Die Frauen meines Lebens - Petra Nikolic - E-Book

Die Frauen meines Lebens E-Book

Petra Nikolic

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Beschreibung

Mit der Kurzgeschichte "Meine Clarissa" gewann Petra Nikolic 2010 den Literatur-Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung. Dieser Text brachte die Autorin dazu, nach weiteren Heldinnen unserer Zeit zu suchen, nach starken Frauen mit einer Geschichte und ungewöhnlicher Aura. "Die Frauen meines Lebens" erzählt von acht ganz unterschiedlichen Charakteren, von geheimnisvollen Frauen, jungen Mädchen, Frauen in der Mitte und am Ende des Lebens. Es sind Erinnerungen, die manchmal süß und manchmal bitter schmecken, Geschichten der Großmütter, die aus dem Krieg heimkehren und sich fragen, was von ihren Träumen und Sehnsüchten bleibt, Liebesgeschichten, die nur für kurze Augenblicke den Duft vom Glück bringen, Freundschaften, die sich zwischen Lebensbahnen verlieren.

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Petra Nikolic,geboren in Frankfurt am Main, studierte Publizistik, Philosophie und Amerikanistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Nach dem Master-Abschluss arbeitete sie zunächst als Redakteurin bei deutschen und britischen Radiosendern. Dann wechselte sie vom Hörfunk- zum Zeitungsjournalismus, um als freie Journalistin für Zeitungen wie Die Zeit, Die Rheinpfalz, Rhein-Neckar-Zeitung, AZ Mainz, Westfälische Nachrichten sowie Frankfurter Neue Presse zu schreiben. 2010 gewann sie mit der Erzählung „Meine Clarissa“ den Literatur-Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung.

für Clarissa und Dominik

Lindemanns Bibliothek, Band 198

herausgegeben von Thomas Lindemann

© 2013 · Info Verlag GmbH

Käppelestraße 10 · 76131 Karlsruhe

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck ohne Genehmigung

des Verlages nicht gestattet.

ISBN 978-3-88190-743-9

www.infoverlag.de

Petra Nikolic

Die Frauen meines Lebens

Vorwort

Die Inspiration zu diesem Buch gab die Süddeutsche Zeitung. Sie hatte im März 2010 die ungewöhnliche Idee, Frauen über die Frauen ihres Lebens schreiben zu lassen. „Die Frau meines Lebens“ ist eigentlich ein typischer Männersatz. Doch auch im Dasein von Frauen gibt es Begegnungen mit Frauen, die prägend und unvergesslich sind. Ich nahm mit der Kurzgeschichte „Meine Clarissa“ an dem Wettbewerb der Süddeutschen Zeitung teil – und gewann. Ein Stein war ins Rollen gekommen. Ich schrieb noch sieben weitere Geschichten über besondere Frauen und ihre Lebenswege, die sich kreuzen, die sich verlaufen, die auseinander gehen, die sich wieder treffen oder für alle Ewigkeit vom Schicksal getrennt werden. Entstanden sind acht Porträts, sieben zauberhafte Frauen und eine entzauberte Frau.

Die Erzählungen sind authentisch, alle Personen entspringen der Realität. Nur bei einer der Geschichten habe ich mir erlaubt, einen etwas fantastischen Schluss zu wählen. Auch enttäuschende Freundschaften haben ihre Diamanten, die erst später funkeln.

Sonia aus Bolivien lernte ich in Madrid durch meinen Sohn kennen, deshalb ist diese Erzählung aus seiner Perspektive geschildert. Es musste über ihr Elend geschrieben werden, sonst ändert sich nichts. Aus diesem Grund war mir ihre Geschichte auch besonders wichtig.

Es gehört zu meinem Beruf als Journalistin, neugierig auf Menschen und ihre Lebenswege zu sein. Man kann diese Geschichten jedoch nicht finden, wenn man nur auf Pressekonferenzen geht oder abgestimmte Interviews führt. Stattdessen habe ich versucht, ganz nah an meine Protagonistinnen heranzutreten, ihnen fast unter die Haut zu kriechen, um auf diese Weise ihre Geheimnisse aufzuspüren. Ich habe mich so lange festgebissen, bis das fremde Leben so durchsichtig war, als wäre es mein eigenes.

