Die Frau, die nicht wollte, dass ein Leopard sie verspeist - Ralf Hoppe - E-Book

Die Frau, die nicht wollte, dass ein Leopard sie verspeist E-Book

Ralf Hoppe

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Beschreibung

Was haben ein Arzt in Paris, dem ein Baby vom Himmel in den Arm fällt, ein brasilianischer Motorradfahrer mit einem Messer im Kopf, ein katholischer Pfarrer im Schwarzwald auf Verbrecherjagd und eine Inderin, die eine Dreiviertelstunde lang mit einem Leoparden kämpft, gemeinsam? Es handelt sich um Menschen, die in Situationen geraten sind, in denen sie Mut bewiesen haben. Ralf Hoppe hat jahrelang auf den ersten Blick ungeheuerliche, aber wahre Geschichten gesammelt, minutiös recherchiert und in literarischer Form aufgeschrieben. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop der Wirklichkeit mit Menschen aus allen Erdteilen und aus allen Schichten, die einmal im Leben über sich hinausgewachsen sind und Außergewöhnliches geleistet haben.

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Seitenzahl: 175

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INHALT

Die Frau, die nicht wollte, dass ein Leopard sie verspeist – Vorwort

Ein Fall für Papa

Der perfekte Experte

Oder gefressen werden

Kopfschuss

Gestatten, Scheich Volker

Die Perle

Die Freiheitsstrafe

Der Pi-Mann

Sarg nach Singapur

Der Detektiv Gottes

Einer für alle

Im Urknall

Die Mohammedwerdung

Das gierige Gehirn

Fünf Tage, fünf Nächte

Stofftiere

Kreuzbergs Wotan

Das nackte Beben

Streit

Oops

Mehr oder weniger

Beweisstück 18-28052011

Der Zahlenflüsterer

Die heilige Lehrerin

Das fehlende Glied

Spuck’s aus

Ein ganzer Kerl

Kalender-Mütter

Jyoti, weiblich, 62,8 Zentimeter

Der Walkampf

Notrufe

Von Beruf Riese

E.T. und ich

Epilog oder, besser gesagt: eine Erinnerung

Die Frau, die nicht wollte, dass ein Leopard sie verspeist – Vorwort

Es klingt etwas bombastisch, aber so war es: Das Leben selbst schrieb diese Geschichten, es schrieb sie furchtlos und skrupellos und kraftvoll – und ich war nur der Nutznießer. Allerdings ein begeisterter Nutznießer. Ich lief und recherchierte dem Geschehenen hinterher, ich versuchte zu erkennen, was wirklich passiert war, sammelte wie besessen alle möglichen Details ein. Das war mein Job.

Ich war 20 Jahre lang Redakteur und Reporter beim Nachrichtenmagazin SPIEGEL, in dieser Zeit entstanden diese Storys. Wir hatten eine neue Rubrik aus der Taufe gehoben, sie hieß »Eine Meldung und ihre Geschichte«, und das Prinzip war schlicht, aber schön: Wir durchforsteten die Vermischtes-Teile der Zeitungen nach unglaublichen Meldungen, nach verrückten Dingen, die von den Presseagenturen zwar gemeldet, aber eher lieblos hingetuscht worden waren, und dann machten wir uns ans Werk. Wir recherchierten die wahre Geschichte, die Hintergründe, das Warum und Wie und Wieso, jene Kleinigkeiten, aus denen eine Erzählung wird. Die Meldung war wie das Kaninchenloch, durch das Alice ins Wunderland rutscht, hinein in eine Welt, in eine Story, die oft rührend und menschlich war, nicht selten komisch, manchmal auch schrecklich. Aber immer wahr.

Das ist das Schöne an diesen Storys: Sie sind wirklich passiert.

Alle diese Geschichten handeln von besonderen Menschen oder von ganz normalen Menschen in besonderen Situationen. Es sind sehr oft Menschen, die Mut aufbringen mussten, Mut bewiesen haben. Dafür danke ich vor allem den Protagonisten dieser Storys – für ihre Tapferkeit, ihren Mutterwitz, ihre Bereitschaft, mir ihr Leben zu erzählen. Hier und da, aber nur ausnahmsweise, wurden die Namen geändert, um Personen zu schützen.

