Die fremden Jahre - Lotte Andor - E-Book

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Lotte Andor

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Beschreibung

Die Schauspielerin Lotte Andor und der Kaufmann Erich Leyens gehören zu einer Minderheit deutscher Juden, die bereits das Jahr 1933 mit der Machtergreifung Hitlers als »Schicksalsjahr« begriffen. Sie nahmen die willkürliche Konfrontation mit dem »Jude-Sein« ernst und waren fähig, ihre Emigration rechtzeitig einzuleiten. Wie unterschiedlich dennoch ihr individueller Leidensweg in Deutschland bis zur Ausreise und ihr persönlicher Umgang mit diesem erzwungenen Lebenseinschnitt waren, zeigen die in diesem Buch veröffentlichten Aufzeichnungen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Erich Leyens | Lotte Andor

Die fremden Jahre

Erinnerungen an Deutschland

FISCHER Digital

Eingeleitet von Wolfgang Benz

Inhalt

LebensbilderLotte Andor und Erich [...]Erich Leyens: Unter dem NS-Regime 1933–1938. Erlebnisse und BeobachtungenVorbemerkung des HerausgebersUnter dem NS-Regime 1933–1938Selbsthilfe eines jüdischen FrontkämpfersEpilog: Reflexionen über Macht und SchicksalLotte Andor: Memoiren einer unbekannten Schauspielerin oder Ich war nie ein BernhardinerVorbemerkung des HerausgebersMemoiren einer unbekannten Schauspielerin

Lebensbilder

Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse

 

Herausgegeben von Wolfgang Benz

Lotte Andor und Erich Leyens gehören zu einer Minderheit deutscher Juden, die bereits das Jahr 1933 mit der Machtergreifung Hitlers als »Schicksalsjahr« begriffen. Sie nahmen die willkürliche Konfrontation mit dem »Jude-Sein« ernst und waren fähig, ihre Emigration rechtzeitig einzuleiten. Wie unterschiedlich dennoch ihr individueller Leidensweg in Deutschland bis zur Ausreise und ihr persönlicher Umgang mit diesem erzwungenen Lebenseinschnitt war, zeigen die in diesem Buch veröffentlichten Aufzeichnungen.

Erich Leyens war Inhaber eines alteingesessenen Warenhauses und leistete zunächst entschlossen Widerstand gegen die politischen Umwälzungen. Am 1. April 1933 organisierte er noch Protestaktionen gegen den Juden-Boykott der Nationalsozialisten. Er warnte mit bewundernswerter Nüchternheit und Eindringlichkeit seine deutschen Freunde vor der Willkür des NS-Regimes. Doch als er erkannte, daß seine Appelle umsonst waren, begann er, sich aus seiner deutschen Umgebung, der er sich bis dahin stark verbunden gefühlt hatte, allmählich abzulösen. – Der hier vorliegende Bericht gibt Aufschluß über den Zerfall der menschlichen Beziehungen und Werte unter dem Druck des autoritären Systems und versteht sich zugleich als Mahnung für die Zukunft.

Lotte Andor hingegen nimmt eine eher pragmatische, vor allem aber eine dem Schicksal gegenüber versöhnlichere Haltung ein. Für sie begann 1933, vor allem aber mit ihrer Emigration 1934 »ein Leben nicht nur voller Unsicherheit, Pein, Verzweiflung, sondern manchmal ungewöhnlicher Freuden«. Ihre Memoiren sind die einer sehr unabhängigen und selbständigen Frau, die das erzwungene Ende ihrer vielversprechenden Karriere eindrucksvoll meistert. Kraft ihrer – vielleicht nur dem wirklich Leidenden verständlichen – Lebenszugewandtheit und Heiterkeit gelang es ihr auch in schwersten Zeiten, mit anderen Emigranten auf zuweilen vergnügte und menschlich oftmals beglückende Weise Erfahrungen und Gedanken auszutauschen. Dies wiederum ermöglichte ihr, die erheblichen Anpassungsschwierigkeiten der Emigration mit scheinbarer Leichtigkeit zu überwinden.

