Die fröhliche Moritat von der Bleibe - Michel Layaz - E-Book

Die fröhliche Moritat von der Bleibe E-Book

Michel Layaz

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Beschreibung

"Normalerweise" möchte man die Pensionäre in Madame Viviannes merkwürdigem Institut namens "Die Bleibe" als unangepasst, verhaltensauffällig, trottelig, wenn nicht gar als geistig behindert oder geisteskrank bezeichnen, und das gilt auch für das hier tätige Personal, von Professor Karl, dem Hauptlehrer, über den für Lebenserfahrung zuständigen Zweitlehrer Monsieur Guillaume, den General-Aufseher Monsieur Bertrand, den Arzt Doktor Felix, den Gärtner-Hauswart Monsieur Hadrien und die Empfangsdame Mademoiselle Josette bis zum Putzmann Monsieur Alberto und den beiden Köchinnen Blanche und Marguerite. Doch "Die Bleibe" ist durchaus nicht als Heim für Zurückgebliebene oder als Irrenhaus zu verstehen, wie man bald erfährt. Im Gegenteil: Unter der Hand von Generaldirektorin Madame Vivianne erblüht hier eine Welt voller Poesie, die uns wohl gerade deshalb das Herz anrührt, weil wir spüren, dass an diesem Ort alles Platz findet, was in der Welt der Angepassten, in der wir uns bewegen, nicht oder nur ganz verschämt existieren darf. Der Tor, der Narr in uns allen hat hier Gastrecht, ja, er erfährt in der liebevollen Zuwendung des Chronisten und durch die wundersame Wortmusik des Autors geradezu eine Art Auferstehung! "Die Bleibe" wird zu einem Ort der Sehnsucht, weil hier das Leben an sich gefeiert wird, in all seinen Formen, selbst den unwahrscheinlichsten, unbequemsten. Insofern schimmert unter dem unerhörten Sprachfeuerwerk, mit dem Michel Layaz diese Gegenwelt heraufbeschwört, auch eine so feine wie scharfe Kritik an unserer Norm- und Normalwelt durch. "La joyeuse complainte de l'idiot" wurde 2004 in den Editions Zoé veröffentlicht. Die deutsche Erstübersetzung erscheint im Rahmen der ch-Reihe. Übersetzt hat Yla M. von Dach.

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Michel Layaz

Die fröhliche Moritatvon der Bleibe

aus dem Französischen vonYla M. von Dach

Originaltitel: La joyeuse complainte de l‘idiot© Editions Zoé, CH-1227 Carouge-Genèvewww.editionszoe.ch

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit dank der Beteiligung aller 26 Kantone. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia subventioniert.

www.diebrotsuppe.ch

ISBN ebook 978-3-905689-92-1

Alle Rechte vorbehalten© 2017, verlag die brotsuppe, Biel/BienneÜbersetzung: Yla M. von Dach, Biel/BienneUmschlag, Gestaltung, Satz: Ursi Anna Aeschbacher, Biel

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Anmerkungen

Der Autor

Die Übersetzerin

1

Madame Vivianne schreit laut, um zu sagen, dass ihr Vorname mit zwei »n« geschrieben wird und nicht mit einem einzigen »n«. Im Allgemeinen mag ich Leute nicht, die schreien, auch nicht solche, die nie singen. Wenn sie nicht schreit, sagt es Madame Vivianne, zum Beispiel am Telefon, zum Beispiel zu jemandem, der ihr Geld vorschiessen könnte, nicht Geld direkt für sie persönlich, sondern Geld für das Institut Die Bleibe, für den Unterhalt des Instituts Die Bleibe, sie sagt zwei »n«, nicht ein »n«. Sie sagt es mit genervter Stimme. Madame Vivianne nervt sich rasch mit der Geschichte des doppelten »n«.

Auch Achilles hatte seine Ferse.

Ich denke nie über meine Ferse nach.

Ich kann Wochen und Monate verbringen, ohne zu merken, dass ich zwei Fersen habe. Es braucht mindestens ein Kitzeln, ein Kribbeln oder einen Splitter, den Stachel einer Wespe oder eine brennende Glut. Man spaziert barfuss umher, und plötzlich sammelt sich ein Schmerz in der Ferse, der Körper schrumpft auf eine Ferse zusammen, alle Gedanken galoppieren zur Ferse. Man wird Ferse! … Wenn man es sich gut überlegt, hat es mit einer Ferse nicht viel auf sich. Ausser im Fall von Achilles. Er hatte einen guten Grund, sich über sie Gedanken zu machen. Doch es gibt nur einen Achilles. Achilles, den Einzigen. Achilles ausserhalb jeden Vergleichs. Achilles, der schlecht Eingetauchte. Vielleicht hat Madame Vivianne auch einen guten Grund, mit ihren zwei »n«.

