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Maria hat sich in ein Haus in einem kleinen Ort an der katalanischen Küste zurückgezogen und trauert um ihre große Liebe. Alles hier erinnert sie daran, wie glücklich sie war, ehe das Schicksal ihr den geliebten Menschen nahm. Doch dann kündigt sich überraschend Besuch an. Emma, ihre jüngere Schwester, zu der sie kaum Kontakt hat. Ist Emma nur ein unerwünschter Eindringling, der die von Maria gezogenen unsichtbaren Grenzen überschreitet? Wird sie nur schmerzhafte Erinnerungen an die Kindheit heraufbeschwören, die für beide nicht glücklich war? Oder ist es die Chance für einen Neuanfang? Vor der Kulisse der wilden Schönheit der Mittelmeerküste im Nordosten Spaniens erzählt Linda Olsson in ihrem neuen Roman die bewegende Geschichte zweier Schwestern, die nach langen Jahren der Entfremdung wieder zueinander finden.
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2019
Zum Buch
Maria sucht die Einsamkeit und hat sich in ein Haus in einem kleinen Ort an der katalanischen Küste zurückgezogen. Doch dann kündigt sich überraschend Besuch an. Emma, ihre jüngere Schwester, zu der sie kaum Kontakt hat. Ist Emma nur ein unerwünschter Eindringling, der die von Maria gezogenen unsichtbaren Grenzen überschreitet? Wird sie nur schmerzhafte Erinnerungen an die Kindheit heraufbeschwören, die für beide nicht glücklich war? Oder ist es die Chance für einen Neuanfang? Vor der Kulisse der wilden Schönheit der Mittelmeerküste im Nordosten Spaniens erzählt Linda Olsson in ihrem neuen Roman die bewegende Geschichte zweier Schwestern, die nach langen Jahren der Entfremdung wieder zueinander finden.
Zur Autorin
LINDA OLSSON, geboren in Schweden, studierte Jura und arbeitete im Finanzgeschäft. Sie lebte in Kenia, Singapur, Japan und England und hat sich schließlich mit ihrem Mann in Neuseeland niedergelassen. Mit ihrem Debütroman »Die Dorfhexe« gelang ihr sofort der Sprung auf die internationalen Bestsellerlisten. Heute pendelt die Autorin zwischen Neuseeland und Schweden.
Linda Olsson
EINE SCHWESTERIN MEINEMHAUS
Roman
Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »En syster i mitt hus« bei Brombergs Bokförlag, Stockholm.Alle in diesem Roman geschilderten Handlungen und Personensind frei erfunden.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
1. AuflageDeutsche Erstausgabe März 2019 btb Verlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCopyright © 2016 by Linda OlssonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by btb Verlagin der Verlagsgruppe Random House GmbHCovergestaltung: semper smile, München,nach einem Entwurf von Penguin Random House USCovermotiv: L’Estaque a Marseille (oil on canvas)/Albert Marquet/Bridgeman ImagesSatz: Uhl + Massopust, AalenMK · Herstellung: scISBN 978-3-641-22698-5V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag
Für Sally, vielen Dank für Hatepe
One Sister have I in our house,And one, a hedge away.There’s only one recorded,But both belong to me.
Emily Dickinson
Ich kann nicht mehr genau sagen, warum ich es getan habe. Ein Teil von mir führt manchmal ein eigenständiges, impulsives Leben, über das ich keine Kontrolle habe. Ich staune oft, wozu es in der Lage ist. Und ich staune, wie viel Gutes doch dabei herauskommt. Aber am Ende muss immer mein Ich, mein bewusstes Ich, die Konsequenzen tragen. Im Guten wie im Schlechten.
Wenn ich rückblickend betrachte, wie sehr dieser spontane Einfall meine Sicht auf mich und das Leben verändert hat, kann ich es nicht fassen, dass ich es nicht schon damals erkannt habe. Die Bedeutsamkeit meiner unbesonnenen Einladung. Ein paar unbedachte Worte, aus den Tiefen meines Selbst entsprungen. Die im ersten Moment keinerlei Wirkung hatten, zumindest keine, die ich bemerkt hätte.
Hatte mein Unterbewusstsein einen bestimmten Zweck damit verfolgt? Hatte ich mir das tief im Inneren gewünscht? Hatte mich doch alles, was diesem Augenblick vorausgegangen war, so stark beeinflusst, dass ich meine Schwester einlud vorbeizukommen, als sie vor mir stand? Oder hatte mich etwas an ihr dazu veranlasst, diese Worte auszusprechen? Ich weiß es nicht. Ich kann meine eigenen Fragen nicht beantworten. Ich verstehe mich selbst nicht.
