Die ganze Welt ist ein Orchester - Andreas Oplatka - E-Book

Die ganze Welt ist ein Orchester E-Book

Andreas Oplatka

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Beschreibung

Adam Fischer zählt zu den weltweit begehrtesten Dirigenten - zu seinem 70. Geburtstag am 9. September 2019 zeichnet Andreas Oplatka den Werdegang dieses großen Künstlers nach.

Ob mit Philharmonikern oder Kammerorchestern, ob italienische Oper, Wiener Klassik, Wagner oder Haydn: Adam Fischer zählt zu den weltweit begehrtesten Dirigenten der Gegenwart. Aufgewachsen in einer Musikerfamilie in Budapest gelang es ihm früh, für die Ausbildung in Wien die kommunistische Heimat zu verlassen. Als interessierter politischer Geist wurde er zu einem Vorkämpfer für die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs und verfolgt bis heute die Politik in Ungarn äußerst kritisch. Andreas Oplatka zeichnet in seiner Biografie den Werdegang dieses großen Künstlers nach, der in seiner Bedeutung an die Vorbilder Carlos Kleiber und Nikolaus Harnoncourt immer näher heranrückt.

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Über das Buch

Adam Fischer zählt zu den weltweit begehrtesten Dirigenten — zu seinem 70. Geburtstag am 9. September 2019 zeichnet Andreas Oplatka den Werdegang dieses großen Künstlers nach. Ob mit Philharmonikern oder Kammerorchestern, ob italienische Oper, Wiener Klassik, Wagner oder Haydn: Adam Fischer zählt zu den weltweit begehrtesten Dirigenten der Gegenwart. Aufgewachsen in einer Musikerfamilie in Budapest gelang es ihm früh, für die Ausbildung in Wien die kommunistische Heimat zu verlassen. Als interessierter politischer Geist wurde er zu einem Vorkämpfer für die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs und verfolgt bis heute die Politik in Ungarn äußerst kritisch. Andreas Oplatka zeichnet in seiner Biografie den Werdegang dieses großen Künstlers nach, der in seiner Bedeutung an die Vorbilder Carlos Kleiber und Nikolaus Harnoncourt immer näher heranrückt.

Andreas Oplatka

Die ganze Welt ist ein Orchester

Der Dirigent Adam Fischer

Biografie

Paul Zsolnay Verlag

All the world’s a stage

Shakespeare

Freiheit in G-Dur

Dass das Denkmal plump geraten war, erschien als das kleinere Übel. Was es nach dem Willen seiner Schöpfer ausstrahlen sollte, fiel schwerer ins Gewicht. Im Inhalt unredlich und kitschig in der Form, diese Mischung — eine mehrfache Beleidigung — forderte zum Protest heraus.

Die Rede ist von der Gabriel-Statue, die im Juni 2014 auf dem Freiheitsplatz in der Budapester Innenstadt aufgestellt wurde und die, so die Inschrift, an alle jene erinnert, die in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs während der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht ihr Leben verloren haben. Vor dreizehn teilweise zerbrochenen antiken Säulen steht eine männliche Figur, ein bronzener Erzengel Gabriel, der Schutzpatron Ungarns. Er schwankt, und sein Minenspiel, seine geschlossenen Augen drücken Leiden aus. Wir erkennen: Im nächsten Augenblick wird der Reichsapfel, eines der ungarischen Krönungsinsignien, seiner ausgestreckten Hand entgleiten. Der Erzengel, so lautet die Botschaft, vermag dem Land keinen Schutz mehr zu gewähren. Denn über seinem Kopf setzt der deutsche Reichsadler, hier ein reichlich stilisierter, merkwürdiger Raubvogel, vom Tympanon herab, das den Hintergrund bildet, zum Angriff an.

Was bewirkte Empörung an diesem Arrangement? Was veranlasste einen Musiker, einen Dirigenten vom Range Adam Fischers, sich dem Protest anzuschließen?

Die historischen Fakten: Die Wehrmacht besetzte Ungarn am 19. März 1944, da man auf deutscher Seite befürchtete, der widerwillige Verbündete werde ebenso abfallen wie Italien acht Monate zuvor. Begeisterte Menschenmassen fanden die Deutschen bei ihrem Einmarsch nirgends vor, sie stießen aber auch nicht auf Widerstand. In Budapest wurde eine deutschfreundliche Marionettenregierung eingesetzt, doch das Staatsoberhaupt, Admiral Nikolaus Horthy, verblieb im Amt. Ungarn kannte seit den späten dreißiger Jahren diskriminierende Judengesetze. Im »Arbeitsdienst« sodann, den sie im Krieg unbewaffnet leisten mussten, kamen Abertausende — Juden oder politisch »unerwünschte Elemente« — ums Leben. Dennoch hatte sich die ungarische Regierung trotz aller Pressionen Berlins geweigert, die Juden des Landes gesamthaft auszuliefern. Die »Endlösung« begann erst nach der deutschen Besetzung.

Die Deportationen setzten im Mai 1944 ein, die Viehwagen rollten nach Auschwitz. Ungarns Kriegsverluste beliefen sich auf rund 900.000 Menschen; nach Schätzungen gehörten 350.000 bis 360.000 Soldaten und beinahe eine halbe Million Juden zu den Opfern. War nun dies alles, war namentlich der Massenmord, wie das die zwei Generationen später aufgestellte Gabriel-Statue suggerierte, einzig dem aggressiven deutschen Reichsadler anzulasten? Nein, denn Horthy, der Reichsverweser, schaute den Deportationen in stiller Komplizenschaft lange zu, bis er dann Anfang Juli 1944 doch noch einschritt und damit dem größten Teil der in Budapest wohnhaften Juden das Leben rettete. Nein, denn einige wütend antisemitische Mitglieder der Regierung und die einheimische Gendarmerie spielten bei der Verschleppung der jüdischen Familien eine ebenso aktive wie schändliche Rolle. Nein, denn nach dem Oktober 1944, als vollends der Abschaum an die Macht kam, die den Nazis nachstrebende Partei der Pfeilkreuzler, da ging die tödliche Jagd auf die jüdischen Mitbürger selbst in der zwölften Stunde noch weiter, mochten auch die Sowjettruppen bereits in den Außenbezirken von Budapest stehen.

Wie wäre es unter anderen Bedingungen wohl gewesen und geworden? Die Frage ist bekanntlich müßig. Dennoch lassen sich einige gewichtige Argumente dafür anführen, dass der Holocaust in seiner schlimmsten Form in Ungarn ohne die deutsche Besetzung wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte. In der Wirklichkeit fand er aber statt. Kein Zweifel, die schwerste Schuld für das 1944 Geschehene fällt auf die deutsche Seite. Doch trotz aller Schmälerung von Ungarns Souveränität lässt sich nicht leugnen, dass bei den Verfolgungen Vertreter und Organe des ungarischen Staates eifrig mitwirkten.

