizt.

»Rein körperlich ist alles mit ihr in Ordnung.«

»Na, dann ist ja gut.«

»Ich komme und hol dich ab, dann kannst du es selbst sehen.«

»Brian, ich kann nicht. Ich gebe eine Dauerwellenparty, und in einer halben Stunde muss ich meine Spezialmischung ausspülen. Sonst sehe ich aus wie Harpo Marx. Hier, sprich mit Michelle.«

Nach ein paar gedämpften Lauten kam eine junge Frau an den Apparat.

»Hallo … Brian, nicht wahr? Ich bin Michelle. Darf ich Ihnen erklären, was passiert, wenn Mrs. Bird in diesem Stadium die Dauerwelle abbricht? Ich bin zwar versichert, aber es käme mir höchst ungelegen, wenn ich vor Gericht erscheinen müsste. Ich bin bis Silvester ausgebucht.«

Der Hörer wurde Ruby zurückgereicht. »Brian, bist du noch dran?«

»Ruby, sie liegt vollständig bekleidet mit Schuhen und Strümpfen im Bett.«

»Ich habe dich gewarnt, Brian. Wir standen vor der Kirche und wollten gerade reingehen, und ich habe mich umgedreht und zu dir gesagt: ›Unsere Eva ist ein stilles Wasser. Sie redet nicht viel, und du wirst nie erfahren, was sie denkt …‹« Nach einer langen Pause sagte Ruby: »Ruf deine eigene Mutter an.«

Die Leitung wurde unterbrochen.

Eva war schockiert, dass ihre Mutter in letzter Sekunde einen Versuch unternommen hatte, ihre Hochzeit zu sabotieren. Sie griff nach ihrer Handtasche und durchforstete den Inhalt nach etwas Essbarem. Sie hatte immer etwas zu essen dabei. Das hatte sie sich angewöhnt, als die Zwillinge noch klein und immer hungrig waren, ihre offenen Münder wie die Schnäbel von Vogelküken. Eva fand eine zerquetschte Chipstüte, einen flach gedrückten Bounty-Riegel und eine halbe Rolle Polos.

Sie hörte Brian erneut wählen.

Brian war immer leicht nervös, wenn er seine Mutter anrief. Es fiel ihm schwer, die Worte zu formen. Irgendwie schaffte sie es immer, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, egal um was es bei dem Gespräch ging.

Seine Mutter antwortete prompt mit einem zackigen »Ja?«

Brian sagte: »Bist du das, Mami?«

Eva griff erneut nach dem Hörer, wobei sie vorsichtig die Hand über die Sprechmuschel legte.

»Wer soll es denn sonst sein? Niemand außer mir geht in diesem Haus ans Telefon. Ich bin sieben Tage die Woche allein.«

Brian sagte: »Aber … äh … du … äh … hast nicht gern Besuch.«

»Nein, ich hab nicht gern Besuch, aber es wäre schön, jemanden zu haben, den man abweisen kann. Wie auch immer, worum geht’s? Ich sehe gerade Emmerdale.«

Brian sagte: »Tut mir leid, Mami. Willst du mich zurückrufen, wenn die Werbung kommt?«

»Nein«, sagte sie. »Bringen wir es hinter uns, was es auch ist.«

»Es geht um Eva.«

»Ha! Warum bin ich nicht überrascht? Hat sie dich verlassen? Schon als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich, dass sie dir das Herz brechen würde.«

Brian fragte sich, ob sein Herz je gebrochen worden war. Es fiel ihm schwer, Gefühle einzuordnen. Als er sein erstes Diplom mit Auszeichnung nach Hause gebracht und seiner Mutter gezeigt hatte, meinte ihr damaliger Freund: »Du musst sehr glücklich sein, Brian.«

Brian hatte genickt und ein Lächeln aufgesetzt, doch in Wahrheit fühlte er sich kein bisschen glücklicher als am Tag zuvor, an dem nichts Bemerkenswertes vorgefallen war.

Seine Mutter hatte die Urkunde vorsichtig in die Hände genommen und gesagt: »Du wirst Mühe haben, einen Job zu finden. Es gibt Astronomen mit weit besseren Qualifikationen, die keine Arbeit finden.«

Jetzt klagte Brian: »Eva hat sich ins Bett gelegt. Mit Schuhen und Strümpfen.«

Seine Mutter sagte: »Ich kann nicht sagen, dass mich das überrascht, Brian. Sie hat schon immer versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Erinnerst du dich noch, wie wir Ostern 1986 zusammen im Wohnwagen waren? Sie hatte einen Koffer voller Beatnik-Klamotten dabei. In Wells-Next-The-Sea trägt man doch keine Beatnik-Klamotten. Alle haben sie angestarrt.«

Eva schrie von oben. »Du hättest meine schönen schwarzen Sachen nicht ins Meer werfen dürfen!«

Brian hatte seine Frau noch nie schreien hören.