Sobald ich im Institut Die Bleibe eingezogen war, sagte ich im Bestreben, die Wertschätzung von Madame Vivianne, Generaldirektorin des Instituts Die Bleibe, zu gewinnen, das heisst, damit sich mein Aufenthalt wie eine heitere Landschaft gestalte und nicht wie eine Landschaft mit Nebel, Regen oder alles schwarz färbenden Flammen: Guten Tag Madame Vivianne mit zwei »n«. Gut geschlafen, Madame Vivianne mit zwei »n«? Einen schönen Tag, Madame Vivianne mit zwei »n«. Ich wollte Madame Vivianne, Generaldirektorin des Instituts Die Bleibe, zu verstehen geben, dass ich begriffen hatte, dass es nicht mehr nötig war zu schreien, dass sie mit Schreien nichts erreichte, dass sie die beiden »n« vielleicht rot schreiben müsste, wenn sie Briefe verschickte, oder in Grossbuchstaben, sie unterstreichen, umranden, eine Festung errichten müsste um diese beiden »n« herum, die all jene bedrohte, die sie nicht respektierten, und wenn sie sprach, brauchte sie die beiden »n« nur in die Länge zu ziehen, als hätte es vier, oder fünf, oder zehn. Man kann friedliche Mittel und Wege finden, damit die Leute ein für alle Mal aufhören, sich in dieser Geschichte der beiden »n« zu irren. Mein Wunsch, unserer Generaldirektorin zu helfen, war so weitläufig wie der Park, der das Institut Die Bleibe umgibt. Über alles liebe ich es, die beiden grossen Bäume mit den roten Blättern zu betrachten, zwei Bäume, die so hoch sind wie der Campanile von Florenz, höher vielleicht, aber auf den Campanile von Florenz bin ich hinaufgestiegen, bis zuoberst, während ich auf den Bäumen, als ich hinaufzuklettern versuchte, sogleich von Monsieur Hadrien eingefangen wurde, dem Hauswart-Gärtner oder Gärtner-Hauswart des Instituts Die Bleibe, einem kleinen, dicken, aber behenden Mann mit breiten Schultern und eisenharten Fingern, die sich einem in den Nacken bohren und jeden Fluchtversuch sinnlos machen. So bin ich, an Monsieur Hadriens Fingerzangen hängend, in Madame Viviannes Büro gelandet. Habachtstellung einnehmen oder in die Hocke gehen? … Um Verzeihung bitten oder schweigen? … Widerstand leisten oder Rückzug blasen? … Ich hätte die grossen Generäle sehen wollen, wie sie vor Madame Vivianne gestanden wären, die in ihrem imponierenden gelben Ledersessel sass. Und ohne dass ich wusste warum, während ich mich da in diesem Bereich der Unentschiedenheit befand, beginnt meine Stimme ganz von alleine zu reden, läuft meine Stimme weg, ohne dass ich sie aufhalten kann, wie ein unkontrollierbares Bataillon, ein nicht mehr einzufangender Ballon läuft meine Stimme mir davon: Entschuldigen Sie, Madame Vivianne mit zwei »n«, aber die Bäume strecken ihre Äste den Kindern entgegen (und den anderen auch), die Bäume lieben es, die Körper der Kinder zu spüren (und die der anderen auch), die Körper an ihren Stämmen, die Haut auf der Rinde, die Finger und Haare im Laub, ich dachte, dass man diese Aktivität unterstützen würde aufgrund der körperlichen Verausgabung, die sie darstellt, und der Freude, die sie bereitet. Der körperliche Unterhalt der Pensionäre ist ein Anliegen der Direktion des Hauses, das steht auf Seite drei der fünfseitigen Broschüre, in der man die Leistungen des Instituts Die Bleibe erklärt, der Broschüre, in der man die Qualität der Behandlung rühmt, die einem im Institut Die Bleibe zuteil wird. Und so fährt meine Stimme fort … Ausser Kontrolle, ohne Strategie, wie eine widerspenstige Besessene, eine horrend anwachsende Horde … Ich hätte es schneller merken sollen. Wegen des Gebrumms und der Grimassen, wegen der Fingernägel, an denen man kaute, wegen der Nasen, die schnieften. Ich hätte merken müssen, dass Madame Vivianne meine »Madame Vivianne mit zwei ›n‹« falsch auslegte, dass sie sie als Spott verstand, als Stichelei, als Provokation von Seiten eines Internatsschülers, der sich schlauer glaubte als die anderen. Das ist die einzige Erklärung dafür, dass sie sich aufregte. Heftig aufregte. Und dafür, um die Wahrheit nicht zu verheimlichen, dass sie mich beschimpfte, mich laut schreiend beschimpfte, mit stark vorgeschobener Unterlippe – was bewirkte, dass man die Innenseite dieser Unterlippe sah –, und diese Innenseite war nicht rosa, wie sie hätte sein müssen, wie ich mir vorstellte, dass sie hätte sein müssen, sondern granatrot, ein Granatrot, das sie bereits verriet, und ich war völlig vernichtet von diesem ganzen Granatrot, von diesen verbalen Granaten, zwei Sachen, auf die ich nicht gefasst war, denn ich hatte gedacht, Madame Vivianne würde meine sprachliche Aufmerksamkeit zu schätzen wissen. Schweig! … elender Lümmel mit zwei »m« (sie hat es mindestens fünf Mal wiederholt)! … Sieh zu, dass du mir aus den Augen kommst! … Verschwinde, bevor ich dich vollends niederstrecke, dich ersticke, dir die Eingeweide aus- und einwickle, dich flagelliere, frikassiere! … Solches entfuhr dem Mund von Madame Vivianne, die, besser noch als Achilles, ihre Gefühle zu verbergen weiss. Ich habe mich dünngemacht. Man sollte indes nicht falsch, nicht abschätzig urteilen: Gewöhnlich beschimpft Madame Vivianne niemanden, nicht einmal den blödesten aller Internatsschüler, nicht einmal einen, wie er bei den Prinzipien des Instituts Die Bleibe nicht kontraindizierter sein könnte. Doch hier hat sich der Schimpf Luft gemacht, und vielleicht wäre Madame Vivianne tatsächlich erstickt, wenn der Schimpf sich nicht hätte Luft machen können. Es ist der Sicherheitsmechanismus in Madame Viviannes Schädel, der diese Serie von Lümmel mit zwei »m« ausgelöst hat. Wozu es abstreiten, meine Angelegenheiten mit Madame Vivianne haben nicht besonders gut angefangen, eher mit Regen, mit Nebel und einer alles schwarz färbenden Flammenflut.

