Louis Soutter, sehr wahrscheinlich - Michel Layaz - E-Book

Louis Soutter, sehr wahrscheinlich E-Book

Michel Layaz

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Beschreibung

Wer war Louis Soutter? Vielen Menschen, die heute eine seiner Fingerzeichnungen zu Gesicht bekommen, ist diese archaisch anmutende Handschrift, die etwas Tiefes in uns berührt, nicht ganz unbekannt. Sie ist einzigartig, unverkennbar. Tatsächlich gehört Louis Soutter, der einen grossen Teil seines Lebens als Insasse in einem Altersheim verbrachte, heute zu den Künstlern, die weit über die Grenzen der Schweiz hinaus Anerkennung gefunden haben. Zu seinen Lebzeiten jedoch eckte der hochbegabte Louis Soutter überall an. Er hätte eine Karriere als Geiger machen können, er war eine Weile Vorsteher der Kunstabteilung des Colorado Spring Colleges in den USA, er hatte einen berühmten Cousin, Le Corbusier, der früh sein zeichnerisches Talent erkannte – doch hochempfindlich und zugleich hochintelligent wie er war, vermochte sich Louis Soutter den starren Normen der bürgerlichen Gesellschaft, in die er 1871 hineingeboren wurde, nie anzupassen. Und die Gesellschaft war hilflos und hart: Solche Leute wurden eingesperrt, in Heimen, nicht in Gefängnissen, was aber beinahe aufs selbe hinauslief. Adolf Wölfli und Robert Walser teilten dieses Schicksal. Mit grosser Behutsamkeit zeichnet Michel Layaz das Lebensdrama dieses ungewöhnlichen Menschen nach. Er bringt ihn uns nahe, ohne ihm zu nahe zu treten, er hat zwischen poetischer Freiheit und biografischer Faktentreue eine Sprache gefunden, in der Louis Soutter etwas von dem zuteil wird, was ihm sein Leben lang schmerzlich gefehlt hat: einfühlsame Anerkennung. Unter dem Originaltitel "Louis Soutter, probablement" wurde der Roman 2017 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Übersetzt aus dem Französischen hat Yla M. von Dach aus Biel/Bienne und Paris.

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Michel Layaz

Louis Soutter, sehr wahrscheinlich

verlag die brotsuppe

Michel Layaz

Louis Soutter, sehr wahrscheinlich

Roman

übersetzt aus dem Französischen von Yla M. von Dach

verlag die brotsuppe

Für meine Tochter Judith

Inhalt

ERSTER TEIL: Vor Ballaigues

September 1887

Juli 1898

März 1900

Oktober 1903

August 1904

Januar 1908

Juni 1911

November 1915

Juli 1916

September 1918

April 1920

März 1921

Juni 1922

ZWEITER TEIL: Ballaigues

März 1925

Juni 1926

August 1927

Januar 1928

Juni 1928

Oktober 1931

August 1932

Sommer 1933

September 1936

Juli 1937

September 1938

September 1939

Februar 1942

EPILOG

Mai 1923

Dank

Anmerkungen der Übersetzerin

Der Autor

Die Übersetzerin

ERSTER TEIL

Vor Ballaigues

September 1887

Jeanne, Jeanne, komm runter! Was tust du? Mama will nicht! Louis verkrampfte seine Finger, er ängstigte sich, seine Schwester saß hoch oben im Baum, einen Arm von der Rinde zerkratzt, das Kleid zerknittert. Ich wohne in meinem Haus, ich erfinde Licht mit den Blättern. Und Jeanne, auf der Esche, bewegte einen der Äste, spielte mit einem Sonnenstrahl, machte in ihrem Haus die Lampe an und aus. Das ist doch schön, findest du nicht?

Die Augenlider flatterten.

Jeanne liebte die Bäume.

Sie liebte sie wie sie Blumen liebte, Fische, Regenwürmer, Nacktschnecken, Mäuse, Schimmelpilze, die unbeschreiblichsten Kreaturen, und wie sie es liebte, Enten und Vögeln Brot zuzuwerfen, vor allem jenen, die – hopp! – auf achttausend Meter Höhe steigen, um rund um die Welt zu fliegen. Jeanne liebte es auch, ins Dunkel zu spucken, mit den Fingerspitzen die Wolken zu kneifen, sich den Bauch zu kitzeln und alles, was man ihr anzufassen verbot. Sie beobachtete die Ameisen, die eifrig an der Esche und an ihrem Vorderarm hochkrabbelten. Wie alle Kinder war sie bei den Insekten Herr über Leben und Tod. Ich tue euch nichts zuleide, gar nichts, murmelte sie, und selbst wenn ich nicht weiß wie, auch ihr müsst atmen. Komm runter! Jeanne, komm runter!, drängte Louis. Du musst noch singen; danach, wenn du willst, kommen wir wieder zurück. Louis breitete die Arme aus, um seine Schwester aufzufangen. Er überschätzte seine Kraft, verlor das Gleichgewicht, und beide fielen umschlungen ins Gras. Jeanne lachte herzlich, eine arglose, faltenlose Fröhlichkeit. So ein Jammer, klagte sie, einen Bruder zu haben, der weniger Kraft habe als ein Kaninchen. Louis runzelte die Brauen. Das stimmt nicht, zuckte sie zusammen, du hast viel mehr Kraft als ein Kaninchen. Jeanne konnte nicht lügen. Neben ihnen stand plötzlich, ohne dass man ihn hatte kommen hören, der Hund, der niemandem gehörte. Jeanne strich ihm mit der Hand über den Kopf und steckte ihm einen Finger in die Schnauze. Guter Wauwau. Louis schickte das Tier weg, wischte eilig das Kleid seiner Schwester sauber. Geh dir die Hände waschen, schnell!, befahl er. Die Kleine hüpfte zwischen den Apfelbäumen, dem Birnbaum, dem Kirschbaum, den beiden Pflaumenbäumen durch – man hatte das Haus nicht umsonst Le Verger (der Obstgarten) getauft –, sie ging hinein und mied den Salon, in dem die Donnerstagsgäste am Plaudern waren, Kräutertee oder Wein tranken, Kuchen aßen, Johannisbeeren oder Mirabellen, und allerlei Angelegenheiten, ob lokale oder internationale, erörterten.

