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Weihnachtsstimmung garantiert! Jenny Colgans Weihnachts-Romane sind wie eine warme Umarmung an einem winterkalten Tag. Weihnachtsstimmung garantiert! Jenny Colgans Weihnachts-Romane sind wie eine warme Umarmung an einem winterkalten Tag. Wirbelnder Schnee, knisternde Kamine und romantischer Funkenflug zwischen den Romanfiguren: In »Die geheime Weihnachtsbibliothek« erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan von einem schottischen Schloss voller Bücher und Erinnerungen, von einer spannenden Schatzsuche, einer Frau zwischen zwei attraktiven Männern und dem Zauber der Weihnachtszeit. »Ein weihnachtlicher Pageturner, der glücklich macht.« Daily Express Weihnachten liegt bereits in der Luft, als Mirren Sutherland von Jamie McPherson, einem attraktiven schottischen Gutsherrn, engagiert wird. Seit dem Fund eines seltenen Buches gilt sie als Antiquitätenjägerin. Angeblich befindet sich auch im Besitz der McPhersons ein wertvolles Buch, das ihr baufälliges Schloss vor dem drohenden Verkauf retten könnte. Doch niemand weiß, wo es sich befindet. Denn das Anwesen der Familie gleicht einem Labyrinth voller Bücher. Dort angekommen, untersuchen Jamie, Mirren und der ebenso charmante wie zwielichtige Antiquar Theo zahllose Räume, entschlüsseln Hinweise und lüften nach und nach die Geheimnisse des Hauses. Während draußen Schneeflocken tanzen, knistern drinnen die Kamine, und Weihnachten rückt immer näher … Jenny Colgan ist die »Queen of Christmas«! Ihre stimmungsvollen Romane wärmen selbst am kältesten Wintertag das Herz. Wie schon ihre internationalen Bestseller »Weihnachten in der kleinen Buchhandlung« und »Winterträume in der kleinen Buchhandlung« wird auch »Die geheime Weihnachtsbibliothek« alle Bücherliebhaber:innen, alle Schatzsucher:innen und alle Weihnachtsfans begeistern.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover & Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Nachwort
Anmerkung der Autorin
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
London trug an alldem ja keine Schuld. Die Stadt sah in der kalten Vorweihnachtszeit sogar wunderschön aus: Überall prunkten riesige rote Schleifen, in Schaufenstern blinkten Lichter in kleinen, schneebedeckten Häuschen, und der der Stadt von Norwegen geschenkte Christbaum am Trafalgar Square funkelte mit aller Kraft.
Es wurde früh dunkel, die beschlagenen Fenster der Pubs zeigten, dass dort die Leute im Warmen zusammensaßen, plauderten und lachten und auf Weihnachten anstießen. Männer im Smoking und elegant gekleidete Frauen stiegen in Parfümwolken aus Taxis und setzten den Fuß auf feuchten Asphalt, auf dem sich das Blitzen der Lichterketten über ihren Köpfen spiegelte. Schlittschuhläufer flitzten über die Eisfläche im alten gepflasterten Hof von Somerset House.
Nein, es lag nicht am zauberhaften, glänzenden, leuchtenden, teuren London, dass Mirren Sutherland so bedrückt war, so viel war ihr durchaus klar. Es lag an ihr selbst. Und an der Jahreszeit.
Dass London sich so blitzend und glitzernd präsentierte, erinnerte sie nur daran, auf was für ein tolles Weihnachtsfest sich andere Menschen freuten, ganz anders als sie. Ihre Mutter musste am ersten Weihnachtsfeiertag arbeiten, einer ihrer Brüder würde im Urlaub sein, und sie hatte leider den Fehler gemacht und ihren Freundinnen gegenüber so getan, als würde ihr das gar nichts ausmachen, weil sie noch jede Menge andere Pläne hatte. Jetzt war es zu spät, um zurückzurudern.
Letztes Jahr war Weihnachten einfach wunderbar gewesen, vor dem dieses Jahr graute ihr allerdings.
Mirren war seit jeher ein Bücherwurm, immer voller Bedenken, dass ihr der Lesestoff ausgehen würde. Deshalb fühlte sie sich eigentlich nur sicher, wenn sich auf ihrem Nachttisch ein halbes Dutzend ungelesener Taschenbücher stapelte. Sie war in drei Büchereien angemeldet, hatte zwei Kindles und für den Notfall eine Reihe von Douglas-Adams-Romanen im Badezimmer, falls sie sich dort mal aus Versehen einsperren sollte.
Letztes Jahr hatte sie kurz vor Weihnachten einem Buch hinterhergejagt, das ihre Großtante in ihrer Kindheit aus den Augen verloren hatte. Am Ende ihres Lebens hatte sie Mirren gebeten, es für sie aufzuspüren.
Dafür hatte Mirren Buchhandlungen im ganzen Land durchforstet und irgendwann Unterstützung vom umwerfend attraktiven Theo Palliser bekommen, der im Auftrag eines Antiquariats unterwegs gewesen war. Gefunden hatte Mirren das Buch am Ende aber ganz allein, versteckt im Seesack des ersten Mannes ihrer Urgroßmutter.
Das Buch hatte sich als unbezahlbares Einzelstück herausgestellt, eine von Aubrey Beardsley illustrierte Verssammlung von Robert Louis Stevenson.
Zusammen mit der wahren Besitzerin, June, der mit Beardsley verwandten besten Kindheitsfreundin ihrer Großtante, hatte Mirren beschlossen, es der British Library zu schenken. Sie hatten es bei einer schicken Zeremonie übergeben, und Mirren hatte sogar einen Finderlohn bekommen, den sie auf allgemeines Anraten hin in die Anzahlung einer kleinen Wohnung investiert hatte.
Theo Palliser war zu der Zeremonie nicht gekommen. Eigentlich hatte Mirren ja gedacht, dass das mit ihnen was werden könnte. Aber sobald der Reiz des Neuen verflogen war, hatte er sie einfach geghostet.
Mirren arbeitete wieder als Baukostenplanerin, in einem Umfeld, in dem sich niemand für Bücher interessierte, ihre Großtante war gestorben, und das Leben kam ihr jetzt noch langweiliger vor als vor ihrem großen Abenteuer.
Deshalb verlor sie sich manchmal in Tagträumen, in denen Theo und sie zusammen um die Welt reisten und seltene Bücher aufstöberten … Aber er war ja in sein Schickimickidasein zurückgekehrt, in das Reich stiller Bibliotheken und teurer Erstausgaben, und sie maß jetzt wieder Lagerhäuser mit Rattenbefall aus, in denen das x-te Studentenwohnheim entstehen sollte.
Für Buchdetektivinnen gab es eben nicht viel Bedarf – was sie wusste, weil sie tatsächlich die Stellenanzeigen durchsucht hatte.
Da sie für ihre neue, winzig kleine Wohnung eine Hypothek abbezahlte, die einem das Wasser in die Augen trieb, wäre ein Wechsel der Arbeitsstelle für sie in diesem Moment auch eher riskant gewesen.
Und sich zu wünschen, dass an Weihnachten irgendetwas Magisches passieren würde, war doch kindisch, dessen war sie sich durchaus bewusst.
Heute hatte Mirren bei der Arbeit nicht viel zu tun, daher beschloss sie, früh Mittagspause zu machen. Nachdem sie auf die Straße getreten war, stellte sie irgendwann wieder einmal fest, dass ihre Füße von ihrem nichtssagenden Bürogebäude an der Euston Road aus wie von selbst einen ganz bestimmten Weg eingeschlagen hatten: Mirren überquerte die verkehrsreiche Durchgangsstraße, lief am leuchtend weißen Krankenhaus vorbei und flüchtete rüber nach Bloomsbury.