2

Im Zimmer, in dem ich wohne, das ein echtes Zimmer ist und keineswegs ein Zimmerchen, in dem man nicht die Beine ausstrecken kann, wenn man auf der Bettkante sitzt, im Zimmer, in dem ich, kaum aufgestanden, einige Turnübungen mache – meine liebste besteht darin, die Beine so hoch wie möglich in die Luft zu strecken und in die Pedale zu treten, zuerst als führe man über flaches Land (Flachlandetappe), dann als müsste man einen Gebirgspass erklimmen (Gebirgsetappe), bevor es auf der anderen Seite in vollem Tempo wieder hinuntergeht –, darf ich so viele Bilder an die Wände pinnen, wie ich will, soweit es respektable Bilder sind, das heisst Bilder ohne allzu nackte Frauen, Bilder ohne Frauen mit Brüsten, die einen schwindeln machen, Bilder ohne Kriegsszenen, Bilder ohne Waffen und ohne Gewalt, Bilder ohne einen Slogan, der, wie intelligent dieser Slogan auch sein möge, die Intelligenz der Internatsschüler schliesslich eindicken würde. Als ich Madame Vivianne darauf hinwies, dass es nicht einfach ist, sich über das Wort »Gewalt« zu verständigen, hat sie zu mir von Perpetuum mobile und geschlossenem Kreislauf gesprochen, was bedeutete, dass es nicht einfacher war, sich über andere Worte zu verständigen, wie einfach sie auch hätten erscheinen mögen.

