Die Geliebte - Hans Herlin - E-Book

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Hans Herlin

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Beschreibung

Die große Liebe zwischen Clara Petacci und Benito Mussolini hat Hans Herlin, der mit all seinen Büchern Bestsellerauflagen erreichte, genau beschrieben. Es ist ein faszinierender Tatsachenroman, der kaum über Politik, sondern fast ausschließlich über menschliche Leidenschaften berichtet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 224

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Hans Herlin

Die Geliebte

Die tragische Liebe der Clara Petacci zu Benito Mussolini

FISCHER Digital

Inhalt

Epilog I12345678910111213141516171819202122232425Epilog II

Epilog I

Es ist der 23. April 1945. Auf dem Mailänder Flughafen Linate blickt Clara Petacci noch immer dem Flugzeug nach, das sich an diesem frühen Morgen über den Dunstschleier erhoben hat. Ein paar frierende Mechaniker schieben die kleine Brücke über das Rollfeld zu den Hallen. Für Clara Petacci wäre es die letzte Brücke gewesen, über die sie in die Freiheit hätte schreiten können.

In wenigen Stunden werden ihre Eltern und ihre Schwester Miriam in Spanien sein. Aber Claras Platz in der Maschine ist leer, in ihrer Handtasche liegen das unbenutzte Flugticket und der spanische Paß, den der General der SS Wolff auf Wunsch Mussolinis allen Mitgliedern der Familie Petacci noch im letzten Augenblick zur Verfügung gestellt hat.

Die Hand mit dem Taschentuch sinkt herab. Clara wendet sich ihrem Bruder Marcello zu, aber sie hört nicht auf das, was er sagt. Seine Worte haben auch in dieser Stunde nicht mehr Kraft als die Beschwörungen und Tränen der Eltern in den Tagen zuvor.

„Du weißt, wie ich darüber denke“, sagt sie. „Ich habe die schönen Jahre mit Mussolini geteilt. Ich werde auch jetzt bei ihm bleiben.“

Sie gibt dem SS-Mann hinter dem Steuer ihres Lancia ein Zeichen.

Gespenstisch leise rollt der Wagen durch das hohe Gras auf sie zu.

Am 24. April steht am Spätnachmittag Donna Rachele im Vorzimmer des Ehrensaales der Präfektur von Mailand und wartet darauf, daß sie hereingerufen wird. Es ist ein kurzer Abschied von dem Mann, mit dem sie ein langes Leben geteilt hat, Benito Mussolini.

„Du gehst mit Romano und Anna Maria nach Como. Versuche von dort in die Schweiz zu kommen.“

Rachele neigt stumm den Kopf und geht.

 

Am 25. April 1945 um siebzehn Uhr steht Benito Mussolini vor dem Kardinal-Erzbischof von Mailand, Ildefonso Schuster, in dessen Privatkabinett der Kurie, um mit den bevollmächtigten Generalen des Befreiungskomitees der Partisanen über die Bedingungen einer Kapitulation zu verhandeln.

Als Mussolini zwei Stunden später die Kurie verläßt, herrscht eine beklemmende Stille in den Autos, die in das schmutzige Grau der Abenddämmerung hineinfahren.

Seit den Mittagsstunden ist die Stadt gelähmt vom Streik der Volkserhebung. Nur in den Cafés und Bars hängen die Männer wie in Trauben an den Theken. Ohne Ziel irren jetzt ein paar Menschen durch die Straßen.

Durch einen Tunnel eisigen Schweigens fahren die Autos von der Kurie zur Präfektur, dieser kleinen faschistischen Insel inmitten der von Partisanen und Arbeiterbrigaden besetzten Vororte Mailands.

Das verbarrikadierte Tor wird geöffnet. Die Autos biegen in den Hof der Präfektur ein. Nervös zieht der Mann, auf dem jetzt alle Blicke ruhen, sein Koppel zurecht, ehe er aussteigt und die breiten Treppen hinaufsteigt.