Oh, wie Mirren dieses elegante Viertel von London liebte, das sich ganz Büchern und dem Studieren und Lernen verschrieben hatte! Hier befand sich das British Museum, das ihren wertvollen Fund beherbergte, das Zeugnis ihres kurzen Moments im Rampenlicht.
Darüber hinaus drängten sich hier Universitäten, Bibliotheken, Verlage und Archive, dazu gab es zauberhafte Plätze und elegante Gärten. An vielen alten Gebäuden befanden sich blaue Plaketten, die an ehemaligen Wohnhäusern von berühmten Schriftstellern angebracht waren – von J. M. Barrie, Virginia Wolf, Yeats, H. G. Wells, Charles Dickens … und so weiter und so fort.
Mirren betrachtete die Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern der kleinen Geschäfte, an denen sie vorbeikam, und kürzte den Weg oft durch schmale Kopfsteinpflastergässchen zwischen großen, hohen Häusern mit enormen Türklopfern aus Messing ab. Diese Gebäude waren in Dickens’ Jugend schon alt gewesen.
Natürlich regnete es mal wieder, und Mirren schob sich die dunklen Locken unter die senfgelbe Strickmütze. Sie hoffte nur, dass ihre Haare durch die Feuchtigkeit nicht zu krisslig werden würden. Unterwegs kam sie an etlichen lauten Gruppen vorbei, die Partyhüte trugen oder gerade Restaurants in Fachwerkhäusern betraten. Auf die Weihnachtsfeier der Firma hatte Mirren nur wenig Lust. Viel Arbeit hatte es dieses Jahr nicht gegeben, weshalb von den coolen Leuten alle gegangen waren, die keine heftige Hypothek abbezahlten.
Wahrscheinlich würden sich am Ende nur sie und die aus der Buchhaltung im Gemeinschaftsraum zusammensetzen und ein paar Ingwerplätzchen essen.
Jetzt erreichte Mirren das Museum, das die Breite eines ganzen Häuserblocks hatte und dessen riesige Kuppel von Säulen gestützt wurde. Auf der enormen Treppe war so viel los wie immer. Vor allem Touristen, die sich gern die Mumien und das angelsächsische Schiffsgrab ansehen wollten, ließen hier ihre Taschen durchsuchen. Vor dem Eingang stand ein großer Christbaum, und das Innere des Gebäudes war mit weiteren Bäumen und jeder Menge Lichter geschmückt.
Im Herzen des Museums lag ein großräumiges Atrium mit Glasdach, der Great Court, in dessen berühmtem runden Lesesaal Girlanden aus Efeu und Stechpalmen hingen.
Mirren nickte den Securityleuten zu, die sie bereits als regelmäßige Besucherin kannten. Sie fand es toll, wie riesig die Säle des Museums waren, wie viele Leute sich hier immer drängten. Türen mit dem Symbol eines Löwen kennzeichneten verschlossene Räume mit besonders wertvollen Exponaten, die im Fall eines Feuers vordringlich gerettet werden mussten, wie sie wusste. Unterhalb des Museums gab es eine verlassene U-Bahn-Station, in der noch mehr Gegenstände gelagert wurden.
Und im Zentrum all dessen befand sich im Ausstellungsbereich des runden Lesesaals ihr eigener Beitrag, ihr Buch. Na ja, das Buch, das sie gefunden hatte. Wenn sie es besuchte, schwelgte Mirren gerade jetzt wehmütig in den Erinnerungen daran, wie glücklich sie letztes Jahr an Weihnachten gewesen war. Dann erfüllte sie ein Gefühl von Stolz, aber nur so lange, bis sie in ihr trauriges Büro zurückkehrte und überlegte, ob sie dieses Jahr über Weihnachten drei Tage auf dem Sofa ihres Bruders verbringen sollte, während ihre Mutter um sie herumflatterte und alle sie bedauerten.
Aber das hier, das machte sie glücklich.
Mit wehendem Schal eilte sie flink die breite alte Treppe hinauf, deren Stufen von den Füßen der Besucher nach zweihundert Jahren ganz ausgetreten waren.
Im Lesesaal angekommen machte sich Mirren auf den Weg in einen Nebenraum. Obwohl sie doch so oft herkam, war sie jedes Mal aufs Neue beeindruckt. In dem fast völlig dunklen Bereich war es kühl, weil die Temperatur streng kontrolliert wurde. Hier konnte man hineinspazieren – jeder Mensch auf dieser Welt konnte einfach hineinspazieren – und einige der unglaublichsten Bücher aller Zeiten bewundern.
Die Folio-Erstausgabe eines Shakespearestücks. Eine Bibel aus dem vierten Jahrhundert. Ein handgeschriebenes Manuskript von Middlemarch. Das hier war einfach ein Paradies für Bücherliebhaber.
Und da, ganz am Ende, befand sich die manchmal von einer Menschentraube umgebene Vitrine mit ihrem Buch: Im Versgarten, mit handgezeichneten Illustrationen von Aubrey Beardsley.
Mirren nahm auf einem der sechseckigen roten Hocker Platz und wartete auf Leute, die es sich ansehen wollten.
Natürlich drückten sich hier und da gelangweilte Kinder herum, die man zum Zweck der Bildung ins Museum geschleift hatte. Die interessierten Mirren aber nicht. Sie wartete auf Menschen, die von dem Buch absolut begeistert waren, die mit »Oooh!« und »Aaah!« die eleganten Linien der zauberhaften Zeichnungen kommentierten, die Anmerkungen von Stevenson höchstpersönlich am Rand. Sie war auf keiner Schatzinsel gewesen, hatte aber doch einen Schatz gefunden. Und wenn sie ein paar schwierige Tage durchmachte, wie im Moment, wurde es Mirren durch die Freude anderer über das Buch ganz warm ums Herz.
Es gab sogar ein Schild, das mit winzigen Buchstaben die Information darbot:
London, 2024: Gefunden von Mirren Sutherland und gespendet von June Wilson, der Nichte von Aubrey Beardsley.
Heute stand ein großer Mann mit rotblondem Haar vor der Auslage und betrachtete das Buch konzentriert. Ein wenig abgenutzte Kleidung wie die, die er trug, war im British Museum nicht ungewöhnlich.
Glücklich lächelte Mirren in sich hinein. Obwohl ihr dieser Mann völlig unbekannt war, fand sie ihn sympathisch, einfach nur, weil er das Buch zu schätzen wusste.
Plötzlich drehte er sich um und winkte eine der Museumswärterinnen heran.
Mit einem ungewöhnlichen Akzent, den Mirren nicht einordnen konnte, fragte er: »Hier steht, dass das Buch gefunden wurde …«
Mirren spitzte die Ohren.
»Ja?« Anders als den Sicherheitsleuten war der Wärterin das junge Mädchen mit den großen grauen Augen und den dunklen Locken, das so oft herkam, noch nie aufgefallen. Oder falls doch, hatte sie es sich zumindest nicht anmerken lassen.
»Wie wurde es denn gefunden?«
Mirren war überrascht. Nach ihr hatte sich bisher noch nie jemand erkundigt. Normalerweise fragten die Besucher, ob es im Museum noch andere Arbeiten von Beardsley gab, womit sie für gewöhnlich seine pikanten Bilder meinten.