Erich Leyens

Unter dem NS-Regime 1933–1938

Erlebnisse und Beobachtungen

Vorbemerkung des Herausgebers

Im Leo Baeck Institut in New York wird ein Flugblatt aufbewahrt, das am 1. April 1933 ein deutscher Jude vor seinem Kaufhaus in Wesel den Passanten in die Hand drückte (der Wortlaut des Flugblatts findet sich auf Seite 18). Es war ein von der Bevölkerung mit viel Sympathie aufgenommener Akt des Widerstands gegen den Boykott jüdischer Geschäfte, zu dem die eben an die Macht gekommenen Nationalsozialisten aufgerufen hatten und den sie mit brachialer Drohgebärde – SA in Uniform – durchzusetzen strebten. Noch regte sich aber Solidarität mit den jüdischen Bürgern, noch gab es Grenzen der Ekstase für die NS-Herrschaft.

Die Solidarität der Nichtjuden war freilich nicht die Attitüde der Mehrheit, das anzunehmen wäre unrealistisch gewesen in einer Situation, in der eine Partei den Kanzler stellen durfte, die ebenso ungeniert wie lautstark den Antisemitismus in seiner rohesten Form als wichtigsten Programmpunkt jahrelang propagiert hatte. Aber es gab auch noch bürgerlichen Anstand, der sich nicht schamhaft verkroch und Mitleid mit den immer mehr verfolgten und verfemten Juden allenfalls hinter verschlossener Tür und vorgehaltener Hand zuließ. So war es immerhin Jahre später beim Novemberpogrom 1938 noch der Fall, aber schließlich, angesichts der Brandmarkung mit dem Judenstern (1941) und den Deportationen in die Mordlager des Ostens, bestand der Ausweg für die Nichtbetroffenen, auch wenn sie diese Judenfeindschaft nicht billigten, anscheinend nur noch im Wegsehen, im Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen und in der Verweigerung der fürchterlichen Realität.

Im Frühjahr 1933, bei der ersten großen und öffentlichen Aktion gegen die Juden, war die Situation vielleicht tatsächlich noch offen. Der Appell an Recht und Gesetz, gesellschaftliche Moral oder schlicht an den bürgerlichen Anstand war noch möglich, und diesen Appell hatte Erich Leyens am 1. April 1933 an seine Mitbürger in Wesel erfolgreich gerichtet. Aber wenig später mußte auch er resignieren. Nach Stationen des Exils in Italien hatte er sich mittellos in Ländern, deren Sprache er erst erlernen mußte, durchgeschlagen, bis nach sieben Jahren die Einwanderung in die Vereinigten Staaten möglich wurde. Vor der wohlsituierten Existenz, die er heute führt, die es ihm ermöglicht, regelmäßig im Sommer den Wohnsitz im Staat New York mit einem Seniorenheim in Konstanz am Bodensee zu tauschen, standen mehr als zehn kümmerliche Jobs. »Wie viele schafften es nicht und blieben auf der Strecke«, schrieb er im Rückblick und fügte hinzu: »Wissen Sie, daß allein in San Franzisco sechs deutsch-jüdische Anwälte glücklich waren, als man sie als Fahrstuhlführer unterbringen konnte? Giannini, der Gründer der damals größten Bank in Amerika, stand im freundlichen first-name-Verkehr mit seinem Fahrstuhlführer, den er »vorher« als Bankier in Berlin gekannt hatte.«

Erich Leyens’ Bericht, weder Memoiren noch Autobiographie und zeitlich beschränkt auf die fünf Jahre seiner persönlichen Erfahrung mit nationalsozialistischer Herrschaft, ist die Frucht lebenslanger Reflexion über die Zerstörung von Kultur und Humanität, Gesittung, Recht und Moral in Deutschland unter Hitler. Daß eine Verbrecherbande die Staatsmacht erringen konnte und welcher Ideologie sie sich dazu bediente, welche sozialen und ökonomischen Voraussetzungen dafür bestanden und welche politischen Mechanismen zur Installation dieses Regimes in Gang gesetzt wurden, interessierten den ehemals deutschen Patrioten und dekorierten Soldaten des Ersten Weltkriegs nicht so sehr. Im Zentrum seines Denkens steht das Problem, wie ein solches Regime die Gefolgschaft und begeisterte Zustimmung der gebildeten und gesitteten Bürger finden konnte, welche Veränderungen im Freund und Nachbarn, im Mitbürger und Beamten, im Studienrat oder Bäckermeister vorgegangen sein müssen, damit sich die große Mehrheit der Deutschen in einen Haufen dem Hitlerkult besinnungslos ergebener, den Leiden der jüdischen Minderheit gegenüber blinder und stumpfer und gegen die Völker außerhalb Deutschlands ebenso arroganter wie gefühlloser Herrenmenschen verwandelte.