Außerdem danke ich meiner Frau, die das grimmige Cover dieses Buches gestaltet hat; ich danke Dirk Rossmann für Zuspruch und Hilfe bei der Auswahl, und ich ziehe dankbar meinen Hut vor den Leuten vom Edel-Verlag, vor allem vor Dr. Marten Brandt, der als Lektor wunderbares Stilgefühl und Sprachsicherheit einbrachte. Und Dank auch an meinen früheren Arbeitgeber, den SPIEGEL-Verlag, der es mir damals großzügig erlaubte, diese Storys aufwändig zu recherchieren – und der jetzt ebenso großzügig war, als es darum ging, die Texte zu veröffentlichen.

Aber am meisten, wie gesagt, danke ich den Protagonisten, die ich interviewen durfte. Es sind ihre Geschichten.

Ein Fall für Papa

Paris, Frankreich

Ein Kind fällt aus dem Himmel. Es ist der Himmel über Paris, über dem 20. Arrondissement, unweit der Metro-Station Porte de Vincennes. Der Himmel ist an diesem Tag grau und fahl, und der Körper dreht sich im Fallen, es ist ein kleiner Junge, an den Füßen blaue Stoppersocken, 17 Monate, öligschwarz die Haut, die Eltern stammen aus Zentralafrika, er hat auf dem Balkon gespielt, und dann ist er durch die Gitterstäbe geglitten.

Er fällt.

Die Eltern haben die Dachwohnung in der siebten Etage, hinter einer zerschrappten Holztür. Im Treppenhaus Geruch von Hirse und Knoblauch.

Der Name des Jungen: Idris S. Auf dem Balkon sitzt noch seine Schwester, vier Jahre alt. Die Eltern sind nicht zu Hause. Die Uhrzeit: etwa 16.35 Uhr.

Vom Balkon bis zum Asphalt sind es rund 20 Meter. Zwei Sekunden wird der Fall also dauern, etwa so lang, wie man braucht, diesen Satz zu lesen. Der Körper wird, unabhängig von seiner geringen Masse, eine konstante Beschleunigung erfahren, jener Formel gemäß, die auf Newton und seine Erkenntnisse zur Gravitation zurückgeht; sobald Idris auf dem Asphalt aufschlägt, wird er etwa 72,3 Stundenkilometer schnell sein und sterben, er braucht jetzt ein Wunder.

Es wird bald dunkel. Kaum ein Mensch ist draußen zu sehen, an diesem Feiertag, Allerheiligen. Das Haus, aus dem Idris fällt, steht an einem freien Platz, im Erdgeschoss ein Café, geschlossen. Im Fernsehen läuft Terminator 2, France 2 hat für später Mein Vater, der Held ins Programm gesetzt, mit Gérard Depardieu.

Drei Menschen werden gleich ins Leben von Idris treten: Raphaël, ein aufgeweckter Junge, siebenjährig, der gern escargots isst, Schnecken, und den Film mit Depardieu gern sehen würde; dann dessen Vater, Dr. Philippe Bensignor, ein freundlicher Herr, 58 Jahre alt, melancholisch; und drittens Monsieur Hacéne, geboren in Algerien, Vater von vielen Kindern, Patron im Cours de Vincennes, Kneipe, Café, Tabakladen.

Vor dem Cours de Vincennes, dem Café, befindet sich ein Briefkasten. Davor stehen jetzt drei Personen, der Mann ist der melancholische Dr. Bensignor, er steht neben seiner Ex-Frau, Catherine, und steckt einen Stapel Briefe ein, Formulare für Krankenkassen, sein Sohn Raphaël zupft ihn am Hosenbein.

»Papa! Papaa! Da oben!«

Dr. Bensignor hat sich bei Catherine gerade nach dem Befinden seiner Ex-Schwiegermutter erkundigt, und während sie antwortet und er kaum zuhört, denkt er: Warum frag ich? Und warum zerrt Raphaël an mir rum?