»Es wurde auf einem Dachboden entdeckt.«
»Oh«, sagte der Mann enttäuscht. »Ich dachte, wenn hier ›gefunden‹ steht, dann hat die Person möglicherweise aktiv danach gesucht.«
Die Wärterin zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Vielleicht war es ja ein wirklich großer Dachboden.«
Der Mann schwieg und betrachtete lange das Buch. Dann zog er ein Handy hervor, das so alt aussah wie ein Blackberry.
Die Wärterin bedachte ihn mit dem grimmigen Blick, mit dem sie jeden anstarrte, der im Ausstellungsbereich sein Handy benutzte, was er aber gar nicht bemerkte.
»Äh, über eine oder einen Mirren Sutherland scheint Google nichts zu wissen«, sagte er. »Aber umso mehr über Helen Mirren und Donald Sutherland. Die haben ja einiges zusammen gedreht.«
Mirrens Herz machte eine Satz. Moment mal, da googelte dieser Typ sie also? Sie blinzelte heftig und war sich überdeutlich dessen bewusst, dass sie gerade eine fremde Unterhaltung belauschte.
»Hm, keine Ahnung.«
Mirren stand auf und trat einen Schritt vor. »Ähem«, machte sie leise und räusperte sich.
Als keiner der beiden reagierte, zog sie sich wieder in die Dunkelheit zurück.
»Na ja«, sagte die Wärterin und ging weg.
Mirren blieb mit dem Mann allein zurück und hatte wieder einmal das seltsame Gefühl, dass in diesem Moment ihre Anwesenheit nirgendwo erforderlich war. Ob sie sich nun unter den neun Millionen Seelen dieser großen Stadt befand oder nicht, war völlig unerheblich, weil niemand sie vermissen würde, wenn sie nicht hier wäre.
Natürlich hatte sie eine Familie, die sie liebte, wie sie sich immer wieder in Erinnerung rief. Aber in dieser Familie wurde Liebe ziemlich oft dadurch gezeigt, dass man an ihr herumkrittelte und wissen wollte, wann sie sich endlich eine bessere Arbeit suchen würde, oder erwähnte, dass ihre alten Klassenkameradinnen ja mittlerweile alle ein Baby hatten, jede einzelne von ihnen.
»Entschuldigen Sie?«, sagte Mirren etwas lauter und wagte sich wieder aus der Dunkelheit hervor.
Die Wärterin schaute auf, Mirren blickte jedoch in die andere Richtung und ging auf den Mann zu.
»Ja?« Er sah sie an. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig, er war dünn und hätte dringend mal zum Friseur gemusst, da sein dichtes, rotblondes Haar viel zu lang war. Das Gesicht mit kräftigem Kinn und braunen Augen mit Schlupflidern dominierte eine lange, elegante Nase.
Plötzlich lief Mirren rot an, weil sie doch tatsächlich in London einen fremden Menschen angesprochen hatte. Gott, wie lächerlich! Sie hätte wohl besser nichts gesagt, aber jetzt war es zu spät.
»Entschuldigen Sie bitte, aber … ich bin Mirren. Mirren Sutherland«, fügte sie klärend hinzu.
»Äh, wer? Was?«
Mirren schaute zu der Vitrine mit dem Buch hinüber.
Er folgte ihrem Blick und sah dann wieder sie an.
»Na ja, ich hab … durch Zufall Ihr Gespräch mitbekommen.«
Er wirkte zunehmend unbehaglich. »Sie wollen also sagen, dass Sie …«
»Ja, ich bin diejenige, die das Buch gefunden hat.«
Er wirkte nicht im Geringsten überzeugt. »So, so, Sie waren also gerade zufällig hier und …?«
»Genau«, bestätigte Mirren. »Möchten Sie vielleicht meinen Führerschein sehen?«
Seine Lippe zuckte ein wenig, weil er das natürlich wollte, seine guten Manieren aber nicht zuließen, dass er darauf bestand.
Mirren wühlte in ihrer Handtasche herum und zeigte ihm schließlich ihren Bibliotheksausweis der British Library, auf den sie unglaublich stolz war.
»Ah«, machte er, wirkte aber immer noch verwirrt. »Und Sie waren ausgerechnet jetzt hier im Museum … rein aus Zufall?«
Mirren runzelte die Stirn. »Ich arbeite in der Nähe und besuche manchmal eben gern mein Buch.«
Er grinste, was sein etwas spitzes und ernstes Gesicht völlig veränderte, zum Strahlen brachte. Endlich verstand er, was hier vor sich ging. »Sie kommen also und beobachten die Leute, die sich Ihr Buch angucken!«
»Na, ich mache im Leben ja auch noch andere Dinge«, murmelte Mirren ein wenig einschnappt.
»Warten Sie, bis Sie jemanden darüber sprechen hören, um sich dann in die Unterhaltung einzumischen? Das ist schon ein merkwürdiges Hobby. Oooh … oder warten Sie etwa darauf, dass jemand über Sie spricht?«
»Das ist doch kein Hobby«, entgegnete Mirren steif. Jetzt zog er sie eindeutig durch den Kakao, und das passte ihr gar nicht.
»Handelt es sich um etwas, was Sie regelmäßig aus freiem Willen tun? Dann muss ich Ihnen leider eröffnen, dass das ganz stark nach einem Hobby klingt.«
So langsam wurde Mirren echt sauer. Für wen hielt sich dieser Typ eigentlich? »Ich liebe dieses Buch eben, und ich hab die Person geliebt, für die ich es aufgespürt habe«, entgegnete sie spitz.
Er hob die Hände. »Natürlich. Sorry, tut mir leid, ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Aber sind Sie einfach nur auf dem Dachboden darüber gestolpert?« Sein Blick zeigte deutlich, dass er nicht bloß höflich sein wollte. Er wollte das wirklich wissen.
»Nein!«, erklärte Mirren. »Ich hab im ganzen Land danach gesucht. Und am Ende hab ich es auf dem Dachboden entdeckt, zu einem Zeitpunkt, als bereits halb Großbritannien hinter dem Buch her war.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte er. »Aber Sie haben es ausfindig gemacht.«
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und setzte eine leicht gequälte Miene auf. »Ein Meeting«, murmelte er. Dann zog er eine kleine weiße Visitenkarte hervor, auf der in Reliefdruck sein Name und seine Telefonnummer standen – sonst nichts.
»Jamie McKinnon«, las Mirren.
»Hmhm«, machte er. »Leider kein Buchaufstöberer.«
Verständnislos schaute sie ihn an.
»Wenn Sie je Interesse an einem Job haben, dann rufen Sie mich doch an.«
Ein Job?, dachte Mirren. Aber auch: ein Job!
Die Sache wurde immer geheimnisvoller: Als Nächstes fiel Mirren auf, dass auf der Visitenkarte doch tatsächlich eine Festnetznummer stand, so eine lange Zahlenreihe wie früher, bei der die Nummer an sich kurz war, die Vorwahl in Klammern aber lang.
Zurück im Büro googelte Mirren diese Nummer als Erstes. Auf wen sie zugelassen war, konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Der Vorwahl zufolge lebte dieser Typ aber irgendwo in den schottischen Highlands, an der Nordostküste.
Am nächsten Tag zeigte ihre Chefin ihr den Dienstplan für die Tage zwischen den Jahren.
»Jetzt bist nur noch du eingetragen«, sagte sie ein wenig mitleidig, »weil Imran gerade gekündigt hat.«
»Himmel«, murmelte Mirren. »Es ist also keiner mehr da.« Sie sollte sich wirklich etwas Neues suchen, das war ihr schon klar. Aber sie konnte einfach nicht die Energie aufbringen, um das in Angriff zu nehmen, um Tausende Lebensläufe loszuschicken und zu hoffen, dass sie irgendwie den Jackpot knacken würde. Und ihre Arbeit hier war eben unentbehrlich, um die Hypothek zu bezahlen.