Hinten in meinem Zimmer, rechterhand, hat es eine Dusche und eine Toilette, die ich nicht mit dem Schlüssel abschliessen kann, denn es steckt kein Schlüssel im Schloss. Der erstbeste zerstreute oder witzige oder böswillige Mensch könnte genau in dem Moment auftauchen, in dem man nichts inniger möchte als seine Intimität vor Augen und Ohren zu schützen. Die unerwünschte Person könnte zu kichern oder auf die taktloseste Art und Weise Grimassen zu schneiden beginnen, oder noch schlimmer, anfangen unein geschränkt Komplimente zu formulieren, die für echte orientalische Prinzessinnen nicht besser passen würden, so sehr nehmen sich die feinsinnigsten Verse vor ihren niedlichen Füssen bloss als grobes Gewimmel aus. Geben wir zu, dass ich eine Vorstellung von möglicherweise veralteten orientalischen Prinzessinnen in mir trage, wegen der alten, auf Exotik versessenen Frauenzeitschriften vielleicht, die ich in einem zarteren, weniger harten Alter las. Doch mit Sicherheit rühren mich diese Anwandlungen zuweilen bis zu Tränen, und Tränen reinigen den Geist so gut wie eine jener Bergwanderungen, die man uns im Institut Die Bleibe zwei Mal pro Jahr verschreibt.

Keinerlei Einschränkung bezüglich Hygiene, hier.

Duschen kann ich jeden Abend, wenn es dem Körper danach ist.

Ich liebe es, unter dem Wasser zu stehen und mit gesenktem Kopf meine Füsse und meine Zehen zu betrachten, die sich bewegen. Das Schauspiel der Zehen, die sich bewegen, nimmt im Katalog meiner Freuden einen Ehrenplatz ein. Welche Wohltat, sich zu waschen! … Wie wohlig ist doch dieser Augenblick Ewigkeit, in dem die schaumigen Düfte die Glieder bezaubern! … Ich blicke den Duschkopf an, der blitzt wie neu. Hält man ihn in der Hand, fühlt man sich zu Eroberungen fähig, fühlt in sich die Seele eines d’Artagnan, dem die Götter die Erde vermachten, man könnte jede Venus umarmen, ohne einen Kratzer zu riskieren, könnte die Kaiser herausfordern und Heldentaten sammeln, man könnte auf Elefanten- oder auf Nashornjagd gehen, die mit Gold am dicksten gestopften Banken überfallen und die verrücktesten Devisen erfinden. Der Duschkopf scheint mir sehr modern, auch sehr praktisch zu sein, denn er hat nicht bloss eine einzige Position, wie eine einfache herkömmliche Brause, sondern zwei: den Jetstrahl, den ich ganz einfach »Jet-Jet« getauft habe, Position eins, oder dann den zarteren Strahl, den ich »Giesskannenstrahl« getauft habe, Position zwei, denjenigen, den ich offen gestanden am häufigsten benutze, ausser es gehe darum, sich die Achselhöhlen zu waschen, oder den Hintern, da, wo sich der »Jet-Jet«, Position eins, als angemessener erweist, zuverlässig und ausfallsicher. Doch die Dusche ist nicht alles. Jede Freude hat ihre Kehrseite. Einmal alle vierzehn Tage kommt das Bad. Man muss in den zweiten Stock des Instituts Die Bleibe hinunter und die Metalltür aufstossen, die quietscht, als würde man auf Ihrem Trommelfell den Eiffelturm auseinanderschrauben. Die Badewanne steht mitten in einem grossen Raum, der an drei Seiten von alten Duschkabinen umgeben ist, die heute keinerlei Verwendung mehr haben. Um im Badewannen-Raum allein zu bleiben, zeige ich weder die Angst noch den Abscheu, die mir die Seele beklemmen. Weinen, schreien, Krach machen, sich die Lippen blutig beissen, Fratzen schneiden würde darauf hinauslaufen, im Augenblick des Bades Monsieur Bertrand ertragen zu müssen. Monsieur Bertrand ist der einzigartige und einzige Generalaufseher des Instituts Die Bleibe. Sie können ihn überall antreffen: oben an einer Treppe, im Speisesaal, vor Ihrer Zimmertür, in einem Korridor, draussen, er ist immer da, unbeweglich wie ein Grenzstein, und ich frage mich immer noch, ob Monsieur Bertrand nicht einen oder zwei Zwillingsbrüder hat, so sehr scheint er imstande zu sein, sich zu vervielfältigen und da aufzutauchen, wo man ihn am wenigsten erwartet. Die Bad-Verweigerer werden von Monsieur Bertrand assistiert. Unbestechlich in seiner Pflicht steht er da, mit gekreuzten Armen, gewölbter Brust, starr vor Ihnen, mit starrem Körper, starrem Blick, starren Ideen, und passt mit seinen Aufpasseraugen, den Augen des einzigartigen und einzigen Generalaufsehers, auf Sie auf, bereit – wenn er Ihr Bad nicht ergiebig genug findet – die Arme zu entkreuzen und die Klingen zu kreuzen, das heisst, Ihnen den Kopf fünfundvierzig Sekunden unter Wasser zu drücken und Sie vorn und hinten abzubürsten, damit alles einwandfrei ist. Zwar ist Monsieur Bertrands Anwesenheit auf der einen Seite beruhigend, es ist aber doch besser, allein zu sein und aufgekratzt vor der quietschenden Tür zu erscheinen.