Dr. Bensignor bekam nach der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen. Raphaël ist wochentags bei ihm, Dr. Bensignor bringt ihn morgens zur Ganztagsschule, eilt dann in seine Praxis, er ist Arzt, abends holt er ihn ab, das Kochen ist ihr Zeremoniell, Raphaël liebt Schnecken, Dr. Bensignor liebt Raphaël. Die Wochenenden verbringt der Junge bei seiner Mutter. Soeben hat sie ihn zurückgebracht.

Dr. Bensignor weiß nicht, warum, aber seit ein paar Wochen ist er schwermütig. Vor Kurzem starb sein Onkel, immer öfter kommen ihm jetzt Zweifel am Sinn des Lebens, vielleicht ist es die Midlife-Crisis, sagt er. Er war nie sehr religiös, aber neulich lag er im Bett und konnte nicht einschlafen.

Wenn es dich gibt, Gott – dann gib mir ein Zeichen, dass das alles hier nicht sinnlos ist, merci.

Für Monsieur Hacéne hingegen, den Algerier, besteht die ganze Welt aus Zeichen – »alles ist Maktoub, Schicksal«. Vor zwei Jahren verkaufte er sein Taxi, kaufte ein Café, ließ eine schicke Markise anbringen, knallrot, jeden Abend wird sie eingefahren, damit sie geschont wird. Monsieur Hacéne wollte mit Menschen zu tun haben, sie bewirten, unterhalten, dem Leben Bedeutung verleihen.

Am Vorabend von Idris’ Sturz ging Monsieur Hacéne früher heim. Er überließ es Gabié, seinem Angestellten, gegen 20 Uhr abzuschließen. Gabié rief ihn an. Die Markise lasse sich nicht zurückfahren. Was jetzt? Mechaniker? Nein, entschied Monsieur Hacéne, nicht nötig, bleibt sie eben ausgefahren, die Markise, das blöde Ding.

Das war Maktoub, sagt er heute, Schicksal.

Dr. Bensignor, vor dem Briefkasten, erblickte endlich, was Raphaël, der an ihm zerrte, längst gesehen hatte – ein Kind fiel aus dem Nichts. Er verfolgte die Bahn. Plötzlich ganz konzentriert. Idris fiel, fiel, prallte auf die rote Markise, auf den Stoff. Plopp! Der Stoff riss. Aber nur etwas. Der Körper hüpfte hoch. Wie von einem Trampolin. Fiel wieder. Dr. Bensignor hatte die Arme ausgestreckt. Sah nichts als die Flugbahn. Catherine neben ihm schrie, er hörte sie nicht, als wäre der Ton abgestellt, er machte einen Ausfallschritt, hatte es.

Das Kind lag in seinen Armen. Er sah es an, staunte, untersuchte es, alles okay. Irgendwann kam der Rettungswagen.

Noch am Abend ging Dr. Bensignor in die Église Saint-Gabriel, die nächste Kirche, wo er sich für das Zeichen bedankte, er ist übrigens nicht mehr melancholisch seit jenem Nachmittag. Idris geht es blendend. Seine Eltern allerdings haben ein Verfahren am Hals. Monsieur Hacéne will sein Café umbenennen, in »Café des Wunders«. Raphaël verpasste in all der Aufregung den Depardieu-Film, aber das war egal.

Der perfekte Experte

London, England

Beifall rauscht, Gelächter, Jubel, sie erkennen ihn, sein Foto war ja in allen Zeitungen, talk of the town, schrägste Story Londons, und winkend stapft er bis zu der roten Bühnenmarkierung, genau wie der Regisseur es ihm erklärt hat, blinzelt in die Scheinwerfer, grient, ein schwerer schwarzer Mann, Schweißtröpfchen auf der stumpfen Nase, zwischen den Schneidezähnen eine Lücke.

Wenn seine Eltern ihn jetzt sehen könnten. Guy, we love you, rufen sie. In den vorderen Stuhlreihen sitzen hübsche Mädchen. Er wirft eine Kusshand, rum-bum-bum-bum, jetzt trampeln sie sogar mit den Füßen, kreischen.

Guy, we love you! Rum-bum-bum-bum.

Gestern noch ein Arbeitsloser und jetzt der Eröffnungsauftritt in Friday Night, der beliebtesten Fernsehshow. Sie lieben ihn, ein Star ist er, Guy Goma, 36 Jahre alt, aus Brazzaville im Kongo, doch wie es dazu kam?