Man gratulierte Fanny Yersin dazu, dass ihr Sohn eine Anstellung bei Louis Pasteur gefunden hatte. Ein sozialer Aufstieg sondergleichen, schwadronierte der Hausarzt, während er zu Pasteur nähere Informationen zum Besten gab, die man in der erstbesten Arztpraxis in irgendeiner Ecke herumliegen sah. Eine Frau, deren Stimme sich anhörte, als sei sie durch die Räucherkammer gegangen, verkündete, dass sie die Baustelle dieses berühmten dreihundert Meter hohen Turms gesehen hätte, den zu errichten sich die Pariser in den Kopf gesetzt hatten. Im Salon der Familie Soutter, wie überall sonst, fand der Turm sogleich seine Anhänger und seine Gegner. Ein solcher Haufen Metall, das ist doch allerhand! Louis-Henry-Adolphe nutzte die Gelegenheit einzuwerfen, dass Louis, während Albert wie er Pharmazie studieren würde, eher an Architektur oder Ingenieurwissenschaft denke. Da die Diskussion über den Turm die Geister erhitzte, kam Marie-Cécile und beendete die Debatte: Soll der Mensch doch einen Turm bauen, der zu nichts nütze ist, wenn er nicht vergisst, Tempel und Kathedralen zu errichten, die von seiner Frömmigkeit und Größe zeugen. In den Worten der Hausherrin lag nicht selten ein Stachel. Man vermied es, sich allzu sehr mit ihr anzulegen. Ihr Ehemann, von umgänglicher, liebenswürdiger und etwas feiger Wesensart, stimmte augenfällig zu, flüsterte Albert jedoch ins Ohr, was er seinen Söhnen immer wieder gern sagte: Wenn du den Pfarrern in die Hände fällst, wird nichts Rechtes aus dir.

Louis-Henry-Adolphe kannte das Temperament seiner Frau, er kannte auch die Psychologie der Kunden, die über die Schwelle seiner Apotheke traten. Beides zu verstehen, garantierte den Hausfrieden und brachte einen Batzen Geld auf die Bank.

Die Gäste nahmen Platz, um das musikalische Zwischenspiel und diejenigen zu würdigen, die es vortrugen: Marie-Cécile am Klavier, Louis an der Violine, Albert an der Flöte und die kleine Jeanne, die mit ihrer Mutter sang und manchmal auch alleine. Man hörte sich Tschaikowsky und Schubert mit Kennermiene an. Man wusste, die Musik erforderte zwar gewiss Talent, zuallererst aber verlangte sie Arbeit, Ausdauer, Hartnäckigkeit und Demut, alles Werte, die im Verger und weit herum in diesen wohlhabenden protestantischen Gegenden eisern verfochten wurden. Mehr noch als die Knaben wurden die Damen mit Hochrufen bedacht. Marie-Cécile, eine strenge Schönheit, spielte mit jener Grazie, die auch den unempfänglichsten Gemütern eine Gefühlsregung hätte bescheren können, während sie den feinsinnigsten Geistern die Lust an der Nuance zurückgab. Und wenn Jeanne sang, dann war es, als hätte sie die Anwesenheit der anderen vergessen, als wäre sie ganz allein mitten auf einer Wiese, umgeben von schützendem, wild wucherndem Gras, in dem man sich hätte wälzen mögen. Sobald sie aufhören musste, wurde ihr Gesicht rebellisch, doch kaum begann sie wieder zu singen, sah man sie von Neuem aufblühen. Mit zuweilen überwältigender Größe brachte Jeanne dem Himmel ihre kleine Stimme dar. Mit der Wette, dass sie Sängerin werden würde, wäre niemand ein großes Risiko eingegangen, doch wer hätte ahnen können, dass ihr Freiheitsdrang und ihr Temperament einer unerschrockenen Natur an der Zwangsjacke der Moral zerbrechen würden? Von den Soutter-Kindern wird sie das Erste sein, das, Tag für Tag in den Abgrund gerissen von Blicken, deren heuchlerische, feindselige Art man ahnt, endgültig aufgibt. Gegen den Strom zu schwimmen, ruft Ertrinken auf den Plan.

Mehr als jeder andere liebte Louis die Empfänge im Verger: Keine Traurigkeit, keine Angst, ein allgemeines Wohlwollen, das den Geist beruhigte, die Befürchtungen zerstreute. Hätten diese vor bösem Zauber geschützten Augenblicke doch ewig dauern mögen. Lebenssprühend war Jeanne zu ihren Streifzügen im Garten zurückgekehrt, er war ihr die Welt, die Esche der Urwald.