Yvonne Biber fragte: »Was ist das für ein Geschrei?«

Brian log. »Das ist der Fernseher. Irgendjemand hat bei Eggheads gerade viel Geld gewonnen.«

Seine Mutter sagte: »Die Ferienkleider, die ich ihr gekauft habe, standen ihr.«

Während Eva lauschte, erinnerte sie sich, wie sie die hässlichen Kleidungsstücke ausgepackt hatte. Sie hatten gerochen, als hätten sie jahrelang in einem feuchten Lagerhaus in Fernost gelegen, und die Farben waren in grellen Lila-, Rosa- und Gelbtönen gehalten. Außerdem gab es ein Paar Schuhe, das für Eva aussah wie Herrensandalen, und einen beigefarbenen Rentneranorak. Als sie die Sachen anprobierte, sah sie gleich zwanzig Jahre älter aus.

Brian sagte zu seiner Mutter: »Ich weiß nicht, was ich machen soll, Mami.«

Yvonne sagte: »Wahrscheinlich ist sie betrunken. Lass sie ihren Rausch ausschlafen.«

Eva warf das Telefon quer durchs Zimmer und schrie: »Es waren Herrensandalen, die sie mir in Wells- Next-The-Sea gekauft hat! Ich habe Männer damit gesehen. Mit weißen Socken! Du hättest mich vor ihr beschützen sollen, Brian! Du hättest sagen sollen: ›Nie im Leben zieht meine Frau so hässliche Sandalen an!‹«

Sie hatte so laut geschrien, dass ihr der Hals wehtat. Sie rief nach unten und bat Brian, ihr ein Glas Wasser zu bringen.

Brian sagte: »Warte kurz, Mami. Eva möchte ein Glas Wasser.«

Am anderen Ende der Leitung fauchte seine Mutter: »Untersteh dich, ihr das Wasser zu bringen, Brian! Sonst bist du selbst schuld. Sag ihr, sie soll sich ihr Wasser selbst holen!«

Brian wusste nicht, was er tun sollte. Während er im Flur zauderte, sagte seine Mutter: »Ich kann auf die Faxen verzichten. Mein Knie macht Ärger. Ich bin kurz davor, den Arzt anzurufen und ihn zu bitten, mein Bein zu amputieren.«

Er nahm das Telefon mit in die Küche und drehte den Kaltwasserhahn auf.

Seine Mutter fragte: »Hör ich da etwa den Wasserhahn?«

Wieder log Brian. »Ich stell nur Blumen in eine Vase.«

»Blumen! Ihr könnt froh sein, dass ihr euch Blumen leisten könnt.«

»Sie sind aus dem Garten, Mami. Eva hat sie selbst ausgesät.«

»Ihr könnt froh sein, dass ihr einen Garten habt.«

Dann war die Leitung tot. Seine Mutter verabschiedete sich nie.

Er ging mit dem Glas Wasser nach oben. Als er es Eva gab, trank sie einen kleinen Schluck, dann stellte sie es auf den überfüllten Nachttisch. Brian stand unentschlossen am Fuß des Bettes. Es gab niemanden, der ihm sagte, was er tun sollte.

Fast tat er ihr leid, aber nicht genug, um aufzustehen. Stattdessen sagte sie: »Warum gehst du nicht nach unten und siehst deine Sendungen?«

Brian war ein leidenschaftlicher Fan von Eigenheimsendungen. Kirstie und Phil waren seine Helden. Ohne Evas Wissen hatte er Kirstie geschrieben, dass sie immer so hübsch aussah, und ob sie mit Phil verheiratet sei oder ob ihre Beziehung rein beruflich sei? Drei Monate später hatte er einen Brief erhalten, in dem stand: »Danke für Ihr Interesse«, unterschrieben mit »Ihre Kirstie«. Dem Schreiben lag ein Foto von Kirstie bei. Sie trug ein rotes Kleid mit alarmierend tiefem Ausschnitt. Brian bewahrte das Foto in einer alten Bibel auf. Er wusste, dort war es sicher. Niemand schlug sie je auf.

Später am Abend zwang eine volle Blase Eva aus dem Bett. Sie zog einen Schlafanzug an, den sie für unvorhergesehene Krankenhausaufenthalte aufgehoben hatte. Den Rat hatte sie von ihrer Mutter. Ihre Mutter war der Überzeugung, mit qualitativ hochwertigem Bademantel, Schlafanzug und Kulturbeutel wurde man von Krankenschwestern und Ärzten besser behandelt als die Ferkel, die mit schäbigen Sachen in einer Plastiktüte eingeliefert wurden.

Eva legte sich wieder ins Bett und fragte sich, was ihre Kinder an ihrem ersten Abend an der Uni wohl so trieben. Sie stellte sich vor, dass sie weinend und krank vor Heimweh beisammen saßen, so wie an ihrem ersten Tag im Kindergarten.