Im großen Saal des Präfekten klingen die hastigen Schritte der schwarzen Stiefel überlaut. Die Generale, die ganze faschistische Prominenz, die dem ,Duce‘ vom Gardasee, seinem letzten Regierungssitz, gefolgt ist, stehen um ihn herum. Sie warten auf eine Entscheidung von ihm. Er weiß es. Er setzt sich an seinen Schreibtisch. Er stützt den massiven Schädel in die Hände und schließt einen Augenblick die Augen. Er hat nur einen Gedanken: Laßt mich allein! Aber er spricht ihn nicht aus.

Es ist Graziani, der auf ihn zutritt. „Duce, ehe wir uns entscheiden, wollen wir nicht noch einmal die Lage überprüfen? Eine Stunde bleibt uns noch, zu kapitulieren.“

Die Geräusche, die durch das offene Balkonfenster zum Hof in den Saal dringen, sind wie eine Antwort. Die heiseren Befehle der Männer, das Weinen von Frauen und Kindern, der Motorenlärm der Wagen, die über den Rasen mahlen, die Lastwagen, die von Posten der SS mit schweren Kisten beladen werden … es sind die äußeren Zeichen einer Welt im Zusammenbruch. Diese Welt braucht keine Befehle mehr. Das Ende befiehlt man nicht. Das Ende kommt mit den fremden Heeren. Es kommt mit Handschellen und Richtern. Ist das die einzige Antwort?

Schwer, unendlich mühsam, erhebt sich am Schreibtisch der Mann, der einmal Italien beherrschte. Er blickt zu dem Balkon hinüber. Die einzige Karte, die er in dieser Stunde vielleicht noch ausspielen könnte, wäre, auf den Balkon zu treten und zu den Menschen zu sprechen. So hat er sie früher bezwungen. Aber jetzt spielt er die Karte nicht aus. Es ist eine Karte seiner Vergangenheit. Dieser Balkon ist nicht der Balkon des Palazzo Venezia in Rom.

Er tritt an das offene Fenster und blickt in den Hof hinunter. Er sieht die schwarzen Uniformen der SS. Er lächelt bitter bei dem Gedanken, daß sie jetzt seine zuverlässigsten Beschützer sind. Zweiundzwanzig SS-Männer unter der Führung des Leutnants Birzer haben den Auftrag, den ehemals allmächtigen Herrscher Italiens nach Norden zu begleiten. Der Duce kennt nicht einmal ihre Namen.

Als der Duce sich wieder in den Raum wendet, sieht er noch immer in die fragenden Gesichter. In den meisten ist nur Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Verbitterung. Er blickt von einem zum anderen. Er sieht die schweren Aktentaschen, die sie in ihren Händen tragen. Vielleicht hoffen sie alle nur auf ein Beispiel der Mutlosigkeit. In ihren Gesichtern steht der plötzliche Zusammenbruch aller Hoffnung auf ein ehrenvolles Ende.

Wieder drängt Graziani: „Entweder wir fahren sofort, oder überhaupt nicht.“

Die dunklen Augen brennen in Mussolinis bleichem Gesicht. „Gut, dann fahren wir …“, sagt er mit tonloser Stimme.

Sofort schreit jemand den Befehl hinunter in den Hof. „Fertig machen! Fertig machen!“

Wenige Minuten später kommt Mussolini die Treppen herunter. „Meine Maschinenpistole!“ schreit er. „Wo ist meine Mitra?“

„Die Mitra des Duce!“

Eine Maschinenpistole wird von Hand zu Hand weitergereicht. Er nimmt sie entgegen, wirft den Riemen über die Schulter und tritt in den Hof. In diesem Augenblick stürzt ein Mann aus der Menge, die ihn erwartet, auf ihn zu. Er wirft sich dem Duce entgegen, und der entsetzte Schrei aus dem Munde eines der Umstehenden enthüllt die Gedanken, die in dieser Sekunde in allen aufblitzen: hier ist „Brutus“, bereit, seinen „Cäsar“ zu erdolchen …

Ein Grauen packt sie alle. Es läßt sie auch dann nicht los, als sie erkennen, daß der junge Mann seinem Duce nur in die Arme fiel, um ihn zu küssen. Vielleicht ahnen sie, wie nahe Haß und Liebe in diesen Tagen in den Menschen nebeneinander wohnen, und daß die, die heute jubeln und morgen aufhängen, dieselben Menschen sind.