Wenn das eine oder andere eingeladen war, wagte Louis sich den jungen Mädchen zu nähern, denen seine Mutter Klavierstunden gab und die sich geschmeichelt fühlten, von ihrer Lehrerin auf diese Weise ausgezeichnet zu werden. Aus dem Augenwinkel betrachtete er die Knöchel, die Handgelenke, ahnte das Übrige. Ein leichter Schrecken durchzuckte ihn. Albert, von einnehmenderer Wesensart, sprach selbstsicher und benötigte keinerlei Verkleidung, um sich zu behaupten. Über alles bewunderte Louis seine Mutter, war stolz, ihr Sohn zu sein, beobachtete, wie Männer und Frauen ihr Komplimente machten, sie mit blumigen Worten bedachten: Lilien, Margeriten, Orchideen, Gänseblümchen, selbst Disteln bekamen auf ihr einige Schönheit. Louis nahm es sich übel, ihr nicht besser zu gefallen. Er erinnerte sich an das letzte Zeugnisheft, das er ihr zu Beginn des Sommers hatte zeigen müssen. Auf einen Blick hatte Marie-Cécile alles registriert. Sie hätte ihren Sohn beglückwünschen, ihn an sich drücken, ihm, warum nicht, einen Kuss geben, ihm mit der Hand durchs Haar fahren können. Gehörte Louis nicht, wie sie es sich wünschte, zu den besten Schülern der Klasse?

Marie-Cécile hatte sich verkrampft, hatte mit dem Finger auf die Betragensnote gezeigt, schlecht, noch schlechter als die vorangegangenen, sie hatte tausend Fragen gestellt, Brennnesseln auf der Zunge, hatte Louis für nichts Zeit gelassen. Mein Sohn hat ein schlechtes Betragen, so beginnt jeweils der Katastrophenwind zu blasen. Ungerecht, maßlos hatte sie blindlings ihre Pfeile abgeschossen, hatte verletzt, wo man hätte besänftigen sollen. Nach den spitzen Worten kam Schweigen und nach dem Schweigen etwas Schlimmeres als Schweigen. Wusste Marie-Cécile, dass Louis sich meist von seinen Kameraden fernhielt, wie von einer bangen Lustlosigkeit besiegt? Hatte man ihr gesagt, dass er im Schulhof zwar manchmal die Nähe einer Gruppe suchte, die Gesellschaft der anderen aber rasch satt bekam und davontrottete, um sich irgendwo in eine Ecke zu setzen, ohne dass man nach ihm rief, weil die Schüler den Spielverderber, der jeden Schwung ins Stocken brachte und jede gute Laune vergällte, lieber vergaßen? Ahnte sie, dass sich im Unterricht, wegen einer Art Lachen oder einem Schrei, der ihm wie zu entfahren schien, nicht selten aller Augen auf ihren Sohn zu richten pflegten? Niedergeschlagen und beklommen, so fühlte sich Louis ganz gewiss. Wie oft wäre er am liebsten geflüchtet, durchs Fenster gesprungen, zum Wald hinübergerannt, um dort auf den Regen zu warten, sich bis auf die Knochen abspülen zu lassen, endlich neu geboren, jemand anderer zu werden? Von hinten im Zimmer bemerkte Marie-Cécile die Falten auf Louis’ Stirn. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und bat ihn, Jeanne zu holen, bevor die Gäste nach Hause gingen.

An diesem ersten September des Jahres 1887, während Louis bekümmert daran dachte, dass ihn seine Mutter nicht so lieb hatte, wie er es sich gewünscht hätte, schlüpfte knapp hundert Kilometer weiter weg Frédéric Louis Sauser, der lieber nicht hätte zur Welt kommen wollen, aus dem Leib der seinen. Nie konnte er sie lieben, diese traurige, schicksalsergebene Frau, und so sollte er einst unter einem Namen, der funkelte wie eine nagelneue Münze, GOLD, die wunderbare Lebensgeschichte des Generals August Suter schreiben, jenes Mannes, den man in der Familie von Louis fälschlicherweise, jedoch betrübt und bewundernd, Onkel Suter nannte, jenes Mannes, zu dessen luzidem Sprachrohr Blaise Cendrars werden sollte, indem er seinen Aufstieg und seinen Untergang erzählte.

Juli 1898

Madge, die schöne Madge, stieg aus dem Wasser. Sie hatte die Beine bis zu den Knien eingetaucht. Es war ein sprudelnder, fischreicher Wildbach. Madge schritt durchs Wasser, fürchtete weder Geröll noch Ausglitschen, weder die Felsblöcke noch den Bergwind. Ohne das Gleichgewicht zu verlieren und ohne zu erröten, rückte sie ihr Kleid zurecht. Sie pustete eine Wespe weg. Sie war tough, Madge, und gewandt. Eine echte Amerikanerin. Sie kam auf Louis zu, gab ihm einen Kuss, drückte ihn sich an die Brust, lockerte die Umarmung. Durch den von der Sonne ausgebleichten Tag wirbelte ein Handtuch. Meine Füße, Darling, man muss sie abtrocknen!

Sie lächelte dauernd, Madge, ein kerniges Lächeln, unveränderlich dasselbe wie jenes, das bald auf den Plakaten zu sehen sein würde, die Mundhygiene und Zahnpasta anpriesen. Madge, die moderne Frau! Madge, die Amerikanerin! Louis hüllte die Füße der Schönen ins Badetuch, rieb, zog den Frotteestoff zwischen den Zehen durch, bewunderte diese rosigen, fleischigen Glieder. Dann zog Madge ihre Socken und die Lederstiefel an. Sie blickte mit Stolz auf ihren Mann, wie man einen schönen Fang begutachtet: Morgen wirst du Direktor, sagte sie zu ihm und riss den Mund auf, Direktor des Art Departments am College von Colorado Springs.