Er hat keine Ahnung.

Der Aufstieg des Guy Goma beginnt elf Tage zuvor, am 8. Mai, um 10.27 Uhr, im Erdgeschoss eines gläsernen Turmes, im Westen von London, im Foyer der BBC. Guy hat sich als Buchhalter beworben. Er trägt sein bestes Hemd, hellblau, das graue Sakko hat er reinigen lassen. Er hat dem Pförtner seinen Namen genannt, Zettel ausgefüllt, jetzt wartet er.

Hier ist viel los, Guy staunt. Ständig schlägt die Schwingtür, schöne Frauen klackern durchs Foyer, eilige Männer mit Plastikausweisen um den Hals, Regisseure, Schauspieler – und übrigens steht zur selben Zeit ein unauffälliger Mann an der Rezeption, rotblonder Bart, der ebenfalls Guy heißt, Guy Kewney, Fachmann für Rechtsfragen im Internet. Es gab ein Gerichtsurteil an diesem Morgen, ein Streit in der Computer- und Musikindustrie; eine recht öde Sache, aber ein Thema fürs BBC-Frühstücksfernsehen, und Guy mit dem Bart ist jedenfalls als Experte geladen.

Um 10.28 Uhr kommt ein junger, atemloser Typ und fragt nach »Guy«.

Das bin ich, sagt Guy Goma, der Guy ohne Bart.

Okay! Cool! Der junge Mann redet sehr schnell. Hey, toll. Nett, Sie kennenzulernen, bitte mitkommen – der Typ verfällt in den Laufschritt. Es geht um Sekunden, okay?

Um Sekunden? Die Bewerbung liegt doch Monate zurück, aber Guy ist kein Spielverderber, er rennt mit. Mal ehrlich, die Briten sind doch alle irre.

Ein Fahrstuhl, ein Flur, ein kleiner Raum. Schnell pudern, sagt der junge Mann.

Pudern? Damit du nicht glänzt, Süßer, die Maskenbildnerin hat eine rauchige Stimme und ein Schminktäschchen am Gürtel und wutscht mit dem Pinsel über sein Gesicht.

Nicht glänzt?

Okay, und das Mikro stecke ich ans Revers, rasch bitte, okay? Der junge Mann fummelt an ihm, schon sitzt Guy im Sessel, schon stellt ihn eine blonde Karen Sowieso vor als Herausgeber der Technology-Website Newswireless.

Wie? Moment. Guy erschrickt. Er zuckt, lächelt verzerrt. Seine Augenlider flattern. Er möchte was klarstellen, hier liegt ein Irrtum vor, aber anscheinend sind sie schon auf Sendung.

»Hallo und guten Morgen!«

Kamera. Auf ihn gerichtet. Rotes Licht. Blonde Frau starrt ihn an.

»Hat dieses heutige Urteil Sie erstaunt?«

Guy ist erstaunt, und wie. Aber er antwortet – er antwortet ausweichend, nichtssagend und irgendwie tapfer.

Die Moderatorin reagiert, als hätte sie gerade die faszinierendste Antwort der Welt bekommen. Nächste Frage: »Werden, mit Blick auf die Kosten, Ihrer Meinung nach mehr Leute online downloaden?«

Blick auf die Kosten? Welche Kosten? Welche Leute?

Äh, hm, eigentlich, antwortet Guy, sieht man doch überall Leute, die irgendwas aus dem Internet downloaden. Aber ich denke, äh … Es ist besser für die Entwicklung und, äh … Und um Leute zu informieren, was sie wollen, und damit sie schneller kriegen, was sie wollen …

Guy wird von Antwort zu Antwort sicherer. Nächste Frage: »Es scheint, die Musikindustrie macht Fortschritte, weil immer mehr Leute downloaden?«

Guy will gerade ansetzen, jetzt allerdings erfährt Karen, dass sie den Falschen erwischt haben. Der richtige Guy wartet noch im Foyer, und was er da auf den Fernsehern sieht, vor allem sein eingeblendeter Name, missfällt ihm. Im Studio sieht Karen plötzlich aus, als hätte sie was Verfaultes im Mund. »Vielen Dank, wir schalten um.«

An den Rest kann sich Guy kaum erinnern. Derselbe junge Typ, jetzt betreten, geleitet ihn ins Foyer. Nach einer halben Stunde holt man ihn wieder ab, diesmal zum Vorstellungsgespräch, leider herrscht in seinem Kopf nur Leere.

