Die Fujel - Marina C. Herrmann - E-Book

Die Fujel E-Book

Marina C. Herrmann

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2157 und die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war ...Nachdem die Menschheit fast vollständig ausgelöscht wurde, herrschen die Anok über die Welt. Die Fujel, gentechnisch erschaffene Katzenmenschen, dienen als Arbeiter, die streng kontrolliert werden. Sogar ihre Partner werden ihnen von den Anok vorgeschrieben.Das Fujel-Mädchen Mirayia könnte als Naruk-Nachfahrin viel Einfluss haben, doch als sie naiverweise gegen das Auslieferungsgesetz verstößt und dafür sorgt, dass Menschen in ihrem Dorf aufgenommen werden, beginnen die ersten Proteste in den eigenen Reihen. Ihr Großvater, ihre beste Freundin Katyl und ihr Kater Meschkel stehen ihr zur Seite.Gleichzeitig trainiert sie für den Survival-Wettbewerb im Mako-Gebirge, doch erstens ist ihr ihre Rivalin Prellic immer einen Schritt voraus und zweitens geschieht etwas Schreckliches am Ende des Wettbewerbs. Die Vermutung liegt nahe, dass die Anok dahinterstecken. In Mirayia wird der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung immer größer.Doch wer wird sich mit ihr gegen die mächtigen Anok stellen und eine Rebellion unterstützen?

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Für Ricarda und Anna.

Für Mr. Bings.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Trishk und die Yulowfs

Das oberste Gesetz

Ein stechender Schmerz

Wildblumen und Moore

Eine seltene Versammlung

Rivalinnen

Elenyias Überraschung

Die virtuelle Realität

Kleider und Ziegen

Prüfungen

Die traurige Realität

Hochzeit in Idaho

Das Mako-Gebirge

Abschied

Heiß wie Feuer

Der Brief, der alles entscheiden kann

Der zersplitterte Stammbaum

Ein Raum voll Fotos

»Weh dem Menschen, wenn nur ein einziges Tier im Weltgericht sitzt.«Christian Morgenstern

Prolog

»Mr. Reese? Sir? Der Präsident ist da«, der junge Mitarbeiter stand im Türrahmen seines Vorgesetzten und ging sogleich weiter, einen Stapel Akten tragend. Zu gerne wäre er dabei gewesen, doch leider gab es Vorschriften und diese besagten nun mal, dass nur eine bestimmte Anzahl an ausgewählten Personen mit dem Präsidenten zusammen durch die Räumlichkeiten der Area 51 gehen durfte.

»Ich komme schon«, Reese erhob sich aus seinem Stuhl, richtete noch einmal seine Krawatte, strich sich über sein graues Haar und verließ den Raum. Draußen, auf einem der unzähligen Flure in diesem labyrinthartig aufgebauten Gebäude, stand der Präsident der Vereinigten Staaten, umgeben von seinen Personenschützern, die mit ausdruckslosen Gesichtern dastanden. Alle kerzengerade, immer bereit zu reagieren.

»Sie werden nicht enttäuscht sein, Mister President«, versicherte Reese nach einer kurzen Begrüßung. Sogleich ging er los, der Gruppe voran und zitterte vor Aufregung am ganzen Körper.

Der Präsident schritt neben ihm souverän über den Flur. »Das hoffe ich auch. Immerhin warten wir nun seit beinahe fünf Jahren auf die Fertigstellung des Projekts«, sagte er, ohne ihn anzusehen. In seiner Stimme lag Ungeduld, ein Hauch von Ärger. Falls er ebenso wie Reese aufgeregt war, konnte er es gut verstecken.

Reese warf ihm einen schnellen Blick zu. Der Präsident war so jung wie kein anderer vor ihm, doch er hatte die Autorität und das Geschick, gut mit Worten umgehen zu können, wie all jene Menschen, von denen jeder die Namen kennt. Jene Menschen, die einen Krieg anfingen oder ihn beendeten. Reese kannte die aktuelle politische Situation nur zu gut, daher schien es sehr wahrscheinlich, dass dieser Präsident zur ersten Sorte gehörte. Reese hoffte darauf, dass er falsch lag, dass der Präsident gute Absichten hatte. Denn für ihn zählte jedes Leben. Er erschuf doch kein Leben, nur damit es in einem sinnlosen Krieg fiel. Jedes Lebewesen sollte das Recht auf Leben und einen natürlichen Tod haben. Doch natürlich war ihm klar, dass auch seine Geschöpfe kein normales Leben führten. Sie lebten in diesen Mauern und Gängen, Laboren und Käfigen. Nicht das, was er geplant hatte, aber die Menschen würden niemals mit dieser Vielfalt auskommen. Sie kamen ja noch nicht einmal mit unterschiedlichen Hautfarben zurecht, also war es das Beste, alles Leben, welches Reese und seine Mitarbeiter in den letzten Jahrzehnten erschaffen hatten, in der Area 51 eingesperrt zu lassen.

»Es tut mir leid, Sie korrigieren zu müssen, aber es ist schon lange fertig. Sie meinen vermutlich die Erweiterung. Auch wenn Sie bisher den ersten Teil noch nicht gesehen haben.«

»Wie auch immer, Mister Reese, wo ist es?« Der Präsident der Vereinigten Staaten ließ sich nicht anmerken, ob er genervt oder neugierig war.

»Direkt hier, hinter dieser Tür.« Sie waren in einen breiten Gang eingebogen, an dessen Ende sich eine einzige Tür befand, vor der sie nun standen. Die Tür war so dick, dass kein Geräusch aus dem Inneren zu hören war. Reese strich sich noch einmal über seine grauen Haare und öffnete dann mit der anderen Hand die Tür, sodass der Präsident hindurchgehen konnte. »Gleich hier vorne. Durch diese Scheibe können Sie es sehen.« Reese sprühte nur so vor Elan und zeigte zur gegenüberliegenden Seite.

Der Raum war nicht sehr groß. An der Decke flackerten die üblichen Neonröhren. Die grauen Wände ließen den Raum kalt und beengt wirken. Sie waren allein, alle anderen Mitarbeiter waren kurzfristig abgezogen worden. Die rückwärtige Wand war eine einzige große Glasscheibe.

Der Präsident schritt langsam durch den Raum, trat vor die Scheibe und sah hindurch. Die Wände in dem Teil des Raumes waren weiß und kahl und erinnerten an ein Krankenhaus. Der Boden erinnerte den Präsidenten an eine der alten Schulen, die er bei Kampagnen besuchte und die dringend renoviert werden müssten. Er war fleckig, hier und da ein wenig kaputt. Und in der Mitte des Raumes stand ein kräftiger und drahtiger Mann in einem schlichten grauen Overall. Es war ein Mensch, der ihm da gegenüberstand, nur getrennt durch diese dünne Scheibe. Ein Mensch seiner Größe, wenn auch viel kräftiger und mit mehr Mimik, jedoch jünger, höchstens Anfang der Zwanziger. In seinem Kopf schien es die ganze Zeit zu arbeiten, das konnte man an seinen leuchtenden Augen, seinem Stirnrunzeln und den zuckenden Mundwinkeln erkennen. »Das ist das Projekt? Ein Mensch?«, fragte er tonlos und starrte den Mann hinter dem Glas an. Hatte er wirklich Milliarden an Steuergeldern in die Area 51 gesteckt, nur um einen Menschen zu sehen? Von den Mitarbeitern der berüchtigten Area 51 hatte er mehr erwartet.

Reese war neben ihn getreten. »Er sieht aus wie ein Mensch, aber er ist keiner. Es ist eine eigenständige Gattung. Wir nennen sie die Anok«, erklärte er.

»Anok? Und damit sollen wir alle Kriege der Welt gewinnen? Damit sollen wir quasi unbesiegbar werden?« Der Präsident schien skeptisch und Reese wurde klar, dass er leider recht gehabt hatte. Dieser Präsident gehört zu der Sorte Mensch, die er nicht ausstehen konnte.

»Nicht nur quasi. Damit werden Sie auf jeden Fall unbesiegbar sein«, versprach Reese, obwohl es ihm in der Seele wehtat. Sie waren wie seine Kinder und er würde sie einem vollkommen Fremden überlassen. Sie würden den Krieg gewinnen, Reese würde ein Held werden. Aber war es das wert? »Ein durchschnittlicher Anok ist ein 1,85 m groß und wiegt dabei circa 75 bis 80 Kilo. So wird der Feind keinen Verdacht schöpfen. Jedoch weiß er nicht, was er wirklich vor sich hat, nämlich einen Anok, der aus reiner Muskelmasse besteht. Ein Anok ist doppelt so stark wie der durchschnittliche männliche Homo sapiens und hat eine dickere Haut. Er hat einen unglaublich starken Willen. Wenn er etwas haben will, dann versucht er alles, um es zu bekommen, wenn nötig mit Gewalt, viel Gewalt. Sein Kampfwille ist unglaublich und es braucht nicht viel, um einen Anok zu verärgern. Er zieht schnell in den Krieg und beendet ihn erst, wenn er gewonnen hat. Außerdem sind Anoks technisch sehr begabt und entwickeln schnell neue Programme und Maschinen.« Reese legte seine Hand an die Scheibe und seufzte, ob aus Liebe, Ehrfurcht oder Angst, wusste nur er selbst.