Das Schönste am Schreiben ist der Augenblick, in dem man plötzlich alles erkennt und versteht. Als ich die Geschichten aufschrieb, war es wie ein Gleiten zwischen den verschiedenen Tonarten des Lebens – zwischen heiter und ernst, freudig und traurig. Es gibt ein dicht gewobenes Netz, das alle Geschichten miteinander verbindet: das Flechtwerk der Liebe. Das Buch gewährt Einblicke in die Lebenslinien faszinierender Frauen. Es sind ihre Geschichten, die vom Leben an sich handeln.

Eines habe ich dabei gelernt: Eine Geschichte ist nie zu Ende, sie folgt immer dem, der sie gehört hat.

Petra Nikolic

Meine Großmutter oder Das Glück liegt in mir

Du sitzt vor mir und bist wütend. Es ist keine Wut, die mit Donnergetöse und Fauchen kommt, es ist eine kleine, feine Wut, wie das Summen einer Biene, die sich im Zimmer verirrt hat und nun den Weg nach draußen sucht.

„Er hat mir schon wieder die Haare zu kurz geschnitten“, sagst du zornig.

„Warum schimpfst du so? Ich finde deine Frisur sehr schön!“, antworte ich und streiche mit den Fingern durch die kurzen silbernen Locken. Sie fühlen sich weich und zart an – wie Daunen.

„Ich habe es ihm schon hundert Mal gesagt: Ich will die Haare über den Ohren länger haben, damit man mein Hörgerät nicht sieht.“

Ich muss schmunzeln. Auch mit 92 Jahren erlaubst du dir noch, ein wenig eitel zu sein. Dann sehe ich plötzlich das Glitzern in deinen Augen, das ich so gut kenne, und mit dem du immer in die Vergangenheit reist. Du schaust mich an und ich spüre, wie die Luft vibriert. Dann beginnst du zu erzählen:

„Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern, als ich beim Friseur war, um mir meine langen Zöpfe abschneiden zu lassen. Es war ein ganz besonderer Tag. Es war der Tag, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg gestorben ist.“

Das ist einer jener Sätze, den nur meine Großmutter sagen kann. Er ist einmalig. Kein anderer Mensch auf dieser Welt teilt mit ihr dieses Erlebnis. Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte und damit den Nationalsozialisten den Weg geebnet hatte, starb am 2. August 1934. Da war meine Großmutter 14 Jahre alt. Ein Teenager auf dem Weg zu einer jungen Frau. In einer Zeitschrift hatte sie die Bilder der „Flappers“ gesehen, jener jungen Frauen, die in den Kreisen der Bohème Charleston tanzen. Sie trugen die Haare ganz kurz im Nacken. So wollte Großmutter auch aussehen. Die Zeit der Jungmädchenzöpfe war vorbei. Sie saß gerade im Friseurgeschäft und wartete gespannt auf ihre neue Frisur, als die Nachricht vom Tod Hindenburgs im Radio kam.

Wenn meine Großmutter über diese Zeit spricht, dann höre ich Lautsprecher erschallen, Schlachtrufe ertönen, Hitler-Geschrei und ich sehe Menschen, die Hakenkreuzfahnen schwenken. Mittendrin entdecke ich ein kleines, zierliches Mädchen, das verloren mit einem Paar Zöpfen in der Hand durch die Straßen geht.

Großmutter hat nie geschimpft über den Krieg, nie mit dem Schicksal gehadert, obwohl die Kriegsjahre auch ihr Leid und Tod gebracht haben und sie mehr verloren hat als nur zwei Zöpfe.

Meine Oma Elisabeth wird am 3. März 1920 in Frankfurt geboren. Ihre Kindheit ist glücklich – bis zu dem Tag, als ihr Vater die Familie verlässt, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Sie ist jünger als ihre Mutter und wohnt in einem Viertel von Frankfurt, das man als anständiger Bürger nicht betritt. Bald gibt es keinen Kontakt mehr.