Ihre Stimme war ein Strahlen.

Ihre Brust wölbte sich.

Es gibt ein Fest, und du wirst in aller Munde sein, wir, unser Triumph, man wird ein bisschen Beethoven spielen. Louis war erst siebenundzwanzig, das junge Paar hatte das Leben noch vor sich. Madge mischte am Boden ihres Fünfsterne-Kochkessels die Zutaten zum Erfolg. Sie sah nicht die Hand, die Louis auf seinen Bauch gelegt hatte oder auf den Magen, die düsteren Gedanken, die sich dahin verzogen, um sich zu verstecken. Seit zwei Jahren nahm er die Schmerzen hin, nahm sie an, so gut er konnte. Vor allem Madge nichts mehr davon sagen: Verdauungsapparat und Liebe, das vertrug sich schlecht. Madge knabberte an der Schulter ihres Mannes, hätte sie lieber runder, fetter gehabt. Das sagte sie ihm zwischen zwei Lachern.

Was war nicht alles geschehen, seit sie sich am Königlichen Konservatorium in Brüssel kennengelernt hatten, er, der Liebling von Eugène Ysaÿe, dem vergötterten Meister, sie, die Talent zeigte, wenn sie ihren Bogen ergriff, mehr noch, wenn sie zu singen begann. Die beiden gefielen sich und sagten es sich. Doch nicht mehr auf eine Geige sollte Louis seine Finger legen, wenn es nach Madge ging. Sie hatte es eilig, anders bezaubert zu werden. Da Louis schüchtern war, ahnt man, dass sie es war, die sich in sein Zimmer stahl, Froufrous, Spitzen und Corsage ablegte, und wieder sie, die ganz unverfroren unter die Laken kroch, ihre halb geöffneten Lippen auf jene von Louis drückte, seinen Mund abküsste, seine Beine streichelte, seinen Oberkörper, sein Geschlecht, sich an ihm rieb, ihn glühend umarmte, von seinem Wesen Besitz ergriff und sich mitreißen ließ von dem, was sie entdeckte, ein paar Glückslaute von sich gab, Tonfolgen einer unbekannten Partitur, die der Augenblick schrieb. Sie hatten eine gewisse Lust zusammen. Aus Madges Miene war der Hauch von Herablassung, mit der sie sonst allem begegnete, was sie umgab, verschwunden. Das also ist die Liebe, hatte Louis gedacht, schwankend zwischen Entzücken und einem unaussprechlichen Unbehagen. Ja, so viel war geschehen, seit sich kennengelernt hatten: Man war aus Brüssel weggezogen, Louis hatte sich entschlossen, sein Musikstudium abzubrechen und sich erst in Lausanne, dann in Genf zum Maler ausbilden zu lassen, anschließend in Paris, wo er angesehene akademische Ateliers besuchte. Madge verwehrte ihm nichts. Sie verschwieg ihre Pläne, verbarg ihre Launen. Nicht jeder Liebestrank wirkt sofort. Als der geeignete Augenblick gekommen war, hatte sie die richtigen Worte im Mund, nahm Louis mit nach Hause in ihre Heimat, um ihn in ihrer Vaterstadt zu heiraten, nicht in New York oder in Chicago, wo man ein paar Monate Halt gemacht hatte und wo Louis, überwältigt, gern geblieben wäre, sondern hier, in Colorado Springs, neben dem prachtvollen Garden of the Gods, mit dem Ocker der Felsen, dem Blau des Himmels, mit der trockenen Luft, die einem die Lungen ausjätete. Da würden sie ihren Palast errichten. Jetzt wurde nach Colorado-Zeit gelebt. Und der Erfolg ließ sich schon blicken, eine Pinselspitze, er würde nur noch wachsen. Madge hatte vermögende Eltern und Ehrgeiz für zwei. We all love America, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Auftakt zu allen Feuertaufen. Ich will, dass du berühmt wirst, sagte Madge, ich will, dass unsere Freunde uns beneiden, ich will, dass meine Eltern dich anbeten, ich will, dass das Art Department nur so funkelt, die Studenten dich bewundern, die Leute von Colorado Springs uns auf der Straße erkennen, ich will Kinder von dir, das alles soll für ewig sein, heute Abend zeichnest du mein Porträt, zu Hause, etwas Einfaches, das wir Mum überreichen können, um ihr für die Kleider zu danken, die sie uns geschenkt hat. Louis nickte: Das Porträt, da hatte er anscheinend nichts dagegen.