Daher die Proteste in Budapest. Sie machten geltend, das im Stadtzentrum errichtete Denkmal sende die in ihrer Selbstgerechtigkeit falsche Botschaft in die Welt, Ungarn sei bloß ein Opfer gewesen. An der Abschrankung, die — neben der allzeit präsenten Polizei — die Figur des Erzengels schützen soll, kam es wiederholt zu Kundgebungen gegen die in Bronze gegossene Geschichtsklitterung. Adam Fischer, der Leiter (und Erfinder) der im Budapester Palais der Künste jeweils im Frühsommer veranstalteten Richard-Wagner-Festspiele, war eben in der Stadt und schloss sich einer der Demonstrationen an. Man erkannte und fragte ihn beim Abschied, ob er wiederkommen werde. Vielleicht, erwiderte er, doch als Dirigent könne er wenig beitragen. Dann solle er dirigieren, so die Replik. Worauf Fischer beschloss, beim nächsten Protest tatsächlich mitzutun, und zwar auf seine eigene friedliche Weise: mit den Mitteln der Musik.

Woher diese Bereitschaft? Schlechte Erfahrungen mit einer Geschichtslegende hatte Fischer viele Jahre zuvor schon selber gemacht. Als Musikstudent erntete er unter Wiener Bekannten Hohngelächter, als er die irrige, in Ungarn aber als Wahrheit gehandelte Meinung zum Besten gab, das Mittagsgeläute aller katholischen Kirchen der Welt erinnere an den 1456 bei Belgrad erfochtenen ungarischen Sieg über die Osmanen. Die kleine persönliche Blamage, so unbedeutend sie war, wirkte lange nach und trug zur Überzeugung bei, dass falsche Geschichtsbilder großen Schaden stiften. Sie hindern den Einzelnen und erst recht ganze Nationen daran, über sich selbst, über den eigenen Standort Klarheit zu gewinnen. Damit einher ging der — später freilich von zunehmenden Zweifeln erschütterte — Glaube, dass es zum Wohl der Völker geschieht, wenn ihre zur Glorifizierung und Selbstentlastung dienenden historischen Legenden widerlegt werden. Kritik und Selbsterforschung verhelfen demnach den Zeitgenossen dazu, mit den Taten der Vorfahren und mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Fischer, von einigen Instrumentalmusikern unterstützt, trat beim nächsten Protest auf dem Freiheitsplatz tatsächlich als Dirigent auf. Er brachte der Menge einige Gesangsstücke bei und leitete hernach den Chor der sich als überaus singfreudig erweisenden Menschen. Militante Protestsongs standen nicht auf dem Programm; es sollte friedfertig zugehen. Neben ungarischen Volksliedern, die, da allen bekannt, den gemeinsamen Ton finden ließen, sang man manche Hymne europäischer Länder, so zuerst die französische und die deutsche als Hinweis auf zwei Nationen, die sich versöhnt und Freundschaft geschlossen haben. Und vom deutsch-französischen Beispiel inspiriert, erklangen die Hymnen Ungarns und der benachbarten Slowakei. Nicht fehlen durfte, versteht sich, der Freiheitschor aus Verdis »Nabucco«. Und schließlich sang man die »Ode an die Freude« aus Beethovens Neunter Symphonie, die Europahymne. Da der Stimmumfang der Sänger nicht ausreichte, die berühmte Melodie in der Originaltonart, in D-Dur, wiederzugeben, transponierte man sie, was dem Stück und der ganzen Veranstaltung den Namen gab: »Freiheit in G-Dur«.

Jeder Musiker hätte diesen friedlich protestierenden Chor leiten können. Für jene, die mitmachten, bedeutete es aber ein einzigartiges, anspornendes Erlebnis, einem Dirigenten zu folgen, der, wie sie wussten, in jenen Tagen gerade dabei war, im Budapester Palais der Künste Wagners »Ring des Nibelungen« aufzuführen, und der in der Mailänder Scala und der Wiener Staatsoper ebenso ein und aus ging wie in der Metropolitan Opera in New York. Doch auch Fischer machte die neue, spannende Erfahrung, wie leicht sich eine Menschenmenge, die er als ein stumm lauschendes Publikum zu treffen gewohnt war, zur aktiven musikalischen Mitgestaltung bewegen ließ.

Die zwei Elemente, die Fischers Leben und Denken bestimmen, die Liebe des Berufsmusikers zu seiner Kunst und die Leidenschaft des Privatmanns für das politische Zeitgeschehen, treffen sich naturgemäß nur selten. Ebendas aber geschah auf dem Freiheitsplatz in Budapest, als sich der Dirigent, wie er es in den letzten Jahren regelmäßig tat, für das Singen im Freien zur Verfügung stellte. Jenseits der grundsätzlichen, von ihm laut und scharf ausgesprochenen Meinung, dass mit dem Denkmal historische Schönfärberei betrieben werde, weigerte er sich allerdings, parteipolitisch Stellung zu nehmen — zur Enttäuschung der Linken, die den Fall zu rhetorischen Angriffen gegen die nationalkonservative Regierung nutzten.

2016 luden dann die Wiener Symphoniker Adam Fischer ein, am 8. Mai, dem Tag der Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs und damit der NS-Herrschaft, auf dem Heldenplatz das jährlich fällige Gedenkkonzert zu dirigieren. Seiner Erlebnisse in Budapest eingedenk, schlug Fischer vor, das Publikum bei der abschließenden Europahymne auch hier einzubeziehen. Die Wiener suchten ihm den Gedanken auszureden: Derartiges habe man früher schon versucht, es funktioniere nicht. Man lasse das seine Sorge sein, erwiderte Fischer, und die Veranstalter gaben freundlich nach. Als überaus unfreundlich erwies sich dagegen das Wetter. Dennoch harrten am Abend Tausende auf dem Heldenplatz aus, und als zuletzt Fischer sich ihnen zuwandte und sie mit breit ausholender Zeichengebung zum Mittun aufforderte, da feierten sie mit ihrem Gesang trotz Regen und Kälte die Freude, die alle Menschen zu Brüdern macht.

Kapitel 1

»Musik versteht man überall«

Die Musik und das Interesse für das Weltgeschehen füllen sein Leben seit der Kindheit aus. Die Erste bereitet ihm Freude, das Zweite meist nur Ärger. Tatsächlich verursachte ihm die Politik schon in frühen Jahren eine große Enttäuschung.

Adam Fischer, 1949 in Budapest geboren, begann Anfang September 1956 kurz vor seinem siebten Geburtstag die Elementarschule. Die Politik — eher: die Weltgeschichte — mischte sich indes ein. Bereits Ende Oktober verhinderte sie für eine gute Weile die weitere musikalische Ausbildung des Erstklässlers. Die ungarische Revolution brach aus, und an Schulunterricht war lange nicht mehr zu denken. Als dann der kleine Adam im Herbst 1957 die zweite Klasse besuchte, erkundigte er sich indigniert, warum es diesmal von Oktober bis Februar nicht die gleichen langen Schulferien gebe wie im Jahr zuvor. Dem achtjährigen Kind eine einleuchtende Erklärung zu geben mochte nicht einfach sein.