„Ich durfte meinen Vater nicht besuchen, meine Mutter hat es nicht erlaubt.“

Kurz darauf zieht ein anderer Mann in das Haus ein. Er ist sehr streng. Wenn die Kinder nicht parieren, gibt es Ohrfeigen. Großmutter mag den Mann nicht, den man ihr als neuen Vater vorsetzt:

„Er hatte einen gewaltigen Schnurrbart. Die Barthaare gingen weit nach unten und dann in einen Bogen nach oben. Die Enden seines Bartes hat er immer mit einer furchtbar stinkenden Bartwichse nach oben gezwirbelt. Mein Stiefvater trug einen richtigen Kaiser-Wilhelm-Bart. Beim Essen blieb immeretwas in seinem Bart hängen. Mein Bruder und ich haben darüber heimlich gelacht.“

Großmutter wird früh erwachsen, weil sie einen kühlen und wachen Verstand braucht, um aus dem tristen Umfeld zu Hause zu entfliehen. Sie ist erst 17 Jahre alt, als sie meinen Großvater heiratet. Kennengelernt hat sie ihn mit 16 Jahren. Nach der Schule beginnt sie eine Schneiderlehre. Auf dem Weg zur Schneiderei begegnet sie Großvater. Jeden Morgen und jeden Abend sieht sie ihn in der Straßenbahn sitzen.

„Er hat immer so getan, als würde er die Zeitung lesen, aber heimlich hat er mich beobachtet. Ich habe seine Blicke gespürt und bekam richtig Gänsehaut.“

Dann eines Tages kommt es zur ersten Begegnung.

„Ich hatte mir eine Tüte mit Lakritz am Kiosk gekauft. Ich ging die Straße hinunter und habe dabei Lakritz gegessen. Plötzlich greift eine Hand von hinten über meine Schulter und langt in die Tüte. Er war es. Mit einem frechen Grinsen hat er sich einige Lakritz genommen und in den Mund geschoben.“

Meine Großmutter heiratet den schelmischen Dieb und schon ein Jahr später kommt Ingrid auf die Welt – meine Mutter. Großvater hat gerade mit dem Studium begonnen, Ingenieur will er werden. Er studiert und arbeitet nebenher, um seine Familie zu ernähren.

„Sonntags saß er immer am Schreibtisch an seinen Zeichnungen für die Universität. Ich wollte aber lieber am Main oder im Park spazieren gehen. Deshalb habe ich mich zu ihm gesetzt und ihm dabei geholfen. So waren wir schneller fertig.“

Doch das Glück der beiden ist nur von kurzer Dauer – dunkle Kriegswolken ziehen auf. Großvater wird zum Kriegsdienst eingezogen und im Sudetenland stationiert.

Frankfurt ist ein beliebtes Ziel für die Bomber der Amerikaner. Der Himmel ist immer grau. Meist geschieht es in der Nacht: Erst hört man ein Surren über den Wolken. Es klingt wie ein angriffslustiger Bienenschwarm. Dann folgt ein Pfeifen. Die Bomben werden abgeworfen. Die Stadt erzittert für einen kurzen Moment. Am nächsten Tag geht das Leben weiter. Immer mehr Stadtteile von Frankfurt liegen in Schutt und Asche.

Am 29. Januar 1944 fliegt die amerikanische Luftwaffe ihren ersten Großangriff auf die Stadt. 500 Flugzeuge bombardieren Frankfurt. Großmutter packt einen Koffer mit dem Nötigsten und sucht mit Ingrid einen Luftschutzkeller auf. Sie haben Glück. Obwohl die Amerikaner die Einschläge auf das gesamte Stadtgebiet verteilen, kommen sie heil davon. Sie können wieder in ihre Wohnung zurück. Noch Tage später hört man Explosionen auf der Straße. Die US-Luftwaffe hatte Bomben mit Langzeitzündern abgeworfen, die erst später ihre tödliche Wirkung entfalten. Wenige Wochen danach setzen die Amerikaner ihre Luftangriffe fort. Sie zielen vor allem auf Kasernenanlagen und Zulieferer für die Rüstungsindustrie. Dann werden die Wasserleitungen bombardiert. Tagelang ist die Stadt ohne Trinkwasser.