In den Augen des Duce ist aber wieder Leben. Er sieht sich um, und noch einmal hallt seine Stimme über den Hof. Die Säulengänge der Präfektur werfen das Echo zurück: „Ich fahre fort! Ich muß fort! Und wir werden doch siegen!“

Die Scheinwerfer tasten die Barrikaden vor dem Ausgang ab, springen auf die leeren Fassaden der Häuser und zeigen dann den Weg: Die Kolonne der Wagen wendet sich der Autobahnspinne, nördlich Mailand zu. Das erste Ziel ist Como. Das letzte: das Alpen-Réduit von Valtellina.

An der Piazza San Babila schließt sich der Kolonne ein Lancia an. Im Fond kauert Clara Petacci. Fröstelnd zieht sie den Nerz um die Schultern.

 

Der Kurier des Kardinals, der zur gleichen Zeit in der Präfektur eintrifft, findet das Haus verlassen. Er bringt die Bestätigung des Generals Wolff, daß die Kapitulation in ganz Italien wirksam werden soll.

Licht flutet aus den leeren Zimmern des ersten Stockes in den Hof. Ein paar Schwarzhemden reißen sich die Schwerter von den Uniformspiegeln.

Auf den Straßen patrouillieren die ersten bewaffneten Männer mit den Armbinden der Freiwilligen. Von der Peripherie her nähert sich das Echo der Gewehrschüsse. Es ist, als wandere es über die Dächer wie ein Unwetter dem Stadtkern zu …

Der Regen fiel dicht und leicht, und in der Dunkelheit legte er sich wie eine Decke über die Kolonne, die sich am frühen Morgen des 27. April auf dem Hof einer Kaserne in Menaggio neu formierte. Deutsche und italienische Kommandos erstarben im Aufheulen der Motoren. Die Fenster der Häuser blieben geschlossen, als der Panzerspähwagen als erster anfuhr. Ein Lastwagen mit deutschen Soldaten folgte, dahinter der Wagen Mussolinis, der Lancia Clara Petaccis, der Wagen ihres Bruders Marcello mit seiner Frau Rita und seinen zwei Kindern.

Langsam hellte es sich auf, als die Autokolonne die Serpentinen hinaufkroch, eine gespenstische Fahrt vor der Kulisse dieser zärtlich-süßen Landschaft. Keine geschlagene Armee, keine Truppe im Rückmarsch: Geschütze und ein offener Wagen, wo sich Pelze stapelten, aufgebaute Maschinengewehre und Limousinen, die die Schätze, die sie in Säcken und Koffern bargen, sehen ließen.

Sie passierten Nobiallo, Acquaseria, Rezzonico. Sie hielten. Irgend jemand sprang von einem Wagen, lief geduckt zur Spitze, eilte zurück, und wieder ruckte die grün-gelbe Autoschlange an.

Zur gleichen Stunde eilten in Dongo einige Partisanen von Haus zu Haus. Die alten Nummern des Corriere della Sera wurden beiseite geschoben, die Morgenmusik des Mailänder Senders erstarb, und die verwegenen Gestalten mit Maschinenpistolen im Arm und Handgranaten im Koppel traten auf die Straßen, auf denen noch die schmutzigen Flugblätter lagen, die die Jagdbomber der Amerikaner gestern abgeworfen hatten.

Hinter Musso, gleich hinter der Brücke über den Vallerba, errichteten sie die Straßensperre.

Um sieben Uhr dreißig hielt der Spähwagen an der Sperre. Niemand war zu sehen. Das Gesicht Clara Petaccis war von der Ermüdung gezeichnet. Ihre Augen hatten dunkle Ringe, und ihr Blick war stumpf und resigniert. Müde blickte sie auf, als ihr Bruder Marcello seinen Wagen neben ihren Lancia lenkte.

„Ich werde mal sehen, was los ist!“ Aber gerade, als er die Wagentür öffnen wollte, peitschten die ersten Schüsse in die Stille. Sie kamen aus den Hügeln, die links von der Straße anstiegen. Rechts unten lag der See und vor ihnen, jenseits der Sperre, die Straße, die sich in Kehren nach Dongo hinuntersenkte.