Nichts spiegelt diese Verwandlung zivilisierter Bürger in Unmenschen deutlicher als eine Beratung, die am 20. Januar 1942 in einer Villa am Wannsee in Berlin stattfand. Eingeladen hatte SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, erschienen waren Vertreter aller wichtigen Ministerien und Behörden des Reiches: hohe Beamte, Administratoren, Militärs, gebildete Leute, durchweg Angehörige der Elite des Deutschen Reiches, das auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Heydrich machte den Herren klar, was längst beschlossen war: Die »Endlösung der Judenfrage« stand bevor, und in der Wannsee-Villa ging es um Transportkapazitäten und logistische Probleme, um die technische Durchführung des Massenmords. Zahlen der in ganz Europa, auch in den neutralen Ländern »zu erfassenden Juden« wurden verlesen. Allein die Größenordnung dessen, was bei der Wannsee-Konferenz besprochen wurde, war monströs: Fast drei Millionen Juden aus der Ukraine, über zwei Millionen aus dem »Generalgouvernement« Polen, bis hin zu 330000 in Großbritannien lebende jüdische Menschen, insgesamt elf Millionen Juden in ganz Europa wollte man ausrotten. Und die Spitzen der Reichsbehörden, keineswegs allesamt fanatische Nationalsozialisten, und deren ausführende Organe nahmen es zur Kenntnis, schrieen nicht auf, sondern erfüllten, was sie für ihre Pflicht hielten, halfen den Mördern von sechs Millionen Juden bei der Arbeit.

Wie Menschen im Konferenzsaal bei solchen Gelegenheiten – die Wannsee-Konferenz war ja weder die erste noch die letzte Veranstaltung, bei der die Inszenierung des Massenmords besprochen wurde – in jeweils wenigen Stunden planen, entscheiden und organisieren konnten, wie andere Menschen, die das Unglück hatten, als Juden geboren zu sein, in Todeslager zu deportieren und dort zu ermorden seien – das wird immer zu den grauenhaften Rätseln gehören. Denn diese Bürokraten und Entscheidungsbefugten, Planer und Organisatoren waren ja keine destruktiven Charaktere oder debile Verbrechernaturen, es waren kultivierte Bürger, die nach Hause gingen und Beethoven spielten und Goethe lasen, deren moralische Prinzipien erprobt und gefestigt waren. Aber eben nur im eigenen Lebenskreis. Gegenüber anderen waren sie Barbaren.

Diesem Rätsel der bürgerlichen Moral ist Erich Leyens’ Bericht gewidmet. Sein Anliegen ist es, auf Fragen wie diese Antwort zu finden: War seine Aktion des öffentlichen Protestes am 1. April 1933 sinnlos oder verständlich, hätte man ihn verhaften oder als Störenfried der »neuen Ordnung« erschlagen sollen? Wie war die Entscheidung seines Freundes Hermann zu beurteilen, der den Juden Erich Leyens im Jahr 1933 aufsuchte, um für seinen Entschluß, der NSDAP beizutreten, um Verständnis zu bitten? Und war die Haltung Richards, eines anderen Freundes, der Erich Leyens regelmäßig aufsuchte, um in nächtelangen Diskussionen Solidarität zu beweisen, töricht, bewundernswert, gefährlich oder was sonst? War das Schweigen der Kirchen zur Diskriminierung, Verfolgung und schließlichen Vernichtung der Juden verständlich? War es zu billigen oder zu mißbilligen? War es bekannt, wie viele »Mischehen« zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland existierten? Was wußte man als gewöhnlicher Sterblicher in Deutschland in jenen Jahren vom Abtransport der Juden mit unbekanntem Ziel? Wer hat solche Deportationen gesehen und davon gehört? Und wer wußte von den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka, Sobibor und Majdanek oder wie sie alle hießen?