»Niemand braucht über Weihnachten dringend eine Baukostenplanerin!«, protestierte sie verzweifelt. Außer den Feiertagen hatte sie keinen einzigen Tag frei.
»Wir müssen den Kunden doch den kompletten Service anbieten können«, sagte ihre Chefin, die eigentlich ganz nett war, nur eben furchtbar, furchtbar müde.
Genervt kehrte Mirren zu ihrem Schreibtisch zurück. Es ging ja auf Weihnachten zu, wer hielt sich schon über die Feiertage mit Baukostenplanung auf? Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, Parfümwerbung zu gucken und sich darüber zu beschweren, wie klein heute die Packungen mit Minischokoladenmix waren. Scheinbar hatten die früher mal die Dimensionen eines Boilers gehabt.
Seufzend starrte Mirren auf ihren Bildschirm. Nun konnte sie nicht einmal mehr ins Museum fliehen und dort ihr Buch besuchen, weil die Wärterin jetzt wahrscheinlich wusste, wer sie war. Wie peinlich, wenn die allen erzählen würde, dass Mirren Sutherland gern in der Nähe ihres Ausstellungsstücks herumlungerte.
Spontan beschloss sie, dass sie dem Typen aus dem Museum eine SMS schicken würde, aber die kam nicht durch. Gott, wie lächerlich! Wahrscheinlich ignorierte er solche technischen Errungenschaften. Vermutlich fuhr er in seiner Freizeit ein Dreirad und fand, dass man doch lieber wieder mit Schillingen und Halbkronen bezahlen sollte. Zumindest hatte er keinen auffälligen Bart getragen. Mal abgesehen davon, dass er ein wenig abgewetzte Klamotten getragen hatte, hatte er doch relativ normal gewirkt.
Die Heimfahrt zu ihrer kleinen Wohnung in Südlondon war lang, und Mirren hockte dabei eng mit Millionen anderer Menschen mit dicker Daunenjacke und grimmigem Gesichtsausdruck auf engstem Raum. Alle waren auf dem Weg in die gleiche Richtung und wünschten sich, der Rest müsste nicht auch dorthin.
Zu Hause angekommen empfand Mirren ihr Apartment als winziger denn je. Sie sah nach, ob sie hinten im Kühlschrank nicht vielleicht etwas zu essen entdeckte, was sie ganz vergessen hatte. (Das war leider nicht der Fall.) Dann schnappte sie sich ihr Handy, nur um es sofort wieder wegzulegen. Sie würde doch nicht so verrückt sein, irgendeinen komischen Typen anzurufen, den sie in einem Museum angequatscht hatte!
Aber irgendwann nahm sie es doch wieder zur Hand. Was sollte sie heute Abend denn sonst machen? Durch Instagram scrollen und sich angucken, wie toll das Leben aller anderen doch war? Dem verdammten Theo Mr Ghosting Palliser Rache schwören? Wieder raus in die Kälte gehen, meilenweit bis zur Bushaltestelle laufen, um zurück ins Zentrum zu fahren und in einer Kneipe viel Geld loszuwerden, in der sie vor lauter Lärm ja doch den Gesprächen kaum folgen konnte?
Es klingelte ewig, und Mirren war drauf und dran, wieder aufzulegen. Ihretwegen konnte er sich ruhig weiter mit der geheimnisvollen Aura eines Antiquariatsfetischisten in Museen herumdrücken, das war ihr doch egal!
Mit einem Mal hatte sie große Lust, ein Bad zu nehmen, was natürlich nicht ging, weil sie keine Wanne hatte.
Leider konnte sie hören, wie gerade ihr Nachbar von nebenan duschte, und das war kein gutes Zeichen, weil darauf normalerweise jede Menge lauter Sex mit seinem Freund folgte.
Aber da nahm plötzlich jemand ab.
»Hallo, ist das zufällig die Buchauffinderin?«, erklang am anderen Ende eine amüsiert klingende Stimme.
Als sie ihn jetzt außerhalb des würdevollen Museums hörte, wurde Mirren klar, dass er nach Schottland klang. Sein Akzent ließ aber nicht an die typischen Schotten denken, nicht an laute, witzige Glasgower. Er rollte das R, zog die Wörter jedoch nicht lang, sondern sprach beinahe abgehackt.
Wieder war Mirren irritiert. Es lag an seinem Tonfall. Offensichtlich hatte er nach ihrer Begegnung im Museum keine Sekunde daran gezweifelt, dass sie ihn anrufen würde. Ja, da lag das Problem – er klang überheblich.
»Sie haben mich doch gebeten, Sie anzurufen!«, konterte Mirren.
»Ja, hab ich«, räumte er ein.
»Haben Sie denn kein Handy?«
»Doch«, antwortete er. »Sie haben mein Handy doch gesehen. Nur Empfang hab ich hier leider keinen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen sicher auch, dass die Telefongesellschaften den Empfang zu neunundneunzig Prozent garantieren. Na ja, ich lebe in diesem einen Prozent.«
»Aber soll das Festnetz nicht auch bald digital funktionieren?«
»Ja, das hab ich gehört«, antwortete er finster. »Dann muss ich wohl wieder Briefe von Hand schreiben.«
»Sicher würde Ihnen das nichts ausmachen«, entfuhr es Mirren, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. Das hatte wohl ein wenig respektlos geklungen.
»Was soll das denn heißen?«, fragte Mr McKinnon.
»Oh«, machte Mirren, fing sich aber schnell wieder. »Wenn Sie Interesse an jemandem haben, der ein Buch für Sie findet, dann sind Sie doch sicher ein Mensch … der noch gern Papier und Stift benutzt.«
»Ah, ja!« Er lachte ganz locker. »Das stimmt, klar. Also, hi! Ich suche tatsächlich jemanden, der ein Buch für mich ausfindig macht, und einem Schild im British Museum zufolge sind Sie da vielleicht die Richtige.«
»Und warum können Sie das nicht selbst übernehmen?«
»Oh, Sie lassen sich aber bitten«, sagte Mr McKinnon. »Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass wir nur noch über das Honorar sprechen müssen.«
Mirren schwieg einen Moment. »Wo vermuten Sie dieses Buch denn?«
»Es befindet sich bei mir zu Hause.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Leider nicht.«
»Und Sie sind nicht einfach nur ein Freak, den es anturnt, mit fremden Frauen zu sprechen?«
Er lachte. »Im British Museum?«
»Stimmt schon«, murmelte Mirren. »Da wäre die London Library wohl passender.«
»Also, hören Sie. Ich wohne in einem wirklich großen Haus. Und ich denke, dass sich hier irgendwo ein Buch befindet, das mir mein Großvater vermacht hat. Aber ich kann es einfach nicht finden.«
»Das denken Sie?«
»Das Buch wurde … in seinen Unterlagen … erwähnt.«
Das klang ziemlich vage, trotzdem stieg fast gegen ihren Willen in Mirren ein Anflug von Aufregung auf. Hier bot sich ihr nun das Abenteuer dar, nach dem sie sich so gesehnt hatte und das sie aus ihrem Alltagstrott herausreißen würde. Es hatte sogar mit Büchern zu tun, wofür sie ja immer zu haben war. Sie versuchte sich die Riesenneugier nicht anmerken zu lassen, als sie fragte: »Um was für ein Buch geht es hier?«
»Ah, ja. Äh …«
»Was denn?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wollen also, dass ich mich für Sie bei Ihnen zu Hause auf die Suche nach einem Buch mache. Sie wissen aber nicht, wie es heißt oder wo es steckt.«
»Ja, so könnte man es zusammenfassen.«
»Und wo genau wohnen Sie?«
»In Nordschottland.«
Mirren schaute aus dem Fenster, über die endlosen, immer gleichen viktorianischen Reihenhäuser hinweg, die inzwischen alle in enge Wohnungen und winzige Studioapartments wie ihres unterteilt worden waren. Bis zum Ende der unglaublich langen Straße sah man überall kleine Plastikchristbäume glitzern.