Die deutschen Soldaten waren aus dem Lastwagen gesprungen und erwiderten das Feuer. Aber die Hügel schluckten die Garben der Maschinenpistolen, und nirgends zeigte sich ein Ziel. Noch einmal ließen die Fahrer die Motoren aufheulen, als ob sie sich beweisen wollten, daß es gleich weiterging. Aber dann erstarb ein Motor nach dem anderen, und die Stille war noch düsterer als zuvor.

Aus der Kolonne trat ein Mann in der langen schwarzen Soutane des Priesters. Er hob ein weißes Tuch und lief die Wagen entlang nach vorne. „Halt! Nicht schießen! Lassen Sie mich mit den Leuten verhandeln!“ Es war Don Enea Mainetti, der Pfarrer von Musso, der der Kolonne gefolgt war.

Hinter der Sperre tauchten jetzt die verwegenen Gestalten auf. In den Hügeln zeigten sich die bärtigen Gesichter unter den verwitterten Mützen, die roten und grünen Halstücher.

Um neun Uhr verhandelte auf dem Rathaus von Dongo der Kommandant der Partisanen „Pedro“ mit dem Pfarrer und dem deutschen Leutnant, der ihm gefolgt war. Gegen Mittag hielt die Kolonne noch immer auf der Straße. Die verwirrendsten Gerüchte liefen die Reihen entlang. Längst waren die meisten aus den Wagen gestiegen, hatten Gruppen gebildet. Einige sah man mit schweren Koffern zu den nächsten Häusern schleichen. Es regnete noch immer, und über dem Hügel und dem See lag es wie ein Schleier.

Die Menschen, die sich von Wagen zu Wagen bewegten, hatten etwas von Schatten. Dort löste einer das Kinnband seines Helmes und ließ ihn in den Straßenrand rollen. Dort zog sich einer das Schwarzhemd über den Kopf und stopfte es hinter die Polster. Dort trugen zwei oder drei Italiener schwere Koffer aus ihren Wagen und wuchteten sie auf einen Lastwagen der Deutschen. Dort verdeckte eine Sonnenbrille die Augen, und hinter einem Lastwagen rasierte sich ein kleiner, verwitterter Alter den eisgrauen Bart. Es war, als versuchten sie alle, sich aufzulösen, und manche bewegten sich so offen, als glaubten sie schon an ihre Anonymität.

In ihrem Wagen zusammengesunken beobachtete Clara Petacci alles, aber sie nahm es nicht auf. Sie hatte ihren Fahrer nach vorn geschickt. Als er zurückkam, berichtete er, daß der Duce in den Panzerwagen umgestiegen sei.

„Lassen Sie mich zu ihm“, bat sie. „Fragen Sie.“

Nach zehn Minuten kam er mit einem Mechanikeroverall über dem Arm zurück. Sie schlüpfte hinein und zog die Schirmmütze tief über ihre Locken.

Die Luft im Panzerspähwagen war stickig. Es war eine von ängstlichem Atmen leergepumpte Luft. Niemand sagte etwas, alle blickten auf den Minister, der vom vor der Aussichtsluke saß und die Straße nach Dongo beobachtete.

Clara senkte den Blick, als Benito sie ansah. So hatte sie ihn nie gesehen. In seinem bleichen unrasierten Gesicht hingen die großen dunklen Augen wie die falsch eingesetzten Augen einer Puppe. Aber vielleicht ist es doch gut so, dachte sie. Gut, daß sie alle weg sind, die Mutter, die Schwester Miriam – und vor allem Marcellos Freunde! Jetzt brauche ich Benito um nichts mehr zu bitten, dachte sie. Jetzt bin ich nur bei ihm, weil niemand anderes mehr bei ihm ist.

Vorder Sperrebremstederkleine Wagenmitderweißen Flagge, der von Dongo herausgefahren kam. Minuten später wußten es alle, was die deutschen Unterhändler mit den Partisanen ausgehandelt hatten, auch die im Panzerspähwagen: „Alle Deutschen können weiterfahren. Alle Italiener ergeben sich den Partisanen …“

Schon liefen die ersten Motoren an. Im Lärm der deutschen Kommandos hob sich die hintere Luke des Panzerspähwagens. Zwei Menschen sprangen auf die Straße.

