Die Geige im Rapsfeld - Elisabeth Kraft - E-Book

Die Geige im Rapsfeld E-Book

Elisabeth Kraft

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Beschreibung

Wie kommt eine Geige in ein Rapsfeld? Wie kann ein ungültiger Lottoschein Glück und Frieden bringen? Wieso ist es entscheidend, ob ein Kuss nach Himbeeren schmeckt? Dies ist ein Buch voller Überraschungen - spannend, humorvoll und hintersinnig. Mit viel Liebe und Feingefühl erzählt die Autorin von Menschen aus ihrer Heimat Schleswig-Holstein, von ihren Freuden, Hoffnungen und Träumen oder lässt ihrer Fantasie freien Lauf. Die Geschichten regen zum Nachdenken an, zaubern ein Lächeln ins Gesicht, vermitteln Wohlgefühl und Entspannung.

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Seitenzahl: 419

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für meinen geliebten Ehemann

Inhalt

Der Kuss

Kalt

Die Geige im Rapsfeld

Adele

Frag doch Isabelle

Almas Lottoschein

Holstenbummel

Angekommen

Versöhnung nach dem Tod

Der Traum

Onkel Alberts Erbe

Fünfundzwanzig Jahre

Sieglinde kauft ein

New York, New York

Der Fahrschein

Die Fahrt nach Lübeck

Am Bad Segeberger Kalkberg

Das Geburtstagsgeschenk

Graue Stadt am grauen Meer

Der Bischof aus Schleswig

Neubeginn in Bordesholm

Die Frage

Hoch auf dem Abschleppwagen

Du gehörst zu mir

Sailing

Entscheidendes Spiel

Der Unfall

Wozu sonst?

Der Kuss

Selig löst sie sich wieder von ihm und schaut ihn mit strahlenden Augen an. So wie er hat sie zuvor noch niemand geküsst – so intensiv, ausgiebig, nachhaltig und verführerisch – einfach ganz und gar vollkommen. »Hm, du schmeckst nach Himbeere,« sagt er. Thekla ist glücklich, unbeschreiblich glücklich. Dass ein so gut aussehender Mann wie Rainer ausgerechnet sie liebt, erscheint ihr immer noch wie ein Wunder. Nicht dass sie hässlich wäre, aber um an der Seite eines so begehrenswerten Mannes glänzen zu können, wäre sie schon gern etwas attraktiver und vor allem ein paar Jahre jünger gewesen. Doch Rainer liebt sie nicht nur, er hat sie auch geheiratet, und die Flitterwochen mit ihm sind das Wunderbarste gewesen, das sie jemals erlebt hat.

Eigentlich hat sie gar nicht mehr damit gerechnet, dem Mann ihres Lebens noch zu begegnen. Nach dem viel zu frühen Tod ihrer Mutter hat sie bereits mit zwölf Jahren den kleinen Zweipersonenhaushalt geführt, ohne die Schule allzu sehr zu vernachlässigen. Ihr Vater hat sich zunehmend von anderen Menschen ferngehalten, und sie hat es ihm gleichgetan. Thekla ist für ihn dagewesen, wann immer er sie gebraucht hat.

Nach ihrem Abitur hat sie das Studium der Betriebswirtschaft in kürzester Zeit absolviert, um danach ihrem Vater in seinem Unternehmen helfen zu können. Er ist ein begnadeter Architekt gewesen, der sich durch Schwimmbadkonstruktionen, Modernisierungen historischer Gebäude und Neubauten von Firmenniederlassungen einen Namen gemacht hat. Thekla hat nicht nur seinen Kieler Betrieb mit über zwanzig Mitarbeitern geleitet, sondern darüber hinaus zwei weitere Niederlassungen in Lübeck und Pinneberg verwaltet, für die ihr Vater mehrere vielversprechende junge Architekten eingestellt hatte.

Theklas Vater hat sich nie wieder verliebt und dafür immer mehr in seine Arbeit gestürzt, auch an den Wochenenden. Er hat ihr schönes Zuhause am Düsternbrooker Gehölz zu einem wahren Traumhaus umgestaltet, danach eine prachtvolle Villa auf Sylt gebaut, zudem ein herrliches Anwesen am Plöner See mit Blick auf das Schloss und zuletzt noch ein modernes Feriendomizil an der Costa del Sol. Thekla hat ihn in jedem dieser Projekte unterstützt und sich mit ihm zusammen um stilgerechte Inneneinrichtungen gekümmert. Dann ist er an einem Hirntumor erkrankt und viel zu früh daran gestorben.

Auf einmal ganz auf sich allein gestellt hat Thekla länger gearbeitet als je zuvor und sich noch mehr von anderen Menschen abgekapselt. Lediglich mit ihrer Schulfreundin Maren hat sie sich hin und wieder getroffen. Maren hat sie sogar dazu gebracht, einmal in der Woche mit ihr zusammen zum Sport zu gehen. Im Urlaub hat sich Maren dann ausgerechnet in einen Italiener verliebt. Sie ist ihm nach Mailand gefolgt, zwei Jahre später haben sie geheiratet, und nun sehen sich die beiden Freundinnen nur ein- bis zweimal im Jahr, abwechselnd in Kiel und Mailand.

Thekla selbst hat bei der Suche nach einem Freund zunächst kein Glück gehabt. Die wenigen Männer, die sie in den vergangenen Jahren kennengelernt hat, hatten es eindeutig mehr auf ihr Vermögen abgesehen als auf sie. Eines schönen Tages, kurz nach ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag, ist ihr Rainer über den Weg gelaufen – jungenhaft, unbekümmert und voller Schwung, mit dem er sie in der Eingangstür eines Kaufhauses beinahe umgerannt hätte. Vom ersten Moment an hat sie sich in ihn verliebt – und er sich in sie.

Ganz bewusst hat sie ihm damals nicht erzählt, dass sie vermögend ist, und ihn in dem Glauben gelassen, sie wäre lediglich eine kleine Angestellte. Rainer hat das überhaupt nicht gestört – ganz im Gegenteil! Er ist Verkäufer in einem Autohaus gewesen und hat nur gesagt: »Wir kleinen Leute müssen zusammenhalten.« Dabei hat er sie liebevoll angesehen, sie in seine Arme genommen und so fest an sich gedrückt, dass sie fast keine Luft mehr bekommen hat.

Mit ihm zusammen hat sie sich wieder jung gefühlt und angefangen, all die versäumten Jahre nachzuholen. Schon bald ist ihr klar gewesen, dass Rainer der Mann für ihr Leben ist. Sie haben geheiratet, und als Hochzeitsgeschenk hat sie ihm seinen eigenen Autosalon gekauft.

»Woran denkt meine Prinzessin?«, holt Rainer sie zurück in die Wirklichkeit. »Daran, wie glücklich du mich machst und wie froh ich darüber bin, dich gefunden zu haben,« antwortet sie mit Inbrunst. »Dann haben wir gerade das gleiche gedacht. Wie könnte ich nur jemals wieder ohne dich leben? Du bist die Erfüllung aller Träume, die ein Mann nur haben kann, der sich nach Liebe sehnt. Wie schaffst du es nur, neben deiner vielen Arbeit immer für mich da zu sein?« Voller Zärtlichkeit schaut er sie an, mit einem Lächeln, das ihn einfach unwiderstehlich macht. »Und darüber hinaus hast du in letzter Zeit sogar an deinen Kochkünsten gearbeitet.«

Theklas Gesicht überzieht sich mit einer leichten Röte. Sie weiß, dass ihre Fähigkeiten als Köchin für ihren Vater und sie selbst ausgereicht haben, ansonsten aber doch beschränkt sind. Sie und Rainer essen meistens in einem der vielen guten Restaurants ihrer Umgebung. Doch da sie ihn so unendlich liebt, wagt sie sich hin und wieder ans Kochen, um eine besondere Leckerei für ihn zu zaubern. Sie hat schon verschiedene raffinierte Rezepte ausprobiert – natürlich nicht ohne an seine Nussallergie, seine Abneigung gegen Klöße und Mehlspeisen überhaupt oder an seine Vorliebe für Krabben, Hummer und zartes Rinderfilet zu denken. Es gibt kaum etwas Schöneres für sie, als ihm eine Freude zu bereiten und dabei in seine strahlenden Augen zu sehen.

