Feuer im Gras - Hans Herlin - E-Book

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Hans Herlin

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Beschreibung

Wien – eine Fata Morgana, verführerisch, tröstend und todbringend. In diese Stadt kommt ein junger Amerikaner, David Herron. Er wird in die Stadt hineingeweht wie Spreu, die keine Wurzeln schlagen kann. Ein Mann auf der Flucht – aber wovor? Überall hinterläßt er kleine Puppen, die er aus seinen Halstüchern fertigt. Nur die Frau, die ihn liebt, wird das Geheimnis jener Puppen erfahren, aber erst, als es für beide zu spät ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 448

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Hans Herlin

Feuer im Gras

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Ein Mensch ist in [...]Ein Jahr zuvor …Erster TeilIIIIIIIVVVIZweiter TeilVIIVIIIIXXXIDritter TeilXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIVierter TeilXIXXXXXIXXIIXXIIIXXIVFünfter TeilXXVXXVIXXVIIXXVIIIXXIX… an einem anderen Ort

Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da …

 

Buch der Psalmen

Ein Jahr zuvor …

Trotz der Geräusche wirkte die Turnhalle still. Es war eine große, schwach beleuchtete Halle, deren Fenster, hoch oben zu beiden Seiten, mit schwarzem Tuch verhangen waren; an den Sonntagen wurden hier für die Strafgefangenen Filme vorgeführt, und es hätte zu viel Mühe bereitet, die Verdunklung während der Woche abzunehmen. Die rohen Holzbänke standen in einer Ecke der Turnhalle, übereinandergestapelt – es war Montagmorgen.

Zwei dienstfreie Wachen in weißen, eng über den kräftigen Oberkörper gespannten Hemdchen und mit grünen Kappen trainierten am unteren Ende der Halle: Einer warf einen Ball gegen die Wand, trat schnell zur Seite, mit dem Körper möglichst den anderen täuschend, der versuchte, den Ball aufzufangen; ihr Spiel hatte etwas Verbissenes an sich, wie irgendeine Strafe, die ihnen auferlegt worden war, und je schneller es wurde – Werfen, der schnelle Schritt zur Seite, Auffangen, Werfen –, um so unvorstellbarer erschien es, daß sie von sich aus das Spiel je abbrechen konnten.

Der Strafgefangene stand am anderen Ende der Halle, über einen Flipper-Automaten gebeugt. Das Hemd hing ihm offen über die olivgrüne Drillichhose, um den Hals hatte er ein buntes Tuch geknüpft, und sein linkes Armgelenk war von einem Lederband umschnürt. Auch er war in sein Spiel vertieft, aber die Verbissenheit fehlte, seine Haltung drückte einfach Konzentration aus. Er hatte gerade eine Kugel ins Spiel gebracht und stand nun dort, die Hände auf die Ecken des Automaten gestützt, und beobachtete, wie die silberne Kugel in der Ellipse am oberen Rand des Spielfeldes aufprallte, und dann den mittleren der drei Zugänge passierte: Abpraller verdoppelten ihre Geschwindigkeit, runde Vertiefungen schleuderten sie ins Spiel zurück, Stopper lösten helle Gongsignale aus, brachten Lichter zum Aufflammen und trieben auf der Anzeigetafel das Zählwerk voran. Die Geräusche des Automaten, der zeitweise nichts zu sein schien als explodierendes Licht und Geräusch, waren sehr viel lauter als diejenigen, welche die beiden Wachen erzeugten – der Ball, der auf dem federnden Holzboden aufschlug, die sich schnell bewegenden Füße, die synkopierten Anfeuerungsschreie –, aber alle Geräusche zusammen brachten es nicht zuwege, die Stille der großen, hohen Halle zu brechen.

Der junge Mann am Flipper-Automaten hatte – in vier Monaten – gelernt, daß auch dies zur Haft gehörte: eine eigenartige Stille, die sich überall in dem Gefängnis festsetzte und sich von nichts verdrängen ließ; in den Zellen hielt sie sich, in den Korridoren zwischen den verschiedenen Zellblöcken, in der Schlange, wenn die Strafgefangenen zum Essen anstanden, im Besucherraum, in der Bücherei, im Untersuchungsraum des Arztes, im Klassenraum, wo Kurse abgehalten und Messen gelesen wurden – Katholiken am Samstag –, im Außenhof beim Trainingslauf unter Wachtürmen, in den Werkstätten mit den Holzbearbeitungsmaschinen … Selbst das durchdringendste und schreckenerregendste Geräusch von allen, das harte metallische Schnappen der elektronisch gesteuerten schweren Eisentüren, die zu den verschiedenen Zellblöcken führten – ein vergebliches Geräusch, es brach längst nicht mehr die eigenartige Stille. Als habe sich die Welt von diesem Ort abgewandt; es gab ihn gar nicht mehr; er war von den Landkarten getilgt, aus dem Gedächtnis der Menschen verbannt. – Für ihn natürlich würde dies alles heute zu Ende gehen, in dieser Stunde noch, und das war mehr als eigenartig: daß er nicht die Freude empfand, die ihn eigentlich hätte beherrschen müssen, daß er sogar darum gebeten hatte, ihn noch einmal den Flipper-Automaten spielen zu lassen. Denn das einzige, was er wirklich fühlte, war der Wunsch, jenen Augenblick, der ihm die Freiheit bringen würde, hinauszuzögern …

Tatsache war: Innerhalb dieser Mauern gab man schnell jeden Gedanken an die Welt draußen auf. Am Anfang, in den ersten Tagen, den ersten Wochen sogar, war es ihm gelungen, sein Interesse wachzuhalten. In der Gefängnisbücherei war er Stunde um Stunde über einem Autoatlas gesessen, bis er sich alles genau eingeprägt hatte: die zwei Städte, Mannheim und Ludwigshafen; die zwei Autobahnen, die dort zusammentrafen; die Hauptlinien der Eisenbahn; die zwei Flüsse, der Neckar und der Rhein; er hatte alles wie gedruckt im Kopf, so daß er auch ohne Karten gewisse Details jederzeit nach Wunsch vergrößern konnte – die Lage einer Brücke, eine bestimmte Zufahrt zur Autobahn … Der Platz, den man für dieses amerikanische Armeegefängnis gewählt hatte, bot einem Mann, der entschlossen war zu fliehen, scheinbar jede nur denkbare Chance: Aber solche Gedanken waren schnell verflogen. Noch immer konnte er sich zwar jene Karten vorstellen, jene schwarzen Linien, die vielen roten, die sich windenden blauen, aber seine Vorstellungskraft versagte, wenn er sie mit Zügen, mit Autos, mit Schiffen zu versehen suchte, versagte vor allem beim Gedanken an Menschen, die von irgendwoher kamen und, aus freiem Entschluß, irgendwohin gingen. In Wirklichkeit gab es um das Gefängnis herum längst nur mehr ein weites, unbekanntes Land – entvölkert. Das hatte er nicht berechnet, als er damals zu dem Entschluß gekommen war, daß diese vier Monate Haft kein zu hoher Preis für seine endgültige Freiheit seien …

 

Die ganze Zeit hatte er dieselbe Kugel im Spiel gehalten; im Augenblick war sie sogar wieder im Aufstieg, sammelte in der oberen Hälfte des Spielfeldes Punkte und Belohnungen, da hörte er hinter sich den zu einem Laut verkürzten Schrei – Three! – und das harte, metallene Schnappen, mit dem die Eisentür aufsprang. Das Geräusch von Armeestiefeln folgte …. und dann eine Stimme …. mit starkem Akzent:

»Zeit ist um! Laß uns gehen!« Die Stimme wurde ungeduldiger. »Komm schon, hör auf, Herron!« Seine an knappe Kommandos gewöhnte Stimme verkürzte die Silben, so daß der Name in etwa wie »Errn« klang.

Für einen Augenblick war der junge Mann von seinem Spiel abgelenkt, und die Kugel schlüpfte zwischen den beiden Flippern hindurch, die den Auslaufschlitz am unteren Spielfeldrand bewachten. Der junge Mann blickte auf das Zählwerk. Er nahm seine Hände von dem Automaten; der Chrom des Rahmens war abgenutzt. Er wandte sich um. Sein Gesicht gab nichts von seinen Gefühlen preis, jedenfalls zeigte es keine Enttäuschung. Es war ein alltägliches Gesicht, ein Jedermanns-Gesicht, das die Mühe nicht lohnte, es sich einzuprägen, da es einem ohnehin bekannt vorkam.