»Wenn das alles stimmt, was Sie da erzählen, dann scheint er mir äußerst aggressiv zu sein.« Der Präsident trat einen Schritt von der Scheibe zurück und für einen kurzen Moment schien es, als würden seine Mundwinkel sich leicht nach oben ziehen. Doch so schnell senkten sie sich auch wieder und er sah Reese an. »Und Sie haben dieses Ding wirklich unter Kontrolle? Es darf nichts schiefgehen. Wir können es uns nicht erlauben, einen Krieg zu führen, wenn unsere eigene Waffe sich dem Feind anschließt und uns selbst angreift.«

Reese winkte schnell ab. »Keine Sorge, er tut uns nichts. Wir sind wie seine Eltern. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie hören nur auf unsere Befehle. Ein Anok ist dem Menschen untergeben. Ohne uns würde es sie nicht geben, dafür sind sie uns dankbar.«

Der Präsident starrte in den Glaskäfig und runzelte die Stirn. »Sie haben also auch eine sanfte Seite. Das kann Vor- und Nachteile mit sich bringen. Und da kann wirklich nichts schiefgehen? Er würde niemals selbstständig handeln? Das hat die höchste Priorität, Mister Reese, das verstehen Sie doch wohl.«

Reese zögerte, dann sagte er so souverän, wie es ihm möglich war: »Niemals, keine Sorge.«

»Der perfekte Hybrid … oder nennen Sie es Chimäre?«

»Weder noch«, antwortete Reese und schüttelte den Kopf. »Wir nutzen keinen dieser Begriffe und sehen sie als etwas vollkommen Eigenständiges an.«

Der Präsident wandte sich zu ihm um und sah ihn aufmerksam an. »Welches Erbgut steckt genau in dieser Kreatur?«, fragte er langsam.

»Das wollen Sie lieber nicht wissen«, antwortete Reese schnell, wich seinem Blick aus und sah auf seine Schuhe.

Der Präsident trat noch einen Schritt zurück von der Scheibe und musterte Reese weiter. »Nun gut. Wie viele haben Sie bis jetzt?«

»320 Ausgewachsene und circa 90 Kinder. Sie werden von klein auf trainiert, damit sie im Krieg siegen. Das Exemplar, das Sie hier hinter der Scheibe sehen, heißt Solok. Er ist unser sogenannter Tester. Mit ihm üben wir verschiedene neue Trainingsarten, um zu testen, welche am besten funktionieren. Er ist bisher auch der Stärkste seiner Art.«

Der Präsident zog eine Augenbraue hoch. »Solok? Sie geben denen Namen? Wie auch immer, kann er uns nicht sehen? Er reagiert ja gar nicht auf uns.« Er deutete in den Raum, in dem Solok nun auf und ab ging, die Arme schwingend, als würde er sich für einen Wettkampf aufwärmen.

»Von dieser Seite ist es ein Fenster, von der anderen Seite ein Spiegel«, erklärte Reese schulterzuckend eine für ihn offensichtliche Selbstverständlichkeit. »Möchten Sie einmal mit ihm reden? Wir können zu ihm rein.«

»Nein!« Der Präsident hob abwehrend die Hände. »Wenn das, was Sie alles sagen, wahr ist, Mister Reese, dann setze ich mein volles Vertrauen in Sie. Machen Sie nichts falsch, ich kann nicht noch mehr Niederlagen vertragen. Liefern Sie die ersten 100 in einer Woche.« Damit wandte er sich ab und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Zwei Personenschützer gingen vor ihm, einer hinter ihm und einer hielt ihnen zuerst die Tür auf, um sich dann ebenfalls hinten anzuschließen.

Reese verließ als Letzter den Raum. Dann eilte er hastig voraus, öffnete dem Präsidenten die Tür und schritt voran, um ihn zurück durch die Gänge zu begleiten. »Natürlich, und wie gesagt, wir werden Sie nicht enttäuschen«, erklärte er schnell, als er vergeblich versuchte, an den Personenschützern vorbeizukommen.

Sie gingen nun durch einen belebteren Teil der Area 51. Wissenschaftler und Militärs passierten sie in kleinen Grüppchen. Einige nickten Reese und dem Präsidenten zu. Viele sahen bewundernd zu ihrem Präsidenten auf oder senkten ehrfürchtig den Kopf. Durch breite Korridore rollten kleine Transportroboter, denen sie immer wieder ausweichen mussten. Reese wollte gerade erneut den großen Erfolg des Projektes betonen, dieses Schweigen zwischen ihnen gefiel ihm nicht, als der Präsident stehen blieb. Reese sah sich verwirrt um.

»Mister President?«, fragte er und wurde nun von den Personenschützern zu ihm vorgelassen.

Der Präsident war vor einer Tür mit einem Fenster stehen geblieben, die er nun, ohne zu wissen, was sich auf der anderen Seite befand, öffnete. Reese sprang herbei und hielt sie für ihn auf. Vor ihnen lag eines der Testlabore. Die Luft roch steril, das Licht war hell, aber angenehm. An den Wänden standen weiße Schränke, einige hatten dicke Türen und waren mit Schlössern versehen, andere hatten nur eine dünne Glasscheibe, um den Inhalt zu schützen. Auch in der Mitte des Raumes standen Glasschränke und Regale mit Mikroskopen und anderen Laborinstrumenten. Fünf Mitarbeiter saßen in weißen Kitteln an ihren Arbeitsplätzen. Jetzt sahen sie überrascht auf und verließen auf stummen Befehl von Reese den Raum. Eine sechste Mitarbeiterin trat gerade weiter hinten im Labor an einen Arbeitstisch mit einem Mikroskop. Reese erkannte sie sofort und ihm wurde bewusst, warum der Präsident diesen Weg eingeschlagen hatte. Noch hoffte er, dass seine Mitarbeiterin hinter dem Regal an ihrem Tisch bleiben würde, der Präsident schien sie noch nicht gesehen zu haben.

Der Präsident hatte sich zu Reese umgedreht. »Ich könnte schwören, dass einer Ihrer Mitarbeiter gerade«, er zögerte, er durfte doch in seiner Position nicht für einen Verrückten gehalten werden, und fuhr leise fort, »einen Schwanz hatte.« Damit wandte er sich wieder dem Raum zu und ging zwischen den Regalen und Schränken direkt zu der Mitarbeiterin am Elektronenmikroskop.

Reese eilte hastig hinterher, sodass er wieder an der Seite des Präsidenten war. »Das kann nicht sein«, rief er atemlos. Gern hätte er den Präsidenten sofort aufgehalten, aber mit Blick auf die Personenschützer und die Staatsgewalt, die das Staatsoberhaupt repräsentierte, ließ er es bleiben. Er konnte ihn ja schlecht zu Boden reißen und wieder aus dem Labor und am besten aus der gesamten Area 51 herausbefördern.

Der Präsident hörte ihm ohnehin nicht mehr zu und hatte nun die Mitarbeiterin erreicht. Er blieb einen Schritt hinter ihrem Rücken stehen und beobachtete sie. Da wiegte sich tatsächlich ein Schwanz leicht hin und her!

»Entschuldigung?« Er tippte ihr auf die Schulter, woraufhin diese erschrocken erst zur Seite und dann leichtfüßig auf einen Tisch sprang. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, ihre spitzen Ohren drehten sich immer wieder vor und zurück, und in ihrer gebückten Haltung wäre es für sie ein Leichtes, dem Präsidenten direkt an die Kehle zu springen.

Alle starrten sie und den Präsidenten an, der erstaunt zu ihr aufblickte – damit hatte er ganz offensichtlich nicht gerechnet. Die Personenschützer hatten nun alle die Hand an der Waffe. Niemand von ihnen hatte jemals ein solches Lebewesen gesehen.

»Ganz ruhig, Oschek, das ist der Präsident der Vereinigten Staaten.« Reese ging auf das verschreckte Wesen zu, nahm seine Hand, holte es vom Tisch herunter und legte seine Hand auf seine Schulter. Er stellte sich schützend neben das Tier und sah erst zum Präsidenten und dann auf seine Schuhe.

Der Präsident starrte das Geschöpf im Laborkittel an. Oschek hatte bernsteinfarbene Augen und war schneeweiß. Ihre Haut war bedeckt mit einem Fell, das kaum als ein solches wahrzunehmen war. Es bestand aus sehr kurzen, feinen, kaum sichtbaren Haaren. Um ihr linkes Auge war ein schwarzer Fleck. Ihre Ohren waren spitzer und ausgehöhlter als die eines normalen Menschen, ihre Fingernägel kräftiger und schwarz – und unter ihrem Laborkittel ragte eben der Schwanz hervor.

»Muss ich mich jetzt verneigen oder so?«, fragte Oschek mit einem rollenden Akzent und entzog sich der Hand von Reese.

»Nein, nein. Ich bin ja kein König«, antwortete der Präsident verdutzt und sah an dem Wesen vorbei auf dessen Schwanz. »Was bist du?«

»Ein ganz normales Lebewesen, das auch ein Recht auf Leben hat. Nur weil ich anders bin, werde ich ja wohl nicht gleich umgebracht. Ich weiß, wie Sie mit speziellen Lebewesen umgehen«, antwortete Oschek fauchend und ihre Ohren knickten nach hinten weg.