Die Fischers hatten ihre Wohnung in Budapest gleich gegenüber der Staatsoper — ein gutes Zeichen für die spätere Dirigentenlaufbahn der beiden Brüder Adam und Ivan. Die Rede ist von der breiten, 2,3 Kilometer langen Prachtstraße, die vom innerstädtischen Kleinen Ring pfeilgerade zum Heldenplatz führt. Man hatte sie in der Gründerzeit, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in ihrer heutigen Form angelegt. Erst trug sie den prosaischen Namen Radialstraße, 1885 benannte man sie nach Graf Gyula Andrássy, dem früheren Außenminister Österreich-Ungarns. Freilich, in den düsteren Jahren vor 1956 hieß sie, auch äußerlich herabgekommen, Stalin-Straße.

Adam hatte einen langen Schulweg, er dauerte wohl eine Dreiviertelstunde. An der Andrássy-Straße (die Budapester nannten sie weiterhin so, und den Namen bekam sie nach 1989 wieder zurück) nahm er den Autobus Nummer 1 und stieg dann an der Astoria-Ecke in den Bus der Linie Nummer 5. Dieser brachte ihn aus der Pester Innenstadt über die Kettenbrücke ans rechte Donauufer, nach Buda, und dort in das immer noch vornehme Villenviertel Pasarét. In diesem schon grünen Außenbezirk bestand die einzige, damals als Versuchsbetrieb bezeichnete Musik-Volksschule der Hauptstadt.

Erziehung im Zeichen der Musik hatte in der Familie Fischer das Leben der Kinder bestimmt. Dass sie alle Musiker werden sollten, wurde ihnen sehr wohl an der Wiege schon gesungen. Und so setzte nun Adams eigentliche, fachgerechte musikalische Ausbildung auf Wunsch des Vaters gleich in der ersten Klasse ein. Mit sechs Jahren bestand er seine erste Prüfung im Leben; um aufgenommen zu werden, musste er ein bisschen singen und damit von einem guten Gehör Zeugnis ablegen, ferner als Beweis der Intelligenz einige harmlose Fragen meistern. Bei Letzteren ging etwas beinahe schief. »Du wirst von Zeit zu Zeit gebadet und gepflegt, wie viele Nägel schneidet da deine Mama im Badezimmer?« So wurde er gefragt, und seine Antwort lautete zur Verblüffung aller: »Sechzig.« Auf das »Ja, aber« der Prüferin ergänzte er: »Wir sind eben drei Geschwister.«

Adam am Klavier und Ivan an der Geige, Budapest 1955

Daran, dass er ein gescheiter Kopf sei, zweifelte hernach niemand mehr, und so wurde er Schüler der Musikschule, wo der Unterricht der Methode des Komponisten Zoltán Kodály folgte. Tägliches Singen, Chorgesang, Solfeggio, Training des Gehörs und des rhythmischen Gefühls sollten im frühesten Alter die Grundlagen nicht nur für künftige Musiker, sondern auch für Laien schaffen. Denn Kodály war der Überzeugung, Musikverständnis sei das beste Mittel, um das Humane im Menschen zu wecken und zu bewahren.

An den 23. Oktober 1956, den Tag, an dem die Ungarische Revolution begann, erinnert sich Fischer vorab im Sinn eines ihm erspart gebliebenen traumatischen Erlebnisses. In den ersten Schulwochen pflegte Adam noch nicht die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen; zusammen mit Ivan, dem jüngeren Bruder, und anderen Kindern, deren Eltern, so wie Adams Vater, im Radiostudio arbeiteten, durfte er den Schulbus des Radios nehmen, der — wegen seiner herzhaft schlechten Federung »Grashüpfer« genannt — jeden Tag nach Buda zum radioeigenen Kindergarten fuhr; zur Musikschule war es von dort nicht mehr weit.

Auf der Rückfahrt am Nachmittag des fraglichen Tags kam der »Grashüpfer« wegen der Massendemonstrationen in der Stadt nicht durch, er verspätete sich erheblich. Auch schafften es nicht alle Väter und Mütter, sich den Weg zum Radiostudio zu bahnen, um dort ihre Kinder rechtzeitig abzuholen. Adams Vater allerdings war zur Stelle und brachte die zwei Jungen eilig nach Hause. Einige andere aber, deren Eltern ausgeblieben waren, wurden in der Folge im Studiogebäude verängstigte Zeugen der ersten bewaffneten Kämpfe, welche die Aufständischen und die Staatssicherheit um den Besitz des Radios führten.

Geblieben sind ihm einige weitere Erinnerungen an die Zeit des Volksaufstands, allerdings sind es scharfe Bilder: Kolonnen sowjetischer Panzer rasseln unter dem Fenster dahin; Schüsse hallen; die Einwohner des großen Mietshauses, Alte, Junge, Familien mit Kindern, ducken sich im Keller, während oben in der Stadt Kämpfe toben.

Nach der Erdrosselung des Aufstands durch die Sowjetarmee »normalisierte sich« das Leben, wie es im amtlichen kommunistischen Jargon hieß, nur langsam. Das Haus, in dem die Fischers wohnten, war immer noch das gleiche, doch die Straße, in der es stand, hatte ihren Namen mehrmals geändert; war sie in den Revolutionstagen nach der »ungarischen Jugend« benannt worden, so hieß sie nun — deutliches Zeichen der wiederhergestellten Machtverhältnisse — Straße der Volksrepublik.

Musik hatte die drei Kinder der Familie Fischer von klein auf umgeben, und zwei von ihnen sind in der Tat erfolgreiche Dirigenten geworden: der 1949 geborene Adam und sein knapp ein Jahr jüngerer Bruder Ivan. Die kleine Schwester Eszter, 1953 auf die Welt gekommen und für eine ähnliche Laufbahn bestimmt, gewann dagegen als Halbwüchsige die Überzeugung, dass ihr die Begeisterung für den Musikerberuf, die an Fanatismus grenzende Ausdauer fehlten und dass ihr Talent auf anderem Gebiet lag. Zum großen Schmerz des Vaters, der seinen Traum vom häuslichen Nachwuchs-Trio — Adam am Klavier, Ivan als Cellist und Eszter als Violinistin — schwinden sah, beschloss sie, den beiden Brüdern auf deren Weg nicht zu folgen.