In seiner Linken hielt Louis den Radiergummi, in der Rechten die Zeichenkohle. Um reglos zu bleiben, saß Madge in einem gelben Samtsessel und las. Während er mit leichter Hand zeichnete, die Oberlippe andeutete, die Augenbrauenbogen hervorhob, das Gesicht zum Leben erweckte, brach das Gewitter los, nicht einer der nassen Knallfrösche nach europäischer Art, sondern ein Gewitter von hier. Wenn alles gut geht, sind das sechstausend Blitze pro Stunde. Louis konzentrierte sich. Es musste etwas Realistisches, Delikates werden, das alle zufriedenstellen könnte, allen voran die Schwiegereltern. Die Blitze störten Madge nicht. Sie fuhr mit ihrer Lektüre fort, übertrieb kaum merklich ihre Versunkenheit. Damit das erwartete Porträt gelang, musste Louis kühles Blut bewahren. Das Resultat war hübsch anzusehen: Madges Wesen spiegelte sich in der Zeichnung, aber nicht zu sehr. Im Übrigen hätte Louis nicht wirklich etwas anderes zeichnen können, das war es, worauf er sich verstand, was er gelernt hatte, um dieser Kunst willen mochte man ihn und hatte man ihn angestellt. Madge, von einer fröhlichen Eitelkeit beschwingt, war in die Wohnung ihrer Eltern hinuntergelaufen, eine Etage tiefer, um die Zeichnung ihrer Mutter zu zeigen. Sofort. Louis blieb allein. Er knöpfte sein Seidenhemd auf, massierte sich den Bauch, den Magen. Das polternde Gewitter verzog sich in eine andere Richtung, grollte weiter südlich. Louis hätte schlafen mögen, an nichts denken. Er ahnte, dass die Kunst nicht darin bestand, den Leuten hübsche Zeichnungen zu schenken wie dieses Porträt, kunstfertige Kinkerlitzchen, die jemand geschaffen hatte, ohne sein Herz oder sonst irgendetwas hineinzulegen. War das die Rolle des Künstlers? In diesem Augenblick hätte er seine Kunst verschmähen, ja verachten können. Doch an ihrer Stelle hatte er nichts Besseres zu bieten. Werfen wir diese unguten Gedanken weit weg, sagte er sich, hören wir auf Madge und machen wir weiter! In zwei Tagen wird gefeiert. Möge der Erfolg sich einstellen und die Zeit des Ruhms. Und keinerlei Unannehmlichkeit.

März 1900

Madge betrachtete sich im Spiegel, drehte sich auf die eine, dann auf die andere Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen. In Kürze würde sie ihre gute Gesundheit und ihre neue Toilette zur Schau stellen können, eine so blendend wie die andere. Reichtum ist eine zweite Haut, die über und unter der ersten zu tragen ist. Sie prüfte ihre Fingernägel, deren perfekte Rundung, trug einen Hauch Puder auf, ein blasses Lippenrot. Ob es Baudelaire passte oder nicht, zu starkes Make-up geziemte sich in erster Linie für Küchenmädchen. Madge konnte sich attraktiv finden: Sie war es. Mit welchen Floskeln man ihr das nach den üblichen Ah- und Oh-Rufen wohl bestätigen würde?, fragte sie sich. Unter den Männern und Frauen, die kommen würden – Künstler, kultivierte Persönlichkeiten, Geschäftsleute –, niemand, von dem sie gewünscht hätte, dass er abwesend wäre. Madge war ganz versessen auf diese freundschaftlichen und mondänen Soireen, durch die sie flammenden Herzens und mit geblähten Segeln navigierte.

Mit vollendeter Schlagfertigkeit empfing sie die geladenen Gäste, sorgte dafür, dass sie sich wohlfühlten. Man sprach über alles und nichts, über Kunst und Literatur, über die außerordentliche Entwicklung von Colorado Springs und des ganzen Landes, dessen Macht man pries. Aufschwung und Fortschritt sollten keinesfalls unter irgendwelchen Ketzern zu leiden haben, notfalls würde man Scheiterhaufen errichten. Man kam auf Rousseau zu sprechen und es gab Wirbel in den Diskussionen. Jeder konnte die Zügel schießen lassen, sich wichtig machen. Allein Louis fragte sich, wo er sei, irrte hier wohl herum wie ein ausgesetztes Kind. Durchquerte diese Wüste mit einem Champagnerkelch in der Hand, hielt bei dieser oder jener Person inne, hatte das Gefühl, von einer Leere in die andere zu laufen. Alle jungen Leute träumen davon, Maler oder Musiker zu werden, scherzte Alice, eine Freundin von Madge. Man gratulierte ihm noch dazu, dass er die First Exposition of the Colorado College organisiert und hier so viele schöne Werke gezeigt hatte. Mehrere seiner Zeichnungen waren verkauft worden. Man hatte in der Presse davon gesprochen. Warum wurde ihm von diesen Komplimenten, die ihn doch hätten freuen sollen, übel? Man stellte immer höhere Ansprüche an ihn, das stimmt: Jede Minute musste genutzt werden, die Zahl der Studierenden sollte steigen, die Schule wachsen, sie sollte weit über den Gipfel des Pikes Peak hinaus bekannt werden. Großer Gott! Man war in eine neue Epoche eingetreten!

Auf dieses Schattengerede antwortete Louis nichts. Zeitweise bohrten sich ihm stählerne Finger in den Bauch oder den Magen. Louis versteckte sich. Diejenigen, die etwas von seiner unbestimmten Beklemmung ahnten, schrieben sie einer fragilen Konstitution oder den skurrilen Schrullen eines Künstlers zu. Gewiss, Louis litt, doch war das nicht vielmehr, weil er das Unmögliche begehrte: Madges Sohn zu sein oder ein Schüler an seiner eigenen Schule, besser Geige zu spielen als Ysaÿe, hoch in die Esche hinaufzuklettern dort, im Verger, mit Jeanne am Hals, jemand zu werden, ohne jemanden sehen zu müssen. Eine subtile Melancholie nistete sich in ihm ein: Er musste aushalten, wer er war, schlecht und recht vorwärts stolpern auf diesem verhängnisvollen Weg. Und wie immer musste der Körper die Zeche bezahlen, nichts Neues unter dieser Sonne.