Der Regen fiel so träge, als wäre ihm zwar klar, dass es in Südlondon im Dezember natürlich regnen musste, als hätte aber selbst er keine große Lust darauf. Hier kam etwas Neues des Weges, etwas, was anders war. Ganz anders als Dienstpläne und Hypotheken und … oh. Die Hypothek durfte sie nicht vergessen.
»Würde sich die Sache denn für mich lohnen?«, fragte Mirren plötzlich. »Wir reden hier von einem bezahlten Auftrag, oder? Ich bin nämlich Baukostenplanerin und müsste ja eigentlich zur Arbeit.«
»Na ja«, sagte Mr McKinnon, »ich würde Sie bezahlen, wenn Sie das Buch finden.«
»Okay, Sie erwarten also von mir, dass ich für lau an einen merkwürdigen Ort mitten im Nichts fahre?«
»Die Reisekosten würde ich natürlich übernehmen.« Er verstummte einen Moment. »Okay, Sie haben recht. Mir war nicht klar, wie seltsam das rüberkommt. Soll ich vielleicht Ihren Chef anrufen? Oder … Ihren Vater?«
»Nein, wohl eher nicht«, sagte Mirren. Sie fragte sich, was ihr Dad wohl dazu sagen würde. Der wohnte drei Straßen weiter und zeigte seine Liebe für sie vor allem dadurch, dass er gelegentlich bei ihr hereinschaute und kommentierte, in was für einem üblen Zustand die elektrische Installation ihrer neuen kleinen Wohnung war, was sie als Baukostenplanerin doch eigentlich wissen sollte.
Mirren sehnte sich so sehr danach, Ja zu sagen. Aber sie musste endlich erwachsen werden, ihre albernen Ideen über Reisen und Abenteuer aufgeben. »Das klingt schon spannend, aber ich kann hier leider nicht weg.«
Es war die richtige Entscheidung, sagte sie sich. Einfach wegen eines komischen Kerls mitten im Nichts ohne Handyempfang nach Schottland zu verschwinden, war eine viel zu verrückte Idee.
Na gut, falls er sie ermorden wollte, hatte er sich dafür einen ziemlich umständlichen Plan zurechtgelegt, und man musste ja auch bedenken, dass sie auf ihn zugegangen war – sogar zweimal, wenn man den Anruf mitzählte. Aber das machte es womöglich noch schlimmer. Vielleicht war ihm das mit dem Mord ja erst in den Sinn gekommen, als sie ihn angesprochen hatte. Oje.
In Wirklichkeit ging sie nicht davon aus, dass er ein Mörder war. Sie hielt ihn eher für einen exzentrischen Büchermenschen und konnte es sich nicht leisten, wegen so jemandem das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Nicht schon wieder. Nicht, wenn ihr bei der letzten Suche nach einem Buch das Herz gebrochen worden war.
Aber die Sache hatte schon Spaß gemacht.
Nein! Der verdammte Theo Palliser. Der hätte sich das wohl nicht zweimal sagen lassen und sich sofort begeistert in dieses Abenteuer gestürzt. Zu diesem Zeitpunkt hätte er bestimmt längst die Details geklärt. Aber sie konnte einfach nicht.
Schließlich war sie keine professionelle Buchauffinderin. Mal abgesehen davon, dass das eben kein richtiger Beruf war, hatte sie beim letzten Mal auch einfach nur Glück gehabt. Nach dem Ende des Telefonats steckte Mirren die Nase in das Buch, das sie vor Kurzem angefangen hatte, und war schnell von der typischen Weihnachtsromanze um einen Prinzen gefesselt.
Obwohl sie ganz genau wusste, dass es nicht gut für sie war und sie damit nicht schon am Dienstag anfangen sollte, ließ sie sich letztlich Fast Food liefern.
Nach dem ungesunden Essen schlief Mirren schlecht und kam am nächsten Tag, der fies und grau war, nicht nur übel gelaunt ins Büro, sondern war auch noch spät dran.
Ihre Chefin hingegen war untypisch fidel. »Es ist ein Auftrag reingekommen, für kurz vor Weihnachten!«, rief sie triumphierend. »In Schottland. Keine Ahnung, warum der Typ sich nicht für jemanden vor Ort entschieden hat. Er hat wohl diverse Firmen kontaktiert, bis er bei uns gelandet ist und nach dir gefragt hat.«
Mirren riss die Augen auf. »Ach ja?«, sagte sie und versuchte, ganz lässig zu klingen.
»Du sollst dir das Gebäude mal anschauen und gucken, ob man da noch anbauen kann. Oder ging es um einen Abriss? Ich weiß gar nicht, er hat nicht viele Details genannt.«
Mirren lächelte. »Okay.«
»Er hat auch schon ein Zugticket für dich gebucht.«
Danach ging es Mirren schlagartig besser. Im Büro war es trist, ihre Mutter hatte immer zu tun, sie selbst war pleite, und es hörte einfach nicht auf zu regnen – aber sie hatte einen Auftrag, bei dem es um Bücher ging und der sicher interessant werden würde. Sie überlegte, was Mr McKinnon wohl genau im Sinn hatte. Vielleicht würde es am Ende ja nur darum gehen, dass sie seine ganze Bibliothek erfasste und katalogisierte. Das würde dann doch eher langweilig werden, aber sie würde das schon hinkriegen.
In ihrer Fantasie sah sie ein hübsches Haus voll perfekter Bücherregale vor sich, in denen zauberhafte alte Ausgaben interessanter Bücher zu allen möglichen Themen standen. Hoffentlich erwartete er nicht von ihr, dass sie den Wert solcher Ausgaben bestimmte, weil sie davon keine Ahnung hatte. So etwas wäre eher eine Aufgabe für Theo Palliser … Eigentlich wollte sie an den ja nicht mehr denken, aber ihre Finger bewegten sich auf das Suchfeld bei Instagram zu. Dabei mahnte sie sich immer streng, das bloß sein zu lassen. Sie folgte ihm auch nicht, aber sie … guckte von Zeit zu Zeit, was er so trieb.
Ah, da war er ja. Er hatte ein kurzes Video hochgeladen, in dem er ein uraltes Buch von Henry Fielding in die Kamera hielt. Die dunklen Haaren fielen ihm zerzaust bis über die Augenbrauen. Unter dem Namen @thatlondonbookboy stellte er regelmäßig mit glühendem Blick neue Bücher vor, die bei ihnen im Geschäft reingekommen waren, und hatte damit eine kleine Fangemeinde von Bücher liebenden jungen Männern und Frauen gewonnen. Wenn sie seine Followerzahlen sah, wurde Mirren jedes Mal wütend und eifersüchtig. Außerdem musste sie ein falsches Profil benutzen, um seine Storys anzugucken, was alles nur noch umständlicher machte. Toll sah er aus! Augenblicklich schloss sie die App. Bei ihr standen jetzt auch coole Buchsachen an! Zum x-ten Mal betrachtete Mirren die Fahrkarte für einen Zug, den sie noch nie genommen hatte, den Caledonian Sleeper. Der fuhr über Nacht von London bis hoch in die schottischen Highlands, und es gab neben den normalen Waggons mit Sitzen auch Schlafwagen. Leider war ihr Ticket nicht für einen davon, was eine ziemliche Enttäuschung war. Sie würde also zehn Stunden lang aufrecht sitzen müssen. Eigentlich galt es als wunderschöne, romantische Reise, aber das war wohl nur der Fall, wenn man in einem bequemen Bett lag. Wie super das wäre! Na ja, immerhin war es eine Reise.