Es dauerte acht Tage, bis ihn die Rechercheure der Sun fanden. Guy erzählte ihnen treulich seine Geschichte, erzählte sie auch der Daily Mail, dem Daily Telegraph, den Radio- und Fernsehleuten von GMTV, ITN, Channel 4, CNN, Capital Radio, den Teams aus Japan und Neuseeland, er war der perfekte Experte, der ein für alle Mal bewies, worum es im Fernsehen geht: Jemand fragt, jemand antwortet, das reicht. Jeder kann sich zu jedem Thema äußern, wir sind alle Experten. Die Krönung für Guy war die Einladung zu Friday Night. Das Honorar betrug 100 Pfund.

Und so steht er jetzt auf der Bühne von Studio vier und wirft Kusshände und genießt den Applaus, genau 30 Sekunden lang. Guy, we love you. Sein Auftritt als Experte hatte allerdings 48 Sekunden länger gedauert. Vielleicht ist dies der Anfang des Vergessenwerdens.

Oder gefressen werden

Kiroda, Indien

Am 24. August, gegen halb zehn morgens, ging Kamla Devi zu ihrem bevorzugten Waschplatz am Koti-Fluss. Sie wollte später noch auf dem Feld arbeiten, also trug sie neben ihrem Wäschekorb eine Tasche, in der sie Schaufel und Sichel verstaut hatte.

Sie hatte den Sari und die Hemden gerade eingeweicht, als sie links hinter sich eine Bewegung wahrnahm, ein tiefes Knurren hörte.

Sie wusste, was das zu bedeuten hatte.

Kamla Devi wurde hier geboren, wuchs hier auf – im Bergdorf Kiroda im Bezirk Rudraprayag, Nordindien, am südlichen Saum des Himalaja. Etwa 200 Familien wohnen im Dorf, die meisten leben von dem, was ihre Felder hergeben. Die Wildnis beginnt dahinter, der Wald, Heimat des Schwarzbären, der Wolfsschlange, des Rhesusaffen – und Jagdrevier des Guldar, des Getüpfelten, wie die Leute ihn hier nennen, Panthera pardus, den Leoparden. Körperlänge: bis zu 195 Zentimetern. Länge der Krallen: etwa sechs Zentimeter.

Kamla Devi fuhr herum. Der Leopard war etwa drei Meter von ihr entfernt, er presste sich an die Erde, fixierte sie. Der Schweif zuckte, schlug, daran erinnert sie sich. Das Tier kroch näher, noch näher, kroch ganz langsam auf sie zu, bereit, sofort zu springen, seine geballte Kraft zu entladen. Kamla Devi ließ das Tier nicht aus den Augen, tastete vorsichtig nach ihrer Umhängetasche, die am Ufer lag.

In ihrer Jugend, erzählen Nachbarn, sei Kamla ein lustiges Mädchen gewesen, das gern lachte, sogar Vogelstimmen nachmachen konnte. Sie heiratete früh, ihr Mann war wesentlich älter als sie, er starb vor beinahe 30 Jahren; sie war damals erst Mitte 20. Sie hatten nur ein Kind, einen Sohn, Dinesh Singh, der inzwischen in der Stadt lebt.

Kamla durfte weiterhin in dem Haus, das ihrem Mann und seinen sechs Brüdern gehört hatte, wohnen, sie konnte dort Dinesh aufziehen. Nur ihren Unterhalt musste sie selbst verdienen. Sie bekam als Erbe drei Gunta Land, etwa 300 Quadratmeter, darauf baut sie Kartoffeln, Bohnen, Weizen an; und sie hat zwei Milchkühe, deren Milch sie verkauft oder zu Joghurt und Käse verarbeitet. Die Kühe brauchen viel Futter: Kamla Devi verlässt darum nie ihr Haus ohne ihre Sichel, ohne ein Seil – überall schneidet sie Gras und Grünzeug und trägt es, zu Büscheln gebunden, heim.