»Rainer, ich liebe dich so sehr,« sagt sie aus vollem Herzen. Er nimmt sie in seine Arme und gibt ihr noch einen Kuss. »Schade, dass du heute Abend fort musst,« meint er bedauernd. Fragend sieht sie ihn an. »Soll ich lieber hier bleiben? Ich kann meinen Sport ruhig einmal ausfallen lassen.« »Nein, geh nur, ich finde es wunderbar, dass du dich fit hältst. Ach so, das hätte ich fast vergessen: wann kommt deine Freundin Maren aus Mailand? Ich möchte sie endlich kennenlernen.« »Ja, zu schade, dass sie nicht zur Hochzeit kommen konnte! Sie weiß noch nicht genau, ob es klappt, aber sie möchte uns gern über Pfingsten besuchen und sich dann ein paar Tage frei nehmen.« »Das ist ja schon bald,« freut sich Rainer, »also dann bis nachher, und viel Spaß beim Sport!«

Thekla nimmt ihre Sporttasche und macht sich widerstrebend auf den Weg. Sie wäre heute lieber bei Rainer geblieben. Andererseits fühlt sie sich nach einer Sportstunde und der anschließenden Dusche immer besonders wohl, und wenn es ihm ähnlich geht wie ihr, kann es doch noch ein wunderschöner Abend werden.

Schon vor der Sporthalle kommen ihr zwei junge Frauen aus der Aerobic-Gruppe entgegen. »Heute ist kein Sport, Steffi ist krank,« sagt die eine zu Thekla. Tatsächlich, an der Eingangstür zur Sporthalle hängt ein Zettel: ‚Aerobic und Stepptanz fallen am Mittwoch und Donnerstag wegen Krankheit aus.‘ Thekla lächelt. Sie wird Rainer überraschen und einen wunderbaren Abend mit ihm verbringen. Doch dann ermahnt sie sich selbst: Wie kann ich nur so egoistisch sein und nicht an Steffi denken! Sie nimmt sich vor, ihr gleich morgen früh einen Blumengruß zu schicken.

Mit sich und der Welt zufrieden geht sie fröhlich vor sich hin summend nach Hause. Nahezu lautlos öffnet sie die Haustür, damit ihre Überraschung auch gelingen kann. Sie schleicht die Treppe hinauf und ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Nebenan telefoniert Rainer im Schlafzimmer. Thekla will gerade ganz leise die Tür zum Bad schließen, als sie plötzlich ihren Namen hört.

»Thekla? Sei nicht so ungeduldig! Ich leide viel mehr als du, vor allem, wenn sie glaubt, wieder einmal für mich kochen zu müssen. … Ja doch, jeder im Büro glaubt, dass wir uns abgöttisch lieben, aber wir müssen trotzdem noch warten. Immerhin habe ich sie erst vor drei Monaten geheiratet. …Nein, nicht mehr lange, bestimmt! Über Pfingsten kommt ihre Freundin Maren aus Italien zu Besuch. …Ja! Stell dir vor, sie hat nur diese eine! …Na du kennst mich doch! Da werde ich noch einmal mein ganzes schauspielerisches Talent entfalten. … Natürlich wird niemand etwas ahnen, ein bedauerlicher Unfall, einfach tragisch! … Doch, das kriege ich schon alleine hin. Du kannst dir überlegen, ob du lieber in Kiel, am Plöner See oder auf Sylt wohnen möchtest, den Winter über können wir es uns in Spanien gut gehen lassen. …Nein wie denn! Selbst mit Sportschuhen trampelt sie so laut die Treppe hinauf, das würde ich mitkriegen …«

Kreidebleich sackt Thekla in sich zusammen. Das kann nicht wahr sein – sie muss sich verhört haben. Sie wird jetzt sofort zu Rainer ins Schlafzimmer gehen und das Missverständnis aufklären. Aber die Beine versagen ihr den Dienst; reglos bleibt sie neben der Badewanne hocken. Ununterbrochen kreisen seine Worte in ihrem Kopf – »ich leide viel mehr als du, nicht mehr lange, niemand wird etwas ahnen, ein Unfall, einfach tragisch,« – und ganz allmählich beginnt sie zu begreifen, dass sich ihre Welt in nichts aufgelöst hat. Ihr ganzes großes Glück, ihre Liebe, die unbeschreiblich schönen Zärtlichkeiten – all das hat es nie wirklich gegeben, es ist ein einziger Betrug, eine ebenso wunderschöne wie grausame Fata Morgana.

Dicke Tränen tropfen auf ihre Sportjacke. Am liebsten würde sie jetzt so hocken bleiben und nur noch weinen. Aber sie muss sich zusammenreißen. Rainer darf auf keinen Fall mitbekommen, dass sie Bescheid weiß. Er, von dem sie geglaubt hat, sich ein Leben lang auf ihn verlassen zu können, ist plötzlich zu einer Gefahr geworden. Ihr einziger Schutz ist ihre Unwissenheit. Sollte er mitbekommen, dass sie sein Telefonat belauscht hat, gäbe es kein Entkommen mehr für sie, dann würde er jetzt gleich zur Tat schreiten. Mit übermenschlicher Anstrengung schafft sie es, das Badezimmer nahezu geräuschlos wieder zu verlassen, mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinunter zu schleichen und aus dem Haus zu gehen, ohne dass er es bemerkt.

Draußen läuft sie so schnell sie kann die Straße entlang, den kleinen Weg ins Düsternbrooker Gehölz hinein und weiter, immer weiter, nur weg von ihm. Atemlos bleibt sie schließlich stehen und versucht, wieder zur Besinnung zu kommen. Nicht einmal eine Stunde bleibt ihr, um zu einem Entschluss zu kommen, wie es nun weitergehen soll, dann erwartet Rainer sie von ihrem Sportkurs zurück. Kann er derart grausam sein, ihr den Tod zu wünschen?

Thekla muss sich plötzlich erbrechen, so schlecht fühlt sie sich. Zitternd setzt sie sich auf eine Bank. Eine ganze Weile lang bleibt sie so sitzen, lässt den Kopf hängen und blickt wie erstarrt vor sich hin. Schließlich beginnt sie zu weinen, schluchzend und ohne Pause, als könnte sie nie wieder aufhören.

Irgendwann sind keine Tränen mehr da, sie fühlt sich einfach nur leer. Doch dann füllt sich diese Leere wieder, und Thekla spürt, wie eine ungeheure Wut in ihr aufsteigt. Die ganze Zeit über hat Rainer sie aufs Übelste betrogen. Ganz bewusst hat er den Zusammenstoß mit ihr herbeigeführt und ihr vorgespielt, nichts von ihrem Vermögen zu wissen. Plötzlich ist er nicht mehr der gut aussehende, liebevolle, begehrenswerte Mann, sondern nur noch eine miese Kreatur – abscheulich und ekelerregend, widerlicher Abschaum.

Auf einmal spürt Thekla, wie zusammen mit ihrer Wut neuer Lebensmut in ihr aufsteigt. Sie wird sich nicht so einfach geschlagen geben, sie nicht! Sie wird einen Ausweg finden und dafür sorgen, dass er der Verlierer seines niederträchtigen, intriganten Spiels ist.