»Laß mich nur noch den fünften Ball spielen«, sagte der junge Mann. »Nur den letzten Ball.« Er hatte sich an dem Automaten immer gut gefühlt, und jeder Augenblick, den man sich in der Haft gut fühlte, war ein persönlicher Triumph.

»San Juan la’ cado! Du scheinst nicht gerade sehr begierig, hier herauszukommen, Errn! Kein Gefangener macht in der letzten Nacht ein Auge zu. Jeder ist am frühen Morgen fertig zum Abmarsch. Alle sind muy ávido, nicht eine Minute länger als notwendig zu bleiben. Willst du nicht weg? Hat es dir hier so gut gefallen?« Seine Haut war fast so olivfarben wie seine Uniform, und es hätte nicht des an seiner Bluse aufgenähten Namens und seines starken Akzentes bedurft, um zu erkennen, daß er ein reinblütiger Mexikaner war.

»Ein Spiel hat fünf Kugeln«, sagte der junge Mann. »Ich mag keine unvollendeten Spiele.«

Die Wache blickte auf die Anzeigetafel. Der Automat war ein alter Gottlieb, und bei einem Apparat dieses Typs waren 40.000 Punkte mit fünf Kugeln ein gutes Ergebnis. Der Punktestand lag aber über 60.000 – und noch war eine Kugel zu spielen. Der Mexikaner nickte: »Du bist wirklich gut. Kein Anfänger. Wirklich Klasse, die Art, wie du es spielst, mit allen riesgos.«

»Du hast keine Chancen ohne Risiko, nicht bei diesem Spiel.«

»Exacto, Errn, so spielt man! Wirklich Weltklasse bist du. Du könntest in Turnieren spielen.«

Der junge Mann hielt seine Handgelenke, zuerst das linke, dann das rechte; er bewegte die Hand und die Finger, so wie ein Pianist es machen würde; der Mexikaner erinnerte sich nun, daß er es viele Male vorher beobachtet hatte, aber er hatte nie weiter darüber nachgedacht.

»Irgend etwas gewonnen?« fragte er.

»Einiges, ja.«

»Preise? Trophäen? Diese Silberdinger … Pokale? Aufgehoben? Errn?«

Der junge Mann lächelte. Es war kein großartiges Lächeln, jedenfalls veränderte es wenig in seinem Gesicht; eigentlich deutete nur seine Stimme ein Lächeln an.

»Ich hab’ nie den Platz gehabt, sie aufzuheben. So hab’ ich sie immer meiner Mutter geschickt. Ich vermute, sie hat sie verkauft und das Geld beim Bingo verspielt. Du siehst, es liegt in der Familie; wir sind alle Spieler, grandes jugadores.«

»Hab’ ich immer gesagt! Dieses Land ist verrückt nach Trophäen, diese Estados Unidos. Haben die merkwürdigsten Trophäen, Champions, für alles nur mögliche … Einen Champion, der den Tabak am weitesten spucken kann. Einen Champion für den besten Hahn …«

»Und für die beste Henne«, fügte der junge Mann hinzu, nachdenklich, »eine Whatcom-County-Henne, die in 365 Tagen 350 Eier legte.«

»Si, Champion-verrückt diese Estados Unidos. Hat dir das je einer erzählt – ich bin ein geborener americano wegen solch einer Trophäe?«

Sie hatten nie zuvor so miteinander gesprochen, in den ganzen vier Monaten nicht: Ein Strafgefangener und eine Wache, das waren zwei verschiedene Welten; es kam vor, daß Wachen sich bei den Strafgefangenen anbiederten und über andere Wachen Geschichten erzählten, aber nie, daß ein Strafgefangener den Wachen auch nur das geringste anvertraut hatte. Aber das alles schien sich nun geändert zu haben – ein erstes Anzeichen von Freiheit? –, nur daß der junge Mann auch dabei keinerlei Freude verspürte.

»Mein Vater, er hatte einen Gockel – Hahn? –, auf den er sehr stolz war«, begann der Mexikaner. »O nein, kein kämpfender Hahn, es war ein krähender Hahn, ein mächtiger Araucana, der in einer halben Stunde ich weiß nicht wie oft krähen konnte. Er hat ihn trainiert, mein Vater, diesen Araucana, weil er von einer state fair in diesen gloriosos Estados Unidos gehört hatte, wo man eine Auszeichnung, eine Trophäe, einen Pokal, einen Preis für einen Champion-Hahn bekam; es war in Tucson, Arizona, vor fünfundzwanzig Jahren … Mein Vater legte den ganzen Weg zu Fuß zurück, aus den Bergen, wo er jeden Schritt kannte, ging heimlich über die Grenze, bis nach Tucson, Arizona. Er nahm alles mit, was er besaß, seine schwangere Frau und seinen schwarzbraunen Araucana- und stell dir vor, der krähte neunundsechzigmal! Ja, so war es, neunundsechzigmal in einer halben Stunde auf der Tucson state fair, fast dreißigmal öfter als sein nächster Rivale … Das ist der Grund, warum ich in Tucson, Arizona, zur Welt kam, einen Monat zu früh, ein geborener americano, verstehst du? Mein Vater erzählt die Geschichte noch immer jedem, voller Stolz … von dieser gloriosa tierra de oportunidad … Also, los, spiel deine Kugel! Man soll nie einen Champion zurückhalten!«

Der junge Mann, Errn – für die mexikanische Wache nicht länger ein Strafgefangener, schon ein freier Mann, jedenfalls ein Mann, der dieser gloriosa armada de los Estados Unidos angehörte wie er –, hatte sich wieder dem alten Gottlieb zugewendet. Er stützte seine Hände auf die Ecken des Automaten, verlagerte das Gewicht seines Körpers von einem Fuß auf den anderen, trat nahe an den Apparat heran, schob einen – den rechten – Fuß darunter, trat wieder zurück, einen Schritt, zwei Schritte: alles Versuche, den richtigen Abstand zu finden. Jetzt erschien er wie ein leicht nervöser Athlet vor der Übung, ein Künstler, ein Ballett-Tänzer nun, der seine Position auf der halbverdunkelten Bühne einnimmt und darauf wartet, daß der Vorhang sich hebt …

Der mexikanische Wachsoldat beobachtete die sich bewegenden Schulterblätter und die Muskeln im Nacken des jungen Mannes, der sein letztes Spiel begonnen hatte. Die beiden anderen Wachen, der eine weiß, der andere schwarz, waren zu ihm getreten, behutsam und leise; sie nickten dem Mexikaner zu – das Versprechen, nicht zu stören. Zu dritt sahen sie dem jungen Mann über die Schulter. Sie blieben schweigsam, während er mit der Kugel arbeitete, warfen sich nur von Zeit zu Zeit Blicke zu, wenn die Signale ertönten, die Lichter aufflammten, das Zählwerk reagierte: 70.000 … 80.000 …

Er spielte ein schnelles, riskantes Spiel; vielleicht, weil er die Gegenwart der drei Beobachter in seinem Rücken spürte, vielleicht auch, weil es überhaupt seine Art zu spielen war. Die silberne Kugel sprang wie verrückt, durchkreuzte das Spielfeld, wurde sanft von den Flippern aufgefangen, schnell ins Spiel zurückgebracht; sie stieg wieder und wieder in die oberen Regionen empor, um erneut Punkte zu sammeln an den Bumpern, den Prämientoren, den Auswerfern. Minute um Minute verging; die Stille in der großen Turnhalle schien noch zu wachsen, wurde undurchdringlich wie ein von Hexenhand um die vier Männer gezogener Kreis, und der junge Mann hielt die Kugel weiter im Spiel – es schien, als sei sie dagegen gefeit zu sterben.

Die drei Beobachter konnten nun nicht länger an sich halten. Sie gaben ihre Reserve auf, vorsichtig zuerst, dann spendeten sie ihm ganz offen Beifall, feuerten ihn an: mit kurzen Schreien und Lauten, nicht wirklichen Worten, verstümmelten Silben, Schnalzen, Geheimlauten …

Als die Kugel dann schließlich aus dem Spiel fiel, ganz überraschend und in diesem Augenblick unvermutet – sie schlüpfte nicht zwischen den beiden wachenden Flippern hindurch, sondern geriet unendlich langsam in die lange, tote Bahn auf der linken Seite des Gottlieb, wo nichts mehr ihr Verschwinden aufhalten konnte – als die Kugel in den Abgrund fiel, mit einem dumpfen Ton, gestorben schließlich, da hielten die drei Männer ihren Atem an und wichen sogar einen Schritt zurück.