Und die Kardinalfrage schließlich, die Erich Leyens am Ende seines Berichts stellt, als er Abschied nimmt von seiner Heimatstadt, in der ihn keiner mehr kennen will, in der keiner mehr wagt, ihn zu grüßen: Ist es den Machthabern gelungen, gute Menschen unbeteiligt, gleichgültig für das Leiden von Mitmenschen zu machen? Konnte man in dem Verhalten der früheren Mitbürger einen Beweis für den Sieg der nationalsozialistischen Ideologie sehen? Würde so der Deutsche der Zukunft sein?

Erich Leyens wäre zutiefst dankbar für des Lesers offene und schonungslose Stellungnahme zu seinen Fragen, und er verspricht, etwaige Fragen an ihn ebenfalls nach bestem Vermögen zu beantworten. Zuschriften erreichen ihn über den Verlag oder über das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin (Ernst-Reuter-Platz 7, 1000 Berlin 10).

Ein solcher Dialog zwischen Lesern und dem Verfasser dieses Erfahrungsberichtes wäre auch ein höchst erwünschter Effekt dieser Buchreihe mit jüdischen Lebenszeugnissen, die mit Erich Leyens’ Text eröffnet wird.

 

Wolfgang Benz

Unter dem NS-Regime 1933–1938

Nach mehr als einem halben Jahrhundert

und tausende Meilen entfernt

ist mir die Gedankenwelt

die hier sichtbar werden soll,

fremd geworden.

 

Fremd ist mir der deutsche Junge,

der im Großen Krieg begeistert kämpfte.

Und fremd geworden der Mann,

der als Jude die Nazizeit erlitt.

 

Und doch:

Ich widme

dieses mühsame Nachdenken

dem Deutschen Juden,

der ich einmal war.

 

New York, im Mai 1990

In diesen Aufzeichnungen sollen Ereignisse aus den ersten fünf Jahren des NS-Regimes beschrieben werden und ihre Wirkung auf jüdische Deutsche. Es ist auch ein Versuch, an das noch immer unverständliche, abgründig Tiefe einer Zeit zu erinnern, die Deutschland veränderte. Eine Autobiographie ist nicht beabsichtigt. Aber ein unpersönlicher Bericht könnte als Erdichtung gelesen werden, während mit dem »Ich« der Zeuge der Zeit spricht. Darüber hinaus wage ich zu hoffen, dem unbeschwerten Leser einer neuen Generation zu helfen, darüber nachzudenken, was geschehen konnte – und warum – vielleicht sogar mit zu fühlen …

»Den lieb’ ich, der unmögliches begehrt«, meinte ein alter Freund.

 

Es mag zum Verständnis erforderlich sein, kurz auf die Lage der Juden vor dem Schicksalsjahr 1933 einzugehen. In Geschichtsbüchern findet man Berichte über eine ständige Zunahme von Antisemitismus in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. In der Tat, die der jungen Demokratie feindlichen Gruppen schürten ihn; doch erst nach der Ernennung Hitlers zum Kanzler konnten solche bacilli virulent gemacht werden. Vorher waren die seit zahllosen Generationen ansässigen Juden davon überzeugt, gleichberechtigt in dem Land zu sein, in das sie hineingeboren waren – und so glaubten sie, auch von ihren katholischen und evangelischen Mitbürgern gesehen zu werden.

Besser als allgemeine Betrachtungen mögen persönliche Ereignisse in meinem Leben zeigen, wie zugehörig sich die jüdischen Bürger in meiner Vaterstadt Wesel fühlten.

Am 13. April 1930 starb mein Vater, Hermann Leyens. Am Tag seiner Beerdigung wurde das geschäftige Treiben in den Straßen stiller. Die Zeitungen würdigten in langen Nachrufen seine Verdienste um die Stadt und beschrieben in vielen Einzelheiten, warum er der geliebte und bewunderte Bürger der Stadt war.