»So war das nicht gemeint«, versuchte der Präsident sie zu beruhigen und musterte Oschek interessiert weiter.

»Warum arbeitest du nicht weiter?«, mischte sich Reese wieder ein und schob Oschek zum Mikroskop zurück. Dann wandte sich Reese wieder dem Präsidenten zu und erklärte, ohne ihm dabei direkt in die Augen zu sehen: »Sie ist ein Fujel.«

Dieser schüttelte den Kopf. »Ein was? Warum können Ihre Projekte nicht normale Namen haben? Genaue Antworten bitte. Was ist das?« Er deutete auf Oschek.

»Ein Fujel. Sie ist halb Mensch und halb Katze. Im Durchschnitt 1,65 m bis 1,70 m groß, die männlichen sind ein wenig größer. Dabei wiegen sie circa 65 Kilogramm. Allerdings haben wir immer noch kein stabiles Erbgut. Jeder Fujel ist anders. Manche sind behaart, selten haben sie einen Schwanz, ihre Ohren sind unterschiedlich spitz und ausgehöhlt, aber immer katzenähnlich, einige haben Katzenaugen, andere nicht. Auch die Farben variieren. Aber eines haben sie alle gemeinsam: schwarze ausfahrbare Krallen, einen menschlichen Körperbau, menschliches Kopfhaar, eine ausgesprochene Schnelligkeit und die typischen spitzen Eckzähne einer Katze.«

Der Präsident sah ihn an und schüttelte erneut den Kopf. »Und eine scharfe Zunge, wie mir scheint. Manchmal frage ich mich, wie Sie auf solche Ideen kommen. Warum führen Sie solche Experimente ohne meine Anweisung durch? Ihnen ist schon klar, dass Sie direkt mir unterstehen und genetische Experimente genehmigungspflichtig sind? Eigentlich müsste hier der ganze Senat zustimmen, so wie es bei den Anok der Fall war.« Seine Stimme war nun lauter und tiefer als zuvor.

Reese war das alles mehr als unangenehm, aus vielerlei Gründen, unter anderem weil gerade ein Fujel zuhörte, wie er sich vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten verteidigte.

»Es tut mir leid. Sie sind gute Mitarbeiter, ehrlich, teamfähig. Wenn man sie gut behandelt, schenken sie einem ihr Vertrauen und ihr Herz. Sie haben starke Nerven, ein gutes Denkvermögen, können gut hören und im Dunkeln gut sehen. Sie haben aber nicht den Kampfwillen eines Anok«, erklärte er hastig und leise.

»Sie lieben es nicht, auf den Punkt zu kommen, oder? Sie sind ja schon besessen von Ihren … Ihren Geschöpfen.« Der Präsident lachte einmal kurz auf, ob aus Spaß oder Spott war nicht klar. Mit einer Handbewegung erteilte er seinen Begleitern den Befehl, die Hand wieder von der Waffe zu nehmen. »Aber jetzt mal im Ernst. Halb Katze, halb Mensch und der Name ist Fujel? Wie sind Sie auf diesen Namen gekommen?«

»Ja, sag es ihm«, rief Oschek über die Schulter vom Mikroskop her.

»Du sollst doch arbeiten«, empörte sich Reese und sah streng in ihre Richtung.

»Hast doch selbst gesagt, dass wir gut hören können«, konterte sie nun, streckte ihm die Zunge raus, erhob sich und kam wieder zu der kleinen Gruppe zurück. »Hast übrigens was vergessen. Es haben nicht alle diesen Akzent. Aber jetzt erzähl ihm, wie es zu dem Namen kam. Obwohl es uns nämlich schon seit Jahren gibt, entstand er erst vor zwei Monaten. Vorher hießen wir ›Projekt 27‹.« Sie sah Reese auffordernd mit einem neckischen Grinsen an und ein tiefer, gurgelnder Ton, der einem Schnurren ähnelte, kam nun leise aus ihrer Kehle.

Reese erwiderte ihren Blick. »Ich glaube nicht, dass der Präsident sich dafür interessiert.«

»Doch, eigentlich schon, deswegen habe ich ja gefragt«, bestätigte dieser die Fujel-Frau.

Reese sah genervt von einem zum anderen. Dann gab er sich geschlagen und erklärte leise: »Nun gut, es war, wie Oschek bereits erwähnte, vor zwei Monaten. Wir hatten unsere Arbeit erledigt und wollten mit ein paar Leuten einen Spieleabend veranstalten«, begann er. »Wie das so ist, haben wir uns viel erzählt und viel gelacht und …«

»Mann, du kommst echt nicht auf den Punkt«, unterbrach Oschek ihren Vorgesetzten. »Sie haben sich volllaufen lassen und dann Scrabble gespielt. Am nächsten Morgen hat er auf das noch herumliegende Spielbrett gesehen. Kaum ein Begriff existierte wirklich, einer war Fujel. So sind übrigens fast alle Projektnamen entstanden. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde: die Bezeichnung ›Projekt 27‹ oder das betrunkene Scrabble-Spiel.« Wieder knickten ihre Ohren kurz nach hinten, diesmal aber nur gespielt, wie man an ihrem kurzen Lachen erkennen konnte.

Dem Präsidenten stand der Mund offen und er schloss für einen Moment die Augen. »Ich glaube, wir haben hier alles besprochen. Ich gehe lieber, bevor ich von noch mehr Projekten und Neuschöpfungen erfahre«, sagte er schließlich und drehte sich bereits um.

»Natürlich, obwohl ich Ihnen versichern kann, dass es nicht mehr gibt«, erwiderte Reese schnell und folgte dem Oberhaupt der Vereinigten Staaten, das bereits mit großen Schritten den Raum durchquerte, gefolgt von seinen Personenschützern. Oschek sah ihnen erhobenen Hauptes nach. Als der Präsident gerade die Tür erreichte, rief sie dann noch quer durch den Raum: »Das hier ist die Area 51. Reese, schon vergessen, was dahinten alles in den Kammern und Laboren hockt?«

Reese fuhr herum. »Oschek! Was ist heute los mit dir?« Er sah sie streng an und deutete eine Ohrfeige an. Oschek lachte und zeigte dabei ihre spitzen Zähne. Sie wusste, dass er es nicht ernst meinte. Diese Späße fanden hier fast täglich statt. Nur hätte sie sich in Anwesenheit des Präsidenten zurückhalten sollen. Sie hätte ja eigentlich gar nicht mit ihm in Kontakt treten sollen.

Da erklang eine Sirene und die roten Warnleuchten über den Türen sprangen an. Oschek verstummte augenblicklich, nahm eine leicht geduckte Haltung ein und zuckte mit den Ohren.

Die Personenschützer scharten sich eng um den Präsidenten und zogen ihre Waffen.

»Ein Testlauf, hoffe ich«, knurrte einer von ihnen und sah Reese an.

Noch ehe dieser etwas sagen konnte, sprang die Tür auf und ein Mitarbeiter stürmte in den Raum. Sein rechter Arm war aufgeschlitzt und es floss Blut. »217 ist ausgebrochen und hat alle Kammern geöffnet. Er reagiert nicht mehr auf uns. Er ist vollkommen außer Kontrolle«, berichtete er hastig.

»217?«, fragte der Präsident.

»Solok«, kam es schwach von Reese. »Gehen Sie, schnell. Wir bekommen das hier wieder unter Kontrolle.«

Der Präsident sah ihn für eine Sekunde zweifelnd an – für heute hatte er mehr Informationen bekommen, als ihm lieb war. Aber bisher war immer noch alles gut gegangen in der Area 51. Also beschloss er, Reese zu vertrauen. Er nickte den Personenschützern zu und verließ in ihrer Mitte schnellen Schrittes den Raum.

Nachdem die Tür zugefallen war, wandte sich rasant Oschek um und rief ängstlich: »Naruk, komm her!« Sie spähte unter den Tisch, an dem sie eben noch gearbeitet hatte. Dort kam ein kleiner Fujel-Junge, höchstens vier Jahre alt, hinter einem Container, der darunter stand, hervorgekrochen.

»Oschek, du bleibst hier, wir regeln das«, rief Reese ihr zu, packte den verletzten Mitarbeiter, verließ mit ihm eilig den Raum und verschloss die Tür fest von außen.

Nun waren Oschek und Naruk allein. Die junge Mutter nahm ihren Sohn auf den Arm und kroch mit ihm unter einen Tisch. Sie wartete, Sekunden, Minuten. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Ihre Ohren drehte sie immer wieder in alle Richtungen, um ja kein Geräusch zu überhören, doch sie nahm nichts in ihrer näheren Umgebung war.

»Bleib du hier, ich komme sofort wieder«, flüsterte sie schließlich dem Kleinen zu und krabbelte aus ihrem Versteck. Sie ging vorsichtig zur Tür, fast lautlos – ha, noch etwas, das Reese vergessen hat zu sagen, dachte sie und linste vorsichtig durch die Scheibe nach draußen auf den Gang. Es war nichts zu erkennen. Doch genau in dem Moment nahm sie über sich in der Decke Geräusche wahr, die sich schnell in den hinteren Bereich des Labors verschoben. Der Lüftungsschacht!