Das Zählwerk war bei 99.700 stehengeblieben. Es war nicht klar ersichtlich, als der junge Mann sich umwandte, ob er stolz war oder enttäuscht.

»Du bist wirklich el campeón, Errn!« Es war der Mexikaner, der als erster das Schweigen brach. »Vaya! Qué juego, das du da gespielt hast!« Er schüttelte den Kopf voller Anerkennung und Bewunderung. Er blickte auf die Ergebnistafel und auf das Gesicht des jungen Mannes. »Hab’ dich nie so spielen gesehen vorher. Gegen wen hast du gespielt heute? Nicht gegen die máquina, oder?«

Der junge Mann antwortete nicht. Er gönnte dem Gottlieb einen letzten Blick, dem Automaten, der sich so gut gehalten hatte gegen ihn, der ihm so oft in den letzten vier Monaten geholfen hatte, mit sich ins reine zu kommen …

 

Aus langer Gewohnheit hielt sich der junge Mann einen Schritt vor der Wache. Das Geviert, das sie betraten, war der Mittelpunkt des Gefängnisses; hier führten insgesamt vier Eisentüren zu den sternförmig angegliederten Zellenblocks; jedes einzelne der Tore ließ sich nur öffnen, wenn gleichzeitig alle anderen geschlossen waren. Der junge Mann und der Mexikaner schritten durch Tor zwei und sie betraten die erste Zelle auf der rechten Seite.

Helles Licht drang durch die hoch gelegenen vergitterten Fenster in den Raum. Sechs eiserne, doppelstöckige Bettgestelle standen dort, bedeckt mit olivgrünen Armeewolldecken, so sauber und so festgezogen, als ob nie jemand in ihnen geschlafen hätte; es gab sonst nichts in der Zelle, nur diese ordentlichen Eisenbetten, die weit auseinander standen auf dem grün gestrichenen, vor Reinlichkeit glänzenden Zementboden, und sechs olivgrüne Holzkisten am Kopfende jedes Bettes. Die Zelle schien unermeßlich weit in all ihrer sterilen Sauberkeit – ganz im Gegensatz zu dem, was man bei dem Wort Zelle erwartete: Dunkelheit, Enge, Schmutz; einfach eine gewaltige, grüne Reinlichkeit, in der man sich verlor; es gab nicht einmal einen Geruch, der zu dieser Zelle gehört hätte …

Der junge Mann begann unter den wachsamen und jetzt mißtrauischen Blicken des Mexikaners die Kleider zu wechseln; der neugierige Blick auf die vernarbte Schußverletzung auf dem Rücken, vor allem aber die Tätowierung auf seinem linken Oberarm entging ihm nicht: Das hatte alle immer interessiert, das seltsame Motiv der Tätowierung, aber er hatte sich nie in Diskussionen darüber eingelassen. Zuletzt ließ der Mexikaner ihn stillstehen; er marschierte um ihn herum, befahl ihm, die Füße zu heben, damit er die Sohlen der Stiefel inspizieren konnte. Er deutete schweigend auf das rote Halstuch, das der junge Mann vergessen hatte abzunehmen. Der löste den Knoten, faltete es sorgfältig zusammen und steckte es weg.

»Okay, Errn! Keep step … forward march!« Er sagte es nicht wirklich so, sondern bellte die zerhackten Silben, zu denen sich das Kommando abgeschliffen hatte. Sie verließen die Zelle. »Two!« schrie der Wachhabende in dem Geviert. Das Eisen sprang auf, schloß sich. »One!« Auch dieses Tor schnappte auf und schloß sich hinter ihm. – One führte zur Bücherei, zu den Schulungsräumen, zum Besucherraum, zum commissary; ging man durch One, so bekam man immer einen Vorgeschmack von Freiheit. Der junge Mann versuchte, jenes Gefühl in sich wachzurufen, verwundert darüber, wie wenig es ihm immer noch bedeutete …

 

Die Tür, grün gestrichen, vor der ihn der Mexikaner schließlich anhalten ließ, lag gegenüber dem Haupteingang. Sie schien allen anderen gleich, durch die er gegangen war. Der junge Mann hatte mit seltsam gemischten Gefühlen das Zeremoniell der Entlassung über sich ergehen lassen; der Alptraum, daß sich jemand im Datum geirrt haben könnte, die besänftigende Vorstellung, daß nach ein paar Unterschriften alles vorbei sein würde … nun, vor dieser Tür, zeigte er offen seine Beunruhigung:

»Was ist los?«

»Der Major will dich sehen.«

»Warum?«

»Er sieht jeden vor der Entlassung.« Der Mexikaner lächelte. »Niemand, der hier weggeht, geht ohne einen guten Rat. Trophäen und Ratschläge, das macht diese Estados Unidos groß!«

Der junge Mann horchte angestrengt auf die Stimmen hinter der Türe; es erschien ihm alles zu ruhig, zu friedvoll: die flüsternden Stimmen, die Stille, die um ihn war, tiefer denn je. Die Tür ging auf, der Mexikaner winkte ihn herein. Im Vorraum standen drei Schreibtische, mit Namenschildern, mit gerahmten Fotografien. Keiner der Männer im Raum sagte etwas, sie vermieden es, ihn anzusehen, taten beschäftigt; kein Affront, sondern einfach, als könne ein freier Mann keinerlei Interesse in ihnen wecken. Man hörte Geräusche von draußen, vom Gefängnishof, gedämpft, weil die Fenster geschlossen waren, und das Geräusch des leise vor sich hinbrodelnden Wassers in dem Behälter in einer Ecke. Einer der Männer wies stumm auf die Tür, an welcher der Name des Majors angebracht war.

Der Raum, den der junge Mann betrat, wirkte wie eine Zelle: die vergitterten Fenster, die Sauberkeit, die Ausdehnung: Er hatte Haltung angenommen und sah nicht viel mehr als die graugrün metallene Fläche des Tisches: Es gab keine Fotografie auf diesem Tisch, nur zwei Ablagekästen aus Holz, in und out beschriftet, beide leer, ein Telefon und ein Paar Hände mit einer rauhen, verwitterten Haut. Eine Hand umschloß einen schweren Pfeifenkopf. Das zerkaute Mundstück richtete sich auf ihn.

»Also, David Herron … Sehen aus, als seien Sie in Form … Es gefällt mir, wenn die Männer, die hier weggehen, in Topform sind.« Die zwei tief eingeschnittenen Falten, die von den Nasenflügeln bis hinunter zu den Mundwinkeln liefen, der Mund selbst, heruntergezogen, eine Seite mehr als die andere, machten jedes Lächeln zunichte.

»Fühlen Sie sich in Form?«

»Ja, Sir!«

»Gibt nichts Besseres, oder? Für einen Mann, meine ich. Alle reden heute soviel von Moral … Aber ich sage, sei in Topform, dann hast du die Antwort auf alles.«

Man hörte hier die Geräusche von draußen klarer, weil das Fenster hinter dem Major offenstand. Sie konnten die Männer nicht sehen, aber sie beide wußten natürlich, was dort draußen auf dem Gefängnishof innerhalb der hohen, elektrisch geladenen Zäune vor sich ging, auf dem grauen, mit Schotter aufgeschütteten rauhen Boden, der einem die Haut aufschürfte, wenn man stürzte. Der Hof war zu klein für irgendeines der üblichen bekannten Spiele; aber der Major hatte eines erfunden, das zu den Maßen des Hofes paßte: combat football, wie er es nannte, ein Spiel, das die gewalttätigsten Bestandteile von Fußball, Rugby und amerikanischem Football vereinigte … Und natürlich diente der Hof dazu, daß jeder einzelne Mann jeden Tag seine fünf Meilen lief – achtundachtzigmal um den Hof – in nicht weniger als vierzig Minuten. Daß alle Strafgefangenen, über zweihundert Mann, zusammen jeden Tag annähernd auf tausend Meilen kamen, hatte dem Major seinen Namen eingetragen: Major Thousand-Miles.