Auch Marcello hatte seinen Wagen gestartet. „Laß uns zurückfahren!“ flehte ihn seine Frau an. Aber er hörte nicht. Er zerrte den schweren Tornister unter dem Sitz hervor und stieß ihn in den Straßengraben. Als er sich aufrichtete, sah er Clara laut schreiend auf sie zulaufen.

„Marcello …“

Mit ein paar Schritten war er bei ihr. „Sei still! Und nenn’ keine Namen!“

Sie streckte die Hände vor. Die Knöchel der rechten Hand bluteten.

„Der Duce will versuchen, mit dem Lastwagen der Deutschen weiterzufahren“, sagte sie, „als Deutscher.“

Willenlos ließ sie sich den Overall ausziehen. Sie nahm neben Marcello Platz. Auf dem linken Kotflügel des Wagens zitterte die kleine spanische Flagge, als sie anfuhren. Die Sperre war halb beiseite geräumt, und sie überholten einige Wagen. Sie kamen bis auf den Rathausplatz von Dongo, als einer der Partisanen sie stoppte.

„Ich bin spanischer Staatsangehöriger“, sagte Marcello kühl, auf dem Weg in die Schweiz.“

Der junge Mann, den die anderen „Bill“ nannten, beugte sich zum Fenster herab.

„Das ist meine Frau“, erklärte Marcello, „meine zwei Söhne …“

„Und das?“ Bill warf Clara einen Blick zu.

„Eine Dame, die mich gebeten hat, sie mitzunehmen. Sie ist Spanierin wie ich.“

„Dann geben Sie mal Ihre Pässe her!“

Sie warteten zwanzig Minuten. Dann sahen sie Bill aus dem Portal des Rathauses wieder auf die Straße treten. Sie mußten aussteigen und ihm ins Rathaus folgen. Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war kahl und leer bis auf den einfachen Tisch, hinter dem „Pedro“ saß, der Führer der 52. Brigade der Partisanen, die in der vergangenen Nacht aus ihren Schlupfwinkeln in den Bergen an der Schweizer Grenze ins Tal heruntergekommen waren. Die Pässe lagen vor ihm auf dem Tisch neben der alten Mütze. Seine Augen waren kalt, aber ohne allen Haß. Sein Blick tastete nur eine kurze Sekunde über ihre Gesichter, dann richtete er sich wieder zur Tür, so, als sei es jemand anderer, den er erwartete.

Eine Bewegung seiner Hand, und sie wurden in einen der Räume abgeführt, die von dem Zimmer abgingen. Hinter ihnen drehte sich der Schlüssel im Schloß.

Bill war inzwischen wieder hinausgegangen. Er schritt über die Piazza und dann immer weiter die Straße hinauf, an den Wagen vorbei, bei denen man mit der Kontrolle begonnen hatte. Deutsche in feldgrauen, blaugrauen und schwarzen Uniformen standen um einen Lastwagen. Bill zog sich an einer Seitenwand hoch, den Fuß auf dem Reifen. Unter einem Stoß Decken lehnte eine Gestalt an der Rückwand der Führerkabine. Ein deutscher Stahlhelm und der hochgestellte weite Kragen eines Luftwaffenmantels bedeckten das Gesicht des Mannes.

Bill zeigte auf den Schlafenden, aber die deutschen Soldaten versicherten:

„Kamerad – vino – betrunken. Kamerad ubriaco – betrunken!“ Der Partisan Bill schob die Deutschen, die sich ihm in den Weg stellten, beiseite und stieß den Schlafenden an: „Eh! Documenti!“

Der massige Körper unter den Decken rührte sich nicht.

„Documenti! Documenti!“

Nur ein unverständliches, verschlafenes Lallen war die Antwort.