Im Schlafzimmer, in der Frische der Laken ausgestreckt, schaute Louis zu, wie Madge sich für die Nacht bereit machte. Sie drehte ihm den Rücken zu und er sah nur einen Teil ihres Profils, genug, um ihr zart gerötetes Ohr zu bemerken, ein kleines Leuchtfeuer im Weiß der Haut. Als Madge den Kopf neigte, einen Arm hob, um ihren Haarknoten zu lösen, bevor sie endlich den ganzen Körper würde entspannen, von der aufgestauten angenehmen Müdigkeit würde befreien können, sah Louis Berthe Morisots Frau bei ihrer Toilette vor sich. Madge war nicht blond, aber das tat nichts zur Sache! Wie auf dem Bild war sie von Blumen und Blumendüften umgeben, von Blau- und Rosa- und Lavendeltönen, von einer Atmosphäre zarter Hingabe, lieblichen Verlangens, das man mit ihr hätte teilen wollen. Doch dieser Anblick kam ins Wanken: Das Zimmer verlor seine räumliche Tiefe und seine Dimensionen, begann sich vorwärts und rückwärts zu bewegen, drehte sich um sich selbst. Louis war zugleich zehn Zentimeter und zehn Meter von Madge entfernt. Er sah die Haarpracht seiner Frau länger werden, endlos wachsen, in den Teppich übergehen, sich mit den Vorhängen vermischen, sich zu einer düsteren Spirale aufwickeln. Kaum bewegte Louis ein wenig den Kopf, steigerte sich alles noch, Oben und Unten zerschellten eins im anderen, Links und Rechts verschwanden, ein hochfliegender Seegang zerschlug alles, woran man sich halten konnte, es gab keine Richtung, keine Umrisse mehr, die Welt zur Unbestimmbarkeit verurteilt.

Louis schloss die Augen, quetschte seine Augäpfel.

Madge, die sich umgedreht hatte, beobachtete ihn mit einem merkwürdigen Lächeln. Sie behielt ihre Sorge und ihre Vorwürfe für sich, rief ihn beim Namen. Die feste Welt war wieder da. Louis haderte mit sich. Mit jedem Monat, der verging, entfernte er sich mehr von dem unerschrockenen, eroberungslustigen Ehemann, der die junge Amerikanerin zu einer Künstlerin, zu einer wunschlos glücklichen Gattin und Mutter hätte machen sollen. Er fragte sich, wie lange Madge es noch schaffen würde, ihn zu lieben, diese ausfasernde Verbindung tapfer aufrechtzuerhalten. Hätte er sich gewundert, wenn man ihm geantwortet hätte, fast drei Jahre? Madge, und das war vielleicht ein Fehler, jagte Louis nicht mit unverhohlener Wut zum Teufel, versetzte ihm keinen Stockhieb, der heftig traf. Louis, und das war vielleicht ein Fehler, wagte es nicht, Dampf zu machen und beherzt die Tür zuzuknallen, zu zeigen, dass die Gewitter im Staate Colorado nichts sind neben einem Herzen, das keine Luft mehr bekommt. Es wurde ein Ende ohne Feuer und Flamme, ohne Vulkan und hinausgeschleuderten Groll. Nichts als ein langes, langsames Abschwellen. Um gute Figur zu machen, bekräftigte man Hand in Hand, dass ein bisschen Europa Louis guttun würde: seiner Gesundheit zunächst, dann seinen Kenntnissen, eine Art vorzeitige Weiterbildung mit belebender Wirkung. Man hatte eine Abmachung getroffen. Niemand ließ sich täuschen. Im Dezember 1902, mit einem Bündel Dollarnoten in der Tasche seines Paletots, betrat Louis ein eisiges Paris, das nur die Eisläufer im Bois de Boulogne entzückte. Er sollte Colorado Springs nie wiedersehen.

Im Augenblick hatte Madges Lächeln noch nichts Bösartiges an sich. Ohne den leisesten Kälteschauer auf dem Körper zog sie sich ihr langes, seidenweiches Nachthemd über, schlüpfte unter die Decke, legte eine Wange auf Louis’ Brust. Finger verschränkten sich. Madge glaubte an das Wunder eines Kindes. Ein erster Kuss, ein zweiter, um Louis’ Haut der Teilnahmslosigkeit zu entreißen. Sie umschmeichelte ihn, liebkoste ihn mit der Zunge, tröpfelte Speichel in ein Ohr, pikste ihn an den empfindlichsten Stellen. Der Gedanke an ein Kind jagte Louis Entsetzen ein. Madge ließ nicht locker, sie bekam den Körper ihres Mannes zu fassen, rieb sich an ihm, schaffte es, ihn sich zu schnappen, selbstgewiss, mit vor Lust gereiften Brüsten, heißem Geschlecht. Für ihn hatte sie die Augen einer Wölfin, er fürchtete ihre weißen Zähne, die so eng, so vollkommen regelmäßig nebeneinanderstanden.

Der Liebesakt kam zustande.

Madge schlief ein.

Louis blieb allein und bange liegen, fragte sich, wie er die Paarung in Zukunft vermeiden könnte, dachte sich Strategien aus. Als Madge schließlich begriff, dass das Kind nicht gezeugt werden würde, zeigte sie sich diskret spöttisch, höhnisch, Expertin in Sachen verhüllte Sarkasmen. Sie hatte einen Mann bei sich eingeführt, der unfähig war, Vater zu werden. Die Feste und die Soireen verschwanden in der Versenkung. Es folgte die Auflösung. Und man machte der Sache ein Ende, wie man weiß.