»Ich weiß, ein Mann hier wird mehr oder weniger dazu gezwungen, in Form zu sein, wenn er uns verläßt, aber …«, er nahm die kalte Pfeife in den Mund und sah sich im Raum um, als suche er nach Unterstützung; sein Blick blieb auf der grünen Militärjacke haften, die an einem Kleiderständer hing. Über der linken Brusttasche waren Ordensbänder aus Stoff angenäht, drei Reihen, verwaschen, die Farben verblichen.

»Wir brauchen die zähesten, bestausgebildeten Männer, um gegen diese Bastarde zu kämpfen.«

Er hatte einen flachen Ordner aus der Schreibtischschublade hervorgeholt; er blätterte die Seiten durch, rastlos, blickte gar nicht darauf, sondern berührte sie nur flüchtig.

»Sie waren in diesem Krieg, Herron! Sie haben gegen diese Bastarde gekämpft und haben sich in Nam die Army Commendation Medal geholt.« Er blickte auf. Er mußte um die Fünfzig sein, doch sein Haar war vollkommen grau.

»Ich sehe nicht, daß Sie die Auszeichnung tragen?«

»Nein, Sir.«

»Und warum nicht?«

»Es steht alles in meiner Akte, Sir. Vier Monate hard labor, Entzug von dreihundertsechzig Dollar Sold, unehrenhafte Ausstoßung aus der Armee, Sir!«

»Wie sind Sie überhaupt in diese Sache hineingeraten?«

Die Worte des Majors erzeugten wie zuvor die des Mexikaners in dem jungen Mann lediglich Unruhe; ein Alarmzeichen, das ihn etwas Unvorhergesehenes, Unangenehmes erwarten ließ. Er gab keine Antwort, und der Major schien sie nicht zu erwarten. Seine Hände beschäftigten sich nun mit den Knöpfen des grünen Militärhemdes. In dem offenen, weiten Ausschnitt sah man den Halsansatz und die Haare dort; sie waren überraschenderweise nicht grau, sondern hatten einen rötlichen Glanz. Er blickte den jungen Mann zum ersten Mal direkt an.

»Ich hoffe, ich sehe Ihr Gesicht nie wieder hier.«

»Sicher nicht, Sir.«

»Worauf warten Sie dann noch?«

»Erlaubnis, Sir. Erlaubnis zum Gehen!«

»Haben Sie! Und vergessen Sie nicht, Sie sind ein freier Mann, wenn Sie aus dieser Tür hinausgehen. Ich meine, Sie haben Ihre Zeit abgesessen, und man wird Ihnen eine neue Chance geben … Okay?« Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Er schien angestrengt auf die Geräusche von draußen zu horchen.

»Ja, Sir. Danke, Sir.« Er wandte sich um, den Blick starr auf die Türe gerichtet; der Weg bis dorthin schien weit.

»… Vergessen Sie nicht, wir brauchen dort draußen Männer wie Sie. Gute Männer, in Topform, die an das glauben, was sie tun. Ich hoffe, Sie geben es diesen schlitzäugigen Bastarden … Herron!«

Er blieb stehen, kurz vor der Tür; eigentlich hatte er es erwartet; seine Zweifel waren immer wach geblieben, sein Argwohn, das Mißtrauen gegen den Frieden.

»Ja, Sir?«

»Es ist eigentlich nicht an mir, Ihnen das zu sagen …«

»Sir?«

»… ist eigentlich Sache Ihres Kommandeurs, Ihnen das mitzuteilen, wenn Sie sich bei Ihrer Einheit zurückmelden … Der Berufungsausschuß … Sie haben Ihre unehrenhafte Ausstoßung widerrufen! Sie gehören wieder zur Armee. Sie haben es wirklich verdient, und …«

Der junge Mann, David Herron, blickte auf seine schwarzen, glänzenden Stiefel, auf den nackten Boden, der so sauber und glatt war, daß man sich darin wie in einem Spiegel sah. Er versuchte, klar zu denken, aber einen Augenblick lang mühte er sich vergeblich; die Stimme des Majors, die Kommandos und die Geräusche, die von draußen hereindrangen – auf einmal waren sie real und brachen die Stille des Gefängnisses. Das einzige, woran er klar denken konnte, war das Spiel an dem Flipper-Automaten: Wenn ich die 100.000-Marke erreiche, wird alles gut ausgehen.

Es war natürlich unsinnig gewesen, sein Schicksal vom Ausgang eines Flipper-Spiels abhängig zu machen; aber dann wiederum: Ein Flipper-Spiel war so gut wie irgend etwas anderes – Knöpfe abzählen, eine Münze werfen; besser, weil man immerhin eine Chance hatte, gegen den Automaten zu gewinnen, zumindest gab es einem das Gefühl, daß man die Dinge selber in der Hand hatte. Vielleicht war es unsinnig gewesen, das Ziel so hoch anzusetzen – 100.000 Punkte, und ein alter Gottlieb dazu! Aber es wäre ihm wie ein Betrug vorgekommen, wenn er eine niedrigere Punktzahl gewählt hätte. Er hatte das Risiko auf sich genommen, aus freien Stücken, und schließlich war er voller Zuversicht gewesen, daß er die 100.000, die er mit dem Gottlieb noch nie zuvor erreicht hatte, diesmal schaffen würde. Schließlich hatten nur 300 Punkte gefehlt; die vierte Kugel, die ihm wegen einer kleinen Unachtsamkeit zwischen den Flippern hindurchgerutscht war, als der Mexikaner auftauchte – das hatte es entschieden … Mit diesem Gedanken fand er einen Teil seiner Zuversicht wieder.

»Stimmt etwas nicht, Herron?«

»Alles in Ordnung, Sir … Ich verspreche es Ihnen, wirklich …«

»Sie versprechen mir was?«

»Daß Sie mein Gesicht hier nie mehr sehen werden, Sir!«

 

Als der junge Mann gegangen war, blieb der Major hinter seinem Schreibtisch stehen, die Hände auf dem Ordner, dann legte er ihn zurück; seine Hände suchten in der Schublade, suchten etwas unter den vielen Dingen, die dort lagen: Papiere, andere Pfeifen, eine Waffe.

Als seine Hände hervorkamen, hielten sie einige Abzüge von Fotografien, abgegriffen, viele Male in die Hand genommen. Er sah sie nicht wirklich an, warf nur einen kurzen Blick darauf, als wolle er sich lediglich vergewissern, daß seine Erinnerung ihn nicht getrogen hatte. Die Ähnlichkeit der beiden Männer – seines Sohnes, der auf der Fotografie zu sehen war, und des jungen Mannes, der gerade den Raum verlassen hatte – war wirklich überraschend: nur daß der Soldat auf der Fotografie jünger und müder aussah.

Er trug einen Kampfanzug in Tarnfarben, und er stand im halbhohen Gras, im Hintergrund niedergebrannte Hütten. Maschinengewehrgurte hingen gekreuzt über seinen Schultern, die Hand hielt die Waffe, mühsam, wie es schien. – Oder war die Ähnlichkeit bei näherem Besehen nur eine Täuschung? Er wußte aus eigener Erfahrung um die oft verblüffende Ähnlichkeit aller dieser jungen Männer, wenn sie gerade aus dem Kampf kamen, um die erschöpften, ermüdeten Gesichter mit den überwachen Augen … Er zog die oberste Fotografie weg, blickte für Sekunden auf die zweite Aufnahme darunter: Vier Männer, die einen Sarg, der mit dem Sternenbanner bedeckt war, zu einem wartenden Helikopter trugen. Er hatte nur diesen einen Sohn gehabt …

Der Major legte die Aufnahmen zurück, verschloß die Schublade. Er trat an das Fenster und wartete, daß der Jeep auftauchen würde.

Als er dort stand und wartete, fühlte er wieder die Schmerzen in seinem Rücken; man hatte ihm schon lange gesagt, daß eine erneute Operation nötig war, um die wandernden Splitter zu entfernen. Er hatte die Entscheidung darüber immer wieder hinausgeschoben.

Der offene Jeep kam in sein Sichtfeld. Der junge Mann, David Herron, saß auf dem Rücksitz. Er hatte seinen grünen Sack vor sich auf den Knien, hielt ihn mit beiden Händen fest. An seinem Hals flatterte etwas Rotes, Unvorschriftsmäßiges.