Alle vierzehn Tage bleibe ich am frühen Abend, Dienstagabend, etwa zwölf Minuten im Badewasser. Ich seife mich mit der Marseiller Seife ein, die auf dem Wannenrand liegt, und versuche, mich auf die gegenwärtige Situation zu konzentrieren, was nicht einfach ist, wegen der Schreie, die aus den Duschen kommen, das heisst, da sind keine Schreie – der Raum ist leer – sondern da ist die Erinnerung an Schreie. Eins oder das andere, es ist dasselbe. Ich höre sie, und ich leide. Ich muss meine Kräfte konzentrieren, um mich von diesen Schreien zu befreien. Im Badewannenraum haben die Wände und die Decke dieselbe Farbe: blassgrün. An vielen Stellen ist die Farbe rissig geworden, der Gips ist gesprungen, und um die Schreie nicht mehr hören zu müssen, versuche ich, meine Seele in den Rissen der Wände zu verstecken. Es ist nicht leicht, seine Seele am Grund der Risse einzuigeln. Die Luft geht einem schnell aus. Man weiss nicht, wie lange man es aushält. Doch ich ziehe das Versteck den Schreien vor.

Vor etwa fünfzig Jahren nahmen die Anstaltsinsassen hier alle zusammen eine Dusche, und wenn sie sich dem Gebot der Hygiene widersetzten, schlugen Wärter, die mit Jacken und Hosen aus Wachstuch bekleidet waren, mit Karbatschen oder simplen Holzprügeln auf sie ein. Ich weiss es. Ich habe es gesehen. Wärter, neben denen Monsieur Bertrand ein Engel ist. Und oft floss Blut auf die Bodenfliesen, auch sie grün, aber dunkler, und das Blut auf diesem Dunkelgrün verschwand am Ende, wenn alle hinausgegangen waren und einer der Wärter den Raum mit einem Jetstrahl reinigte, dessen Stärke und Schlagkraft in keiner Weise mit dem »Jet-Jet«, Position eins, meiner Duschbrause zu vergleichen war.

Davon habe ich Madame Vivianne nichts erzählt.

Man würde sagen, ich sei verrückt, ich erfinde Geschichten, man würde mich in die lange Sprechstunde schicken, die mit dem Fragebogen endet, und ich hätte vielleicht Anrecht auf die Medikamente in den gelben Kapseln, die ich schon lange nicht mehr nehme, und die Doktor Felix immer nur widerwillig verschreibt.

Ich hasse den Badewannenraum.

Ich kann deutlich hören, was hier geschah: die Schläge, das Schluchzen, das resignierte Einknicken, die Gewalttaten. Vorher gab es in der Bleibe keine Knaben oder jungen Männer wie uns heute, hier verwahrte man solche, die als gefährliche Individuen, oder schwer Geistesgestörte, oder zu den schlimmsten Misshandlungen fähige Kranke galten. Niemand spricht von dieser Vergangenheit, aber ich höre sie. Die Dusche, die Schreie, die Folter, ich höre alles. Ich versuche mich zu schützen, doch trotz der Vorsichtsmassnahmen, trotz meiner am Grund der Risse verschanzten Seele dringen die Schreie aus den Duschkabinen, aus den Kacheln, aus der Decke, aus den Toiletten heraus und schwellen in der Leere des Raumes an. Einmal alle vierzehn Tage, dienstags am frühen Abend, steige ich in den zweiten Stock hinunter, ohne etwas von meiner Angst und Stimmung erkennen zu lassen. Und etwa zwölf Minuten lang nehme ich ein Bad, das nichts Erholsames an sich hat.