Ivan (links), Eszter und Adam mit ihrem Vater, Budapest 1958

Was es mit dieser Familie und ihrer musikalischen Welt auf sich hatte, kann der Außenstehende nicht ganz leicht nachvollziehen. »Außer Musik gab es bei uns nichts«, erinnert sich Eszter heute, und dies war das eine, die »holde Kunst«, wie sie im Schubert-Lied gepriesen wird. Das andere aber: die so gar nicht holde europäische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert und darin das besondere Unglück Ostmitteleuropas, das in rascher Folge gleich zwei totalitäre Regime erleiden musste. Miteinander zu tun hatten Musik und Politik in der Auffassung der Fischers insofern, als die Zeitläufte — Krieg, Verfolgung und Diktaturen — den Eltern jenseits der großen Liebe zur Musik auch eine Überzeugung eingepflanzt hatten: Die Kinder sollten das von Schicksalsschlägen wiederholt betroffene und immer wieder von extremen Kräften beherrschte Ungarn verlassen und, wenn immer möglich, ihr Glück als Musiker im Ausland suchen.

So geradlinig freilich gestalteten sich dann die Dinge im Leben nicht. Um es vorwegzunehmen: Adam wie Ivan erhielten ihre höhere Ausbildung tatsächlich in Wien und machten danach zuerst im Ausland Karriere. Doch auf ihre ungleiche Art — Ivan beständiger, Adam sporadischer präsent — blieben sie beide mit Ungarn und seiner Kultur eng verbunden; hoffnungsvoll und dann wieder enttäuscht, nicht selten auch empört, doch stets wach verfolgten sie ebenso die politischen Wandlungen im Alltag ihres Geburtslandes.

Musik und Politik als Schicksal — die Eltern hätten sich gern einzig um ihre Kunst gekümmert und auf die Politik verzichtet, doch die Politik leistete keinen Verzicht und kümmerte sich aufs Grausamste um sie. Der Vater, Sándor Fischer, der an der Budapester Musikakademie studiert hatte, war Komponist und Übersetzer von Operntexten, und als Dirigent spielte er mehrere Instrumente: Klavier, Violine und Klarinette. Seine Frau Eveline, der man in der Familie der Kürze wegen den Namen Eva gab, hatte ihre Laufbahn als Sängerin krankheitshalber abbrechen müssen. Beide gehörten zu jenen zahlreichen assimilierten und ganz verweltlichten ungarischen Juden, die mit dem Judentum außer einer Eintragung in ihrem Geburtsschein kaum mehr etwas verband. Brutal bewusst gemacht indessen wurde ihnen ihre Abstammung zuerst einmal durch den Weißen Terror, der auf den Roten Terror der kurzlebigen Räterepublik von 1919 folgte, dann durch die diskriminierenden Judengesetze 1938 bis 1941 und vollends nach der deutschen Besetzung im März 1944, als die Katastrophe der Shoah auch über Ungarn hereinbrach.

Sándor Fischer wurde in den Kriegsjahren mehrmals in die ungarische Armee zum »Arbeitsdienst« einberufen, wo die unbewaffneten Einheiten der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgeliefert waren. Mit viel Glück überlebte Vater Fischer sowohl seine Einsätze als auch die letzten Kriegsmonate, die er im belagerten Budapest versteckt und im Schutze einer falschen Identität zugebracht hatte; von mutigen Freunden waren ihm die Ausweise eines verstorbenen, bei den Behörden aber nicht als tot gemeldeten Sohnes übergeben worden. Auch Eveline-Eva, Sándor Fischers spätere Frau, entging den Deportationen; ihre Eltern allerdings verschleppte man, und sie wurden in Auschwitz ermordet.

Das Erlittene, der Verlust von Leben und Eigentum, lockerte manche Bindung. Namentlich Frau Fischer ließ in der Familie spüren, dass fester Besitz in ihren Augen wenig und sogar als verhängnisvoll galt: Die Nazi-Schergen hatten die Großeltern darum festnehmen können, weil diese, in erster Linie die Großmama, sich im Herbst 1944 weigerten, ihr geliebtes kleines Haus in einem Vorort von Budapest aufzugeben und in der Innenstadt in einem Schlupfloch unterzukommen.

Dass Sándor Fischer dankbar bekannte, die Sowjetarmee habe sein Leben gerettet, galt im Frühjahr 1945 für viele der zuvor Verfolgten als typisch. Eher untypisch dagegen war, dass Fischer senior mit den kommunistischen Machthabern, die von 1947/48 an das Land allein beherrschten, nicht sympathisierte und der Partei nie beitrat (worauf er im Stillen stolz war). Zwar hielt er, dem einheimischen Nationalismus gegenüber zutiefst misstrauisch, bis zuletzt an der Meinung fest, dass das Regime der Linken, um eine Nuance besser, für Leib und Leben mehr Sicherheit biete als die Alleinherrschaft einer barbarisch entfesselten, radikalen Rechten. Doch als in den stalinistischen frühen fünfziger Jahren die Staatspartei damit begann, »klassenfremde Elemente« in Budapest gewaltsam aus ihren Wohnungen zu holen und den Familien mitsamt Großeltern und Kleinkindern Zwangsaufenthalte in Bauernhütten in den entlegensten Winkeln des Landes zuzuweisen, da bekamen die engsten Angehörigen von Sándor Fischer zu hören, »diese da oben« handelten kein bisschen besser als die Nazis.

Im Spätherbst 1956 flüchteten 200.000 Ungarn, unter ihnen viele Intellektuelle insbesondere aus der jungen Generation, in Richtung Westen; rund zwei Prozent der Bevölkerung verließen das Land. Der Wunschtraum, der in den Revolutionstagen Wirklichkeit zu werden schien, der Ausbruch aus Moskaus Machtbereich, war — der abermalige sowjetische Einmarsch ließ daran keinen Zweifel — für lange Zeit, vielleicht für immer ausgeträumt. Gehen oder bleiben? Unzählige stellten sich die quälende Frage. Bei den Eltern Fischer herrschte darüber keine Einigkeit. Die Mutter wollte weg, fort aus der Diktatur, unbedingt, so schnell wie möglich. Der Vater, vorsichtiger, lehnte es ab, bei Nacht und Nebel das Abenteuer des unerlaubten Grenzübertritts mit drei kleinen Kindern auf sich zu nehmen. Er setzte sich durch, doch jedes Mal, wenn es in den Jahren hernach zu persönlichen Rückschlägen kam oder die politische Aussichtslosigkeit zu schwer über dem Land lastete, kehrte in der Familie der ganz im Konjunktiv gehaltene Spruch wieder: Wenn wir damals gegangen wären, dann …

Was blieb vom Schicksal der Eltern für den ältesten Sohn gegenwärtig, von der Konfrontation der älteren Generation mit zwei Gewaltregimen? Was von diesem schweren Erbe wurde für ihn bestimmend? Vor allen Dingen ein — durchaus leidenschaftliches — Engagement gegen jede Art des Rassismus. Der Akzent liegt auf der Wendung »gegen jede Art«. Als Fischer einmal in einem Interview erklärte, dass sein Eintreten für die Menschenrechte sehr wohl auch, doch nicht allein durch die Grauen der Nazizeit motiviert sei, bekam er die Frage gestellt, er wolle doch nicht etwa seine jüdische Herkunft verleugnen. Nein, gab er zur Antwort, das wolle er keineswegs, sie habe aber für sein Leben keine Bedeutung. Bei anderer Gelegenheit bekannte Fischer in der Tat, dass er für die vollständige Assimilation eintrete, und als Beispiel und Vorbild nannte er den früheren österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky.