»Mama«, rief ihr Sohn weinend.

Oschek drehte sich sofort um, lief in seine Richtung und stoppte abrupt, als sie vor einem Anok stand, der sich gerade zu dem Versteck herabbeugen wollte. »Finger weg von meinem Sohn«, fauchte sie und zeigte dabei ihre spitzen Zähne. Sie sprang um ihn herum und stellte sich ihm in den Weg.

»Aus dem Weg, Kleine«, er packte sie grob an der Hüfte und riss sie hoch. Sie fauchte, fuhr ihre Krallen aus und kratzte ihm durchs Gesicht. Er ließ sie fallen und sie landete hart auf dem Boden.

»Lauf weg, such dir ein neues Versteck«, flüsterte sie Naruk zu, ehe sie am Schwanz hochgezogen wurde.

Der Anok war viel stärker als sie. Mit einem Griff brach er Oschek den rechten Arm. Die junge Kämpferin umklammerte mit ihrem linken Arm seinen Hals und biss einmal kräftig zu. Ihre Zähne bohrten sich tief in die dicke Haut und hinterließen doch keine sehr große Wunde. Aber es reichte, dass der Anok aufschrie und sie herumschleuderte. Oschek krachte in einen Glasschrank, durchbrach ihn und landete auf der anderen Seite, stark blutend und mit Glassplittern übersehen, auf dem Boden. Dabei hatte sie ihrem Gegner die Kette abgerissen, eine silberfarbene, runde Marke, die er um den Hals getragen hatte.

Dieser fasste sich einmal an den blutenden Hals und lehnte sich so heftig gegen den Schrank, dass er auf Oschek herabfiel. Dann griff er nach links unter den Tisch und zerrte Naruk hervor, der gerade weglaufen wollte. Er weinte, aber wehrte sich nicht. Was sollte ein kleines Kind auch gegen so einen Gegner ausrichten können?

»Komm her. Lass den Kleinen, der ist unwichtig. Wir haben Wichtigeres zu erledigen«, rief jetzt ein Anok aus dem Lüftungsschacht. Der Anok, der Naruk umklammerte, sah noch einmal auf das Kind, setzte es widerwillig ab und sprang dann wieder in den Lüftungsschacht, wo er hergekommen war.

Naruk krabbelte zu seiner Mutter. Sie blutete heftig und atmete fast nicht mehr. »Hey, mein Kleiner«, sagte sie schwach, »such dir jemanden, der auf dich aufpasst. Ich werde nicht mehr da sein.«

»Nein, Mama«, weinte Naruk, »du musst hierbleiben.«

Oschek drückte ihrem Sohn die Kette in die Hand. »Pass darauf auf. Du darfst sie niemandem zeigen und sie niemals verlieren.« Dann tat sie ihren letzten Atemzug.

Die Vorfälle in der Area 51 sind 100 Jahre her, doch die Geschichten, was damals passierte, wurden von den Überlebenden über Generationen weitergegeben. Die Anok haben damals sich und alle weiteren »genetischen Produkte« befreit und dann die ursprünglichen Menschen und viele Tierarten der Erde fast ausgerottet. Es gab nur wenige, die fliehen und sich ein neues Leben aufbauen konnten. Die alte Technik der Menschen wurde zum Teil verworfen oder ist nur den Anok zugänglich. Die neuen tierischen Lebensformen leben frei in der Welt.

Die neu gezüchteten menschenartigen Lebensformen wurden größtenteils von den Anok akzeptiert und leben heute in ihren eigenen Dörfern und kleinen Städten, allerdings unter der Herrschaft der Anok, die im Überfluss leben. Die Fujel arbeiten auf den Feldern und im Wald. Die Zalog, die Schlangenmenschen, betreiben Fischfang und sind für eine abwechslungsreiche Unterhaltung der Anok zuständig. Doch bleibt ihnen allen nur wenig von ihren Erträgen, denn das meiste müssen sie abgeben. Baumaterialien, Stoffe und manchmal sogar Waffen zur Verteidigung erhalten sie von den Anok. Ebenso werden sie mit Wasser, Strom und Gas versorgt, doch alles nur auf ein Jahresmaximum begrenzt und die Anok könnten jederzeit die Verbindungen beenden.

Der Anok Solok erbaute seine eigene Stadt, die nach seinem Tod nach ihm benannt wurde. Und der kleine Fujel Naruk befolgte den Rat seiner Mutter. Er wurde von einem anderen Fujel aufgenommen und baute später ein nach ihm benanntes Dorf auf, das in den Jahren zur größten Fujel-Stadt der Welt heranwuchs. Obwohl die Fujel von den Anok unterdrückt und bewacht wurden und noch immer werden, unternahm niemand etwas gegen den Bau dieser Stadt.

Wir schreiben heute das Jahr 2157 und die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war.

Mirayias Entscheidung

»Könnte man den Menschen mit der Katze kreuzen, würde man damit den Menschen verbessern, aber die Katze verschlechtern.«Mark Twain

Kapitel 1 Trishk und die Yulowfs

»Schaust du dir diesen Film schon wieder an?«, hörte Mirayia die Stimme ihres Vaters Torfel. Er stand im Türrahmen des Wohnzimmers, direkt neben dem Fernseher, doch sie hatte ihn nicht kommen sehen. Zu sehr war sie in den Film vertieft. »Das sollst du doch nicht.«

Sie musterte ihn kurz mit ihren großen Augen. Er trug eine weite grüne Hose, dazu ein braunes T-Shirt. Soviel auch geschehen sein mochte, die Fujel fertigten ihre Kleidung noch immer so an, wie sie es von den Menschen gelernt hatten. Nur waren sie nicht so farbenfroh. In ihren Schränken lagen fast ausschließlich grüne, braune, gelbe oder schwarze Kleidungsstücke. Zu festlichen Anlässen durfte es dann mal bunt werden, das war es aber auch schon.

»Aber er ist wirklich gut«, erwiderte das junge Fujel-Mädchen und pausierte den Film, als Katniss sich freiwillig für ihre Schwester als Tribut meldete. »Eines muss man den Menschen lassen, Filme machen konnten sie.«

»Trotzdem«, ihr Vater kam auf sie zu, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Filme waren das Einzige, das sich die Fujel im Dorf Trishk ansehen konnten. Das Dorf war zu klein und zu weit abseits, als dass die Anok ihnen Fernsehempfang oder gar Radio erlaubten und sich um Verbindungen kümmerten. Die wichtigsten Nachrichten aus der Welt konnten die Fujel in der Zentrale abrufen. Wenn sie also etwas anschauen wollten, mussten sie darauf hoffen, dass der Film entweder von den Anok genehmigt und somit frei zugänglich war, oder sie mussten ihn kaufen. Doch Geld gab es in den kleinen Dörfern nicht, sie lebten fast ausschließlich vom Tauschhandel mit den Anok und in Trishk gab es ohnehin keine Läden und das Dorf verlassen durften sie auch nicht. Nur in seltenen Ausnahmen verließ Mirayias Vater Torfel als Dorfleiter mit einigen Begleitern das Dorf und konnte ihnen so etwas aus der Welt mitbringen. So besaß Mirayia zum Beispiel eine CD von Polona, einer Zalog-Frau, die es aus ihrer Stadt heraus in die Welt geschafft hatte.

»Du bist ja schon abhängig«, fuhr ihr Vater fort. »Geh nach draußen zu den anderen. Bald beginnt die Ernte, du solltest dich wieder an die harte Arbeit gewöhnen.«

»In dem Film ging es gerade auch um die Ernte«, stellte Mirayia fest.

Ihr Vater sah sie streng an.

»Ja, schon gut. Aber du wirst schon noch sehen. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem alle mich so ansehen wie Katniss«, schnurrte Mirayia und sprang geschmeidig auf den braunen Tisch, der aussah, als hätte man ihn falsch zusammengebaut. Die Beine waren auf der einen Seite länger als auf der anderen, die Tischplatte hatte Erhebungen, doch er stand fest. »Irgendwann werde ich die Welt retten und so sein wie sie. Sie ist mein Vorbild.«

»Sie ist erfunden.«

»Aber die Schauspielerin nicht.«

»Nein, aber die ist mittlerweile tot«, versuchte ihr Vater sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und hob sie vom Tisch. »Und jetzt geh nach draußen. Und nimm deine Schwester mit.«

Mirayia ging widerwillig seufzend aus dem Raum. Es war ein typisches Fujel-Haus. Es bestand aus zwei bis drei Schichten Holz und stand auf Pfählen, damit die Kälte des Bodens nicht so schnell ins Haus eindrang. So war jedes Fujel-Haus nur über eine kleine Treppe zu erreichen. Im Gegensatz zu den anderen Häusern des Dorfes befand sich an dieser Rückseite des Hauses ein Turm, der nur über eine enge Wendeltreppe zu erreichen war, und in dem sich ein Klavier befand. Er wurde einfach Musikturm genannt.