Am 1. April 1933 stand ich neben uniformierten SA-Männern auf der Straße und verteilte ein Flugblatt. Die SA war die militärisch organisierte »Sturm-Abteilung« der nationalsozialistischen Partei, die kurz zuvor, am 30. Januar 1933, die Schlüsselministerien einer neuen Regierung besetzen konnte. Deshalb war die SA schon in der Lage, die Straßen zu beherrschen – und die traditionelle Polizei hatte ihren Befehlen zu gehorchen.

Am Abend des 31. März wurde ich durch die Nachricht alarmiert, daß die SA im ganzen Reich für einen Boykott mobilisiert wurde. Sie hatte am nächsten Tag die Häuser zu blockieren, die als »jüdisch« angeprangert werden sollten. Sie hatten mit Hetzplakaten vor »jüdischen« Geschäften zu stehen und auch die Büros jüdischer Ärzte und Rechtsanwälte zu blockieren. Tatsächlich beschränkte man sich nicht darauf, Käufern den Zutritt zu Kaufhäusern zu verwehren, selbst Kranke durften nicht »jüdische« Kliniken betreten.

Es war eine Aktion, die von unzähligen Juden als Schmach empfunden wurde und ihr Leben sinnlos machte. An diesem Tage begann die immer mehr zunehmende Zahl der Selbstmorde …

Meine Reaktion war, schnell ein Flugblatt zu entwerfen. Noch in der Nacht fand ich einen Verleger (J. Ingenday), der den Mut hatte, es mir bis zum Morgen zu drucken. Ich war nicht im Zweifel darüber, bei der Verteilung erschlagen zu werden. Aber ich war überzeugt davon, daß nur durch ein solches Beispiel vor ihren Augen meine Mitbürger von dem Wahnglauben der neuen Rassenideologie geheilt werden könnten.

In der Erregung dieser nächtlichen Stunden war mit dieser tiefen Überzeugung der Wunsch verbunden, zu sterben.

Am Morgen um 10 Uhr standen zwei SA-Männer vor jedem Eingang unseres Kaufhauses. Am Eingang der Hauptstraße stand ich mit meinen Flugblättern neben ihnen. Ich hatte meine alte Felduniform angezogen und auf ihr, neben den Kriegsorden, den gelben »Judenfleck« annähen lassen, der von der Nazipresse gefordert wurde. (»Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck«, lautete die Überschrift in einer jüdischen Zeitung. Das war Jahre vor der gesetzlichen Verordnung, daß alle Juden auf ihrer Kleidung einen gelben Stern zu tragen hatten.)

Was folgte, bewies, wie sehr ich mich geirrt hatte. Meine Mitbürger zeigten noch ihre wahre Gesinnung. Erst blieben einige Leute stehen, die ungläubig auf das sonderbare Schauspiel sahen. Dann lasen sie das Flugblatt mit offensichtlicher Bestürzung. Bald rannten Jungens zu mir und baten um Bündel Flugblätter, die sie in der Stadt verteilen wollten. Immer mehr Menschen sammelten sich an, schließlich waren es so viele, daß der Verkehr gestört wurde. Es gab lautstarke Zustimmung. Männer machten ihrer Entrüstung Luft. Frauen kamen, die mich umarmten und weinten. Ein Nachbar aus der altangesehenen katholischen Familie Honnerbach rief Leute zu sich herein, um ihnen ein Buch des Weseler Regiments 43 zu zeigen, aufgeschlagen auf einer Seite mit Bild und Bericht über mich. Der berühmte Komponist Blankenburg, der Marschkönig, dessen Märsche in der ganzen Welt gespielt wurden, stieß die SA-Männer beiseite, kaufte zum Schein eine Kleinigkeit und dann bestand er darauf, daß es im größten Karton, mit dem Firmennamen deutlich sichtbar, verpackt wurde. Damit ging er demonstrativ in der Stadt herum und schließlich zum »Nazi-Stammtisch« im Hotel Dornbusch.

Die SA stand unbeweglich vor den Türen. Nur einmal wurde mir ein Bündel Flugblätter aus der Hand geschlagen. Ich kam gleich darauf mit einem neuen Packen zurück und blieb ungestört.