Als Dirigent gehört Fischer denn auch — zusammen etwa mit Daniel Barenboim — zu jenen Musikern, welche die judenfeindlichen Ausfälle im Prosawerk Richard Wagners zwar sehr wohl kennen, sie nicht entschuldigen, aber mit historischem Sinn als Symptome von Wagners Zeit auffassen. Ebenso wenig machen sie die fieberhaft fleißige Suche mit, die manche deutschen Zeitgenossen nach belastenden Belegen etwa im »Ring« oder in den »Meistersingern« anstellen.

Das Auftreten gegen Manifestationen des Rassismus bedeutet an sich schon Teilnahme am öffentlichen Leben. Fischer ist Künstler, zugleich aber ein sehr bewusster, engagierter Bürger — als Gegenstück etwa zu jenen Dirigenten, die einzig in der Musik zu Hause sind und von denen es gelegentlich unter Kollegen nicht ganz nett heißt, ihr Universum liege zwischen dem F und dem Fis. Im Freundeskreis lässt sich Fischer auf eine politische Diskussion stets mit Verve ein, und es ist mehr als einmal vorgekommen, dass er zu später Stunde (wie es sich zeigte: in der Pause einer Vorstellung in der Wiener Staatsoper oder im Covent Garden) beim Verfasser dieser Zeilen anrief, um sich nach dem Ausgang der Parlamentswahlen in diesem oder jenem Land und nach den ersten Kommentaren zum Ergebnis zu erkundigen. Die politische Existenz hat ihre Ursprünge in der Nachkriegszeit, und sowohl vom Engagement für Menschenrechte als auch von der Opposition gegen totalitäre Regime wird in diesem Buch noch ausführlich die Rede sein.

Musiker fanden sich unter den Fischers seit Generationen, Künstler mit mehr oder weniger Erfolg; Sándor Fischer zählte eher zu den Letzteren. Seine erste feste Anstellung erhielt er erst 1946 als musikalischer Chefdramaturg beim ungarischen Radio nach langen Jahren der Unsicherheit bei verschiedenen Budapester Theatern. Mit dieser Position hing später eine Änderung in Adams Schullaufbahn zusammen. Nach drei Klassen in der Musik-Versuchsanstalt, wo er bei dessen Schulbesuchen auch Zoltán Kodály begegnete und sogar zur Kinder-Delegation gehörte, die dem Meister jeweils an seinem Geburtstag Blumen und Glückwünsche überbrachte, wechselte er in die Musikschule des ungarischen Radios. Hier, in der Rökk-Szilárd-Straße, wieder auf der Pester Seite, sang er, zusammen mit seinem Bruder Ivan, im Kinderchor, der im Radiostudio und selbst in der Staatsoper beschäftigt wurde.

»Die Zauberflöte« an der Ungarischen Staatsoper 1962, Adam rechts, Ivan links außen

Hatten die beiden Brüder das Opernhaus lange von außen, aus dem Fenster ihrer Wohnung, neugierig beobachtet, so schlossen sie damit schon bald auch innerlich Bekanntschaft. Adam gehörte bereits mit neun Jahren zu den kleinen Statisten, die in der »Zauberflöte« Sarastro zuwinkten (er summte die Melodie mit, obwohl das den Kindern untersagt war). In zwei bis drei Vorstellungen pro Monat und in den Proben bekam er so Einblick in die Welt hinter und vor den Kulissen, er lernte die aufgebaute und gemalte, beleuchtete und kostümierte Wirklichkeit der Bühne kennen, wo nach einer alten Theaterweisheit alles falsch sein muss, damit sie echt wirkt. In der gleichen Oper sang dann der zwölfjährige Adam (später auch Ivan) einen der drei Knaben, und ein halbes Menschenleben später sollte Adam Fischer bekennen, er kriege immer noch Herzklopfen, wenn er im Finale des ersten »Zauberflöte«-Akts die Posaunen höre, deren Töne seinem Einsatz vorangingen. Im Übrigen wurde »Die Zauberflöte« wie kaum ein anderes Bühnenwerk zu einer Familiendomäne der Fischers: Adam und Ivan unter den drei Knaben, und die beiden sangen — man gab die Oper auf Ungarisch — den Text, den ihr Vater übersetzt hatte.

Im Kinderchor der Oper traten Adam und Ivan auch in Mussorgskys »Boris Godunow« und Verdis »Otello« auf. Dass Deftigkeit den Bühnenalltag selbst in den erhabensten lyrischen Momenten beherrschen kann, gehörte mit zu den frühen Erfahrungen. Das Libretto will, dass die Kinder des Chors im zweiten »Otello«-Akt Desdemona, der zarten Gattin des Mohren, einzeln Blumen überreichen. Da geschah einmal, dass Adam, als er an der Reihe war, die künstliche Rose fallen ließ. Die weißgekleidete Sopranistin hörte ob dieses Missgeschicks nicht auf, huldvoll zu lächeln, während sie zwischen den Zähnen zischend hervorstieß: »Bist du aber blöd, mein Junge!«

Eigentlich genoss die Oper als Gattung nicht die unbedingte Vorliebe von Adams Eltern. Zwar übertrug Sándor Fischer in seinen reiferen Jahren zahlreiche Libretti ins Ungarische (der Brauch, die Bühnenwerke in der Originalsprache zu geben, hatte sich damals noch nicht durchgesetzt), doch die Hausgötter hießen nicht Wagner und Verdi, vielmehr Bach, Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert. Die Wiener Klassik war Tag für Tag in der Wohnung präsent. Sándor Fischer, mit häuslicher Kammermusik aufgewachsen, spielte Klavier, er hatte auch die ersten Auftritte seiner Frau begleitet, bevor sie ihre Laufbahn abbrechen musste. Die drei Kinder begannen früh schon mit dem Instrumentenspiel, und man brachte sie häufig in die Oper und noch häufiger in Konzerte. So in die Musikakademie, wo es einmal zwischen dem fünfjährigen Adam und einem »großen Onkel« aus dem Bekanntenkreis der Eltern zu einem denkwürdigen Dialog kam.