Das Haus war recht eng gebaut, die Raumdecke war tief, die Möbel waren aus Holz, meistens krumm und schief und oft zerkratzt – das blieb bei den Krallen nicht aus. In jedem Raum standen Pflanzen, die meisten waren zum Kochen geeignet. Vor jedem Heizkörper stand eine sogenannte Kuschelkiste, die mit bunten Decken und Kissen gefüllt war. Die meist rot oder orange gestrichenen Wände waren mit Fotos übersät, wenn nicht gerade ein Bücherregal den Platz einnahm, die meisten Fujel liebten es zu lesen. Bis auf das Badezimmer und die Küche war jeder Raum mit bunten Teppichen ausgelegt. Die Gardinen waren ebenso bunt. So trist die Kleidung der Fujel in ihrer Farbgebung war, so bunter waren ihre Häuser. Farblich passte eigentlich gar nichts zusammen, doch die Fujel mochten es so. Und in jedem Haus hing der Stammbaum der Familie. Fujel waren sehr stolz auf ihre Familien, daher hing er meist direkt im Eingangsbereich oder in der Küche, wo man seine Gäste empfing. Der Stammbaum ging, soweit es möglich war, bis zu den Vorfällen in der Area 51 zurück. Dies war allerdings bei nicht vielen Familien der Fall. So entschied man sich, den Fujel nach ganz oben zu setzen, der den größten Erfolg erreicht hatte, sei es nun eine besondere Jagd, der Gewinn eines Wettbewerbs oder die Genesung nach einer eigentlich aussichtslosen Krankheit. Sein Name wurde dann auch für alle kommenden Generationen als Familienname benutzt, bis ein anderer Fujel etwas Großes erreichte, egal ob männlich oder weiblich. Schlossen zwei Fujel miteinander die Ehe, blieben ihre Familiennamen bestehen, die Kinder würden den bekannteren Namen übernehmen, egal ob es der Name der Mutter oder des Vaters war. Genauso verlief es auch bei den Anok. Die Zalog hingegen hatten keine Familiennamen. Kein Name durfte bei ihnen mehr als einmal verwendet werden, so konnte es nie zu Verwechslungen kommen und man wusste genau, wen man vor sich hatte.

Mirayia verließ also das Wohnzimmer und ging über den schummrigen Flur. Er führte vorbei an einem kleinen Badezimmer und der Vorratskammer, die einmal pro Woche aus dem großen Dorfspeicher aufgefüllt werden durfte, und an der Treppe, die nach oben zu den Schlafräumen und einem größeren Badezimmer führte. Am Ende des Flures befand sich die Küche. Direkt rechts neben der Tür stand ein kleiner brauner Tisch, mit einer Eckbank und drei Stühlen. Gegenüber des Tisches befand sich die Tür, die in den Eingangsbereich des Hauses führte. Links und geradeaus, und damit neben der Tür, befand sich die helle Küchenzeile. Sie war vollgestellt mit Schüsseln, Töpfen und Tellern, nicht alle davon waren sauber. Einen Fujel störte es nicht, wenn sich das dreckige Geschirr ein paar Tage stapelte, ohnehin war kein Fujel-Haus jemals blitzblank sauber, allein schon dank der winzig kleinen Härchen, die überall herumflogen.

»Was ist dann passiert? Opa, bitte, erzähl es mir«, hörte Mirayia ihre jüngere Schwester Elenyia, kurz bevor sie in die Küche eintrat.

»Dafür bist du noch zu klein. Und jetzt komm mit mir nach draußen«, forderte Mirayia sie auf. »Du sollst Opa nicht immer damit nerven.«

»Wieso nerven?«, fragte Großvater Nashu von Naruk leicht empört. Er saß auf einem der Stühle, während Elenyia mit leuchtenden Augen gespannt seiner Geschichte lauschen wollte. »Das ist die Geschichte von Naruk, von meinem Großvater und eurem Ururgroßvater. Dem Mann, dem wir unseren Familiennamen verdanken! Und auch wenn sie die Geschichte schon tausendmal gehört hat, wird sie dadurch nicht weniger wichtig.«

»Trotzdem ist sie eigentlich noch ein bisschen zu jung«, Mirayia schüttelte leicht den Kopf. »Und Papa hat gesagt, dass ich sie mitnehmen soll.«

»Ich will die Geschichte aber zu Ende hören«, jammerte Elenyia.

Aber Großvater Nashu lächelte nur milde. »Deine Schwester hat ja eigentlich recht. Na los, geh nach draußen.« Der alte Fujel hob seine Enkelin von seinem Schoß.

»Ihr seid gemein«, maulte Elenyia und lief mit schnellen Schritten durch den Eingangsbereich nach draußen. Mit einem lauten Hieb schlug sie die Tür zu.

Mirayia rollte mit den Augen, als sie ihr hinterherlief. »Warum tut sie das immer?«, murmelte sie zu sich selbst. Elenyia war in ihren Augen oft noch zu kindlich. Besonders, dass sie ständig vor ihr weglief, hatte ihr schon so manches Mal Ärger bereitet. Aber Mirayia wollte nicht ihren Babysitter spielen. Elenyia war zwölf Jahre alt, fünf Jahre jünger als Mirayia und konnte doch wohl auch mal auf sich selbst aufpassen!

Mirayia schloss hinter sich die Haustür und blieb noch kurz auf der obersten Treppenstufe stehen. Sie blinzelte in das helle Sonnenlicht, das heiß auf sie herabbrannte. Ihr Blick schweifte über das Dorf Trishk. Elenyia lief rechts von ihr an zwei Häusern, den Ställen mit den Arbeitspferden, darunter auch Mirayias eigenes Pferd Jackdaw, einem Rappen, und den anschließenden Koppeln entlang über den Sandweg, der in den Wald führte. Das Haus der Familie von Naruk lag sehr nah an der bewaldeten Seite, die im Osten lag. Der Wald erstreckte sich so weit, dass man das Ende nicht sehen konnte. Auf der linken Seite des Hauses ging der Sandweg ungleichmäßig in Schotter über und führte wirr zwischen den Häusern und einem kleinen Sportplatz hindurch. Eine Ordnung mit geraden Straßen oder gar Wegbezeichnungen gab es nicht. Außerhalb des Dorfes waren über mehrere Kilometer nichts als Felder, die meisten davon wurden bewirtschaftet, der Rest blieb den Tieren. Eines diente als großer Sportplatz. So war das Dorf von drei Seiten von Feldern und von einer Seite von dem Wald eingekesselt. Nördlich und südlich von den Feldern war das offene Land, im Westen lag das Mako-Gebirge.

Trishk war, wie jedes Fujel-Dorf, rund und hatte genau im Mittelpunkt die Zentrale stehen. Hier erhielten die Fujel von den Anok sämtliche Anweisungen. Sie diente ihnen aber auch als Unterstützung für eigene Planungen, wenn es zum Beispiel um Wettbewerbe oder die Stundenpläne für die Schule ging. Solange die Anok alles genehmigten, gab es keine Probleme. Außerdem gab es drei unterirdische Strafzellen, falls jemand die Regeln brach. Mirayia wusste, was in diesen Zellen geschah, besonders was mit Verrätern geschah. Ihr grauste davor und sämtliche Nackenhaare stellten sich ihr auf.

»Mira!«, hörte Mirayia nun eine Stimme und wurde aus ihren Gedanken gerissen. Es war Katyl von Pri’ishantyi, ihre beste Freundin. Sie erkannte sie sofort auch aus der Entfernung. Sie hatte einen leicht braunen Teint und über ihrem linken Auge bis auf die Wange verlief ein senkrechter schwarzer Strich wie eine Narbe. Ihre großen Ohren schauten spitz zwischen ihren schwarzen Haaren hervor, die in dicken ungleichmäßigen Strähnen geflochten und an einigen Stellen mit bunten Perlen verziert waren.

»Hey, na du.« Mirayia ging ihr entgegen und schon war Elenyia vergessen.

»Sollst du auch anfangen, dich auf die Arbeit vorzubereiten?«, fragte ihre Freundin, als sie voreinander standen und ihre Stirnen freundschaftlich auf Fujelart leicht gegeneinanderdrückten.

»Leider ja. Aber unsere Väter haben recht.«

»Ja, die Ferien sind bald vorbei, dann kommt der Stress wieder«, stimmte Katyl ihr zu und nagte nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Mittlerweile hatte sie gelernt, sich nicht selbst zu beißen. Mirayia erinnerte sich noch gut daran, wie oft Katyl als Kind geblutet hatte. Ihre Fangzähne waren einfach ein wenig zu lang.

Sie gingen langsam nebeneinander durch ihr kleines Dorf. Jeder kannte hier quasi jeden. Trishk gehörte zu den kleinsten Dörfern überhaupt, soweit Mirayia und Katyl wussten. Es war auch sehr abgelegen. Selbst wenn man sich in einem der vier Überwachungsposten befand, die etwas außerhalb vom Dorf standen, und durch die riesigen Ferngläser schaute, konnte man kein anderes Dorf ausfindig machen.

»Wo wir gerade beim Stress sind: Die Schule fängt ja auch schon bald wieder an. Weißt du schon, welche Kurse du im neuen Jahr belegen willst?«, fragte Mirayia seufzend.