Wieder zu Hause angelangt hat sie keine Probleme damit, Rainer von ihrem Unwohlsein zu überzeugen, so blass und erbarmungswürdig sieht sie aus. Er geht sofort in die Küche, um ihr einen Kräutertee zu kochen, und bringt ihr ein Tablett mit Tee, Zwieback und einer Banane ans Bett. »Es tut mir so leid, Schatz! Hoffentlich geht es dir bald wieder besser. Kann ich sonst irgendetwas für dich tun?« »Nein, danke, Rainer. Bitte sei mir nicht böse, weil ich im Gästezimmer schlafe, aber ich brauche jetzt Ruhe.« »Natürlich, mein Liebling, das verstehe ich doch.«

Rainer versucht, mitfühlend und traurig auszusehen, aber hinter dieser aufgesetzten Fassade erkennt Thekla seine Erleichterung. Wieso ist mir so etwas früher nie aufgefallen?, fragt sie sich. Ich bin wirklich blind vor Liebe gewesen. Wie konnte ich nur glauben, dass er mich um meinetwillen geheiratet hat! Laut sagt sie nur: »Danke, Rainer, schlaf gut!«

Als er ihr Zimmer wieder verlassen hat, lässt sie sich erleichtert in die Kissen zurückfallen. Trotzdem dauert es noch mehrere Stunden, bevor sie völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf fällt. Irgendwann schreckt sie voller Entsetzen aus einem Albtraum hoch. Sie sieht noch das lange Messer vor sich, das Rainer in seiner rechten Hand hält, während er sie bösartig grinsend ansieht. »Du dummes Ding! Wer will schon mit einem hässlichen Entlein wie dir verheiratet sein! Jetzt ist deine Zeit zu Ende …«

Damit ist die Nacht für Thekla vorbei. Ruhelos dreht sie sich im Bett von einer Seite auf die andere und zermartert sich den Kopf darüber, wie sie aus dieser Situation heil wieder herauskommen kann. Es muss doch eine Möglichkeit geben, irgendeinen Ausweg! Wie soll sie sich Hilfe holen, ohne ihn misstrauisch zu machen, wie nur! Sie hat nicht einen einzigen Beweis für seine bösen Absichten, und ihr gemeinsames Testament könnte sie nicht ohne sein Wissen ändern. Was soll ich nur tun?, denkt sie immer wieder, was, was, was?

Am nächsten Morgen bringt ihr Rainer frischen Tee ans Bett. »Und, wie geht es dir heute?«, fragt er, »wie hast du geschlafen?« »Nicht so besonders,« erwidert sie wahrheitsgemäß, »ich werde wohl im Bett bleiben müssen. Im Büro habe ich mich schon abgemeldet.« »Natürlich kannst du heute nicht arbeiten, du siehst noch ganz blass aus. Soll ich Doktor Gehrke holen?« »Nein danke, ich bin einfach nur schlapp und fühle mich noch elend. Vielen Dank für den Tee! Der Zwieback liegt noch hier, mehr brauche ich jetzt nicht.« »Ganz wie du meinst, Schatz! Dann gehe ich mal in meinen Autosalon, etwas Geld verdienen. Bis heute Abend!«

Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fällt, atmet Thekla auf. Vorerst bin ich sicher, weiß sie, vor Marens Besuch wird er nichts gegen mich unternehmen. Aber wie soll ich es auch nur einen Tag länger mit ihm aushalten? Im Gegensatz zu ihm bin ich eine miserable Schauspielerin. Und ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie die drohende Gefahr abwenden kann.

Als Rainer nach seiner Arbeit in ihr Zimmer kommt, tut sie so, als würde sie schon schlafen. Sie hat endlich einen Entschluss gefasst. Es wird nicht leicht sein, denkt sie, aber ich habe keine Wahl. In dieser Nacht schläft sie wenigstens einige Stunden. Ihr Wecker geht so früh, dass sie das Haus verlassen kann, bevor Rainer aufsteht. Auf dem Frühstückstisch hat sie ihm die Nachricht hinterlassen, dass es ihr besser geht und sie ihn darum bittet, sie gleich nach Feierabend von der Arbeit abzuholen.

Noch nie ist ihr ein Tag gleichzeitig so entsetzlich lang und trotzdem viel zu kurz vorgekommen, und nie zuvor hat sie so wenig zustande gebracht wie heute. Vor dem, was vor ihr liegt, hat sie Angst, begründete Angst. Was ist, wenn mein Plan nicht funktioniert, denkt sie, oder wenn Rainer etwas merkt? Ich kann nicht gut lügen, also muss ich mich zusammenreißen, das ist meine einzige Chance.

Auch dieser Arbeitstag geht irgendwann seinem Ende entgegen. Thekla tritt vor den Spiegel und gibt sich besonders viel Mühe mit ihrem Aussehen. Die Ringe unter ihren Augen überdeckt sie mit einer dicken Schicht Schminke. Rainer muss glauben, dass alles so ist wie immer. Als er schließlich vor ihr steht, hat sie sich gründlich auf das Treffen vorbereitet. »Lass uns heute wieder einmal zu unserem Lieblingsplatz fahren!«, bittet sie ihn. »Wir sind so lange nicht dort gewesen, und ich habe eine Überraschung für dich.«

Für einen kaum wahrnehmbaren Moment sieht Rainer erschrocken aus. Hätte Thekla ihn nicht so genau beobachtet, hätte sie nur sein breites Lächeln gesehen. Natürlich, denkt er entsetzt, das ist es! Ihre Übelkeit, das blasse Aussehen! Aber sie hat die Pille doch erst vor kurzem abgesetzt, und ich habe so aufgepasst – was mache ich denn nun! Laut sagt er hingegen: »Eine Überraschung, wie schön! Da bin ich aber gespannt. Kannst du es mir nicht jetzt schon verraten?« »Leider nicht! Aber es dauert ja nicht allzu lange, bis wir dort sind.« Lächelnd windet sie sich aus seinen Armen, als er sie küssen will.

Eine gute Stunde später stehen sie vollkommen allein auf einer kleinen Anhöhe im Dänischen Wohld – fernab von Häusern und Straßen. Von hier aus kann man die blausilbern glänzende Ostsee erkennen, darüber erstreckt sich ein strahlend blauer Himmel. Genau hier hat Rainer sie damals zum ersten Male geküsst. »So, mein Schatz, jetzt bin ich auf deine Überraschung gespannt,« sagt Rainer so gefasst wie möglich. »Nur noch einen Moment,« erwidert sie, »erinnerst du dich an unseren ersten Kuss?« »Nur allzu gerne!«, erwidert er.

Krächzend fliegen ein paar Raben hoch, als Thekla sich eng an ihn schmiegt. Da nimmt er sie in seine Arme und küsst sie – küsst sie so lange, bis er ein unangenehmes Kribbeln auf der Zunge verspürt, das sich schnell in seinem ganzen Körper ausbreitet. Sein Gesicht wird krebsrot und schwillt an, seine Luftnot wird rasch stärker, dann sackt er kraftlos zu Boden.

Thekla wartet ab, bis Rainer das Bewusstsein verloren hat. Nach der Anspannung der vergangenen Tage wird sie auf einmal ganz ruhig. Es ist, als wäre sie unbeteiligt und würde lediglich einen Film sehen, dessen Ende sie nicht beeinflussen kann. Nach einer Weile holt sie ihr Handy aus der Tasche und gibt die Nummer des Rettungsdienstes ein. »Bitte kommen sie schnell, mein Mann hat einen allergischen Schock!«, sagt sie mit drängender Stimme und gibt so gut es geht ihren Standort an.

Noch einmal schaut sie zu ihm hinunter. »Der Krankenwagen wird leider zu spät eintreffen, Rainer. Diesmal hat der Kuss nach Nüssen geschmeckt, nicht wahr?« Doch er kann sie nicht mehr hören.

Kalt

Es ist kalt geworden, richtig kalt. Tagelang hat es geschneit, und das im März. Danach hat es ein paar Tage lang so ausgesehen, als ob es Frühling würde. Aber die Sonne hat nur einen Bruchteil der gewaltigen Schneemassen auftauen können, hat nur gerade lange genug geschienen, um die Pfützen aus aufgetautem Schnee in spiegelglatte Eisflächen zu verwandeln.