Die unmöglich gewordene Lage endete damit, daß die SA-Männer von ihrer Befehlsstelle die Anordnung erhielten, abzuziehen.

Am nächsten Tag hatten alle drei Weseler Zeitungen noch den Mut (es war wohl zum letzten Mal) über meine Aktion gegen die schon alles beherrschende Macht mit Zustimmung zu berichten. Hier folgt der Wortlaut aus der größten Zeitung der Stadt:

Selbsthilfe eines jüdischen Frontkämpfers

Als in Wesel Leute in Uniform das Betreten des Geschäftshauses der Firma Leyens & Levenbach zu verhindern suchten, hat einer der Inhaber, Erich Leyens, der Kriegsfreiwilliger war und Inhaber des E.K. I ist, sich seinen Waffenrock mit dem E.K. I angezogen, sich auf die Straße neben die SA-Leute gestellt und folgendes Flugblatt verteilt:

»Unser Herr Reichskanzler Hitler, die Herren Reichsminister Frick und Goering haben mehrfach folgende Erklärungen abgegeben:

›Wer im 3. Reich einen Frontsoldaten beleidigt, wird mit Zuchthaus bestraft!‹

Die drei Brüder Leyens waren als Kriegsfreiwillige an der Front, sie sind verwundet worden und haben Auszeichnungen für tapferes Verhalten erhalten. Der Vater Leyens stand in freiwilliger Wehr gegen die Spartakisten. Sein Großvater ist in den Freiheitskämpfen an der Katzbach verwundet worden. – Müssen wir uns nach dieser Vergangenheit in nationalem Dienst jetzt öffentlich beschimpfen lassen? Soll das heute der Dank des Vaterlandes sein, wenn vor unserer Tür durch große Plakate aufgefordert wird, nicht in unserem Haus zu kaufen? Wir fassen diese Aktion, die Hand in Hand mit verleumderischen Behauptungen in der Stadt geht, als Angriff auf unsere nationale und bürgerliche Ehre auf und als eine Schändung des Andenkens von 12000 gefallenen deutschen Frontsoldaten jüdischen Glaubens. Wir sehen darüber hinaus in dieser Aufforderung eine Beleidigung für jeden anständigen Bürger. Es ist uns nicht bange darum, daß es in Wesel auch heute noch die Zivilcourage gibt, die Bismarck einstmals forderte, und deutsche Treue, die gerade jetzt zu uns steht.«

Das entschlossene und mutige Auftreten von Leyens hat in Bürgerkreisen der Stadt allseits Sympathie und Anerkennung gefunden. Das Geschäft wurde nicht geschlossen, und auch die öffentlichen Boykott-Aufforderungen hörten sehr bald auf.

 

Eine Beschreibung der Ereignisse vom Tag des Boykotts kam im Dezember 1989 zu mir! Herr Rudolf Holthaus schickte mir einen Brief, den er – am 1. April 1933 – als junger Angestellter meiner Firma an seine Mutter in Westfalen geschickt hatte und der sich in ihrem Nachlaß fand. Ich muß mir versagen, dieses erstaunliche Zeitdokument wörtlich wiederzugeben, da die rührenden Gefühle für mich in ihm nur in einen Privatbrief gehören. Aber die Zusammenfassung der objektiven Beobachtungen, auf die ich mich beschränken muß, gehen weit über das hinaus, was sich in meiner Firma und in Wesel ereignete; sie mögen zum Nachdenken über den Beginn einer gefährlichen Zeit zwingen.

»Die Angestellten konnten ihren Augen nicht trauen«, hieß es in dem Brief, »als sie von den Fenstern des oberen Stockwerkes eine große Menschenmenge vor dem Hause sahen. Dazwischen stand Herr L. in seiner feldgrauen Kriegsuniform neben SA-Männern, die den Eingang zum Geschäft sperrten. Er verteilte Flugblätter.

Im Geschäft standen hundert Angestellte ohne Arbeit herum, niedergeschlagen und mit angsterfüllten Gesichtern. Alle sorgten sich um ihre Existenz. Als Herr L. von der Straße zurückkam, um neue Flugblätter zu holen, versammelte er das Personal zu einer kleinen Besprechung und sagte: Niemand solle sich Sorgen um die Zukunft machen. Das Geschäft würde nicht geschlossen werden, und ›solange wir ein trockenes Stück Brot haben, wird keiner von Ihnen entlassen‹. Und zu mir gewandt, sagte er, es sei besser, Unrecht zu leiden, als es zu tun.