Kaum hatte Louis, allein, die Nase in die europäische Luft gestreckt, würde Madge die Scheidung beantragen. Nicht nur, dass sie diese zugesprochen bekam, sie sollte darüber hinaus, bevor sie ihren Mädchennamen zurückerhielt, im Gemeinderegister der Stadt wie folgt eingetragen sein: Madame Louis Soutter, Witwe von Louis Soutter. Von Madges Ehemann würde niemand mehr reden. Man sprach nicht von den Toten in Colorado Springs.

Oktober 1903

Auf der Straße von Genf nach Morges färbten die Ahornblätter bereits den Boden braun, jene der Linden indessen hingen noch an den Ästen. Louis betrachtete die Lichter auf dem See und auf den Bergen, fühlte sich getröstet durch das bekannte Panorama, beunruhigt aber auch angesichts dieser Schönheit, die weder Worte noch Blicke braucht, um zu existieren. Törichte Sterbliche, die glauben, sie brächten hervor, was sie sehen! Wie würde man ihn in Morges aufnehmen? Und was würde er dort tun?

In Paris war die Zeit zu einem unentwirrbaren Geflecht von Ratlosigkeit geronnen, zu einem Klumpen des Schmerzes, aus dem nichts Gutes herausgekommen war. Ohne Familie und ohne Freunde, ahnungslos, wohin er sich wenden sollte, hatte Louis die Orientierung verloren, war mit jedem Tag teilnahmsloser geworden gegenüber dem, was ihn umgab, unempfänglich für die Explosion von Vitalität, die in der Hauptstadt Heiterkeit verbreitete, Männer und Frauen auf die Straße trieb. Er sah Bilder, bewunderte einige, wusste nicht, was anfangen mit seiner Bewunderung. Um sein Schweigen und seinen Schmerz so gut wie möglich unter Verschluss zu halten, gab er sein Geld in Luxushotels aus: Ein Rahmen, der seinem Leiden angemessen war. Es gab Tage, da gelang es ihm, mit seiner Geige ein wenig Trost zu finden, doch die unheilvollen Kräfte zwangen ihn nieder. Es wurde alles nur immer schlimmer für ihn. Morges war die einzige Rettung.

Mit gesenktem Kopf überquerte Louis so schnell wie möglich die Grand-Rue, ohne einen Blick für die Passanten und die blühenden Balkone. Er blieb vor der väterlichen Apotheke stehen, nahm sich nicht die Mühe, die Werbeplakate zu lesen, die im Schaufenster hingen, vergewisserte sich, dass kein Kunde da war, stieß die Tür auf und trat über die Schwelle. Auf den Regalen an den Seitenwänden standen alle Arten von Fläschchen, bläuliche Flaschen und weiße Töpfe mit lateinisch und französisch beschrifteten Aufklebern, doch was Louis als Erstes bemerkte, als er zum Ladentisch trat, auf dem die Waage, die Gewichtsteine und ein paar Pillendosen herumlagen, war der Geruch, diese köstliche Mischung aus altem Holz, Heilkräutern und chemischen Substanzen.

Bevor er ihn zu Gesicht bekam, vernahm Louis die Stimme seines Vaters, tiefer als er sie in Erinnerung hatte, er bat, sich bitte einen Moment zu gedulden. Als die beiden Männer einander gegenüberstanden, gab es, wie man ahnt, einen Augenblick des Zögerns, eine Betretenheit, die nichts zu zerstreuen vermochte. Vater und Sohn. Louis-Henry-Adolphe und Louis. Sie schauten sich an, verstört, bewegten sich nicht, sprachen nicht, wussten nicht, was sagen. Der eine war zum Spiegel des anderen geworden. Die Krankheit als erstes geheimes Einverständnis. Zwar stachen Louis’ Magerkeit, seine hohlen Wangen, seine Niedergeschlagenheit schneller in die Augen, doch im Blick seines Vaters lag eine absolute, definitive Abdankung, die Entsagung dessen, der nicht länger auf seine Stunde wartet. Die beiden Männer fragten sich nicht, welcher mehr zu bedauern sei, sie lauschten auf die Glocken, die schlugen, von der Kirche her, dieselben, die Louis ein paar Monate später um drei Uhr nachmittags hören würde, als man am 31. März des folgenden Jahres den Mann zu Grabe trug, der jetzt da noch vor ihm stand, auf unsicheren Beinen, aber noch am Leben. Nach diesen ersten Minuten der Verunsicherung, wie eine träge Tortur, war eine Hand alles, was Louis-Henry-Adolphe seinem Sohn entgegenzustrecken vermochte. Immerhin war sie eher liebevoll. Wenn Schamhaftigkeit und Strenge so lange einen Menschen beherrschten, wie sollte er auf einmal fähig sein, einen anderen zu berühren, ihn in seiner ganzen Leiblichkeit an sich zu drücken, ihn zu umarmen?

Ihren Sohn in einem solchen Zustand wiederzufinden, als Elender unter den Elenden, stürzte Marie-Cécile in Verzweiflung. Um jede Aussprache zu vermeiden, beschloss man, alles dem Fleckfieber anzulasten. Die Läuse haben einen breiten Buckel.

Der jetzt gealterten Fanny Yersin gegenüber, deren Sohn Alexander jedoch von Ehrbezeugung zu Entdeckung, von Engagement zu Anerkennung eilte, verheimlichte Marie-Cécile den Schiffbruch ihres enttäuschenden Sohnes, der von aufgegebenen Studien zu nicht eingelösten Versprechen, von fruchtlosen Werdegängen zu verpatzten Erfolgen taumelte. Louis, du bist schuldig. Der zu sein, der du bist. Gibt es einen grausameren Schuldspruch? Einen trostloseren?