Immer wieder müssen Großmutter und Ingrid ihren Koffer packen und in den Luftschutzkeller gehen. Dort sitzen sie mit vielen anderen zusammengekauert auf dem Boden und warten, bis die Sirenen ertönen, die das Ende des Bombardements ankündigten. Jede Nacht wiederholt sich dieser Zustand zwischen Warten, Hoffen, Bangen und Aufatmen. Als der Luftschutzkeller zerstört ist, suchen sie Schutz in einer leerstehenden Wohnung. Dort kommt auch Elke auf die Welt. Eine Nachbarin hilft Großmutter bei der Geburt.

Am 22. März 1944 starten die Amerikaner ihren letzten Luftangriff auf die Stadt. Danach gibt es Frankfurt nicht mehr. 2 000 Flugzeuge bombardieren die Stadt, ein zerstörerischer Dauerregen aus über zwei Millionen Brandbomben und knapp 4 000 Sprengbomben und Luftminen fällt nieder. Auf den Regen folgt das Feuer. Die Bomben lösen einen Feuerorkan aus, der die Stadt in eine Trümmerwüste verwandelt. Der Eiserne Steg, das Wahrzeichen von Frankfurt, ist in zwei Hälften geteilt. Eine Hälfte ragt nach oben, wie ein Finger, der zum Himmel deutet, als wollte er den Weg zu den Zerstörern zeigen, die andere Hälfte ist im Main versunken.

Die Bevölkerung wird evakuiert. 150.000 Menschen sind auf der Flucht. Mit Lastwagen und Zügen bringt man sie aufs Land, nach Usingen und Weilburg, Groß-Gerau, Büdingen, Schlüchtern, Geln-hausen, Wetzlar und Friedberg. Und Großmutter? Großmutter will nicht nach Wetzlar oder Friedberg. Sie hat ein anderes Ziel – sie will ins Sudetenland, zu ihrem Mann. Eine verhängnisvolle Entscheidung, doch das weiß sie in diesem Moment noch nicht. Am Bahnhof im Stadtteil Höchst steigt sie mit ihren Kindern in einen der überfüllten Züge ein. Die Menschen sind eingepfercht wie Vieh. Großmutter mitten unter ihnen, Ingrid an der Hand und Elke, ihr neugeborenes Kind, in eine Wickeldecke gepackt. Es gibt kaum etwas zu essen oder zu trinken. Elke schreit die ganze Zeit vor Hunger. Doch Großmutter hat keine Milch, sie kann sie nicht stillen. In der Nacht plötzlich hört das Kind auf zu schreien. Die Augen blicken starr zu ihr auf. Eine Frau kommt und nimmt ihr das tote Kind aus dem Arm.

Großmutter und Ingrid landen schließlich in dem kleinen Ort Schönhengstgau an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren in der ehemaligen Tschechoslowakei. Der Gebirgszug Schönhengst gab dem Ort, der heute längst nicht mehr existiert, seinen Namen. Über 700 Jahre lang war Schönhengstgau eine deutsche Sprachinsel mitten im Sudetenland.

Schönhengst – ein Wort, das ich aus meiner Kindheit kenne. Das mich durch sie begleitet hat wie eine Wolke aus Parfüm. Ich konnte sie nie fassen, sie entglitt mir immer. Schön Hengst. Ich stellte mir einen schönen Hengst vor, es musste ein wunderbarer Ort sein, der nach schönen Pferden benannt ist. Doch warum flüstern Oma und Mama immer so geheimnisvoll? Etwas schwingt mit, das ich nicht verstehe, nicht begreife, aber spüre. „Weißt du noch, damals in Schönhengst?“, sagt Oma zu meiner Mutter, und dann schauen sich beide verschwörerisch an.

Das kleine Dorf Schönhengstgau besteht während des Krieges aus 28 Häusern und zwei Gasthöfen. Die Menschen sind einfache Bauern, aber sie sind freundlich. Sie nehmen die beiden Flüchtlinge aus Frankfurt bei sich auf. Um Geld zu verdienen, trägt Großmutter die Post aus. Meine Mutter lernt in dieser Zeit Skilaufen.