2

Brianne befand sich in der Gemeinschaftsküche des Wohnheims, die gleichzeitig Aufenthaltsraum war. Bisher hatte sie einen Jungen kennengelernt, der wie ein Mädchen angezogen war, und eine Frau, die wie ein Mann angezogen war. Die beiden unterhielten sich über Clubs und Musiker, von denen sie noch nie gehört hatte.

Brianne besaß eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und hörte schon bald nicht mehr zu, nickte aber und sagte »cool«, wenn es angebracht schien. Sie war ein großes Mädchen mit breiten Schultern, langen Beinen und großen Füßen. Ihr Gesicht war größtenteils hinter einem langen strähnigen Pony versteckt, den sie sich nur aus den Augen strich, wenn sie tatsächlich etwas sehen wollte.

Ein verwahrlostes Mädchen in einem Maxikleid mit Leopardenmuster und braunen Ugg-Boots kam herein und stopfte eine prall gefüllte Tüte von Holland & Barrett in den Kühlschrank. Ihr Kopf war zur Hälfte rasiert, und auf den Schädel war ein gebrochenes Herz tätowiert. Die andere Hälfte war ein schlecht gefärbter, einseitiger, grüner Vorhang.

Brianne sagte: »Tolles Haar. Hast du das selbst gemacht?«

»Mein Bruder hat mir dabei geholfen«, sagte das Mädchen. »Er ist schwul.«

Am Ende jedes Satzes hob das Mädchen die Stimme, als würde sie die Richtigkeit ihrer eigenen Aussagen ständig in Zweifel ziehen.

Brianne fragte: »Kommst du aus Australien?«

Das Mädchen rief: »Gott! Nein!«

Brianne sagte: »Ich bin Brianne.«

Das Mädchen sagte: »Ich bin Poppy. Brianne? Den Namen hab ich noch nie gehört.«

»Mein Vater heißt Brian«, sagte Brianne ausdruckslos. »Ist es schwer, in so einem Maxikleid zu laufen?«

»Nein«, sagte Poppy. »Wenn du willst, kannst du es anprobieren. Vielleicht passt es dir, es dehnt sich.«

Sie zog sich das Maxikleid über den Kopf und stand in BH und Unterhose da. Beides sah aus wie aus scharlachrotem Spinnennetz. Sie schien keinerlei Hemmungen zu haben. Brianne hatte reichlich Hemmungen. Sie hasste alles an sich: Gesicht, Hals, Haare, Schultern, Arme, Hände, Fingernägel, Bauch, Brüste, Brustwarzen, Taille, Hüfte, Oberschenkel, Knie, Waden, Fesseln, Füße, Zehennägel und ihre Stimme.

Sie sagte: »Ich probier’s in meinem Zimmer an.«

»Du hast tolle Augen«, sagte Poppy.

»Findest du?«

»Trägst du grüne Kontaktlinsen?«, fragte Poppy. Sie starrte Brianne ins Gesicht und schob den Pony zur Seite.

»Nein.«

»Tolles Grün.«

»Findest du?«

»Hammer.«

»Ich muss abnehmen.«

»Stimmt. Mit Abnehmen kenn ich mich aus. Ich bring dir bei, wie man sich nach jeder Mahlzeit übergibt.«

»Ich will keine Bulimikerin sein.«

»Für Lily Allen war es gut genug.«

»Ich hasse es, mich zu übergeben.«

»Aber wenn man dafür dünn ist? Du kennst doch den Spruch: ›Man kann nie zu reich oder zu dünn sein.‹«

»Wer sagt das?«

»Ich glaube, es war Winnie Mandela.«

Poppy folgte Brianne in ihr Zimmer, noch immer in Unterwäsche. Auf dem Flur trafen sie Brian junior, der gerade die Tür zu seinem Zimmer abschloss. Er starrte Poppy an und sie starrte zurück. Er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Sie warf die Arme über den Kopf und nahm eine Glamourgirl-Pose ein, in der Hoffnung, dass Brian ihre Körbchengröße-C-Brüste bewunderte.

Er murmelte vor sich hin, aber laut genug, dass man es hörte: »Eklig.«

Poppy sagte: »Eklig? Es wäre echt hilfreich, wenn du das näher erläutern könntest. Ich muss wissen, was genau an mir abstoßend ist.«

Brian trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

Poppy lief vor ihm auf und ab, wirbelte herum und legte eine Hand auf den mageren Hüftknochen. Dann sah sie ihn erwartungsvoll an, doch er sagte nichts. Stattdessen schloss er die Tür zu seinem Zimmer wieder auf und ging hinein.