Ich kann nur mit den Konsequenzen leben. Und versuchen, den Rest meines Lebens so gut wie möglich zu gestalten. Und das zu schätzen, was mir noch von dem bleibt, was ich damals so leichtfertig zurückgewiesen habe.
»Welches Bett soll ich für Ihren Gast fertig machen?«, fragte mich das Hausmädchen. Wir standen in dem halbdunklen Esszimmer. Ihre braunen Augen waren ausdruckslos. Für sie war es natürlich nur eine ganz pragmatische Frage.
Aber ihre Worte trafen mich, als hätte ich etwas Heißes und Schweres hinuntergeschluckt. Und dort unten im Magen lagen sie nun und brannten. Mich traf die Erkenntnis mit voller Wucht, dass mit Anbruch des Abends auch meine Schwester kommen würde. Und in einem der Betten schlafen. In einem der Räume wohnen. In das eindringen, was meins war, und dadurch die gesamte Atmosphäre verändern. Nicht absichtlich.
Nein, mit mir stimmt etwas nicht. Für mich ist das, was ich als meins betrachte, so … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Zerbrechlich, vielleicht. So bloß liegend und empfindlich. In jeder Hinsicht. Ich bin nicht in der Lage, das zu teilen, was mir so viel bedeutet. Und wenn mich die Umstände dazu zwingen, will ich gehen und alles hinter mir lassen. Dann ist es für immer zerstört. Wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass es vielleicht schon immer so gewesen ist. Auch bevor es Emma gab. Vielleicht habe ich solche Angst davor, den Kampf um etwas zu verlieren, dass ich es erst gar nicht versuche? Darauf bin ich wirklich nicht stolz, aber wenigstens kann ich es heute so annehmen, ohne Scham oder Schuld zu empfinden.
Ich musste schlucken, aber es half nichts. Die Hitze in meinem Magen erzeugte Übelkeit in mir.
Das junge Mädchen wartete geduldig auf eine Antwort. Meine Gedanken flogen vom großen Schlafzimmer neben dem Esszimmer hinter mir, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss zu den beiden kleinen Schafzimmern dort. Dort wollte ich sie unterbringen. Aber würde es nicht sonderbar wirken, dass ich gar nicht selbst in dem großen Schlafzimmer schlief, es ihr aber nicht anbot? Allerdings würde es bedeuten, ihr auch den größten Teil des Hauses zu überlassen, wenn sie den großen Raum bekäme. Und das lag nicht nur an seiner Größe, sondern auch an seiner Lage. Im Herzen des Hauses. Sie würde dadurch Zutritt zu dem Großteil meines Hauses haben. Mehr, als ich wollte. Es fühlte sich an, als wäre sie schon im Haus und hätte dadurch auch mein Verhältnis zu ihm verändert. Das Unwohlsein nahm zu.
»Wir nehmen den ersten Raum unten«, wies ich das Hausmädchen an, es nickte und verschwand die Treppe hinunter.
Ich ging hoch in den ersten Stock. Die Wohnfläche dort besteht aus einem einzigen Zimmer, einem großen, offenen Raum, in dem Innen und Außen nur durch Glaswände und Schiebetüren voneinander getrennt sind. Mit geöffneten Türen fühlt es sich an, als wäre man draußen, wo kleine Vögel zu Besuch vorbeikommen. Dort hielt ich mich am häufigsten auf. Schlief auf einem der harten Sofas. Aß auf der Dachterrasse, wenn es nicht regnete. Und ich arbeitete dort. Es war ein großes Haus, doch ich benutzte eigentlich nur den oberen Stock. Aber mir gefiel die Gewissheit, die anderen Räume unter mir zu wissen. Sie hatten die Aufgabe eines Puffers gegen die restliche Welt.