Stand ein Musikerlebnis bevor, wurden die Kinder zu Hause aufs Genaueste vorbereitet. So auch vor der ersten Oper, die Adam hörte und sah: Mozarts »Entführung aus dem Serail«. Papa erzählte ihm nicht nur den Inhalt im Einzelnen, sondern spielte auf dem Klavier auch die wichtigsten Melodien vor. Ähnlich erklärte er Adam vor einem Konzert im Großen Saal der Akademie, dass man Joseph Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag spielen werde, und führte vor, dass dabei lange Zeit schöne und einschmeichelnd melodische Musik zu hören ist, bis dann jäh und gewaltig die Kesselpauke ertönt. Nach dem Konzert bekam Adam von einem Freund des Vaters die mäßig neugierige, doch obligate Frage, wie ihm das Gehörte gefallen habe. Ja, schon sehr gut, antwortete der Kleine, doch eigentlich habe er sich vorgestellt, dass der plötzliche Paukenschlag viel lauter sein werde. Worauf der Onkel (so nennen die ungarischen Kinder alle erwachsenen Männer) sich — buchstäblich von oben herab — mit diesem ironischen Spruch vernehmen ließ: »Na, mein Junge, wenn du einmal diese Symphonie dirigieren wirst, dann kannst du den Schlag viel lauter machen lassen.«

Weissagung wider Willen? Adam Fischer spielte 1987 bis 2001 mit der Österreichisch-Ungarischen Haydn-Philharmonie im Haydnsaal des Esterházy-Schlosses in Eisenstadt alle 104 Symphonien des Meisters ein (das mit Händen greifbare Ergebnis ist eine stattliche Kassette mit 34 Compact Disks). Und in der Tat, der erste unerwartete Donnerschlag der Kesselpauke im filigranen Andante des zweiten Satzes der Symphonie Nr. 94 klingt bei ihm mächtig. In der Fortsetzung allerdings bleiben die Paukenschläge, wiewohl weiterhin sehr bestimmt, angenehm moderat.

Doch die musikpädagogischen Methoden des Vaters waren nicht immer die glücklichsten. In seiner Begeisterung ermaß er gelegentlich schlecht die Aufnahmefähigkeit eines Kindes. Adam erinnert sich, dass er elf, bestenfalls zwölf Jahre zählte, als er zusammen mit den Eltern stundenlang vor dem Radio kauern und stumm einer Übertragung des »Tannhäuser« von den Bayreuther Festspielen lauschen musste. Es war die pure, grässlichste Langeweile, die er dazu nicht einmal beim Namen nennen durfte. Viele Jahre später, da er in etlichen großen Opernhäusern der Welt Wagner — auch den »Tannhäuser« — schon dirigiert und den »Ring« und den »Parsifal« in Bayreuth geleitet hat, sieht er seine damals andächtig zuhörenden Eltern anders: Das Radio, das die Bayreuther Vorstellung übertrug, war für sie, die hinter dem Eisernen Vorhang Eingesperrten, so etwas wie ein letztes, für eine kurze Weile aufgehendes Fenster zum Westen.

Das Verhältnis, das zwischen dem Vater und seinen Kindern bestand, ist an dieser Stelle (und auch später) noch einige weitere Worte wert. Nach dem Urteil der Schwester Eszter, die schließlich Psychologie und Medizin studierte, war der 1900 geborene Sándor Fischer innerlich in einem musikalischen Märchenreich und äußerlich noch ganz in der bürgerlichen Welt der Zwischenkriegszeit zu Hause. Er dachte in deren Begriffen und fühlte sich als Paterfamilias. Ihm schien es eine Selbstverständlichkeit, dass er der Tochter und den beiden Söhnen diktieren und dabei sogar deren Kleidung und Frisur bestimmen durfte. Auflehnung kränkte und erbitterte ihn. Seine Erwartungen gegenüber den Kindern waren hoch, und namentlich galt dies für Adam, den Erstgeborenen, auf den er große Stücke hielt.

Adam war sieben Jahre alt, als er mit dem Klavierspiel begann, das ihm, wie er gesteht, anfänglich gar kein Vergnügen bereitete. Bei allem musikalischen Talent empfand er das tägliche Üben, hierin unzähligen Klavierschülern in der Welt gleich, als eine lästige Pflicht; von einem Wunderkind war keine Rede. Ihm wäre es lieber gewesen, draußen mit anderen Jungen Fußball zu spielen. Doch er fügte sich, denn Widerspruch lag ihm, dem gehorsamen Kind, fern — im Gegensatz zum Bruder Ivan, der früh schon zur trotzigen Selbstbehauptung neigte. Und es war wiederum der Vater, der als Erster aussprach, dass Adam Dirigent werden sollte.

Es bleibe dahingestellt, ob dies auch von der Begebenheit herrührte, bei welcher der Sohn im Frühling 1956 — im Alter von ganzen sechseinhalb Jahren — bereits einmal spontan die Aufgabe übernommen hatte, in einem Singspiel seine Kindergarten-Mitschüler zu dirigieren. Ebenso wenig ausschlaggebend war wohl, dass die Brüder Adam und Ivan in den Sommerferien in einer Kinderkolonie unter Einbezug vieler halbwüchsiger Darsteller und zum Gaudium der Zuschauer Opernaufführungen — Parodien bekannter Opern — in Szene zu setzen und zu dirigieren pflegten.

Näher liegt, dass dem Vater das im Familienkreis oft beschworene Beispiel György Fischers vorschwebte. Dieser, ein Cousin Adams, wiewohl viel älter, hatte 1953, als er das Konservatorium besuchte, bei den Fischers gewohnt. Der kleine Adam blickte damals zu ihm wie zu einem älteren Bruder voller Bewunderung auf. György Fischer verließ Ungarn 1957, studierte am Salzburger Mozarteum und in Wien, wo er hernach als Assistent Herbert von Karajans arbeitete, um dann als Pianist und Dirigent eine internationale Laufbahn anzutreten. Bei ihm stimmten die von Sándor Fischer den eigenen Kindern eingehämmerten Kriterien: Der Cousin hatte im Ausland Fuß gefasst und machte dort als Musiker Karriere. Adam allerdings fragt sich nachträglich, wie es mit der Rangordnung der vom Vater gepredigten zwei Ziele in Wirklichkeit stand. Denn wohl sprach Fischer senior immer davon, dass man danach trachten müsse, im Westen zu leben, und dass man sich beruflich in der Fremde dank der überall verständlichen Sprache der Musik am besten durchsetzen könne. Doch sein Sohn vermutet, die politische Begründung habe dem Vater eher nur als Hilfsmittel gedient, um seinen Herzenswunsch zu erfüllen: die Kinder zu Musikern zu erziehen.

Damit, dass Adam nach den acht Klassen der Volksschule die Aufnahmeprüfung des Béla-Bartók-Konservatoriums bestand und Schüler des auf Musik spezialisierten Gymnasiums wurde, waren die Weichen tatsächlich endgültig gestellt; es galt für ihn schon im Alter von 14 Jahren unwiderruflich, dass er Musiker werden sollte. Der Lehrplan im Konservatorium kannte bereits eine starke Spezialisierung; die meisten Schüler studierten einzelne Instrumente, während bei Adam Fischer Klavierunterricht, Kompositionslehre und Musiktheorie die Hauptgegenstände bildeten. Von Mathematik und Chemie, Geschichte und Geografie vernahmen die Absolventen nur wenig, auch wurden in diesen Fächern keine Spitzenleistungen verlangt. Zwar galten Adam wie der ihm auch hier bald nachfolgende Ivan als gute Schüler, da die beiden Brüder schnell lernten, bei Fragen mechanisch die von den Lehrern gebrauchten Stichworte zu wiederholen. Im Rückblick allerdings bekennt Adam Fischer, dass er seine natur- und humanwissenschaftlichen Kenntnisse zur Hauptsache später autodidaktisch erworben habe und dass ihm nach wie vor manches fehle, was man in einer Mittelschule normalerweise mit auf den Weg bekomme. Eine Ausnahme hierin war von jeher die Literatur, weil Adam schon als Kind viel las, vor allem aber wurden in den Gesprächen am Familientisch Schuberts Lieder ebenso oft und gern abgehandelt wie etwa Shakespeares Dramen oder die Romane von Thomas Mann.