Poppy sagte: »Was für ein Baby. Ein ungezogenes, wahnsinnig hübsches Baby.«

Brianne sagte: »Wir sind beide siebzehn. Wir haben früh Abi gemacht.«

»Ich hätte meins auch früher gemacht, wenn nicht etwas Tragisches passiert wäre …« Poppy wartete, dass Brianne sich nach der Art der Tragödie erkundigte. Als Brianne schwieg, sagte sie: »Ich kann nicht drüber reden. Ich hab trotzdem mit Eins bestanden. Oxbridge wollte mich. Ich war beim Vorstellungsgespräch, aber ehrlich gesagt, war es mir da zu altmodisch.«

Brianne fragte: »Wo warst du? In Oxford oder in Cambridge?«

Poppy sagte: »Bist du schwerhörig? Ich hab gesagt, ich war zum Vorstellungsgespräch in Oxbridge.«

»Und man hat dir einen Studienplatz an der Universität Oxbridge angeboten?« Brianne setzte nach: »Wo ist Oxbridge doch gleich?«

Poppy murmelte: »Irgendwo in der Mitte«, und ging.

Brianne und Brian junior hatten sich in Cambridge vorgestellt, und man hatte beiden einen Platz angeboten. Ihr bescheidener Ruhm war den Biber-Zwillingen vorausgeeilt. Am Trinity College hatte man ihnen eine unglaublich schwere Matheaufgabe gestellt. Brian junior ging mit einer Aufsicht in ein separates Zimmer. Als beide nach fünfundfünfzigminütigem eifrigen Kritzeln auf den bereitgestellten DIN-A4-Blättern ihre Stifte niederlegten, las das Gremium ihre Notizen, als handle es sich um ein Kapitel eines schlüpfrigen Romans. Brianne hatte sich minutiös, wenn auch ohne große Fantasie, zur Lösung vorgearbeitet. Brian junior war auf mysteriöseren Pfaden ans Ziel gelangt. Das Gremium verzichtete darauf, die Zwillinge nach Hobbys und Freizeitbeschäftigungen zu fragen. Es war offensichtlich, dass sie sich ganz auf ihr Studiengebiet konzentrierten.

Nachdem die Zwillinge das Angebot abgelehnt hatten, erklärte Brianne, sie und ihr Bruder würden der berühmten Mathematikprofessorin Lenya Nikitanova nach Leeds folgen.

»Ah, Leeds«, sagte der Vorsitzende. »Die mathematische Fakultät ist bemerkenswert, Weltklasse. Wir haben versucht, die bezaubernde Nikitanova mit unanständig extravaganten Anreizen zu locken, aber sie hat uns gemailt, dass sie es vorzieht, Arbeiterkinder zu unterrichten – ein Ausdruck, den ich nicht mehr gehört habe, seit Breschnew im Amt war –, und die Dozentenstelle an der Universität Leeds annimmt! Sehr bezeichnend!«

Im Sentinel-Towers-Wohnheim sagte Brianne jetzt: »Ich ziehe mich lieber allein um. Ich geniere mich.«

Poppy sagte: »Nein, ich komme mit rein. Ich kann dir helfen.«

Brianne fühlte sich von Poppy bedrängt. Sie wollte sie nicht in ihr Zimmer lassen. Sie wollte sie nicht als Freundin, trotzdem schloss sie die Tür auf und ließ Poppy rein.

Briannes offener Koffer stand auf dem schmalen Bett. Sofort begann Poppy ihn auszupacken und Briannes Kleider und Schuhe im Schrank zu verstauen. Brianne saß hilflos am Fußende des Bettes und sagte: »Nein, Poppy, das mach ich schon.« Sie dachte, wenn Poppy weg war, würde sie alles nach ihren eigenen Vorstellungen neu ordnen.

Poppy öffnete ein Schmuckkästchen, das mit winzigen perlmuttschimmernden Muscheln besetzt war, und begann, verschiedene Schmuckstücke anzuprobieren. Sie nahm das Silberarmband mit den drei Anhängern: ein Mond, eine Sonne und ein Stern.

Das Armband hatte Eva Ende August zur Belohnung für Briannes Einser-Abitur gekauft. Brian junior hatte die Manschettenknöpfe, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, schon verloren.

»Das leihe ich mir«, sagte Poppy.

»Nein!«, rief Brianne. »Nicht das! Daran hänge ich.« Sie nahm es Poppy ab und legte es um ihr eigenes Handgelenk.

Poppy sagte: »Omeingott, du bist so ein Materialist. Krieg dich wieder ein.«

Inzwischen lief Brian junior in seinem schockierend winzigen Zimmer auf und ab. Von der Tür zum Fenster waren es nur drei Schritte. Er fragte sich, warum seine Mutter nicht wie versprochen angerufen hatte.

Alles war ausgepackt und ordentlich verstaut. Seine Stifte nach Farben sortiert, von gelb bis schwarz. Es war Brian junior wichtig, dass sich genau in der Mitte ein roter Stift befand.

Ein paar Stunden zuvor, nachdem die Habseligkeiten der Zwillinge vom Auto nach oben getragen, die Laptops aufgeladen, die neuen Wasserkocher, Toaster und Lampen von Ikea angeschlossen waren, hatten sich Brian, Brianne und Brian junior nebeneinander auf Briannes Bett gesetzt und einander nichts zu sagen gewusst.

Brian hatte diverse Male: »So«, gesagt.