Ich trat auf die Dachterrasse, die ich als meinen Garten betrachtete. Meinen ersten eigenen Garten. Genau genommen war es aber nicht viel mehr als ein mit Terrakottaplatten gefliester Bereich mit ein paar Topfpflanzen. Ein Zitronenbaum, ein Limettenbaum, Wein, der langsam an der Steinwand emporkletterte, sowie ein paar rote und rosa Pelargonien. Die große, hochgewachsene Bougainvillea gehörte eigentlich nicht dorthin, obwohl sie eine ganze Ecke mit ihrer violetten Pracht einnahm. Sie hatte ihre Wurzeln unter den Steinplatten auf der Straße, und ich hatte sie darum nie als Objekt meiner Betreuung und Pflege angesehen. Wie sie so groß und üppig hatte werden können, war mir ein Rätsel. Die üppige Blütenpracht überstrahlte die bescheidenen Bemühungen der anderen Gewächse. Von mir wurde sie nie gegossen, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie musste ihre ganz eigene Quelle irgendwo in den Tiefen gefunden haben.
Ich setzte mich und sah hoch in den Himmel, hob die Hand und überprüfte, wie viele Finger zwischen Sonne und Bergkamm passten. Noch mindestens eine Stunde Tageslicht. Es war etwa halb sechs, und der Bus würde erst um acht Uhr kommen. Ich hätte genug Zeit, um meine Gartenarbeit zu beenden, wenn ich sie jetzt in Angriff nahm. Gießen, die trockenen Blätter und Zweige einsammeln, den Boden fegen und die Liegestühle zusammenklappen. Aber ich blieb sitzen.
Ich hörte, wie das Hausmädchen rief und sich verabschiedete, dann die Haustür zufiel und kurz darauf das Gartentor und ihre schnellen federnden Schritte, die langsam verklangen.
Das Haus gehörte wieder mir allein.
Ich stand auf und ging hinunter. In der Küche war es im Gegensatz zu dem gleißenden Licht auf der Dachterrasse ziemlich dunkel. Ich schenkte mir ein Glas Weißwein ein und nahm es mit nach oben.
Nicht nur die Pflanzen benötigten meine Fürsorge, das ganze Haus war ein lebender Organismus, der mich brauchte. Oder war ich es, die das Haus brauchte? Es umarmte mich und beschützte mich. Als würde es in die Sonne wachsen wollen wie die Pflanzen. Ganz unten, wo die Bougainvillea ihre Wurzeln hatte, befand sich mein Schlafzimmer, dort war es immer kühl und halbdunkel, selbst wenn ich die Fensterläden öffnete. Auch in der Küche und im Schlafzimmer im Erdgeschoss war es kühl, sogar an heißen Sommertagen. Und das fand ich tröstlich. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie es im Winter werden würde.
Seit meiner ersten Nacht schlafe ich ohne Gardinen. Ich habe gelernt, die Augen kurz aufzuschlagen und sofort die Tageszeit zu bestimmen. Das gefällt mir gut, und mittlerweile verlasse ich mich viel eher auf mein Ablesen des Sonnenstands als auf eine Uhr. Hier oben habe ich die schönsten Sonnenaufgänge und Sternenhimmel meines Lebens gesehen. Ich werde der Aussicht auf die Meeresbucht niemals müde, deren Wasser ständig die Farben ändert. Die weißen Häuser klettern den steilen Hang hinauf und bilden eine Art Amphitheater. Hinter den Häusern erhebt sich der Bergkamm wie eine beschützende Mauer. Gegen Ende des Tages mochte ich diesen Blick am meisten.
Es sollte mein erstes Jahr im Haus werden. Mein erster Winter hier. Ich hatte meine andere Wohnung aufgegeben, obwohl ich nicht sicher damit rechnen konnte, den Mietvertrag am Ende des Jahres zu verlängern. Oder das Haus eventuell kaufen zu können. Aber ich dachte nicht weiter als bis zum Frühling. Ein Jahr. Neben dem Kamin im Esszimmer lag ein Stapel Holz, darum nahm ich an, dass es ziemlich kalt werden könnte. Aber noch konnte man im Meer baden, und die Sonnenstrahlen wärmten einen.
Ich setzte mich auf die Holzbank an dem langen Tisch und nahm einen Schluck Wein. Ich trank zu viel. Zu viel im Verhältnis zu was? Das Kondenswasser am Glas wurde zu Tropfen, die mir über die Hand liefen. Ich musste mich doch mit niemandem und nichts vergleichen. Solange ich allein in meinem Haus war, waren alle Vergleiche unbedeutend. Es gab keine Bestimmungen, keine Regeln. Ob ich zu viel trank, konnte nur daran bemessen werden, wie es mir ging. Und abgesehen von der brennenden Faust im Magen ging es mir im Großen und Ganzen gut. Ohne Vergleiche. Mir ging es gut damit, ich zu sein. Hier zu sein.