Genau das richtige Wetter, denkt Marc, nimmt den Autoschlüssel in die Hand und blickt sich ein letztes Mal in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung um. Ja, es ist alles genau so, wie es sein soll – nicht zu unordentlich, aber auch nicht penibel aufgeräumt. Die Zeitung liegt wie immer auf dem Küchentisch, die Kissen auf der Sitzbank sind leicht zerknautscht und sein leerer Becher steht wieder auf dem Bord über der Kaffeemaschine. Nur der Brief, den er auf Fionas Schreibtisch gelegt hat, wird von dem Chaos in seinem Inneren berichten.

Er hat lange darüber nachgedacht, was er ihr hinterlassen soll, ob er diesen Brief überhaupt schreiben soll. Doch sie hat es nicht verdient, im Ungewissen zurückgelassen zu werden. Es ist ihm nicht leicht gefallen, die Abgründe der eigenen Seele zu Papier zu bringen, genau die Worte zu finden, die ihr erklären sollen, warum er es tun muss, warum ihm keine andere Wahl bleibt.

Natürlich weiß Fiona, dass ihm seine Krankheit immer mehr zusetzt. Er leidet sehr darunter, nicht mehr so beweglich zu sein wie früher. Noch kann er sich allein und mit Hilfe eines Stockes in der Wohnung hin und her bewegen. Noch kann er bei schönem Wetter nach draußen und dort ein wenig spazierengehen. Bei schönem Wetter, nicht bei Eis und Schnee wie heute. Aber allzu bald werden ihm seine Beine nicht mehr gehorchen und er wird im Rollstuhl sitzen müssen, mit nicht einmal vierzig Jahren. Er, der frühere Tennischampion aus Gettorf, der jahrelang im Kreis Rendsburg-Eckernförde die Pokale abgeräumt hat, etliche Turniere in Kiel und einmal sogar in Hamburg gewonnen hat.

Sein Blick gleitet wie automatisch über das Regal im Wohnzimmer mit den vielen glänzenden Pokalen, die er seiner eisernen Disziplin beim Training und seinem ungebeugten Siegeswillen zu verdanken hat. Ein kleiner Rest dieses eisernen Willens wird ihn heute für immer von seinen Qualen befreien – ihn und Fiona. Dass sie nicht mehr so glücklich ist wie früher spürt er schon länger. Ihr fröhliches Lachen ist nahezu verschwunden, und ihr müdes Lächeln erinnert nicht im Entferntesten an die Fiona von früher, die ihn immer mit strahlenden Augen angesehen hat. Vor einer Woche hat er ihr Lachen noch ein einziges Mal gehört. Doch es hat nicht ihm gegolten, sondern seinem Schulfreund Tim. Das hat ihn endgültig niedergeschmettert. Seit diesem Moment weiß er, dass es keinen anderen Ausweg für ihn gibt.

Vielleicht hat sie ihn sogar schon betrogen? Tim und Fiona – bei diesem Gedanken wird ihm kalt. Eine Klammer aus Eis legt sich um seine Schultern und lässt ihn nicht mehr los. Die Kälte kriecht weiter in seine Arme und Beine, bis sie seinen Körper ganz durchdrungen hat. Unwillkürlich berührt er mit der Hand den Heizkörper unter dem Wohnzimmerfenster. Er ist angenehm warm, aber die Wärme dringt nicht bis zu seinen Gliedmaßen vor. Es ist so, als wolle sein Körper nicht mehr warm werden, als wisse er bereits um die Kälte, die ihm bevorsteht. Eine Kälte, die unausweichlich auf ihn zukommt, eine endgültige Kälte.

Seine Augen suchen das Bild, das ihm so sehr ans Herz gewachsen ist. Fiona steht mit den Füßen im Wasser, hält eine weiße Herzmuschel in ihrer Hand und blickt ihn freudestrahlend an. Alles an ihr lacht: ihr Mund, ihre Augen und sogar ihre Hände, während ihre blonden Locken im Wind hin und her flattern. Dieser Urlaub auf Sylt hat sein Leben verändert. Zusammen mit Fiona sind Liebe und Glück bei ihm eingezogen. Mit ihr hat er die schönsten Jahre seines Lebens verbracht, und er ist froh um jede Minute, die er mit ihr zusammen gewesen ist.

Jetzt ist ihm nicht mehr kalt. Ruhig steht er vor ihrem Bild und betrachtet es so intensiv wie nie zuvor. Dieses Bild möchte Marc in seinen letzten Sekunden vor Augen haben, mit ihrem Lächeln in seinem Herzen will er dem Tod entgegensehen. Die Zeit der Ungewissheit ist vorbei, es ist richtig, was er vorhat. Er wird kein unwürdiges Leben führen, in dem er wie ein kleines Kind betreut und versorgt werden muss. So einen Menschen kann Fiona nicht gebrauchen, niemand kann so jemanden gebrauchen. Und sie hat es nicht verdient, mit einem verbitterten alten Mann im Rollstuhl zusammenzuleben, mit einem Mann, der ihr nur das Leben schwer macht.

Fiona ist wie ein Vogel, der fröhlich und unbeschwert in einer bunten Welt herumfliegt. Jemand wie sie darf keine Fesseln an den Flügeln haben, das könnte er nicht ertragen. Noch ist Marc sein eigener Herr, noch kann er selbst darüber entscheiden, wie er leben möchte und wie nicht. Nein, er wird nicht abwarten, bis sie einen neuen Partner gefunden hat oder bis er in einem dieser schrecklichen Heime gelandet ist, in denen keine Selbstbestimmung mehr möglich ist. Genau das hat er ihr in seinem Abschiedsbrief geschrieben.

Eisiger Wind bläst ihm entgegen, als er die Haustür hinter sich schließt. Mühsam humpelt Marc zum Auto und kratzt die vereisten Scheiben frei. Am liebsten würde er jetzt zurück in die warme Wohnung gehen und noch einen Kaffee trinken. Doch er hat seinen Entschluss gefasst, und nichts soll ihn davon abhalten.

Bei diesem Wetter schleppt sich der Verkehr quälend langsam durch die kleine Gettorfer Innenstadt. Hoch ragt der Turm der alten Backsteinkirche über den übrigen Gebäuden empor. Es ist ein imposantes gotisches Bauwerk, eine Sehenswürdigkeit, die ihresgleichen sucht. In jedem Sommer kommen zahlreiche Touristen nach Gettorf, um sich diese Kirche anzusehen. Doch Marc versetzt ihr Anblick einen schmerzhaften Stich ins Herz. Muss er gerade jetzt an seine Hochzeit mit Fiona erinnert werden? Muss er in diesem Moment darauf hingewiesen werden, dass er vor Gott und den Menschen gelobt hat, in guten wie in schlechten Tagen zu ihr zu halten? Ist der Weg, auf dem er sich jetzt befindet, nicht so schon schwer genug? Aber genau genommen hält er sich ja an sein Versprechen. Er bleibt mit ihr zusammen, bis dass der Tod sie scheidet. Nichts anderes hat er vor.

Die meisten Autofahrer vor ihm biegen ab auf die B76, aber Marc fährt weiter geradeaus. Die Bundesstraße ist für sein Vorhaben zu gut geräumt und viel zu dicht befahren. Er möchte auf keinen Fall andere Verkehrsteilnehmer gefährden oder verletzen. Die Nebenstrecke über Osdorf ist viel geeigneter für sein Vorhaben. Er kennt diesen Weg gut, weil er ab und zu den Sondermüll zum Recyclinghof am Kubitzberg gebracht hat. Die Straße ist nicht sehr befahren und besitzt mehrere Kurven, in denen er seinen Wagen frontal gegen einen Baum lenken kann, ohne andere Autofahrer in Gefahr zu bringen.