Adam (rechts) mit seiner Mutter und Ivan in Burgau am Attersee, 1965

Über aktuelle Politik, so unverkennbar gegenwärtig sie auch war, diskutierte man im Familienkreis nur spärlich. Das mochte daran liegen, dass diese rohe Materie den schöngeistigen Eltern wenig lag (sie verachteten die Machthaber, und für die propagandistisch angepriesenen sowjetischen Vorbilder hatten sie nur Spott übrig). Gewiss aber erklärte sich die Zurückhaltung lange Zeit auch damit, dass in totalitären Diktaturen Vätern und Müttern die Regel stets gegenwärtig ist, vor den Kindern, die außer Haus alles ausplappern könnten, keine politischen Bemerkungen zu machen. »Gehört der Junge schon zu den Eingeweihten«, fragte einmal der Musikästhet und Kritiker György Kroó, als im Hause Fischer die Rede auf die Politik kam. Mit dem Wort »Eingeweihte« spielte er auf Mozarts »Zauberflöte« an, in Wirklichkeit aber wollte Kroó wissen, ob man vor dem Kind schon frei reden dürfe.

Etwa von seinem zwölften Lebensjahr an, erinnert sich Adam Fischer, durfte man das getrost tun. Allmählich, vielleicht etwas langsam war er politisch reif, zuletzt aber von Politik nachgerade durchtränkt worden. Dass er manches Politische in seinem Umfeld erst mit der Zeit erkannte, hatte, wie er meint, auch damit zu tun, dass er, ein Einzelgänger, von Gleichaltrigen an Eindrücken wenig empfing. Sich leicht anzufreunden, lag nicht in seiner Natur. Im Gegensatz zu Ivan galt er als scheu und kontaktarm — eine Vorstellung, die Mühe bereitet, wenn man den wirbeligen, sich für jeden und alles interessierenden Adam Fischer der späteren Zeit kennt.

Nach vier am Konservatorium verbrachten Jahren gab es keinen Weg mehr zurück, keiner führte zu anderen Berufen als zu dem des Musikers. Die Schule konnte ihren Schülern solide Grundlagen für die weitere, höhere Ausbildung vermitteln, doch das früh schon einengende, auf ein einziges Ziel ausgerichtete System erwies sich nicht selten als ein Fluch. Dann nämlich, wenn jemand nach der Musik-Matura an der Aufnahmeprüfung scheiterte und in die Musikakademie nicht aufgenommen wurde. Wie Adam Fischer. Die Akademie bot vier Plätze für die Dirigentenausbildung an, zwanzig Kandidaten bewarben sich, und Fischer beendete die Prüfung an siebter Stelle. Die Katastrophe, die damit hereinbrach, sollte sich als ein Glücksfall in Adam Fischers Leben erweisen.

Sándor Fischer setzte nun Himmel und Hölle in Bewegung, um für seinen Sohn die Erlaubnis zum Studium in Wien zu erlangen. Besagte Erlaubnis erteilen musste die staatliche Autorität, denn kein ungarischer Staatsbürger besaß zu der Zeit — man schrieb das Jahr 1968 — dauernd einen Reisepass, keiner durfte ohne obrigkeitliche Durchleuchtung und Billigung Westreisen unternehmen. Sándor Fischer schaffte es trotzdem — zuerst für Adam und zwei Jahre später auch für Ivan. Wie er es bewerkstelligt hatte, darüber sprach er sich selbst im engsten Familienkreis auch später nie aus.

Mittlerweile war allerdings auch die allgemeine politische Wetterlage nicht mehr die gleiche wie in den kriegskommunistischen frühen fünfziger Jahren oder zur Zeit der gnadenlosen Repression nach dem Volksaufstand von 1956. Das Regime von Parteichef János Kádár strebte nach seiner Stabilisierung nun danach, mit der Bevölkerung einen stillen Kompromiss zu schließen. Die Diktatur bekam mildere, paternalistische Züge. Am 1. Januar 1968 war ein umfassendes Reformwerk, neuer Wirtschaftsmechanismus genannt, eingeführt worden, das namentlich in seiner Anfangsphase einen spürbaren Aufschwung brachte. Ungarn befand sich auf dem Weg, der ihm später die bitter ironischen und zugleich anerkennenden Bezeichnungen »Gulaschkommunismus« und »fröhlichste Baracke im Lager« einbringen sollte.

Selbst die Westgrenze wurde durchlässiger. Die Behörden prüften weiterhin pedantisch jedes Gesuch um Studien- oder Touristenreisen, und ein ablehnender Bescheid (interne Begründung: der erbetene Aufenthalt im Westen »liegt nicht im Interesse der Volksrepublik«) konnte für niemanden eine Überraschung bedeuten. Immerhin galt die Erteilung der Genehmigung allmählich nicht mehr als ein Wunder. Der Jurist Ferenc Mádl etwa, der im Jahr 2000 ungarischer Staatspräsident werden sollte, durfte als junger Mann bereits Anfang der sechziger Jahre an einem Nachdiplom-Forschungsprogramm der Universität Straßburg teilnehmen. Mancher ungarische Nachwuchsmusiker studierte schon vor Adam Fischer in Wien, so András Farkas, der Sohn des Komponisten Ferenc Farkas. An Letzteren, einen guten Bekannten, wandte sich Sándor Fischer um Rat.

Farkas junior, der als Dirigent später namentlich in der Westschweiz wirkte, hatte sein Dirigentenstudium an der Wiener Akademie bereits 1966 begonnen, und ein Jahr zuvor war er in Nizza Teilnehmer an einem von Hans Swarowsky geleiteten Meisterkurs gewesen; Swarowsky hatte ihn dazu ermuntert, sich bei ihm in Wien ausbilden zu lassen, und dazu auch ein Stipendium in Aussicht gestellt. Wie es dann kam, dass ihm die ungarischen Behörden zum mehrjährigen Wiener Aufenthalt die Erlaubnis erteilten, weiß heute auch András Farkas nicht mehr genau. Zum einen allerdings erinnert er sich daran, dass sich der Kulturattaché der Österreichischen Botschaft in Budapest stark für ihn einsetzte, und zum anderen ließ sich ein Argument offenbar wirksam verwenden: Farkas hätte in Budapest auf ein Dirigentenstudium lange warten müssen, weil András Kórodi, der an der Musikakademie die Dirigentenausbildung leitete, nicht jedes Jahr einen neuen Kurs begann.