Ich stellte das Glas ab und legte meine Hände auf die Tischplatte. Es waren kräftige Hände, obwohl sie nicht schön waren. Ich hatte nicht die langen, schmalen Finger mit den schön geformten Nägeln geerbt. Auch nicht die schönen, schlanken Beine. Und auch nicht die kleinen Füße. Oder das blonde Haar. Komischerweise hatte mir das nie etwas ausgemacht. Im Gegenteil. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich es jemals hatte anders haben wollen. Natürlich hatte ich begriffen, dass Emma die Schönheit meiner Mutter geerbt hatte. Das Ätherische. Das Feminine. Eine ansprechende Zerbrechlichkeit, vielleicht sogar Hilflosigkeit. Aber ich konnte mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, dass ich sie darum jemals beneidet hatte.
Am Anfang war ich damit ja auch nicht allein. Da hatte ich Amanda. Ich konnte mich in ihr spiegeln, und mir gefiel, was ich sah.
Emma durfte ihre Schönheit gerne behalten.
Plötzlich packte mich die Angst. Angst? Nein, es war mehr als das. Entsetzen – ja geradezu Panik. Ich nahm schnell noch einen großen Schluck Wein. Vielleicht sollte ich duschen? Mir etwas Sauberes anziehen? Ich sah an mir herunter, musterte mein gestreiftes Baumwollkleid. Ich hatte schon seit Langem aufgehört, meine Kleidung zu bügeln. So wie ich mich von den meisten Routinen verabschiedet hatte, mich frei geschält. Nein, so ganz stimmte das nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der die einfachsten, praktischen Aufgaben unüberwindlich schienen. Damals habe ich das meiste aufgegeben. Losgelassen.
Ich spürte einen kleinen Stich. Undefinierbar. Trauer vielleicht? Bitterkeit? Ich hoffte, dass es nicht Letzteres war. Trauer war in Ordnung. Die unauslöschliche Trauer, die tief in mir überlebt hatte. Mit ihr konnte ich leben. Vielleicht brauchte ich sie sogar, um zu leben. Und dazu gesellte sich die neue, noch nicht verklungene Trauer. Die pflegte ich sorgfältig. Aber Bitterkeit hat mir schon immer Angst eingejagt. Ich betrachtete meine Nägel und konnte mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal lackiert hatte. Oder mich geschminkt. Meine Haare schnitt ich mir selbst, trug sie aber meistens mit einer Klammer im Nacken. Ich öffnete sie und schüttelte meine Haare. Duschen, definitiv.
Noch war genug Zeit.
Mit geschlossenen Augen stand ich unter dem lauwarmen Wasser. Ich konnte mich genau an den Moment erinnern, als er über mich gekommen war. Dieser wahnsinnige Impuls. Ich erinnerte, wie wir zusammenstanden, Emma und ich. Noch waren vereinzelte Gäste da, aber es herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung.
Wir beide – wie in einer Blase. Es fühlte sich sonderbar an. Ich hatte dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit in Emmas Gegenwart noch nie empfunden. Auch nicht, als wir noch Kinder waren. Aber ich erinnere mich, wie ich mit einem Stapel von Tellern in den Händen vor ihr stehen blieb und sie ansah.
»Hast du Lust, mich in meinem Haus in Spanien besuchen zu kommen?«
Sie sah mich aus ihren großen hellen und leicht geröteten Augen an. Überrascht. Aber sie antwortete nicht gleich, sondern fuhr fort, das Besteck einzusammeln und die Servietten vom Tisch zu nehmen und zusammenzuknüllen. Voll beladen ging sie hinaus in die Küche.
»Ich fände es schön, wenn du Lust dazu hättest«, sagte ich, als sie zurückkam, und versuchte, es beiläufig klingen zu lassen, als wäre es gar nicht so wichtig. Aber da war etwas in mir, das mich geradezu genötigt hatte, die Einladung auszusprechen. Ich erinnere mich, dass ich meine Worte sofort wieder bereute, kaum dass sie mir über die Lippen gekommen waren.
»Ich weiß nicht, Maria«, sagte sie dann, ohne mich dabei anzusehen.
Ich zuckte mit den Schultern, als wäre ihre Antwort nicht so wichtig. Gleichzeitig spürte ich, wie erleichtert ich war.