Da beugte sich Bill herab. Mit einem Ruck riß er den Kinnriemen des Stahlhelmes weg. Eine Sonnenbrille glitt von den Augen, und ein kahler, mächtiger Schädel mit dem flachen Käppi der Miliz kam zum Vorschein …

Der Mann erhob sich, eine Mitra im Anschlag. Sie sahen sich an, der Duce und der kleine Partisane Bill. Aber die Rollen waren vertauscht. Das bleiche, übernächtigte Gesicht des Duce gehörte einem Menschen, irgendeinem Menschen, der den Zorn des Volkes zu fürchten hatte. Er sah ihn an, als erwarte er jeden Augenblick, daß sich ein Zucken der Augenlider in das harte Stakkato einer Kugel umsetzte. Dann wechselte die Mitra des Duce den Besitzer. Und während das Geschrei der Menge seinen Namen ihm vorausträgt und die Mitra mit den Initialen „B.M.“ die Runde machte, nahmen ihn zwei in die Mitte.

 

Es war nur ein leichtes Geräusch gewesen, mit dem sich der Schlüssel hinter Clara Petacci und den anderen im Schloß drehte, aber es machte den leeren Raum noch leerer.

Marcello lehnte mit dem Rücken an der gekalkten Wand. Seine Frau saß bei den Kindern. Clara Petacci wich nicht von dem kleinen Fenster, das zur Piazza vor dem Rathaus hinaus lag. Es regnete jetzt wieder leicht, und das Metall des Ehrenmals der Gefallenen des Ersten Weltkrieges glänzte vor Nässe. Auf dem Pflaster davor lagen ein paar rote, zerfetzte Halstücher wie Flecken Blut.

Wieder wurden ein paar Gefangene über den Platz geführt. Zitternd tasteten Claras Hände nach dem Papier in ihrer Bluse. Noch einmal las sie Benitos letzten Brief, den er ihr aus Mailand in die Villa Mirabella geschrieben hatte: Nur Du bist bei mir geblieben, wo alle anderen mich verlassen haben, schrieb er. Es ist mein Wunsch, daß Du Dich wenigstens retten kannst.

„Wenn sie ihn bei dir finden“, hörte sie Marcellos Stimme, „bist du erledigt.“

Sie zerriß den Brief in kleine Stücke, und während sie es tat, schämte sie sich. Wieder dachte sie, wie zuvor im Dunkel des Panzerspähwagens – vielleicht ist es gut so. Sie dachte an das Flugzeug in Mailand, und sie bereute es nicht, daß ihr Platz darin leer geblieben war. Sie spürte, wie sie frei wurde von allem was gewesen war. Daß sie doch mehr war, als was alle von ihr dachten: die Geliebte des Duce, eine kleine Intrigantin, an deren Schleppe eine ganze Clique Verwandter gehangen hatte …

Marcello hatte sich nicht von seinem Platz gerührt. Er schien jetzt eins mit der Wand zu sein, bleich und versteinert. Seine Hand suchte zitternd nach Zigaretten.

Clara war ans Fenster getreten. Immer, wenn ein Wagen um die Ecke bog, hielt sie den Atem an. Aber sein Wagen kam immer noch nicht. Sie sah Partisanen über den Platz laufen. Es war, als würde der ganze Platz wie von einem ungeheuren Sog leergesogen, so stürzten sie alle der Straße nach Musso zu. Und dann verstand sie, was sie schrien. Sie hörte es von ganz ferne, und noch hoffte sie, daß sie sich täuschte, aber dann verstand sie es wieder.

„Mussolini! Mussolini!“

Sie sah, wie die Menge auf die Piazza zurückfloß. Sie sah, wie sie sich teilte. Und sie sah den Mann, der, von zwei Männern gestützt, auf das Rathaus zukam, der Duce. Sein Kopf war heruntergesunken. Der Mantel hing schwer über seine Schultern. Es schien ihr, als wäre der Mantel leer.

 

Clara war zur Tür gelaufen. Sie rüttelte am Schloß, bis Marcello sie dort wegriß. Sie hörten das Schreien von der Piazza und die Stimme aus dem Raum vor ihnen. Dann kamen Schritte auf ihre Tür zu.

Als sie sich öffnete, stand Pedro auf der Schwelle. Er hielt Mussolini am Arm und schob ihn vor sich in das Zimmer. Der Duce tat einen unsicheren Schritt. Er hob den Kopf. Ein wenig Leben kam in seine Augen. Seine Lippen bewegten sich: „Ihr …?“

„Kennen Sie diese Frau?“ Pedro wies auf Clara.