Mirren packte einen kleinen Koffer und schnappte sich ein Reisekissen, das ihrer Mutter gehörte. Wenn sie bei der Suche Erfolg haben würde, hatte sie überlegt, dann würde sie Mr McKinnon vielleicht bitten können, dass er für den Rückweg ein Flugticket springen ließ.
Noch war ja nicht ganz klar, was genau man von ihr erwartete, aber wenigstens wurde sie mal aus ihrer Routine und Tristesse herausgeholt.
Mirren dachte daran, wie sie sich während der Pandemie geschworen hatte, dass sie danach nicht einfach zu ihrem alten Leben zurückkehren würde – doch genau das hatte sie getan. Eigentlich war sie doch viel zu jung, um in so einen Alltagstrott zu verfallen. Mirren glaubte nicht, dass ihre Mission gefährlich war, aber sie konnte durchaus ein Reinfall werden. Trotzdem war es endlich mal was anderes.
Ihr war sogar kurz der Gedanke gekommen, dass Mr McKinnon vielleicht wirklich ihre Dienste als Baukostenplanerin in Anspruch nehmen wollte, obwohl die Vorstellung beinahe noch unheimlicher war. Na ja. Jedenfalls war es ein Auftrag, und wenn sie bei dem Typen ein ungutes Gefühl bekommen würde, dann würde sie ihm mit einem dicken Wälzer eins überbraten und die Beine in die Hand nehmen.
Spät am Abend schloss Mirren die Tür ihrer kleinen Wohnung ab und machte sich erwartungsvoll auf den Weg zum Bahnhof. Ihre Aufregung währte aber nicht lange.
In Großbritannien gab es viele schmucke Bahnhöfe, die Euston Station in London gehörte allerdings definitiv nicht dazu. Es handelte sich um einen gedrungenen grauen Kasten mit niedriger Decke, der nach Stress und Nervosität roch.
Alle Versuche, ihn – mit überall verteilten Klavieren und bunten Fotos von Patchworkfamilien bei einem Ausflug aufs Land – ein wenig freundlicher zu gestalten, unterstrichen nur noch, wie schäbig und grau hier alles war, so als würden Züge heute immer noch Ruß ausstoßen.
Es gab zig Fast-Food-Restaurants, und überall starrten Leute erst auf ihr Handy und dann hoch zu den Anzeigetafeln. Wenn eine dieser Personen zusammenzuckte, weil sie den von ihr gesuchten Zug entdeckt hatte, zuckten andere auch, wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel.
Wurde das Gleis endlich angezeigt, dann schienen die Leute plötzlich um ihr Leben zu rennen, wobei alte, schwache oder schwer beladene Reisende leider den Kürzeren zogen. Das führte zu Scham und Traurigkeit, zu Gefühlen, die der Zement des Gebäudes in sich aufgesogen zu haben schien. Sobald man die Busse hinter sich gelassen hatte, die ihre Fahrgäste vor dem Bahnhof ausspuckten, nahm man sofort die schlierige Patina aus Sorge wahr, die sich über alles gelegt hatte.
An diesem kalten, nassen Dezemberabend war der eisige, schmutzige Bahnhof kein sehr weihnachtlicher Ort, vor allem nicht für eine junge Frau, die davor in sich zusammengesunken laut schluchzte. Damit übertönte sie sogar die Sänger der Heilsarmee, die sich um eine Spende von wehmütigen Pendlern bemühten, an denen auf dem Heimweg nach der Weihnachtsfeier im Büro hier und da ein Lamettafaden haftete.
»Aber ich bin doch auf Zack!«, schluchzte Mirren. »Und ich bin ja Londonerin, ich lebe hier! Eigentlich dachte ich, solche Typen nehmen nur naive Touristen ins Visier, die gerade erst eingetrudelt sind.«
Die ganze Sache hatte sich in nur Sekunden abgespielt. Mirren war aus der U-Bahn gekommen, hatte die Straße überquert, auf ihrem Handy die Fahrkarte aufgerufen, und schwupps! Mit einem E-Bike war eine Gestalt aus der Dunkelheit herangerast, hatte ihr im Vorbeifahren das Handy aus der Hand gerissen und war dann im nassen Lichtergewirr der Frontscheinwerfer und Rücklichter auf der Euston Road verschwunden.
Der freundliche Polizist im Dienste der Transportfirma fand es zwar nicht sehr passend, Touristen so ein Pech zu wünschen, aber er tat am Ende seiner langen Schicht alles, um der weinenden Frau zu helfen.
»Na ja«, sagte er und deutete auf ein nahes Poster, in dem darauf hingewiesen wurde, dass hier Langfinger unterwegs waren. »Deshalb empfehlen wir ja, das Handy nicht so offen zu zeigen.«
»Aber ich bin doch am Bahnhof, und meine Fahrkarte ist auf meinem Handy«, schniefte Mirren. »Als sehr gewagt habe ich das daher nicht empfunden.«
Leute drehten sich zu ihr um, als sie laut die Nase hochzog. Sie zupfte an den dunklen Locken, die unter ihrer Wollmütze hervorschauten, was eine alte Angewohnheit von ihr war.
»Kommen Sie mit ins Büro, wenn Sie Anzeige erstatten wollen«, sagte der Polizist.
»Mein Handy brauche ich aber! Können Sie das nicht wieder beschaffen?«, bat Mirren verzweifelt. »Hier sind schließlich überall Kameras!«
»Nein«, sagte der Polizist. »Sie haben wohl wenig Erfahrung mit gestohlenen Handys, was?«
Es erschien fast unmöglich – aber das Büro, in das man mitgenommen wurde, wenn einem an der Euston Station etwas Schlimmes passiert war, war noch übler als der Rest des Bahnhofs. Darin standen zwei Stühle, aus denen die Polsterung quoll, vor einem niedrigen verschrammten Tisch mit einer billigen Schachtel Papiertaschentücher.
»Also, wollen Sie die Geschichte von Anfang an hören?«, fragte Mirren, während sie sich setzte und der Beamte sich etwas zum Schreiben nahm.
»Eigentlich nicht«, antwortete er. »Was ich Ihnen gleich mitgebe, ist für Ihre Versicherung, okay?«
»Ich brauche mein Handy aber unbedingt!«, protestierte Mirren. »Das kommt mir fast so vor … als wären die mit der Guillotine angerückt und hätten mich von meinem Dæmon getrennt. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, natürlich«, sagte der Mann. Solche Sprüche bekam er jeden Tag Hunderte Male zu hören.
»Warum unternimmt denn niemand etwas dagegen?«
»Das sind diese jungen Kerle mit ihren Fahrrädern«, sagte der Polizist. »Die sind blitzschnell.«
»Das klingt ja fast, als fänden Sie die cool.«
»Ich hab ›schnell‹ gesagt, nicht ›cool‹.«
»Sie sollten elektrische Stolperdrähte anbringen«, versetzte Mirren mit weitaus mehr Nachdruck als bei ihr üblich. Wie die meisten Leseratten war sie im Alltagsleben eigentlich kein fieser Mensch. »Damit könnten Sie sie am Eingang des Bahnhofs stoppen.«
»Dadurch würden Sie aber auf die Straße katapultiert«, entgegnete der Mann bedächtig.