»Im Moment ist gerade so viel los …« Sie beendete den Satz nicht. »Später vielleicht. Wenn es dann noch passt bei dir. Später.«
Später sollte zwei Jahre danach sein. Ich hatte meine Idee von damals schon längst vergessen. So viel war in der Zwischenzeit passiert. Wenn ich darüber nachdachte und versuchte zu verstehen, warum ich diese Einladung so unüberlegt ausgesprochen hatte, musste ich gestehen, dass ich möglicherweise nur hatte angeben wollen. Und mein neues Leben vorführen. Mit meinem Glück prahlen.
Meine Mutter hatte immer gesagt, dass man sich niemals anmaßen sollte, glücklich zu sein. Zumindest sollte man es nicht zugeben, weder sich selbst noch anderen gegenüber. Man sollte es auf keinen Fall zeigen. Dadurch würde man das Schicksal herausfordern, und das würde unweigerlich zur Katastrophe führen. Wenn das stimmte, war meine Mutter auf Nummer sicher gegangen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie jemals glücklich erlebt habe. Und offensichtlich bin auch ich ziemlich vorsichtig gewesen. Das ist tief in mir verankert. Aber als ich bei der Beerdigung meiner Mutter vor Emma stand, fühlte ich mich überraschenderweise glücklich. Und ich ließ das Glück für einen Moment lang zu. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter Recht behalten sollte. Natürlich.
Emma hatte der Tag sichtlich mitgenommen. Sie hatte bei der Zeremonie unaufhörlich geweint. Und als sie sich dann nach vorn beugte, um Geschirr vom Tisch abzuräumen, sah ich, dass ihr die Tränen liefen. Ich hatte überhaupt nicht geweint. Arrogant hatte ich das Gefühl zugelassen, glücklich zu sein. Nicht über den Tod meiner Mutter, sondern über das Leben, das vor mir lag. Damals.
Die Beerdigung selbst war nicht wirklich traurig. Der Tod meiner Mutter war nicht überraschend gekommen. Wir hatten viel Zeit gehabt, uns darauf vorzubereiten. Alles fand so statt, wie sie es sich gewünscht hatte. Viel Musik, das hatte sie immer gemocht. Romantische französische Chansons, die eine zauberhafte junge Sängerin in Begleitung eines Akkordeonspielers vortrug. Aber dieses Fest hätte schon viel früher stattfinden sollen. Und unter anderen Umständen. Bevor die Hauptperson verschwunden war. Es hatte sich eher wie eine leere Geste angefühlt, sinnlos und angestrengt. Wir alle spielten unsere Rollen, allen voran Emma und ich. Und unsere Mutter schwebte über uns beiden. Emma war schön, mit einem Hauch von Tragik, damals und wie schon immer. Ich hatte den Eindruck, dass sie auf der Beerdigung so richtig in ihrem Element war. Sie unterhielt sich in wohl dosierter, zurückhaltender und beherrschter Trauer mit den Gästen. Ihre Eleganz war angeboren. Denn bei uns zu Hause hatte es so etwas wie Eleganz nicht gegeben. Etwas anderes allerdings auch nicht. Man hatte das, womit man geboren wurde. Was man ansonsten benötigte, musste man sich auf anderem Wege besorgen. Oder ohne es auskommen.
Ich drehte den Wasserhahn zu, stellte mich auf den kühlen, polierten Steinboden und trocknete mich langsam und sorgfältig ab. Obwohl ich nicht zugenommen hatte – zumindest war ich davon überzeugt –, veränderte sich mein Körper, als würde er neu verteilt. Ganz allmählich. Ich stellte mich vor den Spiegel und streckte mich, zog das Kinn zur Brust. Ich war gerade achtundvierzig geworden. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass der Alterungsprozess fortschreiten und vermutlich an Geschwindigkeit zunehmen würde. Aber solange ich mich nicht mit meinem jüngeren Ich verglich oder mit jemand anderem, würde ich ihn gewähren lassen.
Aber da war Emma.
Ich hob erst den einen Arm, dann den anderen und betrachtete mein Spiegelbild. Das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Ich hatte den Eindruck, dass der Abstand zwischen mir und der Frau im Spiegelbild immer größer wurde und wir im Begriff waren, getrennter Wege zu gehen. Ich trug Deo auf, putzte die Zähne. Warum eigentlich? Eine berechtigte Frage. Ich würde gleich noch ein Glas Wein trinken. Ich kämmte mir die Haare und zog mir frische Sachen an. Jeans und eine gestreifte Bluse. Dann trat ich einen Schritt zurück und betrachtete mich prüfend. Und mir wurde bewusst, dass ich genau das tat. Trotz allem. Ich verglich mich. Mit meinem jüngeren Ich. Mit meiner Mutter. Aber am meisten mit Emma. Sie war zweiundvierzig. Sechs Jahre jünger als ich.