In Osdorf biegt er rechts ab. Wieder kriecht eisige Kälte in ihm empor, aber er verweigert sich ihr nicht. Diese Kälte ist sein Verbündeter, sie wird ihm dabei helfen, seine Tat schnell zu Ende bringen zu können. Hinter dem Ortsschild beschleunigt er den Wagen. Die Fahrbahn ist notdürftig geräumt und rutschig, doch das Lenkrad liegt ruhig und sicher in seiner Hand. Er muss nur noch eine geeignete Linkskurve abwarten. In Gedanken beschwört er das Bild seiner Frau herauf – Fiona, wie sie mit den Füßen in der Nordsee steht und ihn anlacht, mit ihrem ganzen Wesen – ihn anlacht, nur ihn.

Ein plötzliches Geräusch weckt ihn aus seinem tranceartigen Zustand. Auf der Gegenfahrbahn ist ein Auto ins Schleudern gekommen, dreht sich einmal um sich selbst, schliddert von der Straße hinunter und kracht gegen einen Baum. Ohne zu überlegen tritt Marc auf das Bremspedal, rutscht selbst am rechten Fahrbahnrand entlang und kommt schlingernd vor einem Gebüsch zum Stehen. Er greift seinen Stock, klettert mühsam aus dem Auto heraus und humpelt so schnell er kann über die Straße auf das Unfallauto zu. Nicht umsonst ist er jahrelang ein aktives Mitglied der Johanniter Unfallhilfe gewesen. Er weiß, dass Hilfe schnell kommen muss, wenn sie Erfolg haben soll.

Hinter der Beifahrertür erscheint eine kleine Frau, sieht ihn mit schreckensbleichem Gesicht an und stammelt: »Helfen Sie mir, da, mein Mann, bitte, bitte!« Marc hat schon verstanden, öffnet die Fahrertür, schüttelt den Kopf und reicht ihr sein Handy. »Rufen Sie den Rettungsdienst, schnell!« Dankbar nimmt sie das Handy entgegen, nun kann sie wenigstens etwas für ihren Mann tun.

Marc fasst unter den Fahrersitz, drückt den Hebel nach oben und zerrt solange am Sitz, bis der ein wenig nach hinten gerutscht ist. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelingt es ihm tatsächlich, den eingeklemmten Körper des Mannes zwischen Sitz, Gurt und dem aufgeblasenen Airbag hervorzuholen.

Ich habe gar nicht gewusst, wie viel Kraft noch in meinen Armen steckt, denkt er erstaunt. Vorsichtig zieht er den Bewusstlosen aus dem Auto heraus, bis dessen Körper auf dem gefrorenen Boden neben dem Auto liegt. Ungeachtet der Kälte um ihn herum lässt sich Marc neben dem Mann auf die Knie nieder und hält eine Hand dicht vor das Gesicht des Unfallopfers. Wie befürchtet spürt er nicht den leisesten warmen Hauch. Rasch tastet er nach dem Puls des Bewusstlosen, aber da gibt es nichts mehr zu fühlen, das Herz dieses Mannes hat bereits aufgehört zu schlagen.

Sofort beugt er sich hinunter, überstreckt den Kopf des Mannes, hält ihm die Nase zu und umschließt mit seinen Lippen den Mund des Bewusstlosen. Dreimal bläst er ihm Luft in seine Lungen hinein. Dann öffnet er hastig die Jacke des Unfallopfers, führt seine Hände über dessen Oberkörper zusammen und drückt mit seinen Handballen immer wieder fest auf den Brustkorb des Mannes, genau dort, wo das Herz sitzt. Danach beatmet er ihn erneut. In gleichmäßigem Wechsel sorgt er dafür, dass die Lungen des reglos vor ihm liegenden Mannes den lebensnotwendigen Sauerstoff erhalten und das Blut aus dem Herzen in die Arterien gepumpt wird.

Eine schier endlos andauernde Minute vergeht, aber Marc gibt nicht auf. Er spürt die Kälte nicht mehr, von der Anstrengung sind ihm die Hände warm geworden. Zum ersten Mal seit langem fühlt er sich wirklich gebraucht, weiß er, dass er helfen kann, nur er allein. Während die kleine Frau neben ihm kniet und ein Stoßgebet nach dem anderen über ihre Lippen kommt, geschieht das Wunder: das Herz des Mannes beginnt wieder zu schlagen, sein Brustkorb hebt sich zu einem ersten Atemzug.

»Sie hat der Himmel geschickt!«, sagt die Frau inbrünstig. »Sie auch,« erwidert Marc leise, aber das kann sie natürlich nicht verstehen. Es bleibt auch keine Zeit, ihr das zu erklären, denn jetzt geht alles ganz schnell. Der Mann am Boden schlägt die Augen auf, seine Frau beugt sich über ihn und reibt mit ihren Händen sein Gesicht warm, während Marc ihn fest in seinen eigenen Wintermantel hüllt, damit der Verletzte nicht auskühlt. »Ist Ihnen nicht kalt?«, fragt ihn die Frau, aber Marc schüttelt mit dem Kopf. »Nein,« sagt er, »mir ist nicht kalt, behalten Sie den Mantel!«

Der Krankenwagen mit dem Verletzten und seiner Frau ist längst auf dem Weg ins Krankenhaus, als Marc immer noch weinend hinter dem Steuerrad seines Wagens sitzt. Es sind erlösende, heilsame Tränen. Er weiß jetzt, dass er immer noch gebraucht wird, dass sich das Leben unvermittelt ändern kann und niemand die nächsten Monate oder Jahre vorherzuberechnen vermag.

Beim Gedanken an Fiona wird ihm warm ums Herz. In der letzten Zeit hat er viele Fehler begangen, besonders ihr gegenüber. Er hat nur noch an seine eigene Situation gedacht, ist kalt und abweisend gewesen. Aber das ist nun, Gott sei Dank, Vergangenheit.

Mit zitternden Fingern dreht Marc den Autoschlüssel und startet den Wagen. Er muss unbedingt wieder zu Hause sein, bevor Fiona den Brief findet, aber er muss auch sehr vorsichtig fahren, denn draußen ist es immer noch glatt und kalt.

Die Geige im Rapsfeld

Sorgfältig faltet er den Briefbogen und steckt ihn so hinter die rechte Ecke des Bildes, dass er weit genug hervorguckt. Hier wird sie ihn ganz bestimmt finden, denkt er, sie geht nie aus dem Haus, ohne einen Blick aus dem Fenster zu werfen, und das Bild hängt direkt daneben. Dieses Bild zieht ihn immer noch in seinen Bann, auch nach so vielen Jahren. Die gelben Rapsblüten leuchten in der Sonne, Bienen fliegen aufs Feld hinaus oder kehren mit gelblich gepuderten Beinchen zurück zum Bienenstock. Roter Mohn und blaue Kornblumen setzen farbliche Akzente. Und über dem Feld, direkt vor dem blauen Himmel, sieht man verschiedene Musikinstrumente, die dort zu tanzen scheinen. Wie vom Winde verweht sehen sie aus, oder sind es nur Wolken, die bestimmte Formen angenommen haben? Am deutlichsten erkennbar ist die Geige in der Mitte des Feldes, sie scheint direkt aus den Rapsblüten emporzuschweben. Und wieder muss er daran denken, was damals geschehen ist.

»Warte auf mich, Mareile!«, ruft Johann seiner Schwester zu. »Ich helfe dir tragen!« Mareile bleibt stehen und dreht sich um, wobei ihr Pferdeschwanz auf entzückende Weise hin und her wippt. Sie ist erst zwölf Jahre alt, trägt einen großen Schulranzen auf dem Rücken, in der linken Hand ihre Sporttasche und in der rechten einen sperrigen Geigenkasten. »Danke, Johann!«, seufzt sie erleichtert. Er lächelt sie liebevoll an, hängt sich ihre Sporttasche über die Schulter und nimmt ihr den Geigenkasten ab.