»Noch nicht«, Katyl kickte einen kleinen Stein vor sich her. »Ich möchte am liebsten Kämpfen oder Survival machen.«

»Ja, hatte ich auch dran gedacht. Auch wenn wir dann ein bisschen die Außenseiter wären«, stellte Mirayia fest, während sie einen Blick zum kleinen Trainingsplatz warf, auf dem zwei Fujel ohne Probleme einen Klimmzug nach dem anderen machten. Ihre Arme taten ihr nur schon vom Zusehen weh. »Und es wird meinem Vater bestimmt nicht gefallen. Als Mädchen gehört sich sowas ja nicht. Das sehe ich anders.«

»Ich auch. Es kann doch immer mal sein, dass wir in ein Abenteuer verwickelt werden und wir uns verteidigen müssen«, Katyls Stimmlage deutete unmissverständlich einen Witz an.

»Das einzige Abenteuer, in dem wir uns verteidigen müssen, wird unsere Ehe sein«, Mirayia warf ihr einen vielsagenden Blick zu und Katyl seufzte.

Doch so schnell wie ihre gute Laune vergangen war, kam ihre Hoffnung schon zurück. »Wollen wir nachschauen, für wen wir bestimmt sind? Vielleicht hat sich ja endlich was geändert. Ich würde es mit Pauly nicht aushalten.« Katyl schüttelte sich.

Ihre Freundin lachte. »Kann ich verstehen. Lass uns nachsehen.«

Die beiden gingen durch die schwere Eisentür in die Zentrale. Es gab keine Fenster. Helle Neonröhren erfüllten das Gebäude mit weißem Licht. Links neben der Tür lag die Waffenkammer, die fest abgeriegelt war, und ein bisher ungenutzter Bereich. Bei einer so kleinen Bevölkerung wie in Trishk wurden nicht alle Kapazitäten benötigt. Auf der rechten Seite befand sich das Herz der Zentrale. Die Wände waren voller großer Bildschirme, auf denen Informationen und Aufgaben aufgelistet waren. Es gab eine elektronische Landkarte und im hinteren Bereich für die jungen Fujel einen eigenen Raum für die Vermittlung. Jeder Fujel war in das System der Anok mit seinen Stärken, Schwächen, mit Aussehen und Charakter eingetragen und hatte bei seiner Geburt eine Identifikationsnummer zugeteilt bekommen. Die eigene Nummer kannte nur der jeweilige Fujel auswendig und war ansonsten nur für die Lehrer und die Eltern abrufbar. Sie blieb ihr Leben lang erhalten. Das System berechnete all diese Werte, verglich die Persönlichkeitsdaten untereinander und bestimmte so, wann welcher Fujel wen heiraten würde. Die Anok hatten dieses System entwickelt, um die Fujel so zu züchten, dass sie selbst den größten Nutzen davon hatten. Sie brauchten Arbeiter, stark, kompakt und einfach zu führen. Das Partnersystem heimlich zu umgehen war nicht möglich. Von jedem Neugeborenen musste eine DNS-Probe abgegeben werden, um die Elternschaft zu überprüfen. Sollte etwas nicht korrekt sein, würde der Fujel eine Strafe erhalten. Über das Neugeborene wurde individuell entschieden.

Die beiden Freundinnen blieben in der Vermittlung stehen und schlossen die Tür, damit sie allein waren.

»Willst du anfangen?«, fragte Katyl und sah Mirayia von der Seite an.

Diese sagte zunächst nichts, starrte nur auf den Bildschirm an der Wand und kaute auf ihrer Unterlippe.

»Schon gut, ich fange an«, sagte Katyl schließlich und legte ihre rechte Hand auf den Scanner. Mit der linken gab sie ihre Identifikationsnummer ein. Das System fing an zu arbeiten. Zahlen und Gesichter tauchten auf dem Bildschirm auf und drehten sich im Kreis. Es piepte und ratterte, bis der Prozess plötzlich stoppte – und das Ergebnis zu sehen war.

»Warum denn immer noch Pauly?« Katyl zog ihre Hand schnell zurück und das Bild verschwand. »Aber gut, ich muss es wohl allmählich akzeptieren. Du bist dran.«

»Ich finde das bescheuert.« Mirayia verschränkte die Arme und starrte immer noch auf den Computer.

»Du hast es noch nie gemacht, oder?«, fragte Katyl leise.

»Nein, und eigentlich will ich es auch nicht wissen. Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, mit wem ich eine Familie zu gründen habe.«

»Aber so ist unsere Politik nun mal. Wir haben nicht viel zu sagen.«

»Ja, aber das ist falsch. Ich kann doch nicht mein Leben mit jemandem verbringen, den ich gar nicht liebe.«

Katyl sah sich um – unter der Decke blinkten Überwachungskameras – und flüsterte dann: »Ich verstehe dich ja. Ich sehe das genauso. Aber wir können es nicht ändern. Und wir sollten so etwas nicht hier in der Zentrale sagen. Wer weiß, ob sie uns nicht zuhören. Jetzt leg deine Hand hier drauf. Es ist ja nur vorläufig und kann sich bis zu deinem 18. Geburtstag immer noch ändern.«

»Ich weiß nicht so recht. Ich habe Angst. Ich liebe niemanden und jetzt zu sehen, wer mein zukünftiger Partner werden soll … ich weiß nicht.« Mirayia starrte auf den Bildschirm, als sei er ein verhasster Anok.

Ihre Freundin stieß sie sanft an. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Aber es ist deine Entscheidung.«

Mirayia warf ihr kurz einen flehenden Blick zu, dann streckte sie ihre Hand zitternd aus. Sollte sie? Wollte sie wirklich wissen, für wen sie bestimmt ist? Was, wenn sie ihn nicht ausstehen konnte? Augen zu und durch. Sie atmete einmal tief ein, legte ihre Hand auf den Scanner und begann ihre Identifikationsnummer einzugeben.

Da ertönte die Sirene. Mirayia zog ihre Hand erschrocken von dem Scanner und sah Katyl an. Ihre Ohren drehten sich aufgeregt vor und zurück. Die beiden Fujel-Mädchen verließen die Vermittlung und rannten mit allen anderen schnell nach draußen. Fenster und Türen wurden verriegelt, Männer und starke Jugendliche griffen nach ihren Gewehren, Mistgabeln und Stöcken und rannten durch die Straßen.

Mirayia lief durch die Menge zu ihrem Elternhaus, daran vorbei und hoch in den Musikturm. Sie eilte die gewundene Treppe nach oben, zog neben der Tür an der Schnur, damit sich die Fenster öffneten, lief zu einem Fenster und sah nach draußen. Sie sah zwischen den Bäumen Schatten, die immer näher kamen. Ein Knurren und Heulen war zu hören, das lauter wurde.

»Mirayia«, hörte sie einige Leute ungeduldig und ängstlich zu ihr raufrufen, »worauf wartest du? Spiel!«

Sie drehte sich schnell um und zog einen Trichter vor das Fenster. In der Mitte des runden Raumes stand ein Klavier. Mirayia warf sich auf den Hocker davor, öffnete es und fing an zu spielen, so laut sie konnte. Ihre Hände zitterten, alles lag an ihr, wie jedes Mal, wenn das Dorf angegriffen wurde. Um das Klavier herum standen große, zu den Fenstern gerichtete Trichter, die die Töne verstärkten und nach draußen leiteten. Mirayia spielte alle Melodien durch, die ihr einfielen. Sie lauschte nach draußen und wartete, in der Hoffnung, dass es bald vorbei war.

»Du kannst aufhören«, sagte ihr Vater ruhig. Er stand nur da, mitten im Raum, und sah sie an.

Das Fujel-Mädchen nickte zitternd und verschwitzt und schloss die letzte Melodie leise ab. »War ich zu langsam?«, flüsterte sie.

»Nein, es wurde niemand verletzt«, antwortete ihr Vater. »Siehst du, heute Morgen hast du noch gesagt, du möchtest die Welt retten. Dabei rettest du immer wieder unser Dorf, das ist doch auch etwas.«

»Es ist nicht das Gleiche. Es ist etwas ganz anderes.« Mirayia schloss den Klavierdeckel, erhob sich, verschränkte die Arme und ging zu einem der Fenster. Sie schob den Trichter zur Seite und sah nach draußen. »Das hier mache ich, weil es nun mal meine Aufgabe ist, und nicht, weil ich denke, dass die Welt mich braucht.« Sie drehte sich zu ihrem Vater um und sah ihn an. »Diese Aufgabe könnte jeder übernehmen.«

»Es spielt aber keiner hier so gut wie du.« Er trat zu ihr, legte ihr seine Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen.

»Es geht mir ums Prinzip.« Sie strich seine Hände weg. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss Elenyia finden.« Damit ging sie an ihm vorbei.

»Was meinst du?«, hörte sie ihren Vater hinter sich fragen, als sie schon fast aus der Tür war. Ihr Vater wurde lauter. »Wieso finden? War sie nicht hier im Dorf? War sie etwa allein draußen im Wald? Während wir von den Yulowfs angegriffen wurden?«

»Ich musste spielen, um das Dorf zu beschützen, ich hatte keine Zeit. Ich kann auch nicht alles gleichzeitig«, rief sie energisch zurück.

»Rede nicht in diesem Ton mit mir, Mirayia! Du musst endlich lernen, auf deine Schwester aufzupassen.«

Sie war stehen geblieben und sah ihn trotzig an.