Die Zwillinge warteten, dass er weitersprach, doch er verfiel wieder in Schweigen.

Schließlich räusperte er sich und sagte: »So, der Tag ist gekommen, hm? Beängstigend für mich und Mum, und erst recht für euch beide … Ihr steht jetzt auf eigenen Füßen, lernt neue Leute kennen.«

Er stand auf und sah sie an. »Kinder, gebt euch ein bisschen Mühe, nett zu den anderen Studenten zu sein. Brianne, stell dich den anderen vor, versuch zu lächeln. Sie sind nicht so schlau wie du und Brian junior, aber schlau sein ist nicht alles.«

Brian junior sagte mit flacher Stimme: »Wir sind hier, um zu arbeiten, Dad. Wenn wir Freunde bräuchten, wären wir bei Facebook.«

Brianne nahm ihren Bruder bei der Hand und sagte: »Vielleicht wäre es gut, eine Freundin zu haben, Bri. Irgendwer, mit der ich reden kann und so, über … « Sie zögerte.

Brian ergänzte: »Klamotten und Jungs und Frisuren.«

Brianne dachte: »Bäh! Frisuren? Nein, ich möchte über die Wunder der Welt reden, die Geheimnisse des Universums.«

Brian junior sagte: »Wir können uns Freunde suchen, wenn wir unseren Doktor haben.«

Brian lachte: »Mach dich locker, BJ. Besauf dich, lass dich flachlegen, und reiche wenigstens ein Mal einen Essay zu spät ein. Du bist Student, klau ein Verkehrshütchen.«

Brianne sah ihren Bruder an. Sie konnte sich Brian junior ebenso wenig sturzbetrunken mit einem Verkehrshütchen auf dem Kopf vorstellen wie in limonengrünem Lycra beim Rumbatanzen in dieser albernen Sendung Let’s Dance.

Bevor Brian ging, gab es unbeholfene Umarmungen und Schulterklopfen. Nasen wurden geküsst, statt Lippen und Wangen. In ihrer Hast, das enge Zimmer zu verlassen, traten sie einander auf die Zehen. Der Fahrstuhl brauchte ewig für die sechs Stockwerke nach oben. Sie hörten, wie er sich quietschend und ächzend näherte.

Als sich die Türen öffneten, rannte Brian praktisch hinein. Er winkte den Zwillingen zum Abschied, und sie winkten zurück. Nach ein paar Sekunden drückte Brian den Knopf fürs Erdgeschoss, und die Zwillinge klatschten sich ab.

Dann kehrte der Fahrstuhl zurück, mit Brian an Bord.

Die Zwillinge sahen mit Entsetzen, dass ihr Vater weinte. Sie wollten schon einsteigen, da schlossen sich die Türen wieder, und der Fahrstuhl ruckelte nach unten.

»Warum weint Dad?«, fragte Brian junior.

Brianne sagte: »Ich glaube, er ist traurig, weil wir weg sind.«

Brian junior wunderte sich. »Und ist das eine normale Reaktion?«

»Ich glaub schon.«

»Mum hat beim Abschied nicht geweint.«

»Nein, Mum findet, man sollte sich Tränen für Tragödien aufsparen.«

Sie hatten einige Augenblicke beim Fahrstuhl gewartet, um zu sehen, ob er ihren Vater noch einmal zurückbrachte. Als das nicht geschah, gingen sie auf ihre Zimmer und versuchten, allerdings vergeblich, ihre Mutter zu erreichen.

3

Um zehn Uhr kam Brian senior ins Schlafzimmer und begann sich auszuziehen.

Eva schloss die Augen. Sie hörte, wie sich seine Pyjamaschublade öffnete und schloss. Sie ließ ihm eine Minute, um seinen Schlafanzug anzuziehen, dann sagte sie, den Rücken ihm zugewandt: »Brian, ich möchte nicht, dass du heute Nacht in diesem Bett schläfst. Warum schläfst du nicht in Brian juniors Zimmer? Da ist es garantiert sauber und ordentlich, zwanghaft ordentlich.«

»Fühlst du dich krank?«, fragte Brian. »Körperlich?«, fügte er hinzu.

»Nein«, sagte sie. »Mir geht es gut.«

Brian belehrte sie: »Wusstest du, Eva, dass den Patienten in manchen therapeutischen Einrichtungen verboten wird, die Formulierung ›Mir geht es gut‹ zu benutzen? Weil es ihnen ausnahmslos nicht gut geht. Gib zu, du bist verstört, weil die Zwillinge ausgezogen sind.«

»Nein, ich bin froh, dass sie weg sind.«

Brians Stimme bebte vor Zorn. »Es gehört sich für eine Mutter nicht, so etwas zu sagen.«

Eva drehte sich um und sah ihn an. »Wir haben ihre Erziehung verbockt«, sagte sie. »Brianne lässt sich von jedem schikanieren, und Brian junior kriegt Panik, sobald er mit einem anderen Menschen reden muss.«