„Die Skier wurden damals direkt an den Hosenbeinen festgeklemmt. Skischuhe gab es noch nicht. Einmal bin ich von der Arbeit nach Hause gekommen, da kam mir Ingrid auf Skiern entgegengesaust“, erinnert sich Großmutter.

Überhaupt war Ingrid ein unerschrockenes Kind. Eines Tages erscheint ein russischer Soldat auf einem Fahrrad im Dorf. Keiner weiß, woher er kommt und was er in dem kleinen Ort will. Er sieht Ingrid, die am Straßenrand spielt. „Komm“, sagt er nur zu ihr, hebt sie auf den Gepäckträger seines Fahrrads und dann verschwindet er mit ihr in Richtung Wald. Die Menschen sind wie gelähmt vor Angst und Schrecken. Was hat der Soldat mit dem Mädchen vor? Doch nach einer halben Stunde bringt der Unbekannte Ingrid unversehrt wieder zurück. Sie jauchzt und ist glücklich über diesen Ausflug mit dem Fahrrad. Ein Mann aus dem Dorf spricht ein wenig Russisch. Der Soldat erzählt ihm lachend, dass ihn Ingrid mit ihren langen schwarzen Zöpfen an seine kleine Schwester zu Hause in Russland erinnert hat. Er wollte ihr mit der Fahrradtour eine Freude machen.

Großmutter und Ingrid erleben trotz Krieg und Vertreibung eine glückliche Zeit im Sudetenland. Ingrid ist eine Meisterin im Organisieren von Essen und anderen Dingen, die sie für das tägliche Leben brauchen. Durch ihre freundliche und unbekümmerte Art ist sie im Dorf beliebt, immer wieder schenken ihr die Bauern etwas. Einmal kommt sie mit einem ganzen Topf dampfend heißer Suppe nach Hause gelaufen.

Meine Mutter wird im Sudetenland auch eingeschult. Gemeinsam mit drei anderen Kindern aus Schönhengst besucht sie die Grundschule in Ketzelsdorf. Jeden Tag müssen die Kinder mehrere Kilometer über die Felder zur Schule laufen. Wenn die Tiefflieger kommen, verstecken sie sich im Wald. Sie warten, bis die Flugzeuge nicht mehr zu sehen sind, dann erst gehen sie weiter. Auf dem Heimweg bringt Ingrid Beeren und Pilze mit, die sie im Wald gesammelt hat. Die Menschen richten sich ein, so gut es geht in diesen Kriegszeiten. Großvater kommt seine kleine Familie oft besuchen. Auch an Weihnachten ist er da und sie feiern zusammen. Es gibt sogar einen kleinen Tannenbaum, den Großmutter im Wald selbst geschlagen hat.

„Wenn er kam, war er immer voller Optimismus. Bald ist es vorbei, beruhigt er mich. Bald sind wir wieder zusammen.“

Doch es kommt anders. Das Grauen beginnt im Februar 1945, wenige Monate vor Kriegsende. Die Sudetendeutschen sind plötzlich die Feinde. Der tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš hetzt die Menschen gegen sie auf. „Ihr Deutschen seid die Verräter unseres Staates“, rufen sie. Der Hass hat sie blind gemacht. Drei Millionen Sudetendeutsche werden aus der Tschechoslowakei vertrieben.

Eines Tages kommen Soldaten ins Dorf und stellen Trecks mit Viehwagen zusammen, um die Leute abzutransportieren. Hastig wird alles, was sie tragen können, zusammengepackt. Einige Sudetendeutsche weigern sich oder versuchen, die Soldaten umzustimmen. Ohne Erfolg. Großmutter und Ingrid verlassen Schönhengst voller Angst vor der Zukunft. Ein großer Zug aus Tausenden von Menschen setzt sich in Bewegung. Alle haben nicht mehr als ein kleines Bündel unter dem Arm. Über viele Jahre haben sie friedlich zusammengelebt, jetzt werden sie von den eigenen Nachbarn verstoßen. Sie sehen in die hassverzerrten Gesichter der Tschechoslowaken, die am Straßenrand stehen und den Abzug der Deutschen beobachten.