Der Weg war uneben, voller Schlaglöcher, und der Jeep machte Sprünge auf dem harten trockenen Untergrund; es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet. In seinem Armee-Chevrolet, der die Unebenheiten schluckte, hatte es der Major nie so sehr bemerkt, wie schlecht der Weg wirklich war. Er sehnte sich danach, in einem Jeep zu sitzen, selbst wenn es noch schlimmere Schmerzen in seinem Rücken bedeutete …

 

Der Captain von der Military Police kam in einem neuen Lincoln. Es war Zufall, daß der Major drei Tage später wieder am Fenster stand und den Wagen bemerkte, wie er hinter dem langen, künstlich aufgeworfenen Erdwall auftauchte, der das Militärgefängnis von der weitläufigen Kasernenstadt abtrennte; er erkannte den Wagen, der trotz des stumpfen Armeegrüns funkelnd und neu aussah, und er wußte, daß es sich nur um etwas Unangenehmes handeln konnte; sie machten sich sonst nicht die Mühe, hierher zu kommen.

Der Captain, viel jünger als er, trug seine geschneiderte Uniform mit dem Air eines Anwalts. Seit seiner Scheidung vor einem Jahr verabscheute der Major Anwälte noch mehr. Trotz seiner Abneigung und bemüht, höflich zu sein, bot er dem Captain eine Tasse Kaffee an, aber dieser lehnte ab, ohne sich die Mühe zu geben, zu verbergen, wie sehr er Plastiktassen und Instant Coffee verabscheute.

»Wir haben hier leider nichts Besseres«, sagte der Major. »Irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Ihr Mann, David Herron – lesen Sie selbst.« Er hielt dem Major einen Streifen aus dem Fernschreiber hin. »Kann ich rauchen?« Er sah sich um, und da er nirgends einen Aschenbecher entdecken konnte, ging er zur Tür, öffnete sie; als er mit einem Aschenbecher zurückkam, setzte er sich auf den einzigen, mit rotem Kunststoff bezogenen Stuhl.

Der Major, jetzt hinter seinem Schreibtisch, zog das Fernschreiben zu sich heran; er überflog es nur; seine Augen schienen fast vollkommen in der faltigen, rauhen Haut zu verschwinden.

»Überrascht?« Der Captain schlug die Beine übereinander. »Ich hab’ Ihren Report für den Berufungsausschuß gelesen. Sie haben sich mächtig eingesetzt für ihn, damit die unehrenhafte Ausstoßung rückgängig gemacht wurde. Aber dieser junge Mann, Herron, er schien nichts davon zu halten. Keine zwei Tage bei seiner Einheit, und er desertiert …«

Der Major reagierte nicht. Er hatte die Pfeife mit dem schweren Kopf zwischen seine zusammengepreßten Lippen gesteckt. »Passen Sie auf!« sagte er.

»Aufpassen? O ja …« Der Captain führte die Hand mit der Zigarette hinüber zum Aschenbecher, aber dabei fiel das lange Stück Asche von seiner Zigarette auf den Boden. »Sie haben zum Glück eine Menge Strafgefangener, die alles hier sauberhalten.« Er lächelte.

»Können wir zur Sache kommen?« sagte der Major.

»Sie haben das Fernschreiben gelesen? Er hat sich davongemacht, Ihr Mann, Herron! Also, ich möchte mit den Wachen sprechen, mit jedem hier, der irgendwelche Auskünfte geben kann. Wir haben bereits das Übliche veranlaßt, die Grenzen werden überwacht, die Flughäfen, wir haben ihn ausgeschrieben. Aber ich möchte mehr über ihn herausfinden, etwas, was uns hilft, ihn aufzuspüren … Mit Ihrer Erlaubnis natürlich.«

»Nur zu.«

»Das ist fein, Kooperation – ich glaube an Kooperation, Major! Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte? Irgend etwas, das Sie mir über ihn erzählen können?«

»Sie sagten, Sie hätten meinen Report gelesen?«

»O ja. Man könnte auf die Idee kommen, wir meinten verschiedene Männer. Wissen Sie irgend etwas Persönliches? Etwas, das uns wirklich von Nutzen ist?«

»Stellen Sie Ihre Fragen.«

»Irgendeinen Anhaltspunkt? Zum Beispiel, wohin er sich wenden könnte? Wir werden ihn schon aufspüren, gar keine Frage; über kurz oder lang erwischen wir sie alle, oder sie stellen sich freiwillig. Aber Sie könnten ihm und uns eine Menge Arbeit und Zeit ersparen mit ein paar Hinweisen. Was für ein Mann war er? Sie kannten ihn schließlich am besten, oder? Lebten sozusagen vier Monate lang mit ihm unter einem Dach …«

»Sie werden sich die Finger verbrennen.«

»O ja, danke.« Der Captain drückte die Zigarette aus. Der Major rief etwas, es mochte ein Name sein, ein Dienstrang. Ein Korporal kam in den Raum. Der Major deutete mit seiner Pfeife irgendwohin, ohne weiter etwas zu sagen, aber der Korporal verstand: Er nahm den Aschenbecher vom Tisch und verschwand damit; er schloß die Türe hinter sich.

»Wenn Sie nicht wollten, daß ich hier rauche, warum haben Sie es nicht einfach gesagt?« Der Captain steckte die Zigaretten zurück. »Ich dachte …«

»Würden Sie bitte Ihre Fragen stellen, Captain.«

»Wie ich sagte, irgendein Hinweis, etwas Persönliches.«

»Ich fürchte, Sie stellen die falschen Fragen.« Es schien fast, als bereite es dem Major Befriedigung. »Dieser Herron war ein Einzelgänger. Er blieb immer für sich allein.«

»Hatte er Besucher?«

»Keine Besucher.«

»Sie meinen – kein einziger Besucher in den ganzen vier Monaten? Okay. Was ist mit Briefen? Sie kontrollieren den Schriftverkehr.«

»Sie können sich das Buch zeigen lassen. Keine Briefe; er hat keine bekommen und keine geschrieben.«

»Ziemlich ungewöhnlich«, sagte der Captain, aber da der Major nicht gewillt schien, einen Kommentar dazu zu geben, fuhr er fort: »Wie ist es mit dem Priester? Dieser Herron war Katholik. Hat er an den Messen teilgenommen?«

»Die meisten Männer nehmen daran teil. Aber das bedeutet hier nicht viel mehr, als daß man aus der Zelle herauskommt. Fragen Sie den Priester selbst.«

»Sie glauben, er wird mir nichts sagen können? Darf ich das so verstehen? Ich hab’ mir von dem Priester mehr versprochen. Dieser Herron hatte eine Tätowierung, ziemlich ungewöhnliches Motiv, eine Kreuzigung Christi! Haben Sie die gesehen? Wissen Sie, wann er sie hat machen lassen, wo und vor allem warum?«

»Das sind Fragen, die wir hier den Strafgefangenen nicht stellen.«

»Also schön, reden wir nicht davon. Hat er Kurse besucht? Sprachkurse zum Beispiel?«

»Ja.«

»Kommen Sie! Kooperation, Major! Was für Kurse?«

»Alle, die es gab.«

»Aha, ich sehe. Ziemlich clever. Für einen Deserteur ist nichts wichtiger als Sprachen. Hat er einen Kurs in Schwedisch genommen? Schweden ist das Ziel der meisten. Neutrales Land. Keine Auslieferung.«

»Wir haben hier keinen Schwedischkurs, nur Deutsch und Französisch. Vielleicht hat er auch etwas Spanisch aufgeschnappt; einige Wachen sprechen es.«

»Das ist doch etwas. Also Frankreich oder Spanien.«

»Nicht unbedingt, oder? Mit Englisch kann man sich gut behelfen.« Wieder hätte man einen Ton von Befriedigung heraushören können.

Der Captain hielt die Zündhölzer und das Päckchen Zigaretten in der Hand. Er schüttelte eine davon heraus, aber dann steckte er das Päckchen zurück in die Brusttasche, stand auf und trat an den Schreibtisch. »Es scheint, ich stelle Ihnen wirklich die falschen Fragen.«

»Vielleicht.«

»Ich werde mit den Wachen sprechen, mit Ihrer Erlaubnis. Das …«, der Captain deutete auf das Fernschreiben, »können Sie behalten.« Er ging zur Tür und wandte sich dort noch einmal um. »Wenn wir etwas Konkretes haben, Sie werden der erste sein, den wir es wissen lassen, okay?«

»Kann sein, daß ich dann nicht hier bin.«

»Sie gehen unters Messer?«

»Ihr wißt immer alles, wie?«

»Das ist unser Beruf. Aber Sie werden ihn sowieso sehen, früher oder später.«

»Wen sehen?«

»Diesen Herron … Wenn wir ihn haben, wird er wieder bei Ihnen landen; diesmal vielleicht für länger als vier Monate.«

Der Major nahm das Fernschreiben; wieder sah er es nicht an, sondern zog es über den Tisch zu sich, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb, als störte es ihn, daß sein Schreibtisch nicht vollkommen leer war.