Das hatte mit der kommunistischen Planwirtschaft zu tun, mit einer unerschütterlichen Mentalität, dem Glauben an die Plan- und Machbarkeit. Im Voraus genau berechnen ließ sich nach dieser Auffassung nicht nur, wie viele Teetassen, Fahrräder und Dampfturbinen das Land in zehn Jahren benötigen wird, sondern auch der Bedarf, der dann an Ingenieuren, Volksschullehrern und Dirigenten bestehen wird. Entsprechend waren die Produktionsziffern und die Zahl der Auszubildenden zu bestimmen. Als Adam Fischer dann sein Studium in Wien begann, fiel ihm als Erstes eine gründlich andersgeartete, weil liberale Denkweise auf, der gleich seine Liebe gehörte. An der Hochschule für Musik fragte kein Mensch (und der Staat schon gar nicht) danach, ob es auf lange Frist zu viele Dirigenten, Bassgeiger oder Posaunisten geben werde, sondern ließ es Sorge des Einzelnen sein, wieweit er imstande sei, sich im Studium und danach im Berufsleben durchzusetzen.

Nicht nur Anerkennung, auch Neid und Schmähung begleiten stets den Erfolg, und in der Kunst der lauten Geringschätzung üben sich in Ungarn nicht wenige mit besonderer Vorliebe. So kann man denn in Budapest die Ansicht vernehmen, die Gebrüder Fischer hätten es leicht gehabt, ihr Vater habe natürlich dank seiner hochgestellten politischen Bekannten erwirken können, dass die Söhne in Wien studierten. Als ob sich eine in die Höhe führende Laufbahn einzig mit einem Studienplatz erklärte und nicht zuerst mit Talent und Fleiß. Und selbst wenn die Lästerung einen wahren Kern hätte, Sándor Fischer tat nur das, was in Ungarn je nach seinen Möglichkeiten jedermann bis zum heutigen Tag übt: Er griff auf »persönliche Beziehungen« zurück gemäß dem in Mitteleuropa verbreiteten Brauch, der aus k. u. k. Zeiten stammt und mühelos alle Macht- und Systemwechsel überlebt hat.

Doch bleibt man da, wie gesagt, im Bereich der Vermutungen. Möglich, dass István Szirmai, der frühere Präsident des Radios und als solcher ein Bekannter Sándor Fischers, der erste Helfer war. Szirmai hatte einst in der Führung der Kommunistischen Partei zur engsten Umgebung von János Kádár gehört. Diese Gruppierung, die nach 1956 dominierend wurde, hatte im Gegensatz zu den »Moskowitern« die Jahre des Zweiten Weltkriegs nicht im sowjetischen Exil, sondern zu Hause in der Illegalität überdauert. Freilich galt Szirmai 1968 als kein politisches Schwergewicht mehr. Immerhin saß er im Politbüro und bewahrte lange Zeit leitende Funktionen im Bereich der Propaganda und der Kulturpolitik. Naheliegend, dass er mit György Aczél Verbindungen pflegte, der im Frühjahr 1967 zum Sekretär des Zentralkomitees ernannt worden war und dem die Parteiführung die Aufgabe anvertraut hatte, den gesamten Kulturbetrieb des Landes zu kontrollieren.

Es ist abermals keine erwiesene, aber nicht unwahrscheinliche Mutmaßung, dass es Aczél war, dem in der Causa Adam Fischer das letzte Wort zukam. Absurd jedenfalls klingt die Annahme nicht. Dass die so weltbewegende Frage, ob ein 19-jähriger Bursche sein Musikstudium in Wien fortsetzen dürfe, ihre Antwort auf der höchsten Ebene der staatlichen Machtpyramide finden musste, gehörte (wie unzählige ähnliche Bagatellfälle) zur Normalität der kommunistisch regierten Länder.

Bei Aczél handelte es sich um eine der merkwürdigsten Figuren der ungarischen KP-Führung. Er war mit Parteichef Kádár befreundet, seine Genossen, die »Moskowiter«, hatten ihn in den fünfziger Jahren, ebenso wie Kádár, eingekerkert. Er wurde entsetzlich gefoltert und saß 1949 bis 1954 im Gefängnis, um dann — in seinem Glauben an die kommunistische Sache offenbar unerschüttert — nach 1956 allmählich zum einsamen Beherrscher der ungarischen Kulturszene aufzusteigen. Seine Macht über Schriftsteller und bildende Künstler, Musiker und Theaterdirektoren genoss er spürbar, ihm stand es zu, über Werke und selbst ganze Laufbahnen zu entscheiden. Ursprünglich Maurer, war er Autodidakt, und als einer der wenigen in der obersten Funktionärskaste besaß er eine gewisse Bildung. Auch waren ihm liberale Neigungen, auf die er sich etwas zugutehielt, nicht fremd. Dies schlug sich in einer Kulturszene nieder, die im Vergleich mit den meisten kommunistischen »Bruderländern« bereits in den siebziger Jahren freier und vielfältiger war.

Hinzu kam in unserem Fall möglicherweise eine weitere Prise »persönliche Beziehung«. Aczél hatte in der Jugend schauspielerische Ambitionen. Er liebte die ungarische Lyrik, rezitierte gern Gedichte, und schon vor dem Krieg trat er gelegentlich in Budapester Theatern auf, wo er als Vortragskünstler ganze Abende bestritt. Es scheint, dass er bei einer dieser Veranstaltungen Sándor Fischer kennenlernte, der im Budapester Lustspieltheater (Vígszinház) die musikalischen Einlagen betreute.

Wie auch immer: Adam Fischer erhielt die Bewilligung. Mehrmals wurde er zu den Behörden zitiert und befragt, warum er im Ausland studieren wolle, und jedes Mal tischte er die gleiche, ihm eingetrichterte Antwort auf: Eine Ausbildung zum Orchester- und zugleich zum Chordirigenten kenne man in Ungarn nicht, in Wien aber könne man einen entsprechenden Lehrgang absolvieren. Anscheinend gab es eine zwar amtliche, aber niemals veröffentlichte, nur wenigen Wohlinformierten bekannte Regel, wonach künstlerische Studien an ausländischen Bildungsstätten bewilligt werden durften, sofern keine ungarische Anstalt ähnliche Kurse anbot.

Die »Organe«, die mit Musik nichts, mit Überwachung und Bespitzelung dagegen viel zu tun hatten, zeigten, wie Fischer versichert, kein Interesse für ihn; vermutlich wurde er als zu jung, als Musiker womöglich auch als allzu weltfremd befunden und deshalb für ungeeignet gehalten. Er brauchte jedenfalls nichts zu unterzeichnen, vertrauliche Berichte über seine Begegnungen und Bekanntschaften im Westen zu verfassen.