Er kam einen Schritt auf sie zu. »Es wird wirklich Zeit, dass die Schule wieder anfängt, und du wirst einen Benimmkurs belegen. Du musst dich endlich wie eine richtige Frau verhalten. Du verbringst viel zu viel Zeit mit dieser … mit dieser Katyl.«

»Lass sie da raus. Sie hat rein gar nichts mit meinem Verhalten zu tun.« Mirayia wurde rot vor Zorn. »Ich habe es einfach satt, dass mir alles vorgeschrieben wird, nur weil ich in diese Familie geboren wurde. Ich will hier raus und etwas erleben.«

»Dann geh doch«, schrie ihr Vater sie an. »Du kommst doch keine fünf Kilometer weit, bis du dich verläufst. Bring auf dem Rückweg wenigstens deine Schwester mit. Die weiß, wie sich eine Frau zu verhalten hat.«

Mirayia drehte sich ohne ein weiteres Wort um, rannte die Treppe hinunter, an ihrem Elternhaus und den Stallungen vorbei, in den Wald. Erst nach ein paar Minuten, als sie nichts mehr hörte außer dem Zwitschern der Vögel, dem Rauschen der Blätter, ihren eigenen Schritten und ihrem Schnaufen, das sie ihrer schlechten Ausdauer zu verdanken hatte, blieb sie stehen. Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich an einen Baum und dachte über den Streit nach. Nur weil sie zu den Nachfahren von Naruk gehörte, wollte ihr Vater, dass sie sich auch so verhielt. Außerdem war er der Dorfleiter und wollte nicht schlecht dastehen. Also durfte sich keiner in der Familie einen Fehltritt erlauben. Deshalb musste Mirayia auch Klavier spielen, wenn die Yulowfs kamen.

Die Yulowfs waren eine Art Wolf, nur größer, dürrer und mit weniger Fell. Sie sahen fast aus wie ein Knochengerüst. Von ihrem Rücken aus hingen lange, dünne Fellsträhnen über ihren Rippen, der Rest war fast nackt, so kurz war ihr Fell. Ihr Kopf hing meist tief, sodass ihre Schultern noch mehr herausstachen. Sie jagten immer im Rudel. Die Anok waren dafür bekannt, dass sie oft Yulowfs besaßen und trainierten. Deshalb wusste keiner, ob die Yulowfs hier in den Wäldern frei waren und einfach aus Hunger angriffen oder ob es sich um trainierte Tiere handelte, die geschickt wurden. Das Klavier war die einzige Möglichkeit, sie abzuhalten. Sie mochten die Töne nicht und drehten sofort um.

Mirayia lehnte ihren Kopf nach hinten gegen den Baum und atmete einmal tief durch. Sie wollte ihrem Vater beweisen, dass sie sehr wohl zur höchsten Fujel-Familie gehören und gleichzeitig eine Amazone sein konnte. Wieso verstand er sie denn nicht? Sie wollte nicht nur den ganzen Tag putzen, kochen oder Wäsche machen. Sie wollte etwas erleben.

Ihr Blick fiel auf ihre schwarzen Krallen und ihre Hände. Sie waren blass hellhäutig, wie die ihres Großvaters. Allgemein kam sie stark nach ihrem Großvater. Beide hatten auch drei schwarze Streifen wie Kratzer zwischen den Schulterblättern, keine starke Körperbehaarung, leicht spitze Ohren, keinen Schwanz, große, runde, leuchtend grüne Katzenaugen und haselnussbraunes Kopfhaar. Ihre restliche Familie war anders. Ihre Haut erinnerte an ungeschälte Mandeln, ihre Haare an Eierlikör, ihre Schwester und ihre Mutter hatten einen Schwanz. Und auch charakterlich unterschieden sie sich. Ihr Großvater und sie waren abenteuerlustig und keine Stubenhocker. Früher war er oft mit Mirayia in den Wald gegangen und sie hatten in ihrer Fantasie Burgen erobert, Schlachten gewonnen und wilde Tiere gebändigt. Mit dem Alter wurde er natürlich schwächer und kränklicher und Mirayia sollte sich natürlich wie eine gehobene Frau der Familie von Naruk verhalten. So nahm ihr Leben einen tristen Lauf.

Sie klopfte sich einmal kurz auf ihre Oberschenkel, raffte sich auf, sah in die Richtung, in der ihr Dorf lag, und schüttelte den Kopf. Leider hatte ihr Vater schon recht, sie würde nicht weit kommen. Sie konnte sich schlecht orientieren und würde sich sicher verlaufen, untypisch für einen Fujel. So blieb ihr nichts anderes übrig, als hierzubleiben. Und nun musste sie Elenyia finden.

Mirayia schlenderte eine gefühlte Ewigkeit durch den Wald, immer in der Nähe der Wege. Außerhalb der Wege war es zu gefährlich, fanden ihre Eltern. Sie wollte nicht noch einen Streit anzetteln, also hielt sie sich an die Regeln. Außerdem würde sie sich wahrscheinlich wirklich verlaufen.

Irgendwann blieb sie stehen, strich sich über die Stirn, stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich hin und her. Die Luft wurde allmählich kühler, der Abend näherte sich. Die Vögel stellten langsam ihren Gesang ein. Wo konnte ihre Schwester nur sein? Hoffentlich war nichts passiert. Mirayia schluckte. Ihr Hals war ganz trocken. Sie lief weiter abseits des Weges in Richtung Fluss. Nach einigen Metern stoppte sie abrupt. Da war Elenyia, sie stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Fluss. Doch sie bewegte sich nicht. Sie stand leicht nach vorne gebeugt, ihr Schwanz wedelte sachte hin und her, ihre Ohren waren flach nach hinten angelegt, sie stand in Kampfposition da, doch warum?

Mirayia ging langsam auf ihre Schwester zu, schleichend und ebenfalls leicht geduckt. »Elenyia«, flüsterte sie, »was ist da? Komm her.«

Sie war nun fast bei ihr. Ihre Schwester machte einen kleinen Schritt zurück und deutete auf eine Stelle zwischen den Bäumen. »Dort vorne«, flüsterte sie zurück.

Mirayia kniff die Augen zusammen, um noch besser sehen zu können. Auf der anderen Seite des Flusses lag ein kleiner Wall. Er war sehr dicht bewaldet und somit schattig. Doch zwischen den Bäumen nahm sie eine Gestalt wahr. Grau, knöchrig und den Blick auf ihre Schwester gerichtet. Das Tier war noch sehr jung, das konnte sie an seiner Körpergröße, dem kurzen Schwanz und den viel zu lang scheinenden Beinen erkennen.

»Das ist ein Yulowf«, stellte sie leise fest und ihre Stimme zitterte. Sie nahm ihre kleine Schwester bei der Hand. »Komm langsam mit.«

Aber Elenyia stemmte die Füße in den Boden und bewegte sich nicht vom Fleck. »Vielleicht tut er uns ja gar nichts. Er schaut mich jetzt schon seit einer Weile an und er ist allein. Ich glaube, er hat sein Rudel verloren«, flüsterte sie trotzig und mit einem Hauch Mitgefühl.

»Oder die anderen warten nur darauf, dass er ihnen ein Signal gibt. Jetzt komm mit.« Mirayia war die Sache nicht geheuer, sie zog Elenyia am Arm mit sich.

Diese riss sich nun los und schubste ihre große Schwester. »Hör auf, immer die große Retterin zu spielen. Ich kann allein auf mich aufpassen«, schimpfte sie laut und sah Mirayia wütend an. Sie hatte sich nun groß vor ihr aufgebaut.

Mirayia stürzte. Mit ihren hastigen Bewegungen und der Lautstärke schienen die beiden das Interesse des Yulowfs endgültig geweckt zu haben. Er machte sich größer, fletschte die Zähne und begann dann den Wall herunterzulaufen – direkt auf sie zu.

Mirayia sprang auf, packte ihre kleine Schwester am Arm und rannte los. »Jetzt komm endlich und lauf schneller! Wir müssen zurück ins Dorf«, rief sie, und die Jagd begann.

Alles schien wie in Trance und in Zeitlupe an ihr vorbeizuziehen, während sie mit ihrer Schwester durch den Wald hetzte. Immer wieder schlugen ihr Äste ins Gesicht. Wo war der Weg, der sie zurück ins Dorf führte? Elenyia keuchte. Mirayia drehte sich im Laufen um – der junge Yulowf war immer noch hinter ihnen, der Fluss hatte ihn aufgehalten, doch er kam näher. Er war viel schneller als sie.

Als Mirayia wieder nach vorne sah, sah sie einen kleinen Abhang, auf den sie direkt zustürmte. Sie konnte nicht mehr bremsen, stieß gegen Elenyia und beide fielen einen halben Meter nach unten. Sie landeten weich auf einem Bett aus Moos und Blättern.

Mirayia zog ihre Schwester zu sich. Sie drückten sich eng an die Böschung, in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. Der Abhang, von dem sie gestürzt waren, stand ein wenig vor, so konnten sie sich in eine Art Höhle zurückziehen.

Der Yulowf war oben direkt am Hang stehen geblieben, beschnupperte erst den Boden und hob dann die Nase witternd in die Luft. Er konnte sie riechen, wusste nur noch nicht, wie er am besten zu ihnen runterkam. Er war noch wirklich jung und traute sich nicht zu springen. Er winselte, war er doch so nah an seiner Beute.