August 1904

Louis-Henry-Adolphe starb im März, dreiundsechzig Jahre alt. Seine Frau zeigte sich zurückhaltend in ihrem Schmerz. Wenn das Leben aufhört für den einen oder den anderen, fragt man sich, wie viel Zeit einem noch bleibt, als Überlebender, und niemand weiß es. Marie-Cécile sollte siebenundzwanzig Jahre lang Witwe bleiben, sie sollte Jeanne, die schamlose Tochter, verlieren, sie sollte Albert verlieren, den lebenskräftigen Sohn. Einzig Louis würde sie überleben. Die Schönheit des Verger sollte nur von traurigen Augen betrachtet werden.

An Schrecklichem gab es im Augenblick erst die Miene von Louis. In den Straßen von Morges drehte man sich nach ihm um, peinlich berührt von diesem ausgemergelten Körper, voller Unbehagen angesichts dieses ausgedörrten Gesichts. Marie-Céciles Aura reichte nicht mehr, um das Geschwätz zu unterdrücken. Und die Mitleidsbezeugungen angesichts des Schicksals ihres Sohnes verletzten sie nicht weniger als die giftigen Bemerkungen. Auf der Familie lastete die Sorge. Man hatte Mühe, diesen Bruder, diesen Sohn, diesen Cousin anzuerkennen, ihn zu lieben, wie man ihn hätte lieben sollen. Die erlittenen Schiffbrüche schwärzten Louis’ Blick, knebelten seine Worte, Satzfetzen, sein ganzes Wesen machte apathisch und kraftlos die Hoffnung zunichte, dass sich rasch etwas ändern könnte. Albert hatte dafür gesorgt, dass Louis ein eigenes Zimmer im obersten Stock eines Hauses an der Rue du Lac beziehen konnte. Womit immerhin die Illusion der Unabhängigkeit gewahrt blieb! Und dem Klatsch Einhalt geboten war.

Diese Mansarde – nach dem Tod des Vaters verließ Louis sie mehrere Tage lang nicht, suchte, sehr mitgenommen, Verbrechen zu bereuen, von denen er nicht recht wusste, ob er sie oder ob er sie nicht begangen hatte. Als er erfuhr, dass in Lausanne die VIII. Nationale Kunstausstellung durchgeführt werden sollte, schreckte er hoch. War er nicht Zeichner? Maler? Hatte er nicht das Art Department am College von Colorado Springs geleitet? War es nicht Zeit, diese Monate zu vergessen, in denen er gelebt hatte, ohne zu leben, aus dieser schlaflosen Nacht herauszutreten und den Seinen zu beweisen, dass er etwas zustande bringen konnte? Louis war beeindruckt gewesen von Jeannes Schönheit und Kraft und noch mehr von ihrer Schönheit im Leiden. Sie war bereit, in seine Mansarde zu kommen, ein paar Stunden täglich zu posieren. Bruder und Schwester von Angesicht zu Angesicht. Sie betrachteten sich, verständnisinnig, durch geheime Bande in innere Übereinstimmung gebracht. Beide suchten ihr Bild im anderen, erinnerten sich an glückliche Momente, in denen ein Tannzapfen oder eine Kastanie, mit spitzen Fingern vorgezeigt, so viel Glück brachte, als hielte man die ganze Welt in der hohlen Hand.

Mehrmals schloss Jeanne die Augen, das Gesicht von Licht überflutet, und begann von sich zu erzählen, von ihren Freuden als Sängerin, vom Chor junger Mädchen, den sie gegründet hatte, den Fauvettes. Mit leiser Stimme gestand sie, mit welchen Hexereien, in welchen Labyrinthen eine Frau sich herumschlagen musste, gab zu, wie wonnevoll es für sie war, so heftig und so stark zu lieben. Es gab Augenblicke, da beugte Louis sich zu Jeanne hinüber, murmelte ihren Vornamen, ergriff ihre Hand, drückte ihr einen Kuss auf den Nacken oder die Schulter. Er malte seine Schwester sehr sorgfältig, sehr konzentriert, brachte meisterhaft die Lektionen zur Anwendung, die er von seinen Lehrern erhalten und dann den eigenen Schülern weitergegeben hatte. Dieser Mann, der seit Monaten keinen Zeichenstift angerührt hatte, überwand seine Erstarrung, ließ nicht locker. Bruder und Schwester fanden sich wieder, stärkten sich gegenseitig den Rücken.

Und ein Bild entstand.

Louis war kühn genug, sich für die Ausstellung einzuschreiben.

Doch wenn die Hoffnung auch aufblühte, sie hielt nicht an.

In der Nacht vor der Hängung stand Louis auf. Er schlug das Tuch zurück, das über dem Gemälde lag und schaute. Sein Bild berührte ihn schmerzlich. Nicht dass es da oder dort Mängel oder Unvollkommenheiten gegeben hätte: Das Ganze insgesamt deprimierte ihn. Wozu malen, wenn man nur so malen sollte? Man musste mit allem von vorne anfangen, sich festbeißen, kämpfen, ganz gleich wie immens die Aufgabe war! Louis fühlte in sich eine Lust, wie er sie nicht mehr empfunden hatte seit jenen Nachmittagen, an denen er vor den Augen seines Lehrers Ysaÿe