Unter den Schnöseln in Uniform, die uns die Kunden aus dem Haus hielten, sahen wir einen jungen Mann, dem Herr L. noch vor gar nicht langer Zeit eine Hose, Unterwäsche usw. geschenkt hatte. Ja, jeder in Not Geratene wendet sich immer zuerst an Leyens, und es wird geholfen.

Am Nachmittag kamen vier Wanderburschen ins Geschäft, spielten Mandoline, um sich ein paar Pfennige zu verdienen. ›Unser Erich‹ geht darauf zu, nimmt eine Mandoline und spielt: ›O Deutschland hoch in Ehren‹. Da war wohl niemand unter uns, der nicht erschüttert war und dem Weinen nahe.«

Auch ich bin noch nach 57 Jahren bewegt über den Geist, der in diesem Brief zum Ausdruck kam, aber auch verwundert über den Bericht von Einzelheiten, die ich längst vergessen hatte. Wie bewundernswert erscheint es mir heute, daß in dem Kraftfeld eines neuen politischen Klimas ein blutjunger Sohn seiner Mutter mit jedem Wort beweist, seine anständige Gesinnung unverändert erhalten zu haben. Heute kann ich durch dieses private Zeugnis die Ereignisse des gefährlichen Tages mit andern Augen als den eigenen sehen. Aber etwas enttäuscht bin ich über meinen eigenen Mangel an Geistesgegenwart: Wie schön wäre es gewesen, mit dem ganzen Personal (dessen »esprit de corps« klar war) auf die Straße gegangen zu sein und die Menge aufgefordert zu haben, »O Deutschland hoch in Ehren« mitzusingen. Die nächste Strophe des alten Liedes spricht von dem »Heiligen Land der Treue«. Wahrscheinlich hätten auch die jungen Männer in ihren braunen Uniformen begeistert eingestimmt, ohne sich der traurigen Bedeutung bewußt zu werden.

Es wäre ein Irrtum, aus dem Mißlingen des Boykottes in einer kleinen Stadt auf die Lage in ganz Deutschland zu schließen. Im Gegenteil, der Beweis war erbracht, daß die Nazi-Partei jetzt schon die Fähigkeit besaß, »schlagartig« im ganzen Land Aktionen zu organisieren, ohne auf Widerstand zu stoßen. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, daß die Polizei nicht wagte, für die Sicherheit der jüdischen Mitbürger zu sorgen. Überall gehorchte sie denen, die sie noch kurz zuvor als Unruhestifter ansahen, die aber jetzt im Auftrage der neuen Machthaber handeln konnten.

In großen Mengen des Volkes vollzog sich ein entscheidender Wandel: Begeisterung für einen unfehlbaren Mann an der Spitze war für Deutschland ein neues Erlebnis. Vorbilder in andern Ländern waren das faschistische Italien und das kommunistische Rußland.

»Il Duce ha sempre ragione« (der Führer hat immer recht), war die Parole in Mussolinis Italien. Und Stalin, Lenins Nachfolger von 1922 bis 1953, konnte ein riesiges Land mit unbrechbarem Terror zusammenhalten und blieb bis zu seinem Tode der umjubelte Alleinherrscher.

Das deutsche Volk, traditionell behördentreu und politisch naiv, wurde zum erstenmal dem Trommelfeuer einer meisterhaften Propaganda ausgesetzt. Sie wirkte Wunder. Wie konnte sich eine andere als die von der neuen Regierung gewünschte Meinung bilden, wenn alle Zeitungen und Radiosendungen einem neugeschaffenen Ministerium für »Volksaufklärung und Propaganda« zu folgen hatten? Dessen Haupt, Joseph Goebbels, erhielt die weitestgehenden Vollmachten, die sich auf alle Medien erstreckten. Es gab zwar noch kein Fernsehen, aber sogar Theater und Museen unterstanden seiner Macht.