Elenyia lief eine Träne über die Wange. Ihre Schwester nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.

In der Ferne erklang nun das Heulen eines anderen Yulowfs. Es war ein Muttertier, das ihr Junges vermisste. Der junge Yulowf winselte und trippelte noch ein paar Mal an dem Abhang auf und ab, bevor er sich doch mit einem Jaulen bei seiner Mutter meldete und in ihre Richtung lief.

»Weißt du jetzt endlich, warum du nicht weglaufen sollst?«, fragte Mirayia erleichtert nach ein paar Sekunden und ihre kleine Schwester nickte. »Dann lass uns jetzt nach Hause gehen.« Sie half ihr hoch, schaute noch einmal vorsichtig nach oben – es war kein Yulowf zu sehen – und nahm dann ihre Hand.

»Aber ich hatte das wirklich unter Kontrolle«, schluchzte Elenyia leise. »Er hat mich nur angesehen.«

»Früher oder später hätte er angegriffen. Mein Dazukommen hat es nur beschleunigt«, sie sah auf ihre Schwester herab. »Mama und Papa werden sich schon Sorgen machen, wo wir bleiben. Das Dorf wurde eben angegriffen.«

»Bevor du kamst, habe ich das Rudel gesehen, wie es in Richtung des Dorfes gelaufen ist«, antwortete Elenyia, ohne ihre Schwester anzusehen. »Aber es hat mich nicht gesehen.«

Mirayia übte leichten Druck auf die Hand ihrer Schwester aus. »Vielleicht ist es besser, wenn niemand davon erfährt.« Elenyia nickte schweigend und wischte sich mit dem Ärmel ihrer freien Hand die letzten Tränen aus dem Gesicht.

Sie waren endlich auf dem Weg angekommen und kehrten schweigend und mit schnellen Schritten zurück ins Dorf.

»Geh schon mal rein, ich muss noch etwas erledigen«, sagte Mirayia und schob ihre Schwester durch die Tür. Dann drehte sie sich um und ging nach links über den Schotterweg. Vor einem kleinen Haus, das mit Sonnenblumen umrandet war, blieb sie stehen und klopfte.

Katyl öffnete und schaute sich unsicher um. »Hey, Mira, alles gut?«

Auch Mirayia schaute sich einmal um. »Klar, warum fragst du? Alles gut bei dir?«

»Ich meine nur wegen des Streites mit deinem Vater eben.«

Mirayia erstarrte. »Du hast es gehört?«

»Das ganze Dorf hat euch gehört, so laut wie ihr wart.« Katyl senkte ihren Blick. »Ich würde dich ja reinlassen, aber ich glaube, dein Vater würde das nicht so gut finden.«

»Keine Sorge. Ich bleibe sowieso nicht lange. Es tut mir leid, was er über dich gesagt hat. Er versteht mich einfach nicht, er …«

»Ich weiß schon. Du bist einfach das genaue Gegenteil von ihm. Du bist eine Abenteurerin, du bist wie dein Opa. Und das will er nicht akzeptieren.«

Mirayia nickte. »Genau das ist es. Aber ich habe gerade keine Zeit dafür, wie gesagt, ich bleibe nur kurz. Aber morgen früh, bevor die anderen aufstehen, können wir mit unseren Pferden raus. Noch haben wir Ferien. Dann können wir weiterreden.«

Katyl sah sie tadelnd an. »Das Dorf verlassen, wenn wir noch Ausgangssperre haben? Wenn wir zu spät wiederkommen und uns jemand erwischt, bekommen wir sicher riesigen Ärger von deinem Vater.« Dann blitzten ihre Augen. »Aber du kennst mich. Ich bin dabei.«

»Sehr gut. Dann um Viertel vor fünf in den Ställen«, Mirayia nickte schnell. Sie lehnte sich vor und drückte ihre Stirn leicht gegen die ihrer Freundin, die den Druck erwiderte, bevor sich ihre Wege trennten.

Auf dem Weg nach Hause kam Mirayia an einem alten Schuppen vorbei, dem einzigen Gebäude, das nicht auf Pfählen gebaut war, und der als Ratsgebäude benutzt wurde. Der Rat war eine kleine Gruppe von Fujel-Männern, die die Aufgaben der Anok besprachen und dann das weitere Vorgehen und andere allgemeine Dinge besprachen. Mirayias Vater war ihr Oberhaupt, der erste Vorstand des Dorfes war Aruko von Kryo. Mirayia hatte sie bemerkt, da es allmählich dunkel wurde und aus dem kleinen Gebäude daher kein Licht scheinen sollte. Normalerweise wurden die Ratssitzungen jeden zweiten Freitag abgehalten, heute war Dienstag. Der Rat war also außer der Reihe zusammengerufen worden.

Mirayia sah sich um, es war gerade kein anderer Fujel zu sehen. Also spähte sie vorsichtig durch ein Fenster. Gerade saßen die Männer an ihrem runden Tisch, ein paar Kerzen erhellten den Raum, und redeten.

Mirayia hockte sich unter das nur angelehnte Fenster und lauschte. Dabei sah sie sich immer wieder um. Sie wollte nicht, dass sie jemand sah, das würde nur noch mehr Ärger bedeuten.

»Ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann«, sagte Torfel, ihr Vater.

»Allerdings, das war jetzt schon der dritte Angriff bei Tage«, sagte jemand anderes und es klang aufgebracht.

Mirayia machte es sich etwas bequemer. Das Gras unter ihr war noch warm, ebenso die Wand, an die sie sich lehnte. Die Versammlung hatte scheinbar gerade erst begonnen.

»Ich kann auch nichts dafür. Ich weiß nicht einmal, warum sie angreifen. Oder geschickt werden, falls es von Rook ausgeht«, knurrte Torfel.

Rook war der Herrscher der Welt. Er war Soloks Urenkel und nur wenige Jahre jünger als Mirayias Vater.

»Dann müssen wir ihn fragen«, warf jemand ein. Mirayia versuchte die Stimme einzuordnen. Es müsste Bathu sein – ein alter, bereits ergrauter Fujel. Er war nett und hilfsbereit und sah in jedem immer nur das Gute. Seit seine Frau verstorben war, lebte er mit seinem Sohn und dessen Frau zusammen. Sie waren bisher kinderlos.

»Er wird uns keine Antwort geben. Das Einzige, was wir bekommen, sind mehr Aufgaben oder ein Aufenthalt in seinen Kammern«, entgegnete Aruko. Mirayia erkannte ihn sofort an seiner tiefen Stimme, die melodisch sanft in ihre Ohren säuselte und doch Respekt einflößte. Sofort hatte sie sein Bild vor Augen, seinen schwarzen Körper, an dem kein Gramm Fett zu sein schien, und diese großen bernsteinfarbenen leuchtenden Augen.

»Solange wir Mirayia haben, kann uns doch gar nichts passieren«, sagte Bathu und Mirayia spitzte unter dem Fenster noch mehr die Ohren. »Sie wird spielen, sobald wir angegriffen werden. Dann sind wir sicher.«

»Sie ist 17. Sie wird jetzt mehr arbeiten und an den großen Kursen teilnehmen. Sie wird manchmal mehrere Tage weg sein, je nachdem, was sie belegt«, gab ihr Vater zu bedenken. Er drehte sich weg von den anderen und sah aus dem Fenster. Mirayia sah seinen Schatten vor sich auf dem Boden und zog sich noch weiter zusammen. Torfel strich sich über die Stirn. Allein der Gedanke, dass seine Tochter mehrere Tage nicht in seiner Nähe sein würde, machte ihm Angst. Natürlich wurde sie erwachsen, aber er musste sie doch beschützen. Ihr Freiheitsdrang war zu groß und Torfel wusste, was das bedeutete. Er kannte die geheimen Schriften, er hatte sie oft studiert und einen Ausweg gesucht. Doch wenn Mirayia erst einmal den Geschichtskurs belegen würde, der ab diesem Jahr verpflichtend für ihre Altersgruppe war, würde sie vielleicht auch verstehen, dass die Welt da draußen zu gefährlich war, und vielleicht wäre jede Schrift damit hinfällig.

»Dann brauchen wir mehr Spieler. Deine Tochter muss andere anlernen. Ich stelle gern meine Tochter Anusch zur Verfügung«, wurde Torfel von Kaai aus seinen Gedanken gerissen und ging zurück zum Tisch. Mirayia kannte Kaai nicht gut, ebenso seine Tochter.

»Danke. Elenyia hat auch schon Grundkenntnisse, sie wird weiter von ihr ausgebildet. Anusch und Elenyia sollten zunächst reichen, mehr schafft Mirayia zeitlich nicht. Und in ein paar Monaten können Elenyia und Anusch dann ihrerseits sicher schon kleine Kurse leiten und Mirayia wieder entlasten«, stimmte ihr Vater zu.

Mirayia drückte sich leicht von der Wand ab und konnte nicht glauben, was sie hörte. Ihr stand förmlich der Mund offen. Ihr Vater verplante ihre ganze Zeit. Sie würde nichts anderes mehr machen außer arbeiten, lernen und unterrichten.