Ehe er antworten konnte, war Marcello vorgetreten. Er blickte den Duce kalt und abweisend an. Das Fünkchen Leben in den Augen Mussolinis erlosch. Er schien zu verstehen. Er senkte nur den Kopf. Das „Nein“ kam kaum vernehmbar von seinen Lippen.

Pedro zog seinen Gefangenen in den anderen Raum zurück. Wieder fiel die Tür ins Schloß. Langsam entfernten sich die Schritte, die schweren, festen und die schleichenden, müden. „Wenn du auf meinen Rat gehört hättest“, sagte Marcello nach einer Weile, „dann wären wir jetzt schon in Spanien …“

Sie stieß in fort. Sie ging zum Fenster und blickte auf die Menschen. Aber sie hörte und sah nichts. Hinter ihr schluchzten die Kinder, aber auch das war unendlich fern. Sie dachte an den Mann, der jetzt einige Zellen weiter saß. Sie dachte, daß sie jetzt bei ihm sein müßte, und sie war frei von aller Angst, als sie es dachte. Sie dachte nicht an das Ende, sondern daran, wie alles begonnen hatte …

1

Sie hatten die Stadt durch die Porta San Paolo verlassen. Marcello steuerte den Wagen, und wie immer saß Mama Giuseppina neben ihm. Ihr Ehemann, Dr. Petacci, die zehnjährige Schwester Mimi, Clara selbst und ihr Verlobter Riccardo Federici hatten hinten Platz genommen.

Es war der 8. September 1933. Es war ein herrlicher Tag, und Mama hatte die Route nach Ostia ausgewählt, genauso wie das weiße Kleid und den breiten Florentinerhut, den Clara trug.

Es war ein offener Wagen, ganz neu, aber schneller als fünfzig durfte Marcello nicht fahren, auch das bestimmte Mama. Es war etwa auf der Hälfte des Weges, als sie den Alfa Romeo hinter sich hörten. Er fuhr mit großer Geschwindigkeit. Hinter dem Fahrer saßen zwei Offiziere, ein jüngerer, blonder und ein älterer mit braungebranntem Gesicht. Clara erkannte ihn zuerst.

„Der Duce! Der Duce!“

Sie riß sich den Hut vom Haar und schwenkte ihn, und in den wenigen Sekunden, da die Wagen nebeneinander herfuhren und ihre Köpfe wie auf ein Kommando nach links flogen, erkannten sie ihn alle.

Dann schoß der Wagen davon. So sehr Clara auch auf Marcello einredete, schneller zu fahren – schon sahen sie ihn in den Staubwirbeln der hohen Pinien am Rande der Straße verschwinden, als der Wagen plötzlich am Straßenrand anhielt.

Sie brachten kein Wort über die Lippen, als Marcello den Wagen hinter dem Alfa Romeo parkte. Schweigend stiegen sie aus, stumm vor dem Glück, das ihnen zuteil wurde, plötzlich diesem Mann gegenüberzustehen.

Clara sprach als erste. Sie wußte nicht, was sie sagte. Es war einfach wie ein Echo der stummen Zwiegespräche, die sie in vielen Nächten mit „ihm“ gehalten hatte, auf ihrem Bett, über dem „seine“ Fotografien hingen, wie über anderen Jungmädchenbetten die Bilder der Filmstars. Sie war einundzwanzig, und sie sagte, was vielleicht jedes Mädchen an ihrer Stelle in dieser Zeit geflüstert hätte:

„Der Traum aller Italiener ist für uns heute Wirklichkeit geworden. Wir haben seit langem auf diesen Tag gewartet.“ Die Überzeugung, mit der sie sprach, ließ ihre Worte echt klingen.

Als sei plötzlich der Bann gebrochen, redeten sie alle zugleich. Es war wiederum Clara, die ihre Familie vorstellte: „Meine Mutter, Giuseppina, mein Vater, Dr. Francesco Savario Petacci, meine Schwester Mimi …“, sie stockte ein wenig, „… mein Verlobter, Fliegerleutnant Federici …“

„Und Sie?“ fragte der Duce.