»Okay«, sagte er, »versuchen Sie Ihr Glück, aber seien Sie nicht zu sicher. Er hat mir versprochen …«, aber dann schwieg er.

Er stand auf, sobald ihn der Captain verlassen hatte. Er öffnete das Fenster. Die Geräusche vom Hof, die Kommandos der Wachen und das Traben vieler Stiefel auf dem harten Untergrund klangen plötzlich sehr laut.

Wenigstens, dachte der Major – und etwas wie ein Lächeln lag um den Mund mit den heruntergezogenen Winkeln, um die fest zusammengepreßten Lippen – wenigstens ist er in Topform …

Erster Teil

I

Zwei schmale Grünstreifen umfaßten die Kirche wie ein Rettungsring, ganz so, als habe jemand verzweifelt versucht, sie über Wasser zu halten – über den Lärm des starken Verkehrs, der an ihr vorbeifloß, und die graue Häßlichkeit dieses Wiener Bezirks. Die Kirche selbst war ein grauer verwahrloster Bau, abgrundhäßlich, ein Mischmasch von Stilen und viel zu groß nun für einen Bezirk – den fünften, Margareten genannt –, der ständig an Einwohnern verlor. Es war nicht nur, daß die Kirche häßlich war, denn Häßlichkeit kann, wie bei Menschen auch, etwas Faszinierendes haben – sie war einfach ein graues Nichts in einer grauen Eintönigkeit.

Mit dem Beginn des Sommers und der Ankunft der Fremden in der Stadt wurde die Kirche am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, angestrahlt. Aber der einzige Effekt war, daß die Vorbeifahrenden sich verwundert fragten, warum, oder einfach glaubten, es müsse mit dem Gefängnis zusammenhängen, an das die Kirche mit einer Seite angebaut war. Während des Tages bemerkten die Leute die Kirche kaum, so verwachsen war sie mit den anderen Häusern, und die parkenden Autos entlang der die Kirche umgebenden Straßen taten das Ihre, sie den Blicken zu entziehen.

Der Lieferwagen umkreiste die Kirche nun schon das vierte oder fünfte Mal; der Fahrer war offensichtlich auf der Suche nach einem Parkplatz. Er setzte zu einer Art Spurt an, mit qualmendem Auspuff, sobald sich jemand einem parkenden Wagen näherte, und fiel dann wieder zurück in eine langsamere Geschwindigkeit. Es war ein alter, verrosteter Wagen mit einer offenen Ladefläche, längst keine bestimmte Marke mehr, sondern – wie die Kirche – aus vielen verschiedenen Fabrikaten und Teilen zusammengesetzt. Zwei Radkappen fehlten, der eine Kotflügel war eingedrückt, aus einer der beiden Frontleuchten hingen die Birne und Drähte heraus. Und er war so oft übermalt und ausgebessert worden, in allen Schattierungen von Rot, Orange, Rosarot und Violett bis Karmesin, daß er in dieser grauen Umgebung ganz fehl am Platz wirkte: ein fröhliches, bunt bemaltes Fährschiff, das den Fluß verlassen hatte und an Land geraten war. Der Fahrer schien sich mit seiner Fahrweise diesem Umstand angepaßt zu haben, denn er umkreuzte Fahrzeuge und Fußgängerinseln und die Fußgänger selbst, als seien sie im Wasser aufgestellte Markierungen, die flache Stellen anzeigen.

Drei Personen saßen auf der durchgehenden Bank vorne im Lieferwagen, eng beisammen, aber wegen der dreckigen Windschutzscheibe sah man nicht viel von ihnen. Zwei waren alt und einander sehr ähnlich in ihren grauen Kleidern und grauen Haaren. Der Fahrer war jung; den linken Arm weit aus dem Fenster gestreckt, gab er seine Zeichen: Warten, Überholen, Abbiegen. Er trug ein Khakihemd, und trotz der Hitze, die schon jetzt, um 10 Uhr morgens, sehr groß war, trug er die Ärmel nicht hochgerollt; lediglich die Manschetten waren umgeschlagen. Von Zeit zu Zeit, wenn er mit dem linken Arm seine Gesten machte, glitt der Stoff etwas weiter zurück, und dann wurde auf dem Unterarm eine Tätowierung sichtbar – gerade so viel, daß man sehen konnte, daß eine da war, aber nicht, was sie darstellte.

»Dies ist wieder eine deiner verrückten Ideen.«

Es war die Frau, die als erste etwas sagte. Sie saß in der Mitte, steif und aufrecht, mit steinernem Gesicht. Sie trug ihr graues Haar kurz geschnitten.

»Wie kannst du nur glauben, du bekommst irgend etwas aus dieser Kirche heraus.«

Sie bemerkte die Schmiererei, die sich groß über die Mauer an der Westseite des Kirchenschiffs hinzog: Wir brauchen Jesus, nicht Zuckermann!

»Dieser Zuckermann, der natürlich würde seine Kirche bis aufs letzte ausplündern! Aber wie kannst du nur glauben, du kommst an der alten Dame vorbei!«

»An alten Damen vorbeizukommen«, sagte der Mann an ihrer Seite, »das ist schließlich mein Beruf.« Wie die Frau war auch er nachlässig gekleidet in altes, graues Zeug, abgetragen und abgestoßen. Ihr Aufzug hatte etwas Unechtes an sich, er paßte zwar zu dem Lieferwagen, nicht aber zu den beiden Menschen selbst; er wirkte wie absichtlich verstaubte und verdreckte Weinflaschen.

Die Frau wandte sich jetzt an den jungen Mann zu ihrer Linken. Sie sprach nicht mehr Dialekt, sondern in kurzen, überdeutlichen Wendungen, wie man sie gegenüber Kindern und Fremden gebraucht.

»Dies deine Idee? Du setzt eine Menge verrückter Ideen in seinen Kopf. Er hat selber genug davon.«

»Laß ihn fahren«, sagte der Mann, »stör ihn nicht. Sieh ihn dir an! Hast du je einen besseren Fahrer gesehen? Ich bin hier geboren und aufgewachsen, hier in diesem Bezirk, aber er kennt jeden Stock und Stein – ist es nicht so, Seemann?«

Der junge Mann, zu konzentriert auf den Verkehr, antwortete nicht; endlich hatte er die leere Stelle entdeckt, nach der er so lange Ausschau gehalten hatte. Der ausgestreckte Arm gebot einem anderen Fahrzeug zu halten; der Lieferwagen schoß los, setzte zurück, vor und wieder zurück, fast so, als lege eine Fähre an einer überfüllten Pier an. Bei dem Versuch, den Wagen in die enge Parklücke zu pressen, gerieten die Räder auf den Bürgersteig, und dann, mit einem letzten Vor und Zurück, einem letzten lauten Blubbern des Auspuffs, schaltete der junge Mann den Motor aus und zog die Handbremse an.

Der alte Mann und die Frau verließen ihre Sitze. Die Tür fiel hinter ihnen zu, mit einem lauten, blechernen Geräusch. Tauben, grau wie alles hier, flogen vom Grünstreifen auf. Weiße Stellen an ihren Köpfen zeigten, daß es Ringeltauben waren; irgend jemand im Magistrat der Stadt hatte die Idee gehabt, alles sei in Ordnung, wenn man die gewöhnlichen Stadttauben ausrottete und sie durch Ringeltauben ersetzte, die ausschließlich in Bäumen nisten. Alle Denkmäler und Kirchen der Stadt – und es gab sie reichlich – sollten so vom Dreck der Stadttauben sicher sein. Aber das hatte nur eine Zeitlang gewirkt, und längst verhielten sich die Ringeltauben wie gewöhnliche Stadttauben.