In den entscheidenden ersten Jahren veränderte eine steigende Flut von Gesetzen und Erlassen (darunter eine Unzahl geheimer Dekrete) die bestehende Gesellschaftsordnung. »Gleichschaltung« war der harmlose Name für eine in Wirklichkeit legale Enteignung. Als eines der charakteristischen Beispiele dafür (außerhalb des Privatsektors) sei daran erinnert, daß die in der ganzen Welt bewunderten, unabhängigen und finanziell starken Gewerkschaften gleichgeschaltet und damit parteihörig gemacht wurden. Ebenso schnell wurde, ohne Widerstand zu finden, mit allen wirtschaftlichen und akademischen Verbänden verfahren.

Überall und mit Erfolg wurde um die Massen mit glanzvollen Veranstaltungen und Paraden geworben. Es entstand eine Atmosphäre, in der sich gutgläubige Menschen überzeugen lassen konnten, neuen nationalen Werten zu folgen. Gedanken wie Thoreaus Pflicht zur Gehorsamsverweigerung bei unmoralischen Gesetzen oder Gandhis gewaltloser Widerstand, mit dem ein Weltreich besiegt wurde, hätten nicht aufkommen können. Wer zu einer Friedensbewegung gehörte, wurde als Vaterlandsverräter angeprangert. Es war die Zeit, in der General Erich Ludendorff, der bewunderte Held des Weltkrieges, erklärt haben soll, er hasse das Christentum, weil es jüdisch sei und international und weil es in seiner Feigheit Frieden auf Erden wolle.

Von glänzend geschulten Rednern der Partei wurde ein neuer Erbfeind erfunden. Es war diesmal nicht Frankreich, das Hitler zufolge immer feindlich bleibe, wie immer sich seine Regierung zusammensetze. Die Idee eines »Internationalen Judentums« wurde präsentiert: Im Osten gab es den »jüdischen« Bolschewismus, im Westen die »jüdischen« Demokratien, eine von Juden geschaffene und beherrschte degenerierte Regierungsform. Dagegen habe die Vorsehung dem deutschen Volke einen »Führer« gesandt, wie er nur einmal in Jahrhunderten erscheine. In der Tat, eine gläubige Gefolgschaft sah in ihm die Verkörperung der deutschen Seele und im Nationalsozialismus eine nationale Religion, die Deutschland von allem Übel erlösen würde. Ich selbst sah an ländlichen Straßen, in den lieblichen kleinen Kapellen, das Konterfei Hitlers anstelle der Mutter-Gottes-Bilder.

Es wäre ein Fehler, aus alledem allgemeine Schlüsse zu ziehen. In ihrer Mehrheit haben alle Christen frevelhafte Ausschreitungen solcher Art mißbilligt, wenn auch nicht öffentlich. Aber es war erstaunlich und beeindruckend, wie schnell weite Kreise erfaßt wurden. Für viele war ihr »Heil Hitler«, der schnell akzeptierte »deutsche« Gruß, gleichbedeutend – und die logische Folge – mit dem »Grüß Gott«.

Ausnahmegesetze häuften sich. Erst wurde allen Juden die bürgerliche Gleichberechtigung entzogen. Dann wurden sie Schritt für Schritt jeder Arbeitsmöglichkeit beraubt. Immer neue Gesetze erfaßten jeden Beruf: Ärzte, Anwälte, Richter, Beamte, die kaufmännisch oder in Fabriken Arbeitenden, in allen Städten und Dörfern. Die angeblich auf Verlangen des Präsidenten von Hindenburg verfügten Ausnahmen für Frontsoldaten blieben bald unbeachtet. Der traditionsreiche Rechtsstaat fand ein Ende. Eine als Wissenschaft verkündete Theorie wurde in Schulen und Universitäten gelehrt, unaufhörlich in den Meinungsmedien veröffentlicht: Ein »Volksfeind« sei zu vernichten, nämlich das »nichtarische Element« im deutschen Volkskörper. Es entstand der Begriff der kollektiven Schuld (»Die Juden sind unser Unglück«). Die in allen zivilisierten Staaten herrschende Majestät des Gesetzes, daß nur individuelle Schuld strafbar machen kann, galt nicht mehr für die Juden.