Johann ist fast sechs Jahre älter als seine kleine Schwester. Jahrelang hatte er sich einen Bruder zum Fußballspielen gewünscht, aber als Mareile geboren wurde, hat er das kleine hilflose Bündel sofort lieb gewonnen. Voller Stolz hat er sie auf dem Arm herumgetragen, liebevoll mit ihr gespielt und geduldig alles aufgehoben, was ihr heruntergefallen ist. Vor ihrem sechsten Geburtstag hat er ihr das Lesen beigebracht, und seit zwei Jahren unterrichtet er sie im Geige spielen. Wenn er im nächsten Jahr Abitur macht, wird sie schon mit dreizehn Jahren im Schulorchester mitspielen dürfen.

»Und, hast du deinen Aufsatz zurückbekommen?«, fragt er sie. »Ja, hab ich,« erwidert sie tonlos. »Oh weh, hast du eine schlechte Note bekommen? Du hattest doch so ein gutes Gefühl!« »Nein.« »Nun sag schon, was ist denn passiert?« »Ach, Frau Gössen hat mich gelobt und aus meinem Aufsatz vorgelesen, vor der ganzen Klasse! Du weißt schon, wie ich die angefahrene Katze aufgehoben und zu Onkel Hermann gebracht habe. Wir sollten darüber schreiben, was wir später einmal werden wollen, und ich möchte doch Tierärztin werden. Nach der Stunde haben mich die blöden Jungs wieder geärgert und »heile heile Gänschen, Mareile mit dem Schwänzchen« gerufen und »Streberin, Streberin, bist ’ne dumme Bäuerin!«

»Das ist gemein, Mareile. Aber die sind nur neidisch auf deine guten Zensuren. Zum Glück sind ja nicht alle so! Was haben denn deine Freundinnen dazu gesagt?« »Ach, die haben selber Angst vor denen und hatten es sehr eilig, nach Hause zu kommen.« »Nun, jetzt bin ich ja da. Am Montag fahren wir zusammen zur Schule, und in den Pausen werde ich immer in deiner Nähe sein. Die sollen sich nur trauen, dann werden sie schon sehen, was sie davon haben!«

In diesem Moment klingeln mehrere Fahrradklingeln gleichzeitig, und direkt neben Mareile, im Abstand von nur wenigen Zentimetern, fahren in schnellem Tempo mehrere Fahrräder an ihr vorbei. Vor lauter Schrecken verliert sie das Gleichgewicht und fällt auf den Boden, noch ehe Johann sie auffangen kann. »Ihr Blödmänner ihr!«, brüllt er wütend, legt den Geigenkasten für einen Moment zur Seite und hilft seiner Schwester wieder hoch. In diesem Moment kommt noch ein Radfahrer, stoppt für einen Moment, schnappt sich die Geige und fährt mit ihr davon.

»Haltet den Dieb!«, brüllt Johann und ruft Mareile zu: »Warte auf mich an der Bushaltestelle!«, während er schon hinter dem Dieb her läuft. So eine Unverschämtheit, denkt er wütend. Wenn ich den Kerl erwische, kann er sich auf was gefasst machen! Die Geige hat er nämlich von seinem Großvater geerbt, und sie ist ziemlich wertvoll. Falls Johann sie nicht wiederbekommt, können Mareile und er das Geige spielen vergessen. Niemand in ihrer Familie hat auch nur annähernd Geld genug, um ein derart teures Instrument kaufen zu können.

Jetzt stellen sich ihm auch noch die Fahrradfahrer von vorhin in den Weg. »Nicht so hastig!«, ruft ihm einer der Jungen höhnisch zu. Wortlos packt Johann das nächste vor ihm stehende Rad, zerrt den Fahrer vom Sattel, steigt selbst auf das Rad und fährt los. Er kann gerade noch erkennen, wie der Dieb in einen Feldweg einbiegt, doch als er selbst die Abzweigung erreicht, ist der Radfahrer bereits verschwunden.

Ohne zu zögern fährt Johann hinterher, vorbei an Äckern und Feldern. An jedem noch so schmalen Seitenweg steigt er kurz ab, um nach frischen Reifenspuren zu suchen. Er schaut sogar hinter den Gebüschen nach, hinter denen man sich verstecken könnte, doch jedes Mal vergeblich.

Irgendwann kommt ihm ein junger Mann entgegen. Beim Näherkommen erkennt er ihn, es ist Werner, ein Junge aus dem Schulorchester. »Hallo Werner, hast du einen Fahrradfahrer gesehen?«, fragt er ihn völlig außer Atem. »Wieso, hast du deinen Beifahrer verloren?«, meint der grinsend.

»Mir ist nicht nach Witzen zumute,« erwidert Johann ernst und erzählt ihm von dem Dieb auf dem Fahrrad, der die wertvolle Geige mitgenommen hat. »Ich habe so eine Wut im Bauch!«, sagt Johann ganz erregt. »Der scheint überhaupt nicht zu wissen, wie wertvoll die Geige ist und wie leicht so ein Instrument zu Schaden kommen kann! Ich verstehe das nicht, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«

»Ja, das ist merkwürdig,« meint Werner, »ich habe keinen Menschen getroffen. Hier wohnt ja auch niemand. Wie gemein, dir deine Geige zu stehlen!« Er zeigt Johann einen Strauß aus Mohn- und Kornblumen. »Schau, die habe ich gerade gepflückt, die sind für Irene. Sie liebt solche Blumen.« »Ja, sehr schön,« erwidert Johann abwesend, »na, dann muss ich wohl umkehren. Bis dann!«

Johann wendet das Fahrrad und fährt zurück. Auf der Straße kommt ihm einer der Jungen entgegen, die Mareile so erschreckt haben. Wortlos übergibt ihm Johann das Fahrrad und läuft zur Bushaltestelle. Dort sitzt Mareile wie ein Häufchen Elend. Erst jetzt bemerkt Johann, dass ihr rechtes Knie blutet. »Entschuldige bitte, dass es so lange gedauert hat! Tut es sehr weh?« »Nein, fast gar nicht,« erwidert sie leise, »was ist mit der Geige?« »Ich habe den Kerl leider nicht einholen können. Weißt du vielleicht, wer das war?« Mareile schüttelt den Kopf. »Nein, ich habe ihn ja nur von hinten gesehen. Ich bin so froh, dass du wieder da bist!«

Zu Hause schlägt ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Mareile kreidebleich und mit blutendem Knie zu sehen bekommt. Sie desinfiziert die Wunde und klebt ein großes Pflaster darüber. Weder Mareile noch Johann erwähnen den Diebstahl der Geige. Sie wissen genau, dass sich ihre Eltern fürchterlich darüber aufregen würden.

»Was machen wir denn jetzt wegen der Geige?«, fragt Mareile, als sie mit Johann allein im Kinderzimmer ist. »Die hole ich mir schon wieder, keine Sorge, Schwesterchen!«, erwidert er und versucht, dabei so zuversichtlich wie möglich zu klingen. Aber in Wahrheit hat er keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen soll.

Wo habe ich nur wieder meine Schlüssel, denkt Angelika, durchwühlt die Flurkommode, sucht in ihrem Arbeitszimmer und dann im Esszimmer. Dort muss sie lächeln. Natürlich, ich habe sie extra neben meinen Platz gelegt!

Sie steckt ihr Schlüsselbund in die Hosentasche und schaut aus dem Fenster, um zu sehen, ob sie lieber einen Schirm mitnehmen sollte. Dabei streift ihr Blick unwillkürlich das Bild neben dem Fenster. Die Geige im Rapsfeld, denkt sie, irgendwie ist es immer noch mein Lieblingsbild. Aber was ist das denn? Sie geht zum Bild und nimmt den Briefbogen in die Hand, der rechts oben hinter dem Bildrand steckt.