3

Wie ist es zu erklären, dass David immer als Erster auf den Beinen ist? Am Anfang wollte ich die Achseln zucken, Herablassung zeigen, aber es blieb mir eine Art Widerwillen in der Kehle. Wenn sich die vierzig Internatsschüler jeden Morgen um acht im Speisesaal versammeln, um unter dem riesigen Porträt von Madame Vivianne, die ihre Augenbrauen hochzieht und die Lippen zu bewegen scheint, das Frühstück einzunehmen, treibt sich David schon seit sechs Uhr oder manchmal noch früher in den Korridoren des Hauses herum und lauert auf die erste Tür, die aufgeht. Wer heraustritt, dem bleibt nie Zeit für irgendwas, schon ist David da, steif an seiner Seite, der Mund wie ein Schlund, ein Abgrund, in dem sich verbale Eruptionen zusammenbrauen, Sprachgewalten, die Sie mundtot machen und Ihnen den Atem verschlagen. Im Augenblick, da man diese friedliche Diesigkeit geniessen möchte, die das Erwachen begleitet, während die Gedanken, blässlich noch, unschlüssig noch, sich in einem zarten Ausblühen rekeln, redet David nicht nur auf Sie ein, legt Ihnen endlose Theorien dar, er wartet auch dezidiert auf eine Antwort, ein Engagement, eine Stellungnahme, Argumente, Beispiele, etwas Sinnvolles, andernfalls wird er wütend, andernfalls fügt er dem heranbrandenden Wortschwall Beschimpfungen bei, ätzende Worte, die Sie begleiten, bis Sie der Reichweite seiner Stimme entflohen, das heisst in Ihrem Zimmer eingeschlossen sind mit einem Kissen auf dem Kopf, endlich taub für die Lautkugeln, die weiterhin durch den Korridor fliegen, abprallen und die ganze Etage aufwecken. Madame Vivianne, für einmal unbeholfen, hat Davids Adlergeschrei nie vernommen, denn so wenig sie schläft, von zwei bis sieben Uhr in der Frühe, so wenig vermag etwas sie aus dem Schlaf zu reissen. David entfremdet sich mit seinen Attacken und morgendlichen Anrempeleien den Bewohnern, die den letzten Moment abwarten, um sich in den Frühstückssaal zu begeben.

In aller Morgenfrühe durch die Korridore zu streunen, gehört auch zu meinen Gewohnheiten. Ich liebe es zuzuschauen, wie sich der Tag von der Nacht ablöst, ich spitze die Ohren und lausche in die glitzernden Wiesen hinaus, ich geniesse diese Augenblicke der Ungewissheit – dem Himmel ausgeliefert –, bevor die Seele in ihre körperlichen Aktivitäten kippt. Anfänglich, bei meinen ersten Morgenspaziergängen, weigerte ich mich, die aus diesem Mund heraussprudelnden Silbenkaskaden zu beachten, diese endlosen Worte, denen Gehör zu schenken mein von Schläfrigkeit verschleiertes Gehirn sich verbot.

Damit hingegen stiess ich bei David auf taube Ohren.

Er klammerte sich an, beschimpfte mich als »böse«, zerkratzte mir die Wangen, boxte mir in die Rippen, zerrte mich an den Kleidern, verspeichelte mir das Gesicht, schrappte mir den Schädel, verbog mir die Finger, boxte mir ans Kinn, drückte mir die Nase platt, warf mir aus seinen verletzten Augen Blicke des Abscheus zu. Wenn ich, seiner Fürsorglichkeiten müde, endlich einwilligte, seinen Äusserungen Gehör zu schenken, überliess mich David meinem dreifachen Schicksal: eines nichtswürdigen, rücksichtslosen und leichtsinnigen Kerls. Meine Zustimmung kam, wenn sie kam, zu spät. Streiten wir es nicht ab, David behinderte mein Umherschlendern und zwang mich, entweder viel früher aufzustehen, ihm zuvorzukommen – und in mein Zimmer zurückzukehren, sobald er auftauchte –, oder auf meine Flanerien zu verzichten. Ich suchte die Lösung, doch keine Strategie erwies sich als durchschlagend: Die Begegnungen mit David blieben häufig. Und wenn ich trotz allem akzeptierte, ihn an meiner Seite zu dulden, bis eine andere gute Seele kam, wenn ich mich beherrschte, um keine Ohrfeige in dieses verwüstete Engelsgesicht zu knallen, so, weil ich Gewalt, die in der Bleibe als ein Ausdruck von Schwachsinn