»Ja.«
»Also schlagen Sie die Todesstrafe vor?«
»Dann wäre mit dem Treiben wenigstens Schluss«, murmelte Mirren bockig.
»Ja, das schon.«
Eine Weile saßen sie schweigend da, während er das Formular für die Versicherung ausfüllte.
»O Gott«, murmelte Mirren, »das darf nicht wahr sein. Ich muss doch einen Zug erwischen, und meine Fahrkarte habe ich auf dem Handy!«
»Was das angeht, sind wir vorbereitet«, sagte der Polizist und hielt einen Laufzettel hoch. »Wohin fahren Sie denn?«
»Nach Schottland«, antwortete Mirren.
»Ach, wie nett«, sagte er. »Mit dem Nachtzug?«
»Könnten Sie bitte damit aufhören, so zu tun, als wäre hier alles in Ordnung?«, schnaubte sie. »Wissen Sie, ich bin nämlich bestohlen worden, und ich bin unterwegs zu einer neuen Arbeit, und es ist einfach alles schrecklich.«
»Es ist doch niemand ums Leben gekommen …«, wandte der Polizist ein.
»Aber auch nur, weil keiner auf meine Stolperdrahtidee hört.«
»… und Sie fahren kurz vor Weihnachten nach Schottland«, fuhr der Beamte mit freundlichem Lächeln fort. »Es könnte schlimmer sein.«
Der nette Polizist wartete, während Mirren mit dem bestimmt dafür vorgesehenen Festnetztelefon bei ihrer Bank anrief, um den Zugang fürs Onlinebanking sperren zu lassen. In diesem schmuddeligen, tristen Büro der Euston Station wollte Mirren jetzt eigentlich nur noch nach Hause. Die Wohnung war zwar klein und hatte zu wenig Schalldämmung und nun wirklich kein Zwischengeschoss, so oft das auch behauptet worden war, aber sie war ihr kleines Reich. Dort würde sie die Tür hinter sich schließen und endlich allein sein können.
Aber dann fiel es ihr wieder ein. Selbst ihre U-Bahn-Fahrkarte hatte sie auf dem verdammten blöden Handy, und auch ihr Uber-Nutzerkonto, mal abgesehen von den ganzen Kontaktdaten und Informationen über all ihre Bekannten und auch über sie selbst. Im Prinzip hatte sie circa 2009 ihr komplettes Gedächtnis einem Gerät anvertraut, und jetzt wusste sie nicht einmal die Handynummern von ihren Brüdern oder sonst irgendwem, der ihr helfen könnte. Mal abgesehen davon war das hier ja eine Dienstreise. Man erwartete sie, daher sollte sie besser in die Gänge kommen.
»Okay«, sagte der Polizist, »Ihr Zug fährt bald.«
»Und das geht wirklich ohne die Fahrkarte?« Sie hielt den Laufzettel hoch.
Er nickte. »Sie können sich doch ausweisen, oder?«
»Mein Portemonnaie haben sie ja nicht geklaut, nur das Handy. Und wissen Sie, wenn Sie nur wollten, könnten Sie das über den Ortungsservice ausfindig machen.«
Der Polizist, der einen langen Tag hinter sich hatte, räusperte sich. Heute hatte er einen Exhibitionisten verhaftet und einen Kinderwagen davon abgehalten, auf die Gleise zu rollen, daher fühlte er sich nicht völlig nutzlos. Aber man musste schon sagen, dass sich die Opfer von diesen E-Bike-Typen heutzutage immer ungehaltener zeigten.
»Na, dann bringe ich Sie mal rüber zu Gleis 1, junge Dame, da wird man sich um Sie kümmern. Morgen früh werden Sie dann am Bahnhof abgeholt und kaufen sich schnell ein neues Handy, und damit ist die Sache erledigt. Trinken Sie gleich erst einmal eine schöne Tasse Tee. Oder vielleicht ein Gläschen Whisky?«
»Okay«, murmelte Mirren, die fror und bedrückt war, sich ganz erbärmlich vorkam. »Das werd ich mal probieren.«
Den Weg zum Gleis des Nachtzugs, das sich etwas abseits am Rand des Bahnhofs befand, legte man durch einen langen Tunnel aus Beton zurück.
Neidisch betrachtete Mirren die Werbeposter, auf denen Fahrgäste sich unter strahlend weißen Decken kuschelten.
Der Caledonian Sleeper war grünblau, und Mirren sah, dass die Hälfte eines Abteils mit Sesseln ausgefüllt und der Rest des Platzes für Fahrräder und Gepäck gedacht war. Für einen Zug sah er wirklich ganz bequem aus, aber sie würde immer noch die ganze Nacht aufrecht sitzen, und zwar neben einer wildfremden Person, weil auf dieser Strecke immer alles ausgebucht war. Es waren schon etliche Fahrgäste an Bord, überwiegend Männer, von denen manche große Seesäcke dabeihatten. Hier und da schlief bereits einer. Ein paar Frauen strickten. Mitleidig betrachtete Mirren ein Ehepaar, das sich sowohl um ein Baby als auch um ein etwa zweijähriges Kind kümmern musste. Sie selbst tat sich allerdings auch leid.
Was auch immer in Schottland auf sie wartete, sie würde morgen früh nicht in Topform sein, um es in Angriff zu nehmen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie gar nicht nach Einzelheiten dazu gefragt hatte, wann und wo genau sie abgeholt werden würde. Es würde sie doch jemand abholen, oder nicht? Tatsächlich konnte sie sich nicht einmal mehr an den Namen des Bahnhofs erinnern … Aber nein, das würde schon alles klappen. Morgen früh würde er ihr wieder einfallen. Oder jemand würde ihr erlauben, auf seinem Laptop ihre E-Mails zu checken.
Und dann würde vielleicht ein Abenteuer beginnen, sagte sie sich und rieb sich die Arme, um etwas warm zu werden. In diesem Moment fühlte sich das Ganze aber so gar nicht wie eins an. Gerade stieg eine Gruppe von offensichtlich angeheiterten Männern in das Abteil mit den Sitzen, kramte Dosen hervor und stieß mit Flaschen in dünnen Plastiktüten an. O Gott, die hatten eindeutig vor, hier eine Party zu feiern.
»Danke«, sagte Mirren zu dem Polizisten.
»Viel Glück!«, sagte er und zwinkerte ihr zu. »Ich kann Ihnen versprechen, dass Sie von Schottland begeistert sein werden.«
»Guten Abend, Madam.« Eine Zugbegleiterin in schmucker grün-blauer Uniform mit karierter Weste und kleinem Hütchen trat an Mirren heran. »Haben Sie eine Schlafwagenreservierung?«
»Nein«, antwortete Mirren traurig und sah dabei zu, wie die Männer im Zug auf und ab liefen. Das Baby konnte sie schon von hier aus schreien hören. »Ich denke, es ist nur ein Sitzplatz.«
Die Frau nahm ihren Laufzettel entgegen, warf einen Blick auf ihren Führerschein und suchte dann lange auf ihrem Klemmbrett nach dem Namen, während Mirren bibbernd dastand. Hier auf dem Bahnsteig war es bitterkalt, dabei befand sie sich doch achthundert Kilometer südlich von ihrem Ziel. Sie fragte sich, ob sie vielleicht eine dickere Jacke hätte mitnehmen sollen als ihre grüne im Matrosenstil, die sie so gern trug.