»Nimm dir heute Abend frei, ich komme etwas früher,« steht dort in kleinen Buchstaben in der regelmäßigen, schön geschwungenen Schrift, die sie besser kennt als jede andere. Sie überlegt angestrengt, ob heute ein besonderer Tag ist, den sie vergessen haben könnte. Doch heute ist weder ihr Hochzeitstag noch jährt sich der Tag, an dem sie ihren Mann kennengelernt hat, oder der wunderschöne Tag am Nordseestrand, an dem er sie im rotgoldenen Schein der Abendsonne gefragt hat, ob sie seine Frau werden möchte.

Sie schaut wieder auf das Bild, das sie vor vielen Jahren selbst gemalt hat und mit dem damals ihr Erfolg als Malerin begann. Wie immer, wenn ihr Blick darauf fällt, muss sie an das sechzehnjährige Mädchen denken, das sie damals war, unbekümmert und voller Abenteuerlust.

»So, Angelika, nun geht’s los!«, sagt Opa Gerd zu seiner Enkelin und nimmt vorsichtig die Schutzbezüge von den Bienenstöcken. Gespannt wartet sie darauf, was gleich geschehen wird. Es ist Sonntag, und sie hat ihrem Großvater dabei geholfen, die beiden Bienenstöcke aufzubauen, direkt neben dem Rapsfeld, das auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Weges beginnt. Wie jedes Jahr im Mai leuchten die Blüten in einem wunderschönen Gelb, das sich fast bis zum Horizont erstreckt. Angelika hat ihren Zeichenblock mitgebracht und brennt schon darauf, den blühenden Raps auf einem Bild festzuhalten, am besten zusammen mit rotem Klatschmohn und blauen Kornblumen. Aber zunächst möchte sie den spannenden Moment verfolgen, in dem die Bienen zu fliegen beginnen.

Zuerst wagen sich nur wenige Bienen ins Freie, danach immer mehr, und schließlich schwärmen sie in großer Schar aus dem Dunkel ans Licht und zu den sonnengelben Blüten. Es scheinen Hunderte von Bienen zu sein, die von einer Blüte zur nächsten fliegen und mit ihren feinen Saugrüsseln den Nektar aufnehmen.

Aufmerksam verfolgt Angelika die kleinen Flugkünstler. Mit der Hand über den Augen schützt sie sich vor den blendenden Sonnenstrahlen. Opa Gerd hat sich ein wenig abseits auf seinen dreibeinigen Klapphocker gesetzt und seine Pfeife angesteckt. »Das is’ gut gegen die Bienenstiche,« hat er ihr einmal erklärt. Doch inzwischen weiß sie, dass er es genießt, so in der Sonne zu sitzen und dabei ein wenig zu ‚schmöken‘, wie er es nennt.

Angelika klettert die kleine Anhöhe hinauf und kann nun das ganze Rapsfeld überblicken. Sie sucht den Feldrand mit ihren Augen nach Klatschmohn und Kornblumen ab, aber heute kann sie nicht eine einzige Blüte erkennen. Enttäuscht will sie zu ihrem Großvater zurückkehren, da entdeckt sie einen Pfad, der mitten in das Feld hinein führt. Ist Bauer Jensen hier längsgegangen?, überlegt sie. Aber dann schüttelt sie den Kopf. Der Bauer wäre niemals so lieblos mit seinem Raps umgegangen. Hier ist jemand rücksichtslos durchs Feld getrampelt.

Aufmerksam sieht sie sich um, aber es ist niemand zu sehen. Da beschließt sie, dem Pfad durch das Rapsfeld zu folgen. Ich wüsste zu gern, wer hier gewesen ist, denkt sie, und vor allem warum. Nach einigen Metern gibt es auf der rechten Seite des Weges eine Stelle, an der die Rapspflanzen großflächig am Boden liegen. Was mag hier passiert sein?, überlegt sie, hat jemand etwa mitten im Feld ein Picknick veranstaltet?

Der Trampelpfad führt immer weiter, richtig tief in das Feld hinein. Irgendwann kommt Angelika an eine Stelle, an der er abbiegt und wieder zurück zur Straße zu führen scheint. Hier sind besonders viele Rapspflanzen zertreten. Na wunderbar, denkt sie, noch mehr zertretene Pflanzen! Hätte dieser Idiot nicht wenigstens auf dem gleichen Weg zurückgehen können? Aber was ist das denn! Nur wenige Meter von hier entfernt liegt etwas auf dem Boden.

Das ist ja eine Geige, denkt sie überrascht. Merkwürdig, eine Geige, hier? Erstaunt und ein wenig ratlos schaut sie sich um. Aber es ist niemand da, der etwas mit diesem seltsamen Fund zu tun haben könnte. So eine Geige ist doch viel zu wertvoll, die wirft man nicht so einfach weg! Und wenn doch, warum liegt sie dann hier, so weit draußen auf dem Feld?

Angelika schüttelt den Kopf, doch dann hat sie eine Idee. Natürlich, denkt sie, die hat jemand hier im Feld versteckt, und bestimmt nicht ihr Besitzer. So eine Gemeinheit! Sie bückt sich und hebt die Geige auf. Darunter liegen ein paar zerbrochene Teile von etwas, das einmal der Geigenbogen gewesen sein muss. Angelika hebt sie ebenfalls auf und läuft so schnell sie kann den Trampelpfad zurück zu ihrem Großvater. »Guck mal Opa, was ich im Feld gefunden habe,« ruft sie ihm völlig außer Atem zu. »Und sieh nur, der Bogen ist ganz kaputt!«

Opa Gerd nimmt die Geige in die Hand, untersucht sie sorgfältig und betrachtet den Bogen. Er ist mehrfach zerbrochen, so dass man ihn nicht mehr reparieren kann. Die Geige selbst ist voller Blütenstaub, zwei ihrer Saiten sind gerissen, doch ansonsten scheint sie nicht weiter beschädigt zu sein. »Nee, so was aber auch,« sagt er, »was für eine ausgefuchste Gemeinheit!« Gemeinsam überlegen sie, wie sie jetzt am besten vorgehen sollten: die Geige zum Fundbüro bringen, eine Anzeige im Tagesblatt aufgeben oder herumfragen, wer wohl im Ort Geige spielt und sein Instrument vermisst.

»Ich hab’s!«, sagt Angelika schließlich. »Das sieht alles ganz nach einem bösen Schülerstreich aus. Am besten frage ich morgen Herrn Riemke, unsern Musiklehrer, ob jemand seiner Schüler eine Geige vermisst.« »Das ist eine gute Idee, Angelika, das machst du! Und ich nehme die Geige mit nach Haus und versuche, sie wieder ein bisschen schmucker und sauberer zu machen.«

Am Montagmorgen fährt Angelika wie immer mit dem Bus zur Schule nach Preetz. Da sie noch eine Viertelstunde Zeit hat, bis der Unterricht beginnt, nimmt sie ihren Mut zusammen und klopft ans Lehrerzimmer. Erst nach dem zweiten, nicht ganz so zaghaften Versuch öffnet sich die Tür, und Herr Hagen, ihr Deutschlehrer, steht vor ihr. »Hallo Angelika, was gibt’s?«

»Guten Tag, Herr Hagen! Ist Herr Riemke da?« »Herr Riemke? Moment mal!« Der Lehrer verschwindet wieder hinter der Tür und kommt kurz darauf kopfschüttelnd zurück in den Flur. »Leider nicht, Angelika! Vielleicht ist er im Musikraum, schau dort einmal nach!« »Vielen Dank, Herr Hagen,« antwortet sie und läuft nach oben zum Musikraum.