Leoparden lauern entweder ihrer Beute auf, von einem Versteck aus, oder sie pirschen sich von hinten an. Im Vergleich zu einem Reh oder Hirsch, einem relativ häufigen Beutetier, sind Leoparden zwar auf den ersten zwei, drei Metern sehr schnell, aber schon auf mittlere Distanz unterlegen. Sie müssen vor ihrem Angriff also so nah wie möglich kommen – falls das Beutetier davonsprintet.

Was der Leopard nicht zu wissen schien: dass Kamla Devi nur ein Mensch war, eine kleine, abgearbeitete Frau von 54 Jahren, und dass Kamla Devi gar nicht hätte davonsprinten können, beim besten Willen nicht. Dass sie gezwungen war zu kämpfen.

Inzwischen hielt sie Sichel und Schaufel gepackt. Keine Sekunde zu früh. Der Leopard sprang.

Er sprang, er flog auf sie zu, die vorderen Tatzen gestreckt, die Krallen ausgefahren. Kamla Devi schlug zu, mit beiden Händen, das Sichelblatt sauste durch die Luft. Sie traf eine der vorderen Tatzen. Wütendes Fauchen. Sie fiel nach hinten, rappelte sich schnell wieder auf, der Leopard war vor ihr gelandet, sie blutete, aber das Tier hatte den Biss in ihren Hals, der tödlich hätte sein können, nicht anbringen können.

Kamla Devi hat ein hartes Leben hinter sich. Sie habe in letzter Zeit müde gewirkt, erzählen Nachbarn, sagen Freunde, vielleicht habe sie das Alter gespürt, das Nahen des Todes, um im Sterben ihre Seele, das Atman, an den Schöpfer Brahma zurückzugeben, um, wie die Hindus glauben, in anderer Gestalt wiedergeboren zu werden.

Doch im Angesicht des Leoparden entbrannte in ihr ein starker Lebenswille, so erzählt sie es. Als ob das Leben selbst sich wehren würde, vor die Wahl gestellt: kämpfen oder gefressen werden. Sie wollte nicht Futter sein.

So entbrannte am Waschplatz ein Kampf, ruppig, tödlich, ein Kampf, den man sich, auch nach Schilderungen von Kamla Devi, die sich genau erinnert, nur in Umrissen vorstellen kann.

Der Leopard umkreiste sie. Wartete auf seine Chance, startete immer wieder Angriffe, Scheinangriffe oder echte Attacken, vor allem auf Gesicht und Kopf, Tatzenschläge, mit einer oder beiden Tatzen, Schläge, die Kamla abwehrte, mit Sichel und Schaufel. Blut lief ihr in die Augen. Die Tatzenschläge trafen sie auf Arme und Hände, wie Stockhiebe, brachen ihr die Finger, die Unterarme, rissen ihr die Haut ab. Aber sie traf den Leoparden ebenfalls, sie zielte mit der Sichel vor allem auf die Augen, traf das Maul, den Schädel, traf die Vorderläufe. Minute um Minute.

Kamla Devi: eine kleine, magere, früh gealterte, tapfere Bäuerin.

Der Kampf dauerte etwa eine halbe Stunde. Irgendwann ließ das Tier von ihr ab. Beide waren schwer verletzt, kraftlos. Dorfbewohner fanden den Leoparden noch am selben Tag unweit des Waschplatzes tot auf einem Felsen, wahrscheinlich hatte Kamla Devi eine Arterie getroffen, wahrscheinlich war das Tier verblutet. Kamla Devi schleppte sich ins Dorf, man brachte sie ins Srinagar Medical College. Ihre Hände und Arme wurden gegipst, ihre Kopfhaut mit 50 Stichen von Dr. Panshul Jugran genäht.

Man feierte sie als Heldin. Von der Regierung wurden ihr 5000 Rupien versprochen, 64 Euro. Sie wartet noch auf das Geld, aber das sei nicht wichtig, erzählt sie. Und was ist wichtig? »Dass ich lebe«, sagt sie. »Dass ich lebe, das ist gut«, sagt sie.