Die Frau beobachtete sie, wie sie aufflogen: Sie versuchten, sich auf den Simsen der hohen schmalen Fenster an der Westseite niederzulassen, aber das gelang ihnen nicht wegen der Plastikstreifen, die man dort angebracht hatte und die den Krallen der Tauben keinen Halt boten. So flogen sie weiter, in steilem Anflug hinauf zum Dach der Kirche, flatterten herum und ließen sich schließlich in den Scharten des Glockenturmes nieder. Im Verhältnis zur Größe der Kirche war der Turm wenig beeindruckend, und er wurde überragt von einem hohen Antennenmast; drei Metallseile hielten ihn, und mit den Verstrebungen sah er wie ein modernes Kreuz aus: das eigentliche Wahrzeichen der Kirche.

Die Frau, immer noch die Tauben im Auge – sie hatte wie ihr Mann leicht rotgeränderte, wässerige Augen, so als wolle sie ihm auch darin gleich sein –, schüttelte den Kopf.

»Dieser Zuckermann – er mag keine Tauben!«

»Wie kannst du das sagen!« Trotz der Hitze – eine aufgestaute Schwüle, vierzehn Tage, die heiß gewesen waren, Nächte, die keine Abkühlung gebracht hatten – trug der Mann einen gestrickten Wollschal gekreuzt unter dem Jackett. Nur das Blau der Augen war anders bei ihm, heller und lebhafter, aufmerksamer.

»Ich glaube, er haßt sie! Warum hätte er sonst diese Plastikstreifen angebracht. Sie sagen, er streut Gift aus!«

»Das bringt niemand fertig«, sagte er, seine Sätze in einer eigentümlichen Art brechend, »Tauben zu vergiften.« Er gab ein Lachen von sich. »Wärst du eine Taube in dieser Stadt, du hättest dich längst an alle Arten von Gift gewöhnt. Du kannst auch die Trödler nicht ausrotten, oder glaubst du? Diese Stadt wird immer Tauben haben – und Trödler wie uns.«

»Ein Priester, der Tauben haßt!« Sie schüttelte erneut den Kopf. »Kein Wunder, daß die Kirche herunterkommt.«

»Und was für ein Glück für uns!« Der Mann bemerkte, daß die Haupttüre der Kirche offenstand; vermutlich nur, um die Wärme hineinzulassen, aber er nahm es als ein gutes Omen. »Wo bekämen wir sonst all dieses herrliche Kirchengestühl her!«

Für Trödler hatte es immer gute und schlechte Zeiten in dieser Stadt gegeben. Er war alt genug und lange genug in dem Beruf, um das zu wissen. Die schlechten Zeiten überstand man immer mit Geduld – und mit dem Wissen, daß die besseren wiederkamen. Und er war ein geduldiger Mann oder war es doch schließlich geworden.

»Das mußt du schon zugeben«, wiederholte er, »diese Entrümpelung der Kirchen, diese neue Mode, das ist das Beste, was uns seit Jahrzehnten passiert ist. Wir hatten so was nicht mehr, seitdem sie die Juden aus der Stadt hinauswarfen. Also, auf was warten wir?«

»Wird dieser-Priester da sein, dieser Zuckermann?«

»Nein, nur der Mesner … Also geh schon voraus. Ich hole nur das Werkzeug und meinen Mantel.«

Er ging zurück zum Lieferwagen und ließ die hintere Klappe herunter. Sie waren früh aufgebrochen, und auf der Ladefläche befand sich bereits eine Ansammlung der verschiedensten Dinge, die sie an diesem Morgen aufgelesen hatten; Stühle, Tische, ein Tellerbord, ein Karton voller alter Brillen und ein anderer mit zerbrochenem Spielzeug. Aber sie hatten noch reichlich Platz für die beiden Beichtstühle, deretwegen er hierher gekommen war.

Wieder gab er dieses Lachen von sich, das irgendwie alt und verbraucht klang, wie die Sachen, mit denen er umging. Es gab für einen Trödler besser verwertbare Dinge in einer Kirche als gerade Beichtstühle. Jedes Kirchengestühl ließ sich, wenn man wollte, noch in der gleichen Stunde mit gutem Profit losschlagen: all die Restaurants, die in der Stadt neu aufgemacht wurden, und dann die Geschäfte, in denen sie als Dekoration dienten, Modegeschäfte, selbst gewisse vornehme Friseurläden. Kirchenbilder hatten einen guten Markt. Die alten, gestickten Gewänder gingen reißend weg. Gar nicht zu reden von Leuchtern und künstlichen Altarblumen. – Aber er hatte sich immer schon einen Beichtstuhl gewünscht:

Sich all die Sünden vorstellen, die dort ausgesprochen worden waren! Generationen um Generationen von Sünden! Waren sie schlimmer geworden? Hatten sie sich gesteigert? Die Priester wußten es. Einmal, nur einmal zuhören! Um das hatte er die katholischen Priester sein Leben lang beneidet: Beichten zu hören, Geständnisse, Sünden. Die vielen schönen Sünden, die sie zu hören bekamen! – Aber auch das war nun bald dahin und vorbei. Manche Priester hörten schon keine Ohrenbeichte mehr … Wer weiß, demnächst würden sie auch noch heiraten …

Er nahm den Staubkittel von der Ladefläche und zog ihn über, knöpfte bedächtig die vielen Knöpfe zu. Es war ein langer Kittel, zerknautscht, schmutzig, mit einigen roten Farbflecken, und er reichte ihm fast bis zu den Knöcheln. Der Trödler sah darin noch dürrer aus. Den Werkzeugkasten in der Hand, trat er zu dem jungen Mann, der seinen Platz hinter dem Steuer nicht verlassen hatte.

»Ich hoffe«, der Trödler machte eine Kopfbewegung zu seiner Frau hin, die an der offenen Kirchentüre auf ihn wartete, »du kümmerst dich nicht darum, was sie sagt. Sie redet ziemlich viel Plunder.« Er lachte wieder, so als habe er einen guten Witz gemacht oder sei dabei, ihn zu machen. »Mit Plunder leben heißt noch nicht nur Plunder reden. Ich sag’ ihr immer wieder: >Ein Mann braucht Ideen, um leben zu können!< Aber genau das hält sie mir vor. Für sie sind Ideen Sünde! Und gefährlich! Ich sag’ dir, Seemann, eines Tages werden wir unsere große Idee in die Tat umsetzen. Richtig?«

Er blickte zu dem jungen Mann hinauf; der blieb stumm und rührte sich nicht von seinem Sitz. Sein Arm ruhte auf dem heruntergekurbelten Fenster; der Hemdsärmel verdeckte die Tätowierung. Der Trödler hatte sie nie zu sehen bekommen, obwohl er es versucht hatte; er wußte nur: sie war da, und das war auch der Grund, weshalb er den jungen Mann Seemann nannte, wegen dieser Tätowierung und wegen der Sprache, in der dieser sich manchmal ausdrückte. Er hatte ihn nie nach seinem Namen gefragt – das war Trödler-Gesetz: Frag nicht, woher die Dinge kommen –, und so war es bei diesem Namen geblieben: Seemann.

»Werden wir doch …« versuchte er es noch einmal, »unsere Idee in die Tat umsetzen, richtig?«

»Werden wir sicher. Eines Tages.«

»Nicht eines Tages. Bald. Ganz bestimmt, Seemann, wir zwei zusammen. Ich werde das Differential für den Land-Rover heute noch bestellen, und dann, wenn es eingebaut ist, dann werden wir …«

»Dann werden wir losbrausen, sicher. Leinen los, Anker auf …« Er sprach ein eigenartiges Deutsch. Manchmal schien es fast perfekt, fließend, gefärbt mit dem Wiener Dialekt, aber dann merkte man, daß es mehr eine Art von Mimikry war, die Fähigkeit, etwas nachzuahmen, was er vielleicht nicht einmal immer ganz verstand.

»Ich meine es ernst, Seemann.«

»Ich weiß, und ich baue das Differential selber ein, und dann hält uns nichts mehr. Zufrieden?«

»Du kannst mich beim Wort nehmen! Es wird bestellt, heute noch.«

»Ich nehme dich beim Wort.«

»Es kann ja unter uns bleiben, vorerst …«

»Natürlich bleibt es unter uns.«

Es mußte sehr heiß in der Kabine des Lieferwagens sein, aber auf dem Gesicht des jungen Mannes war kein Schweiß zu sehen. Er hatte hellbraunes Haar, ein bißchen kurz für sein Alter. Die Haut des Gesichtes war gebräunt, und man bemerkte, daß er sich nicht an diesem Morgen, sondern schon am Abend zuvor rasiert hatte. Der Trödler hatte auch das beobachtet: Er rasierte sich nie am Morgen, sondern am Abend; es war immer das letzte, was er tat, so als erwarte er, daß die wichtigen Dinge sich während der Nacht ereigneten, nicht während des Tages.