Schon von weitem hört sie den Klang mehrerer Blockflöten, die noch etwas unsicher Beethovens ‚Freude, schöner Götterfunken‘ spielen. Leise betritt sie den Musikraum und bleibt ganz hinten stehen, um nicht zu stören. »Ja, das war schon viel besser!«, hört sie schließlich Herrn Riemke mit seiner volltönenden Bassstimme sagen. »Wenn ihr weiter fleißig übt, schaffen wir das bis zur Aufführung am Schuljahrsende. Wir sehen uns dann am Donnerstag, wieder zur nullten Stunde.«

Die Jungen und Mädchen packen ihre Instrumente ein und gehen. »Nun, Angelika,« fragt Herr Riemke freundlich, »möchtest du auch im Schulorchester mitspielen?« »Nein, äh, ja, vielleicht im nächsten Schuljahr,« sagt sie verlegen. Von ihren Eltern hat sie gelernt, dass Kinder nicht ungefragt mit Erwachsenen sprechen sollen, also wartet sie ab, bis der Musiklehrer von sich aus zu fragen beginnt. »Warum bist du dann zu mir in den Musikraum gekommen?«

»Mein Großvater und ich, wir sind gestern mit seinen Bienen beim Rapsfeld gewesen. Und dann habe ich mitten im Feld eine Geige gefunden. Mein Großvater meint, dass sie sehr gut gearbeitet ist und bestimmt wertvoll. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob vielleicht einer Ihrer Schüler eine Geige vermisst.«

Erstaunt blickt Herr Riemke sie an. »Eine Geige, mitten im Rapsfeld? Das ist äußerst ungewöhnlich.« Er überlegt einen Moment lang. »Nein, da fällt mir niemand ein, aber vielleicht weiß ich nach der Orchesterprobe mehr. Komm doch morgen noch einmal bei mir vorbei!« »Ja gerne, Herr Riemke.«

In diesem Moment hört man ein schrilles Klingeln. Angelika schreckt zusammen. Dies ist schon das zweite Läuten, und sie will auf keinen Fall zu spät zum Unterricht kommen. Sie verabschiedet sich hastig und läuft aus dem Musikzimmer, rennt den Flur entlang und zwei Stockwerke nach unten. Gerade noch rechtzeitig vor dem Mathematiklehrer erreicht sie ihre Klasse.

Wieder zu Hause beeilt sie sich mit den Hausaufgaben, um möglichst bald wieder bei ihrem Opa am Rapsfeld zu sein. Enttäuscht erzählt sie ihm, dass sie nicht herausfinden konnte, wem die Geige gehört. Ihr Großvater hat sich ebenfalls erkundigt und dabei erfahren, dass niemand in seiner Nachbarschaft Geige spielt. »Vielleicht sollten wir doch eine Zeitungsanzeige aufgeben?«, fragt Angelika ihn. Doch er wiegt seinen Kopf ein paar mal hin und her und meint: »Warte man noch ’n bisschen!«

Am Montagmorgen kann sich Johann kaum auf seine Unterrichtsstunden konzentrieren. Ständig muss er daran denken, wie er seinem Musiklehrer erklären soll, dass er nicht an der Orchesterprobe teilnehmen kann. Er hasst es zu lügen, aber ihm wird wohl nichts anderes übrig bleiben, wenn seine Eltern nichts vom Verschwinden der Geige erfahren sollen. Eigentlich gibt es nur einen Grund dafür, dass ich nicht mitspielen kann, denkt er, ich muss eine Verletzung vortäuschen.

In der großen Pause geht er nach oben zum Musikraum, wo Herr Riemke gerade seine Eintragungen ins Klassenbuch vornimmt. Johann wartet ab, bis er damit fertig ist und eine Schülerin mit dem Klassenbuch unter dem Arm den Raum wieder verlassen hat. »Nun, Johann, was kann ich für Sie tun?«, fragt der Musiklehrer freundlich. Johann ist einer seiner begabtesten Schüler und hat in der letzten Zeit große Fortschritte erzielt. Mit Freude hat Herr Riemke ihm vor kurzem mitgeteilt, dass er in diesem Jahr beim Abschlusskonzert die erste Geige spielen darf.

»Es tut mir sehr leid, Herr Riemke,« sagt Johann leise, »ich habe mir gestern die Hand verletzt und kann die Finger der linken Hand nicht genug krümmen.« »Nanu, wie ist das denn passiert! Ihre Hand zeigt doch nur ein paar kleine Ratscher, ist das wirklich so schlimm?«

Johann senkt den Blick und murmelt: »Ja.« »Nun, das tut mir leid für Sie! Dann wird wohl doch wieder Werner die erste Geige spielen müssen. Das ist sehr schade, denn in diesem Jahr sind Sie eindeutig der bessere Spieler.« Wie dumm!, denkt der Musiklehrer bei sich, ich hätte es diesem eingebildeten Fatzke so sehr gegönnt, einmal nicht die erste Geige spielen zu dürfen. »Dann kann ich Ihnen nur gute Besserung wünschen. Gehen Sie auf alle Fälle mit der Verletzung zum Arzt!« »Ja, mache ich, danke schön!«

Johann will gerade den Musikraum verlassen, da kommt Herrn Riemke eine Idee. »Sie haben nicht vielleicht Ihre Geige verloren?« Erschrocken fährt Johann zusammen. »Nein, natürlich nicht!« Für einen Moment lang sieht es so aus, als ob der Musiklehrer lächelt. »Sicher, Johann, aber vielleicht sollten Sie sich einmal mit einer jungen Dame unterhalten, sie heißt Angelika Visser und besucht die Untersekunda.«

Verwirrt verlässt Johann den Musikraum wieder. Wie kommt er bloß darauf, dass ich die Geige verloren haben könnte?, denkt er. Und was hat diese Angelika Visser damit zu tun? Gleich in der nächsten Pause geht er zum Klassenraum der Untersekunda. Doch da ist niemand, auch in der darauffolgenden Pause nicht. Johann kann ja nicht wissen, dass Angelikas Klasse eine Doppelstunde Sport hat und danach frei. Ich muss einfach noch einmal gründlich alles absuchen, vielleicht finde ich irgendeine Spur, die mir weiterhilft, denkt er, diese Angelika kann ich auch morgen noch fragen.

Am Nachmittag fährt er mit seinem Fahrrad genau dorthin, wo er den Dieb zuletzt gesehen hat. Immer weiter folgt er dem Feldweg, vorbei an Feldern und kleinen Knicks. Er untersucht jede Abzweigung und alle Seitenwege, schaut hinter die Bäume und durchsucht alle Büsche, auch wenn er nicht wirklich daran glaubt, dort seine Geige wiederzufinden. Aber er will einfach alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, um Gewissheit zu haben.

Auf einmal lenkt ihn ein helles Lachen von seinen düsteren Gedanken ab. So fröhlich wäre ich jetzt auch gern!, denkt er sehnsüchtig. Da erklingt dieses wundervolle Lachen schon wieder. Neugierig fährt er bis zur nächsten Kurve weiter und erblickt eine schlanke Gestalt, die vor einem sitzenden Mann hin und her hüpft.

»Na, wo hab ich deine Pfeife wohl, rechts oder links?«, fragt Angelika gerade lachend ihren Großvater. Der versucht, so ernst wie möglich auszusehen. »Nun gib sie schon her, Kind, wo bleibt dein Respekt vor Erwachsenen!«, sagt er mit gespielter Entrüstung. »Erst musst du raten, Opa!«, erwidert sie fröhlich, und dann erklingt wieder ihr helles Lachen. »Na gut, also rechts!«, sagt ihr Großvater. »Rechts von dir aus oder rechts von mir aus?« »Ganz egal, Hauptsache, ich bekomme sie wieder, bevor sie ausgeht.«

»Wählen Sie ihre rechte Hand!«, ruft Johann, der inzwischen nahe genug herangekommen ist, um die Situation zu überblicken. Überrascht blicken Angelika und ihr Großvater den Neuankömmling an. »Ja guten Tag auch und vielen Dank!«, sagt Opa Gerd und greift nach Angelikas rechtem Arm.

»Spielverderber!«, ruft sie schmollend und reicht ihrem Großvater die Pfeife. Doch dann blitzen ihre Augen den jungen Mann fröhlich an. »Ich bin Angelika, und du?« »Ich bin Johann, Johann Heinrich.« »Johann Johann Heinrich? Und welche Namen hast du sonst noch? Hast du auch einen Nachnamen?«