„Ich? Vielleicht kennen Sie meinen Namen noch? Ich habe Ihnen Gedichte geschickt. Sicher waren sie sehr schlecht – aber sie kamen von Herzen.“

„Ja“, antwortete er, aber er tat wohl nur, als ob er sich erinnere. Diesmal jedoch schien er den Namen nicht vergessen zu wollen, denn er fragte: „Wie war der Name Ihres Vaters noch einmal?“

Sie wiederholte ihn.

Sie standen alle am Rande der Straße und grüßten, als der Wagen abfuhr. Auf der Heimfahrt waren sie schweigsam. Jeder versuchte auf seine Art, sich „sein“ Bild wieder in Erinnerung zu rufen. Clara fühlte nur seine dunklen, stechenden Augen auf sich ruhen.

 

An diesem Abend sprachen sie von nichts anderem. Nur Mama Giuseppina beteiligte sich seltsamerweise nicht an der Unterhaltung. Sie saß in ihrem Lehnstuhl, hielt die Hände um den Leib geschlungen und die kleinen Augen geschlossen.

Erst als alle anderen gegangen waren und nur noch Clara da war, schien sie zu erwachen. „Setz dich“, sagte sie. Sie ließ sich noch tiefer in den Lehnstuhl sinken und blickte ihre Tochter an. Der Blick ging von den kleinen Füßen, die fast wie die Füße einer Chinesin waren, die man von Jugend an in zu enge Schuhe gezwängt hatte, über ihre zierliche, aber frauliche Figur, die blassen Hände, das kleine Gesicht mit dem vollen Mund und den immer etwas traurig blickenden schwarzen Augen. „Ich glaube, du hast ihm gefallen.“

Clara blickte erstaunt auf. Aber nichts regte sich in dem undurchdringlichen Gesicht der Mutter. Sie saß dort in ihrem langen schwarzen Kleid, lächelte flüchtig und unpersönlich, und wie immer, wenn sie überlegte, suchte sie in ihrer Tasche herum, bis sie den Rosenkranz fand.

„Warum hätte er sich den Namen wiederholen lassen …“ Mama schloß die Augen und senkte den Kopf, auf dem sich die tiefschwarz gefärbten Haare in der Mitte teilten.

„Du kannst jetzt nach oben gehen.“ Der Rosenkranz glitt mit einem leichten Geräusch durch ihre Hände, und ihre Lippen bewegten sich tonlos.

Es geschah drei Tage später. Für Clara waren es drei Tage, die nicht nach Stunden maßen, sondern nach den Blicken der Mutter, die ihren Sessel an das Fenster gerückt hatte, durch das sie die Straße beobachten konnte.

Es war am 11. September gegen fünf Uhr nachmittags, als das Telefon, das in der Vorhalle stand, läutete. Giuseppina ging an den Apparat; sie war gerade von ihrer Siesta aufgewacht und die Treppen heruntergekommen. Sie nahm den Hörer ab, horchte und antwortete verschlafen: „Wer spricht dort?“

„Ich bin jener Herr aus Ostia.“

„Wollen Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen sagen …“ Jetzt erst schien sie ganz zu erwachen. Sie fing an zu stottern. Die Hand mit dem Hörer sank herab. Schnell bedeckte sie die Muschel mit ihrer Hand. Ihre Nase war ganz spitz und bleich geworden.

Dann rief sie mit lauter, befehlender Stimme: „Rasch, Claretta! Komm her! Der Duce ist am Apparat …“

Der Hörer lag noch in Mama Giuseppinas Hand. Als Clara ihn nahm und die Muschel unter die dichten Locken ans Ohr hob, verstand sie noch: „… der Signorina Petacci guten Tag sagen. – Könnten Sie sie bitte rufen?“

„Ich bin es. Am Apparat.“ Sie blickte fragend auf ihre Mutter. Mama Giuseppina hatte die Tür zum Wohnzimmer geschlossen und war in einen der schwarzen Stühle mit den vergoldeten Lehnen gesunken.

„Erkennen Sie meine Stimme?“ hörte sie ihn fragen.

Sie antwortete mechanisch. Sie war besorgt, daß ihre Stimme vielleicht zu dunkel und rauh klang. Sie nickte ihrer Mutter zu, aber die hatte die Augen geschlossen und schien ganz in die Erinnerung an jenen Nachmittag vor drei Tagen auf der Straße nach Ostia versunken.