»Kommst du nicht mit?« fragte der Trödler.

»Ich halte die Brücke. Ich steh’ hier im Parkverbot.«

»Steht hier jeder!«

»Aber ich mag keine Bußzettel.«

»Wenn ein Polizist kommt, öffnest du die Motorhaube. Sie sind großzügig bei Trödlern, deren Wagen zusammengebrochen sind«, er lachte, »und nicht zu neu und sauber.«

»Er ist sicher nicht zu neu und sauber.«

»Aber unser Land-Rover – er wird wie neu sein mit dem Differential! Willst du nicht doch kommen?«

»Ich bin da, wenn du mich brauchst, zum Heraustragen. Rede zuerst mit ihm.«

»Du meinst, es könnte etwas dazwischenkommen?« Der Trödler sah plötzlich beunruhigt aus. »Weißt du, ich hab’ das Pfarrhaus schon seit vielen Jahren im Auge. Es steckt voller Schätze, der Dachboden muß voll von alten Sachen sein. Mit dem alten Pfarrer stand ich gut, und ich hatte ihn fast schon so weit, daß er mich auf den Dachboden gelassen hätte. Dann kam dieser Zuckermann … An seiner Mutter, der alten Dame, kam ich nie vorbei. Bist du wirklich sicher, sie geben die Beichtstühle her?«

»Ziemlich sicher, ja.«

Er lehnte sich zurück und schloß die Augen, ganz so, als würde er im nächsten Augenblick einschlafen. Der Trödler wußte, er hatte tatsächlich diese Fähigkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort sofort einzuschlafen, selbst im lautesten Lärm, mit Menschen um sich, wann immer sie irgendwo lange zu warten hatten, und ein Trödler wartete viel. Und dennoch konnte man ihn jederzeit aufwecken, und er war sofort hellwach, frisch. Es war eine weitere Eigenschaft, die er an dem jungen Mann bewunderte, auch weil sie so gut war für die große Fahrt, die sie eines Tages zusammen machen würden.

»Heute wird das Differential bestellt«, versprach er ein letztes Mal, und damit ging er hinüber zu der Frau, die im Schatten der großen Türe auf ihn wartete. Der weite Staubkittel schlackerte um seine Beine.

Der junge Mann blieb sehr ruhig sitzen. Einmal streckte er seine Hand nach der Schachtel mit Zigaretten aus, die oben auf dem Armaturenbrett lag, aber er nahm doch keine. Seine Hände spielten mit dem Steuerrad; er lockerte die Bremse, zog sie wieder an; er legte verschiedene Gänge ein, zog den Schlüssel ab und steckte ihn wieder ins Zündschloß. Die Unruhe seiner Hände stand im Gegensatz zu allem anderen: zum Körper, der bewegungslos im Sitz ruhte, zum Gesicht, das schläfrig wirkte; aber nichts, was seine Hände auch versuchten, schien ihnen die Unruhe zu nehmen.

Zuletzt, als sei dies ohnehin ihr Ziel gewesen, lösten die Hände das Halstuch, das der junge Mann trug. Es war eigentlich nicht mehr als ein großes buntes Taschentuch. Die Hände begannen den Stoff zu drehen und zu wenden, sie schlangen einen Knoten, und das Tuch schien Leben zu bekommen. Es war eine Art Puppe, die er plötzlich in der rechten Hand hielt, der Kopf über dem Zeigefinger, Daumen und Mittelfinger waren die zwei ausgestreckten Arme. Und dies alles tat er, ohne auch nur einmal hinzusehen, wie schlafend in seinem Sitz, die Augen halb geschlossen.

II

Der Mann vom Blumenstand an der Ecke – an der Westseite der Kirche, dort, wo die beiden Straßenbahnlinien sich kreuzten und zwei Haltestellen waren – hatte den roten Lieferwagen die ganze Zeit über beobachtet: Wie er die Kirche umkreiste, immer wieder, und wie er sich schließlich in die schmale Parklücke hineinzwängte. Der Mann hatte ein runzliges Gesicht, leicht gerötet, nicht alt eigentlich, sondern nur das Gesicht eines Menschen, der viel Zeit im Freien verbringt. In einem Ohr steckte ein Hörknopf, ein altmodisches Ding, mit einem ziemlich dicken Kabel, das vom Ohr herunterhing und hinter dem Hemdkragen verschwand.

Er hatte nicht viele Kunden an diesem Morgen, und so blieb ihm Zeit, die Dinge um sich herum zu beobachten. Der Samstag sollte eigentlich der beste Tag in der Woche sein, ein Tag, an dem die Leute mehr Blumen als sonst kauften. Auch das Wetter war gut, ein bißchen zu heiß vielleicht, aber besser als Regen.

Mit einem Blumenstand war man immer abhängig vom Wetter und von den Stimmungen der Menschen. Er hatte mit einem guten Tag gerechnet. Und so hatte er reichlich eingekauft an diesem Morgen auf dem Großmarkt: Löwenmäulchen, Pfingstrosen, die letzten Anemonen und die ersten kurzstieligen Sommermalven; einige Gerberas, Buschrosen, Veilchen und natürlich Nelken. Es war eine gute Mischung von dem, was er zu dieser Jahreszeit verkaufen konnte, bis auf die Glockenblumen vielleicht und den ersten Rittersporn; dazu hatte er sich hinreißen lassen, und wenn er sie heute oder spätestens morgen früh nicht verkaufte, dann überhaupt nicht mehr. Schließlich hatte er Lilien und Gladiolen genommen – auch noch! – in der Hoffnung, daß das Mädchen sie für die Kirche kaufen würde. Aber das Geschäft ging schlecht, und das Mädchen war bisher nicht gekommen; er dachte daran, daß er sie die ganze Woche nicht gesehen hatte …

Der rote Lieferwagen des Trödlers war so etwas wie eine Institution, gehörte zu diesem Bezirk wie der Blumenstand, der nun schon fast dreißig Jahre in seinem Besitz war und sechzig Jahre in der Familie, immer an der gleichen Stelle. Auch Trödler hielten sich an ihre Bezirke; sie kamen, wenn sie echte Trödler waren, von ihren Stammplätzen nicht los; irgendwann kehrten sie immer wieder zu ihnen zurück. Es war wie mit den Huren, die hier in der Nähe ihre Plätze hatten, die dort anfingen, junge Dinger, dann verschwanden, auf Jahre hinaus, in die entferntesten Städte abwanderten- und plötzlich wieder da waren.

Den Wagen des Trödlers hatte er eher nebenbei und aus Langeweile beobachtet; erst als der Fahrer sein kühnes Parkmanöver ausführte, war sein wirkliches Interesse erwacht: Er kannte nur einen Mann, der ein so altes, unbeholfenes Vehikel auf diese Art und Weise manövrieren konnte; er hatte es oft genug beobachtet auf den Straßen um den Blumen-Großmarkt, der auch in diesem Bezirk lag, und wo zwischen fünf und sechs Uhr morgens – wenn all die Anlieferer kamen und die Händler wie er, mit ihren fahrbaren Blumenständen – ein noch größeres Chaos herrschte. Und so ging er dann mit einem letzten Blick auf seinen Stand und die Passanten, die vorbeieilten, auf den roten Wagen zu, der nur wenige Meter entfernt parkte.

»Tatsächlich, der Orchideen-Mann!« Er starrte den jungen Mann hinter dem Steuer eine Zeitlang ungläubig an. »Ich hätt’s mir denken können, bei der Art, wie du geparkt hast … Ich dachte mir’s beinahe .. aber dann … dachte ich mir, das ist nicht möglich! Der Orchideen-Mann im Trödler-Geschäft!« Er stieß beim Sprechen mit der Zunge an die Zähne, was seine Worte unbeholfen machte:

Der junge Mann machte dieses sonderbare Gesicht, bei dem man nicht wußte, war es ein Lächeln oder nicht, solange er nichts sagte. Er bewegte sich nicht in seinem Sitz, und der Mann auf dem Bürgersteig konnte nicht sehen, was er mit seinen Händen machte.

»Im Lumpen- und Knochengeschäft!« Der Händler schüttelte den Kopf. »Ich hab’ mich gefragt, wo ist er hin? Plötzlich warst du vom Markt verschwunden? Warum?«

»Mal was anders.«