Der Unterschied zwischen uns war sehr groß, als Emma in mein Leben kam. Später, als junge Frau, war er verschwunden. Aber jetzt plötzlich war er wieder gewachsen.
Sechs Jahre lang war ich glücklich gewesen.
*
Nach der Beerdigung hatte ich nichts mehr von Emma gehört. Nicht dass ich es erwartet hätte. Ich hatte mich ja auch nicht mehr bei ihr gemeldet. Unser Kontakt war immer sporadisch gewesen. Bestenfalls. Auch in den letzten Monaten vor dem Tod meiner Mutter hatte ich mich nicht besonders oft gemeldet. Und wenn Emma und ich miteinander sprachen, entstand selten eine richtige Unterhaltung. Ich stellte die Fragen, die ich meinte, stellen zu müssen. Ich bot meine finanzielle Unterstützung an. Ein Angebot, das im Übrigen niemals angenommen wurde. Dabei hatte ich immer den Eindruck, dass die Krankheit meiner Mutter ausschließlich in Emmas Verantwortungsbereich lag. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mir das einredete, damit ich Schuldgefühle haben konnte oder ob es tatsächlich so gewesen ist. Emma hatte sich nie beschwert, hatte mich nie um etwas gebeten. Darüber war ich sehr erleichtert. Der zarte Kontakt, den wir am Ende und anlässlich der Beerdigung gehabt hatten, brach danach ganz ab. Meine Mutter hatte nie wirklich die Funktion eines verbindenden Kettengliedes gehabt, aber ihre physische Existenz war immerhin der sichtbare Beweis für unsere Verwandtschaft. Nach ihrem Tod blieb davon nichts übrig, und ich verschwendete keinen Gedanken an Emma oder ihr Leben.
Darum war Emmas Mail eine totale Überraschung für mich.
»Maria, ich weiß nicht, ob du dich an deine Einladung erinnerst. Dass ich dich in Spanien besuchen kommen kann. Wenn die Einladung noch steht, würde ich gerne kommen. Würde es dir im Oktober passen?«
Unterschrieben hatte sie mit »E«.
Sonst nichts. Aber das fühlte sich richtig an. Hätte sie mehr geschrieben, mich gefragt, wie es mir geht, oder einen Standardgruß angehängt, hätte ich wahrscheinlich anders reagiert – und vermutlich nicht positiv. Mit dieser kurzen, neutralen Mitteilung konnte ich umgehen. Das hörte sich echt an, und es war deshalb unmöglich, ihren Besuch abzulehnen. Darum antwortete ich ihr, dass es mir gut passen würde. Irgendwann im Oktober.
Es war der vierzehnte Oktober. Und Emma war auf dem Weg zu mir.
Als ich mit meinem aufgefüllten Weinglas auf die Terrasse trat, stand die Sonne auf dem Bergkamm über dem Hafen. Hinter der schwarzen Silhouette des Berges leuchtete der Himmel orange, um sich kurz darauf rosa zu färben und dann immer dunkler zu werden. Die Stadt lag bereits im Halbdunkel des Bergschattens. Es war dieser unbestimmte Moment, bevor der Tag nachgab und der Nacht den Vortritt ließ. Die beste Zeit des Tages, finde ich.
Ich blieb sitzen, solange es ging. Aber dann konnte ich es nicht länger aufschieben. Es wurde Zeit.
Ich versuchte, die kühle Abendluft tief einzuatmen, als ich die Haustür hinter mir zuwarf. Aber alles in mir hatte sich zusammengezogen, und ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
Als ich die Steintreppe hinunterging, die zum Hafen führte, sah ich Pau. Barfuß und in Shorts stand er in dem hellblauen Türrahmen. Er rauchte und betrachtete die Reihe der aufgestemmten Steinplatten zu seinen Füßen. Als er mich kommen hörte, sah er auf, lächelte und zuckte mit den Schultern.