So setzt sich der Treck in Richtung Prag in Bewegung, doch niemand kennt das Ziel. Der einst geschlossene Zug zersplittert langsam, alte und kranke Leute bleiben unterwegs sitzen, weil sie nicht mehr weiter können. Viele davon sterben im Straßengraben, entweder an Erschöpfung oder weil sie von der begleitenden tschechoslowakischen Revolutionsgarde niedergeschossen werden. Seit Tagen hat es keine ausreichende Verpflegung mehr gegeben. In den Ortschaften, die sie durchwandern, werden sie überfallen und ihrer letzten Habe beraubt.

Ein Mann nimmt Ingrid die Puppe weg, er reißt sie ihr einfach aus dem Arm. Sie weint bitterlich. „Weine nicht, du bist doch schon ein großes Schulkind. Du brauchst keine Puppe mehr“, beruhigt Großmutter ihre Tochter. Dann kommt ein anderer Mann und versucht, Großmutter den Mantel vom Körper zu reißen. „Lassen Sie der Frau doch den Mantel. Sehen Sie denn nicht, dass sie schwanger ist“, herrscht ihn eine Frau an, die neben ihr läuft. Der Mann geht ohne den Mantel weg.

Tagelang sind sie unterwegs, ohne Trinken und Essen. Sie laufen bis zur Erschöpfung. Nur an den Bahnhöfen können sie etwas Wasser trinken, dann geht es weiter. Irgendwann in der Nacht kommen sie in Prag an. Dort wird der zerlumpte Haufen in das Prager Fußballstadion Strahov getrieben, das zum Sammellager umfunktioniert wurde. Es gibt keine Toiletten, nur offene Latrinen mitten im Lager. Keine Waschräume, kein Essen. Jeden Tag sterben Menschen. Die Leichen werden zu hohen Bergen aufgetürmt. Großmutter und Ingrid sehen die Toten, und ihre zerbröselten Gesichter leben in ihnen weiter, erscheinen nachts in ihren Träumen, verlassen sie nie wieder.

Immer mehr Menschen sterben und werden in Schubkarren weggefahren. Großmutter ahnt, dass der Tod auch bald ihr Schicksal sein wird, wenn sie nichts unternimmt. Mit dem Mut der Verzweiflung trifft Großmutter die lebensrettende Entscheidung: Wir fliehen aus dem Lager.

„Ich wusste, dass wir sterben würden, wenn wir hier blieben. Es gab keine Waschräume, Krankheiten verbreiteten sich. Es hieß, die Grenzen sind zu, keiner kommt mehr rüber. Aber ich wollte es trotzdem versuchen.“

Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von mutigen Männern und Frauen organisieren sie die Flucht. Sie besorgen sich heimlich alles Nötige, was sie für die Flucht brauchen. Nachts brechen sie auf. Schon Tage zuvor haben sie ein Loch in den Zaun geschnitten und dann wieder mit Draht geschlossen, so dass es niemand sieht. Ein Mann hat eine Taschenlampe dabei. Ein Rascheln im Unterholz – Ingrid erschrickt. Aber sie läuft weiter. Großmutter hat sie ganz fest an der Hand. „Du brauchst keine Angst zu haben, es wird alles gut werden“, flüstert sie dem Kind zu. Die Stille des Waldes umhüllt sie wie eine weiche Decke. Sie fliehen durch den Wald, bis sie an die Grenze nach Oberbayern kommen. Dort stehen sie wie benommen, keiner wagt etwas zu sagen. „Da schau Ingrid, dort ist Deutschland. Da kann uns niemand mehr holen“, sagt Großmutter.

Die kleine Gruppe löst sich an der Grenze auf und jeder versucht, alleine durchzukommen. Großmutter findet mit Ingrid Unterschlupf auf einem Bauernhof. Nachdem sie sich ein paar Tage erholt haben und wieder zu Kräften gekommen sind, geht es mit Sonderzügen, die alle Vertriebenen aufsammeln, zurück nach Hause – nach Frankfurt. Als Großmutter in das zerbombte Frankfurt kommt, erkennt sie ihre Stadt nicht wieder. Trümmer, Schutt und Asche haben die Stadt unter sich begraben.