Brian setzte sich auf die Bettkante. »Ich gebe zu, es sind sensible Kinder.«

»Neurotisch ist das richtige Wort«, sagte Eva. »Als sie klein waren, saßen sie oft stundenlang in einem Pappkarton.«

Brian sagte: »Das wusste ich nicht. Was haben sie da drin gemacht?«

»Einfach schweigend da gesessen«, antwortete Eva. »Ab und zu drehten sie den Kopf und sahen einander an. Wenn ich versuchte, sie herauszuheben, haben sie gebissen und gekratzt. Sie wollten zusammen in ihrer eigenen Pappkartonwelt sein.«

»Es sind begabte Kinder.«

»Aber sind sie glücklich, Brian? Ich kann es nicht sagen, ich liebe sie zu sehr.«

Brian ging zur Tür und blieb dort eine Weile stehen, als wollte er noch etwas sagen. Eva hoffte, er ließ sich nicht zu irgendeiner dramatischen Aussage hinreißen. Die starken Emotionen des Tages hatten sie schon genug mitgenommen. Brian öffnete den Mund, dann überlegte er es sich offensichtlich anders, denn er verließ das Zimmer und schloss leise die Tür.

Eva setzte sich im Bett auf, schlug die Decke zurück und sah zu ihrer Bestürzung, dass sie noch ihre schwarzen Stöckelschuhe trug. Ihr Blick fiel auf den Nachttisch, der mit fast identischen Cremetöpfen und -tuben vollgestellt war. Sie wählte die von Chanel und warf die anderen nacheinander in den Papierkorb am anderen Ende des Zimmers. Sie war gut im Werfen. Sie hatte die Leicester High School für Mädchen bei den Kreismeisterschaften im Speerwurf vertreten.

Ihr Griechischlehrer gratulierte ihr zum neuen Schulrekord mit den Worten: »Sie sind ja eine richtige Athene, Miss Brown-Bird. Und übrigens sehen Sie hinreißend aus.«

Jetzt musste sie aufs Klo. Sie war froh, dass sie Brian überredet hatte, die Wand zur Abstellkammer durchzubrechen und Bad und Toilette einzubauen. Alle anderen in ihrer Straße mit edwardianischen Häusern hatten das längst getan.

Das Haus der Bibers war 1908 erbaut worden. So stand es unter dem Dachvorsprung. Die edwardianischen Ziffern wurden umrahmt von einem Steinfries mit stilisiertem Efeu und wildem Wein. Es gibt Hauskäufer, die wählen ihr zukünftiges Zuhause nach rein romantischen Gesichtspunkten aus, und Eva gehörte dazu. Ihr Vater hatte Woodbine-Zigaretten geraucht, und die grüne, mit wildem Wein verzierte Packung war fester Bestandteil ihrer Kindheit gewesen. Glücklicherweise hatte vorher ein zeitgenössischer Ebenezer Scrooge in dem Haus gewohnt, der sich gegen den Sechziger-Jahre-Wahn gewehrt hatte, alles zu modernisieren. Es war unversehrt, mit großen Zimmern, hohen Decken, Stuck, Kaminen und gediegenen Eichentüren und -dielen.

Brian hasste es. Er wollte eine »Wohnmaschine«. Er sah sich in einer modernen weißen Küche neben der Espressomaschine auf seinen Morgenkaffee warten. Er wollte keine halbe Meile vom Stadtzentrum entfernt wohnen. Er wollte einen Kasten aus Glas und Stahl im Le-Corbusier-Stil mit Blick auf die Natur und einen weiten Himmel. Dem Makler hatte er erklärt, dass er Astronom war und dass seine Teleskope nicht mit der Lichtverschmutzung klar kamen. Der Makler hatte Brian und Eva angesehen, völlig entgeistert, dass zwei Menschen mit so gegensätzlichen Persönlichkeiten und Geschmäckern überhaupt geheiratet hatten.

Irgendwann hatte Eva Brian darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie nicht in einem minimalistischen Baukastensystem jenseits jeder Straßenbeleuchtung leben wollte, sondern in einem richtigen Haus. Brian hatte gekontert, dass er nicht in einem alten Gemäuer leben wollte, in dem Menschen gestorben waren, mit Wanzen, Flöhen, Ratten und Mäusen. Als er das edwardianische Haus zum ersten Mal gesehen hatte, beschwerte er sich, er habe das Gefühl, dass ihm »ein Jahrhundert Staub die Lunge verstopft«.

Eva gefiel, dass sich das Haus gegenüber einer anderen Straße befand. Durch die großen, stattlichen Fenster konnte sie die hohen Gebäude des Stadtzentrums sehen und dahinter Wald und die freie Natur.