»Bona tarda, Maria, da stehe ich hier und frage mich, ob ich die Wasserleitung jetzt noch verlegen soll oder ob das bis morgen warten kann, um mich auf die Terrasse zu setzen und mir einen Drink zu genehmigen. Was meinst du?«
»Hey«, sagte ich. Ich konnte mich nach wie vor nicht dazu überwinden, die einfachsten Höflichkeitsfloskeln auf Katalanisch zu sagen, obwohl ich welche beherrschte. »Es wird bald dunkel. Du kannst es genauso gut auf morgen verschieben, oder?«
Er nickte, steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, bückte sich und hob eine der Steinplatten hoch, um sie gegen die Hauswand zu lehnen.
»Vielen Dank für deinen Rat. Ich warte bis morgen. Die hier muss ich aber noch wegräumen, damit niemand im Dunkeln stolpert.« Er lächelte. Seine Zähne blitzten weiß in der plötzlichen Dunkelheit, als die letzten Sonnenstrahlen hinterm Haus verschwanden.
»Ich muss weiter, meine Schwester am Busbahnhof abholen«, erklärte ich. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Wenn wir uns trafen, plauderten wir ein bisschen miteinander, was praktisch jeden Tag stattfand, wenn ich abends an seinem Haus vorbeiging, um unten in der Stadt essen zu gehen. Aber daraus hatte sich noch nie ein längeres Gespräch entwickelt. Aus irgendeinem Grund aber hatte ich das Bedürfnis, ihm von Emmas Besuch zu erzählen. Vielleicht redete ich auch eher mit mir selbst. Um den Besuch zu etwas ganz Normalem und Selbstverständlichem zu machen, indem ich ihn wie im Vorbeigehen erwähnte.
»Wie schön! Du bekommst Gesellschaft. Da kann ich verstehen, dass du dich darauf freust.« Er winkte mir zu, widmete sich dann wieder seinen Steinplatten, und ich setzte meinen Weg hinunter zum Hafen fort.
Ich ging langsam, widerstand dem Wunsch, mich in eines der kleinen Cafés zu setzen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Darum bog ich in die Straße, die zum Busbahnhof führte.
Die große sterile Station lag verlassen da, und auch das Tickethäuschen sah geschlossen aus. Ich setzte mich auf eine der Bänke, stand aber gleich wieder auf. Ich konnte einfach nicht still sitzen.
Der Bus bog auf die Minute um die Ecke und hielt direkt vor mir. Die Türen öffneten sich mit einem Seufzer, dann klappten die Gepäckluken wie die Flügel eines riesigen Käfers hoch. Weniger als eine Handvoll Gepäckstücke lagen darin. Ein junger Mann sprang aus dem Bus und nahm einen Rucksack und eine Tasche an sich. Zurück blieb ein kleiner Koffer.
Dann sah ich sie. Sie kam die Treppenstufen so vorsichtig herunter, als wüsste sie nicht, wie sie es anstellen sollte. Es sah seltsam aus. Sie bewegte sich wie ein alter Mensch. Sie trug die Haare auch ganz kurz. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals so kurze Haare gehabt hatte. Beides war mir unangenehm. Als ich ihr winkte, nickte sie als Antwort, aber ohne die Andeutung eines Lächelns. Ich holte den Koffer aus dem Gepäckraum, von dem ich annahm, dass er ihr gehörte.
»Willkommen«, sagte ich. Aber als ich Anstalten machte, sie zu umarmen, wich sie einen Schritt zurück und hob die Hände abwehrend hoch.
»Komm mir bloß nicht zu nahe, ich bin am Ende der Fahrt so richtig reisekrank geworden. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Strecke hierhin die reinste Alpenstraße ist. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich eine Tablette genommen.«
Jetzt erst bemerkte ich, wie blass sie war.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich mich dafür entschuldigen, dass der Weg so kurvig war?
»Es ist nicht weit von hier. Ich hoffe, es geht gleich wieder«, sagte ich nach einer Weile.
»Ja doch, es wird mir guttun, an der frischen Luft zu sein. Das ist gleich wieder vorbei.«
Ich zog den Koffer hinter mir her, und sie machte keinerlei Anstalten, ihn mir abzunehmen. Als wir den Marktplatz erreicht hatten, blieb ich stehen.
»Dort oben steht mein Haus«, sagte ich und zeigte den Hang hinauf. »Es ist nicht mehr weit. Aber vielleicht sollen wir vorher noch eine Kleinigkeit essen gehen? Oder willst du lieber gleich nach Hause?«
Sie antwortete nicht sofort, sondern stand ganz still da und sah hinaus aufs Wasser.