„Alles war zerstört. Nur der Dom stand noch“, erinnert sich Großmutter.

Sie kommen zunächst bei einer Tante in Griesheim unter. Dann geht es zurück in die alte Wohnung nach Höchst. Das Haus steht noch, aber die Wand zwischen Wohnzimmer und Schlafzimmer ist eingestürzt. Großmutter kauft sich eine Maurerkelle, sammelt die Steine ein und fängt an, die Wand wieder aufzubauen. Stein für Stein. Mit jedem Stein denkt sie an Großvater und wartet auf ein Lebenszeichen von ihm. Mit jedem Stein schwindet die Hoffnung. Als die Wand fertig ist, weiß sie, dass er nicht mehr zurückkommt. Vermisst.

Großmutter bleibt allein mit ihren drei Töchtern. Heidi und Karin, die nach Kriegsende auf die Welt kommen, haben ihren Vater nicht mehr gesehen. Sie zieht die Mädchen alleine groß und ist heute noch stolz darauf, dass sie allen drei Töchtern eine gute Ausbildung ermöglicht hat. In den Trümmern der Nachkriegsjahre eine Normalität im Alltag zu schaffen, war für sie die größte Herausforderung. Sie hatte Bombardierung, Vertreibung, Todesmarsch, Flucht und Internierungslager überlebt. Sie würde auch das schaffen.

„Wir wohnten in der Nähe der Bahngleise. Wenn nachts die Güterzüge über die Gleise schepperten, fuhr Ingrid im Schlaf hoch und schrie. Sie war fast nicht mehr zu beruhigen.“

Nachdem die Wohnung in Höchst zu klein geworden ist, suchen sie sich eine helle große Wohnung im Stadtteil Zeilsheim. Ingrid hat inzwischen geheiratet und so zieht sie mit ihrem Mann, meinem Vater, gemeinsam in die neue Wohnung von Großmutter.

Ich trete mit viel Geschrei in ihr Leben. Ich war ein anstrengendes Baby. Tag und Nacht hat sie mich auf den Armen getragen. Wir wohnen alle zusammen: meine Eltern, meine Großmutter und meine Tanten Heidi und Karin. Die Wohnung war riesen-groß: Ich erinnere mich, wie ich mit meinem kleinen Roller durch endlose Flure gefahren bin. Es war praktisch für meine Eltern, dass der Babysitter in der gleichen Wohnung lebte. So konnten sie abends ausgehen, ins Kino oder zum Tanzen, sich mit Freunden treffen, ohne sich Sorgen um ihr Kind zu machen.

Ich war nie allein. Du warst immer bei mir. Du hast mich getröstet, wenn ich nachts vor Schmerzen nicht schlafen konnte, weil sich wieder ein Zahn durch den Kiefer bohrte. Du hast mich in den Arm genommen, ganz sanft hast du mich in den Schlaf gewiegt und wir sind zusammen mit leichtem Flügelschlag über die Wellen und das brausende Meer geflogen.

Dann kommt die Vertreibung aus dem Paradies. Meine Eltern suchen sich eine eigene Wohnung und wir ziehen ans andere Ende der Stadt. Zu allem Überfluss bekomme ich noch ein Brüderchen, das alle Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zieht. Nachts liege ich im Bett und die Sehnsucht nach dir, nach deiner Wärme und Geborgenheit bringt mich um den Schlaf.

Nachdem auch Heidi und Karin verheiratet sind und ihre eigene Familie gegründet haben, fängst du an zu reisen und die Welt zu entdecken. Auf einer Urlaubsreise lernst du einen charmanten Österreicher kennen. Ihr zieht zusammen nach Zell am See. In den Schulferien besuche ich dich oft. Morgens ganz früh schnallen wir die Skier an und sausen los.

Du unternimmst mit Joschi aufregende Reisen, ihr macht Kreuzfahrten und besucht die schönsten Strände der Welt.