Am Ende hatten sie, dank einer extremen Knappheit an modernem Wohnraum im ländlichen Leicestershire, die Villa in der Bowling Green Road 15 für 46 999 Pfund gekauft. Im April 1986 zogen Brian und Eva ein, nachdem sie drei Jahre bei Brians Mutter Yvonne gewohnt hatten. Eva hatte nie bereut, dass sie sich mit dem Haus gegen Brian und Yvonne durchgesetzt hatte. Es war die drei Wochen Schmollen, die folgten, wert gewesen.

Als sie das Licht im Bad anschaltete, sah sie sich mit einer Vielzahl ihrer eigenen Spiegelbilder konfrontiert. Eine dünne Frau mittleren Alters mit kurzen blonden Haaren, hohen Wangenknochen und hellgrauen Augen. Auf ihren Wunsch – sie dachte, der Raum würde dann größer wirken – hatten die Handwerker an drei Wänden große Spiegel eingebaut. Am liebsten hätte sie ihnen gesagt, sie sollen es gleich wieder rückgängig machen, doch sie traute sich nicht. Deshalb sah sie sich selbst, wann immer sie sich aufs Klo setzte, unendlich oft.

Sie zog sich aus und stieg in die Dusche, wobei sie den Blick in die Spiegel vermied.

Ihre Mutter hatte kürzlich zu ihr gesagt: »Kein Wunder, dass du nichts auf den Rippen hast, du setzt dich nie hin. Du isst ja sogar im Stehen.«

Das stimmte. Nachdem sie Brian, Brian junior und Brianne bedient hatte, ging sie zurück an den Herd und pickte Fleisch und Gemüse aus den jeweiligen Töpfen und Pfannen. Der Stress, eine Mahlzeit zu kochen und rechtzeitig auf den Tisch zu bringen, das Essen warmzuhalten und zu hoffen, dass die Unterhaltung bei Tisch friedlich verlief, schien so eine Flut von Magensäure zu produzieren, dass ihr nichts mehr schmeckte.

Auf der Drahtablage in der Ecke der Dusche stand ein Wust Shampoos, Spülungen und Duschgels. In wenigen Augenblicken suchte Eva ihre Lieblingsprodukte heraus und warf den Rest in den Mülleimer neben dem Waschbecken. Dann zog sie sich wieder an und stieg in ihre Pumps. Damit war sie acht Zentimeter größer, und heute Abend brauchte sie ein Gefühl der Stärke. Sie lief auf und ab, während sie innerlich probte, was sie zu Brian sagen würde, wenn er zurückkam und in ihr Bett wollte.

Sie würde schnell handeln müssen, sonst verlor sie den Mut.

Sie würde zur Sprache bringen, dass er sie in der Öffentlichkeit unterminierte, dass er sie seinen Freunden als »die Klingonin« vorstellte. Dass er ihr zum letzten Geburtstag einen Lottoschein im Wert von fünfundzwanzig Pfund geschenkt hatte.

Doch dann fiel ihr ein, wie leicht seine Überheblichkeit verpuffte, und wie traurig er ausgesehen hatte, als sie ihn gebeten hatte, woanders zu schlafen. Sie blieb für ein paar Augenblicke an der Schlafzimmertür stehen und überdachte die Folgen, dann stieg sie wieder ins Bett und zog sich vom potenziellen Kampfgeschehen zurück.

Um 3.15 Uhr morgens wurde sie aus dem Schlaf gerissen, weil Brian schrie und mit der Bettdecke kämpfte. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, wie Brian auf einem Bein über den Teppich hüpfte und sich die rechte Wade hielt.

»Krampf?«, sagte sie.

»Kein Krampf! Deine Scheißabsätze! Du hast mir ein Loch ins Bein gerammt!«

»Du hättest in Brian juniors Zimmer bleiben sollen, statt dich in meins zu schleichen.«

Brian sagte: »Deins? Früher war es unser Zimmer.«

Brian war weder mit Schmerz noch mit Blut besonders gut, und nun musste er in aller Herrgottsfrühe beides verkraften. Er fing an zu jammern. Nachdem Eva sich orientiert hatte, sah sie, dass er wirklich ein Loch im Bein hatte.

»Viel Blut … Wunde säubern«, sagte er. »Du musst sie mit destilliertem Wasser und Jod auswaschen.«

Eva konnte das Bett nicht verlassen. Stattdessen griff sie nach der Flasche Chanel No 5 auf dem Nachttisch. Sie richtete die Düse auf Brians Wunde und drückte, den Finger fest auf der Sprühvorrichtung. Brian quiekte und hüpfte über den beigefarbenen Teppich aus dem Zimmer.

Sie hatte das Richtige getan, dachte Eva, während sie wieder einschlief. Jeder weiß, dass Chanel No 5 im Notfall ein gutes Desinfektionsmittel ist.

*

Gegen halb sechs wachte Eva erneut auf.