»Ah«, sagte die Frau irgendwann. »Da haben wir Sie ja. Dann kommen Sie mal mit.«
Sie nickte ihrer Kollegin zu und hatte ein ziemliches Tempo drauf, als sie in Richtung Zuganfang losmarschierte.
Mirren musste sich ganz schön ranhalten, um nicht zurückzufallen. Da sie nun aus dem Gebäude traten, wurde es immer kälter und kälter. Der Zug stieß hier und da Dampfschwaden aus wie ein Feuer spuckender Drache.
Wie lang dieser Zug war! Sie kamen an Waggon um Waggon vorbei. Als sie die ersten Abteile mit Sitzen hinter sich gelassen hatten, wurde es ruhiger. Neidisch blickte Mirren durch die Fenster in die gemütlichen kleinen Kabinen hinein, die mit kariertem Teppichboden ausgelegt waren. Die Betten waren makellos weiß bezogen, und es gab auch eine Dusche und ein kleines Waschbecken, auf dem eine Wasserflasche und sauber angeordnete Toilettenartikel auf die Fahrgäste warteten.
Mirren wurde das Herz ganz schwer. Während sie so traurig und durchgefroren war, sah das alles so gemütlich aus. Aber sie würde man zu einem weiteren Abteil mit Sitzen ganz vorne bringen.
Inzwischen liefen sie fast völlig ungeschützt durch die pechschwarze, rußige Londoner Nacht und näherten sich dem Anfang des Zuges. Die Farbe des ersten Waggons hinter der Lok war nicht Grünblau, sondern ein dunkles, sattes Rot. Statt großer Fenster mit abgerundeten Ecken gab es hier welche, die man noch runterschieben konnte, und altmodische Türen zum Zuschlagen. Dieser Waggon war hier offensichtlich von einem anderen Zug eingefügt worden, war von einer ganz anderen Machart, ein anderes Modell als die schicken modernen des Caledonian Sleeper. Na super. Jetzt würde sie also den ganzen Weg auf einem Uraltsitz verbringen.
»Da wären wir«, sagte die Frau und legte den Finger an die Mütze, als die Tür aufschwang.
Mirren schleppte ihren kleinen Rollkoffer die Stufen hinauf und wandte sich nach rechts, um das Abteil zu betreten. Eigentlich hatte sie eine automatische Tür erwartet, aber man musste sie per Hand öffnen. Als Mirren sie durchschritten hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Das gibt’s doch nicht …«, hauchte Mirren und blinzelte. Es war bereits ein ziemlich verwirrender Abend gewesen. Aber das hier … das konnte doch nicht sein.
Hinter der Tür befand sich ein Waggon ohne Trennwände, sodass sich vor ihr nun etwas erstreckte, was an einen sehr langen, schmalen Saal erinnerte. Er war wesentlich größer, als Mirren von außen gedacht hätte. Noch konnte ihr Gehirn nicht recht verarbeiten, was sie da sah. Denn dieser Waggon – oder dieser Saal, wie man das auch nennen wollte – war gestaltet wie … na ja, anders konnte man es wohl nicht ausdrücken: Er sah aus wie eine Bibliothek.
Eine verblichene Stofftapete bedeckte die Wände rund um die Fenster mit bordeauxroten Vorhängen aus bedrucktem Stoff, die mit Kordeln zusammengebunden waren. Und um die Fenster herum, selbst darüber, standen Bücher, alte Bücher in Regalen mit kleinen Querstreben, durch die auch in einer scharfen Kurve nichts herausfallen würde. An den Seiten standen bequeme, eher ein wenig kitschige Sofas, ein schrankähnlicher Sekretär, an den man sich zum Schreiben setzen konnte, und ein kleiner Flügel, den Mirren ungläubig anstarrte. Es gab sogar eine kleine Bar mit Kristallkaraffen. An den Wänden hingen Gemälde von Jagdszenen, Messingleuchten spendeten warmes Licht, und ganz am Ende entdeckte Mirren sogar einen richtigen Kamin, vor dem zwei Sessel standen.
»Das gibt’s doch nicht …«, hauchte sie wieder.
Jetzt kam hinter der Theke der Bar ein Mann mit Krawatte hervor, den sie noch gar nicht bemerkt hatte.
»Wo bin ich hier gelandet?«
»Willkommen im McKinnon-Waggon«, sagte der Mann. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Mirren lief an ihm vorbei.
»Das gibt’s doch nicht …«, wiederholte sie und war total sauer, weil sie ohne Handy keine Fotos machen konnte. »Ist das hier der Waggon für zukünftige Mordopfer?«
Der Mann lächelte nachsichtig. »Oder hätten Sie vielleicht lieber etwas Warmes zu essen, Madam?«
Mirren achtete nicht auf ihn, sondern hielt auf den Kamin zu. Wie sie schließlich erkannte, brannte darin gar kein echtes Feuer, sondern nur eine Imitation, die aber sehr realistisch wirkte und auf jeden Fall ordentlich Hitze abgab. Nach dem eisigen Bahnsteig hatte Mirren hier wohlige Wärme in Empfang genommen, und sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als sich eins der Bücher zu schnappen und in einen der gemütlichen Sessel zu sinken.
Jetzt bemerkte sie, dass dort bereits jemand saß.
Aber der Barmann ließ nicht locker. »Ich habe mir erlaubt, für Sie einen Grog fertig zu machen«, erklärte er, »da den viele unserer Passagiere gern trinken, wenn sie an Bord kommen. Aber falls Sie etwas anderes bevorzugen, müssen Sie es nur sagen.«
Was auch immer das war, es roch toll.
»Nein, das ist schon okay«, sagte Mirren, griff nach dem dickwandigen Glas und sog dankbar das Aroma von Whisky, braunem Zucker, Nelken und Honig ein. »Vielen Dank.«
Jetzt drehte sich die Person auf dem Sessel zu ihr um, und Mirren rechnete eigentlich damit, dass es der seltsame Mann aus dem Museum sein würde.
»Ha, Mirren Sutherland? Unfassbar! Ich hatte mich schon gefragt, ob wir uns hier wohl über den Weg laufen würden!« Es war Theo Palliser, der ghostende Buchhändler, höchstpersönlich.
Nach einer Woche, in der Mirren viele überraschende Dinge passiert waren, war das hier vielleicht das Verblüffendste.
Augenblicklich war sie stinkwütend darüber, dass er sie hier so sah: mit verheultem Gesicht voll verschmierter Wimperntusche, einem Reisekissen – einem verdammten Nackenkissen, das ihr um den Hals hing – und der für das Wetter viel zu dünnen, durch den Bahnhof ganz schmuddeligen Jacke.
Sie hatte nämlich ganz vergessen, wie attraktiv er war, wie betörend gut er aussah, dünn und blass, mit riesigen dunklen Augen. Seine schmalen Augenbrauen waren ständig hochgezogen, als wäre er immer drauf und dran, etwas Schelmisches zu sagen, was auch meistens der Fall war.
Seine geschliffenen Manieren, der funkelnde Blick, seine Gewitztheit und Abenteuerlust machten ihn einfach unwiderstehlich. Leider hatte Mirren im Laufe der langen letzten Monate ja feststellen müssen, dass sie das nicht als Einzige so empfand.
»Was machst du denn hier?«, fragte Mirren.
»Miss Sutherland«, erwiderte er übertrieben förmlich.