»Das ist so schön«, sagte sie zum Schluss. Leise. »Genau wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Bei Tageslicht ist es noch schöner«, entgegnete ich, »das wirst du morgen sehen. Was meinst du, wollen wir uns kurz in einen der Läden hier setzen?« Ich deutete auf die kleinen Restaurants und Bars, die den Markplatz säumten.
Sie nickte. »Ja, es wäre bestimmt nicht schlecht, wenn ich etwas zu mir nähme.«
Wir gingen in ein Tapasrestaurant, in das ich oft allein essen ging. Plötzlich überkam mich ein starker Unwille, diesen Ort mit jemandem zu teilen. Als würde mein Erleben des Ortes zerstört werden, wenn ich ihn mit Emma teilte. Ich war ein regelmäßiger Gast, darum kannten die Kellner mich mittlerweile und ich sie. Ich saß meist am Ecktisch neben dem Fenster und hatte immer etwas zu lesen dabei. Und ich durfte ungestört so lange sitzen bleiben, wie ich wollte. Als Adriana uns lächelnd entgegenkam, bat ich ausdrücklich um einen anderen Tisch.
Wir setzten uns. Jetzt konnten wir es nicht mehr vermeiden, uns anzusehen.
»Danke, dass ich kommen durfte. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Ja, aber ich muss gestehen, dass ich meine Einladung vollkommen vergessen hatte. Es liegt ja schon so weit zurück.« Ich hörte sofort, wie das klang.
Sie nickte. »Ja, da ist immer so viel dazwischengekommen. Ich hoffe, dass du es mir gesagt hättest, wenn es dir nicht passt?«
»Auch bei mir ist vieles dazwischengekommen«, sagte ich und senkte den Blick.
»Und dein Mann, ist der nicht da?«
Eine ganz normale Frage, naheliegend. Erwartet, und trotzdem vernichtete sie mit einem Schlag meine wohlüberlegte Verteidigung. Ich war nicht in der Lage zu antworten.
»Nein. Ich bin allein hier.« Zu mehr war ich nicht in der Lage. »Wollen wir mal in die Karte sehen?«
Wir bestellten und führten dann eine etwas holprige Unterhaltung, aber ich erinnere mich nicht, worüber. Ich hatte überhaupt keinen Hunger mehr. Aber als der Wein kam, nahm ich einen großen Schluck.
»Und was ist mit Olof? Wollte er nicht mitkommen?«
Emma hob den Kopf und sah mich an. Für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob sie nicht gleich anfangen würde zu weinen. Aber vielleicht kam der Glanz in ihren Augen auch von dem kleinen flackernden Licht auf unserem Tisch. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe eine Freundin besucht, die ein Haus in Avignon hat. Darum habe ich dir eine Mail geschickt. Ich habe auf der Karte gesehen, wie nah es ist. Und die Zugverbindungen sind wirklich gut.«
Ein Ausweichmanöver, offensichtlich. Darin war sie besser als ich. So wie früher. Emma konnte schon als Kind die schöneren Kulissen zeichnen.
Wir pickten von den kleinen Tellern auf dem Tisch, aber keine von uns mit besonderem Enthusiasmus.
»Wohnst du hier jetzt ständig?«
»Nicht wirklich. Aber ich wohne auch nicht an einem anderen Ort. Ich würde sagen, das hier kommt einem Zuhause am nächsten. Ich nehme und lebe einen Tag nach dem anderen. Hier ist es ruhig und schön, und ich habe ab und zu ein paar Gelegenheitsjobs, die ich von hier aus machen kann. Ich muss abwarten, wie sich das entwickelt.«
»Du mietest das Haus? Ich dachte, du hättest es gekauft. Es klang damals so, fand ich. Als du mich eingeladen hast.«
Ich steckte mir etwas zu essen in den Mund, kaute sorgfältig und schluckte es hinunter.
»Ich denke darüber nach. Aber bis dahin miete ich es.«
Das wird schrecklich, schoss es mir durch den Kopf. Dieses gegenseitige Abtasten der Geheimnisse der anderen. Nicht dass mich Emmas Privatleben sonderlich interessiert hätte. Aber irgendetwas musste ich doch sagen, um ihre Fragen abzuwehren.
»Und wie geht es den Kindern?«
Sie zuckte zusammen, als hätte ich etwas vollkommen Unerwartetes gesagt. Dann räusperte sie sich.
»Gut, es geht ihnen gut, soweit ich weiß.«