Brian humpelte durchs Schlafzimmer und rief in regelmäßigen Abständen: »Dieser Schmerz! Dieser Schmerz!« Als Eva sich aufsetzte, sagte Brian: »Ich hab den kassenärztlichen Notdienst angerufen. Da arbeiten nur Deppen! Idioten! Trottel! Pappnasen! Schwachköpfe! Dödel! Kretins! Hiwis! Abschaum! Ein afrikanischer Medizinmann wüsste besser Bescheid!«

Erschöpft sagte Eva: »Brian, bitte. Bist du es nicht leid, immer gegen die Welt anzukämpfen?«

»Nein, ich mag die Welt nicht besonders.«

Eva empfand tiefes Mitleid mit ihrem Mann, als er am Fußende des Bettes stand, nackt, eine weiße Leinenserviette um ein Bein gewickelt und Toastkrümel im Bart. Sie wandte sich ab.

Er war ein Eindringling in diesem Zimmer, das jetzt ihres war.

Brianne fragte sich, wie lange Poppy noch weinen würde. Sie konnte sie durch die Wand schluchzen hören.

Sie sah auf den Wecker, den sie seit ihrer Kindheit besaß. Barbie zeigte auf die Vier und Ken auf die Eins. So hatte sie sich ihre erste Nacht an der Uni nicht vorgestellt.

Sie dachte: »Dieses schreckliche Mädchen hat mich auf die Seiten eines EastEnders-Drehbuchs geschleift.«

Gegen halb sechs riss sie ein Klopfen an der Tür aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie hörte Poppy wimmern. Sie erstarrte. Es gab kein Entkommen aus dem sechsten Stock des Gebäudes – und das Fenster ließ sich sowieso nur wenige Zentimeter öffnen.

»Ich bin’s – Poppy. Lass mich rein!«

Brianne rief: »Nein! Geh schlafen, Poppy!«

Poppy flehte: »Brianne, hilf mir! Mich hat ein einäugiger Mann überfallen!«

Brianne öffnete die Tür und Poppy fiel ins Zimmer. »Ich wurde überfallen!«

Brianne sah in den Korridor. Er war leer. Die Tür zu Poppys Zimmer stand offen, und es dudelte der Emo- Song, den sie ununterbrochen hörte – »Almost Lover« von A Fine Frenzy. Sie warf einen Blick in Poppys Zimmer. Es gab keine Hinweise auf einen Kampf. Die Bettdecke war faltenlos.

Als sie in ihr eigenes Zimmer zurückkehrte, entdeckte sie zu ihrem Befremden, dass Poppy ihren flauschigen Lieblingsbademantel trug, unter ihre Decke gekrochen war und in ihr Kissen schluchzte. Da Brianne nichts Besseres einfiel, setzte sie Teewasser auf und fragte: »Soll ich die Polizei rufen?«

»Meinst du nicht, dass ich schon genug durchgemacht habe?«, rief Poppy. »Ich werde heute einfach in deinem Bett schlafen, mit dir.«

Dreißig Minuten später klammerte sich Brianne an den Rand des Bettes. Sie nahm sich vor, morgen in die Universitätsbibliothek zu gehen und sich ein Buch darüber auszuleihen, wie man Rückgrat entwickelte.

4

Am zweiten Tag wachte Eva auf, schlug die Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante.

Dann fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht aufzustehen brauchte, dass sie kein Frühstück machen musste, niemanden wecken, keinen Geschirrspüler ausräumen, keine Waschmaschine befüllen, keinen Stapel Wäsche bügeln, weder den Staubsauger die Treppen hochschleppen noch Schränke oder Schubladen aufräumen, noch den Herd putzen oder diverse Oberflächen wischen, einschließlich der Hälse der Saucen-Flaschen, noch Holzmöbel polieren, Fenster putzen oder Böden feudeln, Teppiche oder Kissen ausklopfen, keine Bürsten in diverse vollgeschissene Klos rammen oder schmutzige Wäsche aufsammeln, keine Glühbirnen wechseln oder Klopapierrollen ersetzen, nichts von unten nach oben räumen oder von oben nach unten, nichts von der Reinigung abholen, kein Unkraut jäten, nicht ins Gartenzentrum fahren, um Blumenzwiebeln oder Pflanzen zu kaufen, keine Schuhe putzen oder zum Schuster bringen, keine Bücher in der Bücherei abgeben, keinen Abfall sortieren, keine Rechnungen bezahlen, nicht eine Mutter besuchen und ein schlechtes Gewissen haben, dass man die Schwiegermutter nicht besucht, keine Fische füttern und den Filter reinigen, keine telefonischen Nachrichten für zwei Teenager entgegennehmen, keine Beine rasieren oder Augenbrauen zupfen oder Fingernägel lackieren, keine drei Betten beziehen (wenn Samstag war), keine Wollpullover mit der Hand waschen oder zum Trockenen auf Badetücher legen, keine Nahrungsmittel einkaufen, die sie selbst nicht aß, sie ins Auto laden, nach Hause fahren, in Küchenschränke und Kühlschrank räumen, keine Dosen und haltbaren Lebensmittel auf Zehenspitzen auf ein Regal stellen, an das sie nicht, Brian aber locker rankam.

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