Kopfschuss

New York City, Vereinigte Staaten von Amerika

Der Mann im blauen Hemd sitzt in einer der hinteren Reihen im »Woods Room«, dem etwas kleineren der beiden Auktionssäle bei Christie’s in New York, der Saal ist voll, etwa 300 Leute.

Der Mann im blauen Hemd hält immer wieder eine Kelle in die Luft, die man ihm an der Garderobe ausgehändigt hat, mit der Zahl 440 darauf, seiner Bieternummer. Und obwohl die Gebote schon bei über 60 000 Dollar liegen und obwohl der Preis sich im Sekundentakt in 2000-Dollar-Schritten nach oben schraubt, 64 000, 66 000 sind es inzwischen, lässt sich der Mann nicht abhängen, es hat ihn gepackt, er hatte über dieses Bild in der Zeitung gelesen; er muss es haben.

Der Mann heißt Amed Khan. Seine Familie stammt aus Kaschmir, er selbst ist in den USA geboren, 39 Jahre alt, dunkler Teint, leiser Auftritt. Mit moderner Kunst konnte er nie etwas anfangen. Er hat ein paar Antiquitäten zu Hause, mehr nicht. Khan ist Investmentbanker, ein Geldmensch, Zahlen, Geldanlagen sind seine Welt. Er hatte sich auch ein Limit gesetzt, bevor er zur Auktion gegangen war, bei 80 000 wollte er aussteigen. Aber die sind jetzt schon erreicht, und Khan bietet weiter, 86 000, 88 000, es ist wie ein Rausch.

Das Bild, um das es geht, trägt die Aufrufnummer 37, Künstler ist Andy Warhol, Siebdruck, 914 mal 914 Millimeter, so steht es im Katalog. Doch eigentlich will Amed Khan, Kind von Einwanderern, viel mehr als ein Bild, er will eine Story, ein Stück amerikanische Geschichte kaufen.

Als Andy Warhol im Jahr 1972 Mao Zedong porträtierte, waren beide auf dem Höhepunkt ihrer Karriere: der klatschverliebte Pop-Guru aus Manhattan, der all die Filmstars kannte, und der rote Kaiser, vergöttert, schweigsam, grausam. Mao hatte seine »Proletarische Kulturrevolution« ausgerufen, eine Terrorkampagne, bei der Millionen Menschen ihr Leben ließen, Abermillionen denunziert, gedemütigt, gefoltert wurden. Aus diesem Mann machte Warhol einen Posterboy des ideologischen Terrors.

Man kann getrost davon ausgehen, dass Andy Warhol sich keine Sekunde lang für Maos Grausamkeiten interessierte. Der Chinese war für ihn ein Star, und ein Star war eine Marke, wie die Cola-Flasche, wie Campbell’s Dosensuppe. Warhol färbte Mao blaugrün ein, damit war Mao ein Stück Pop-Art, amerikanisiert, einer mehr in Andys Promi-Zoo. 2000 Maos ließ Warhol drucken. Und ein Exemplar landete im Besitz des Schauspielers Dennis Hopper, der mit Warhol befreundet war.

Hopper hatte zuvor einen Sensationserfolg gefeiert, mit Easy Rider, aber mit dem nächsten Film ein Fiasko erlebt. In Hollywood stand er auf der schwarzen Liste, er galt als einer, der nervt und mit seinen Launen Geld kostet. Hopper bekam nur noch kleine Rollen und machte sich daran, alles an Drogen zu konsumieren, was ihm in die Hände fiel. Wenn er mal in einem Film auftauchte, mit Vorliebe spielte er Paranoiker und Sadisten, dann war er erschreckend gut. Privat baute er ein paar Kunstsammlungen auf, nach jeder Scheidung eine neue, auf den Trümmern der alten.

An seinem Mao-Bild muss ihn aber irgendwann irgendetwas gestört haben. Eines Nachts griff sich Hopper eine Knarre und verpasste dem Mann an der Wand zwei Kugeln – vielleicht weil er das rätselhafte Siegerlächeln Maos nicht mehr sehen konnte, vielleicht war es auch einfach ein Attentat auf den großen Bösen, verübt von einem, der das Böse immer nur darstellen durfte.