Sibirien-Transfer - Hans Herlin - E-Book

Sibirien-Transfer E-Book

Hans Herlin

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Beschreibung

Rußland im Herbst 1918. Irgendwo zwischen Moskau und dem Ural ist ein Eisenbahnzug mit einer Fracht von unvorstellbarem Wert verschollen. Oliver Quinn, ein englischer Geologe und Agent wider Willen, gerät zwischen die Fronten der Parteien, die alle nach dem Gold des Zaren suchen. Eine brillant erfundene Thriller-Story vor dem Hintergrund einer wahren Begebenheit am Rande der Transsibirischen Eisenbahn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 424

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Hans Herlin

Sibirien-Transfer

Roman um das Gold des Zaren

FISCHER Digital

Inhalt

Für G.L.Erster TeilDer Wächter123456Zweiter TeilDer Wächter789101112131415OmskDritter TeilDer Wächter1617181920212223242526Vierter TeilDer Wächter2728293031323334353637[Bildteil]Epilog

Für G.L.

Erster Teil

Der Wächter

»Akula! Prokliataia Akula! Polutchai eto!«

Wahrscheinlich hatte er den Engländer schon mit dem ersten Schuß getötet, aber Nikulin fluchte und feuerte weiter, bis das Magazin leer war. Die letzten Schüsse richtete er nicht mehr auf den Mann am Boden. Die Geschosse trafen die Bäume, rissen die trockene Rinde auf. Er hob die Waffe und schoß in die Kronen. Ein bißchen Blau schien hindurch.

Der klare Himmel ohne eine Wolke und der Gedanke an das Flugzeug ließen ihn zur Besinnung kommen. Er hielt den Atem an. Er bewegte sich nicht, bis das Echo der Schüsse schwächer und schwächer wurde. Die Strahlen der Sonne fielen in langen Streifen durch die Bäume. Die Luft war warm und schwer von dem süßen Harzgeruch, den die Föhren ausströmten. Bienen schwärmten durch den Wald.

Es war wieder still wie zuvor, aber Nikulin empfand die Stille verändert, wie eine Verschwörung gegen ihn. Er zuckte die Achseln, um den Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen und schob ein neues Magazin in seine Waffe.

Der Engländer lag am Waldrand, mit dem Gesicht nach unten im dichten Moos zwischen den hohen Farnen. Eine Hand war in die Erde gekrallt, Nikulin konnte den Einschuß nicht sehen; das Blut färbte eine Seite der Brust und ergoß sich auf den Boden. Er beugte sich über den Toten, um ihn auf den Rücken zu drehen. Einer der Hemdsärmel war unter der Jacke des Engländers hervorgerutscht, und Nikulin sah etwas aufleuchten: einen Manschettenknopf, golden, groß und schwer – ein vierblättriges Kleeblatt …

Nikulin richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Sein Zorn lebte wieder auf.

»Akula«, fluchte er – Hai! »Prokliataia Akula!«

Er bemerkte den Ameisenhügel und sah, wie die ersten großen schwarzen Insekten herankrochen.

»Ich sollte dich dort liegenlassen, bis sie dich auffressen!«

Er wußte, daß daran wegen des Flugzeuges nicht zu denken war. Er versuchte sich zu beruhigen. Es war gut, sich daran zu erinnern: Fedor Nikulin, Kommandant des ›Blauen Zuges‹, befand sich abgeschnitten hinter den feindlichen Linien! Seit fünf Wochen war er inzwischen allein in den Bergen und wachte über den Transport. Er hatte damit rechnen müssen: Der Transport mußte die Haie anziehen. Es war ein zu starker, zu verlockender Geruch …

»Danke für die Warnung!« Fedor Nikulin drehte den Engländer auf den Rücken. Das Gesicht des Toten, braungebrannt von der Sonne, war wie aus Bronze gegossen. Nur das strahlend helle Blau der Augen erinnerte daran, daß dies eben noch ein lebender Mensch gewesen war.

Die offenen Augen störten Nikulin plötzlich. Er streckte die Hand aus und drückte die Lider zu. Die klaffende Wunde auf der Herzseite begann wieder zu bluten, als er den Körper aus der Sonne weg und hinein in den Wald zog.

*

Eine Stunde später war Fedor Nikulin mit Spitzhacke und Feldspaten zu der Leiche zurückgekehrt. Die Waldameisen krochen bereits über den ganzen Körper. Er grub ein Loch in den Waldboden, ohne Hast. Er stieß den Leichnam des Engländers hinein. Er hatte bemerkt, daß der zweite Manschettenknopf am anderen Ärmel des Hemdes fehlte; er suchte den Boden ab, aber er fand den zweiten Knopf nicht.

»Du mußt eben mit einem auskommen!« sagte er laut.

Er begann, die Erde in das Grab zu schaufeln. Er trat sie fest. Er verteilte den Rest, der übriggeblieben war. Er war kaum fertig mit seiner Arbeit, als er das Motorengeräusch des Flugzeuges hörte.

Es kam jeden Tag, so pünktlich, daß er seine Uhr danach stellen konnte; zwei Stunden vor Sonnenuntergang überflog die Maschine den Rotkopf-Paß und näherte sich Karmel, entlang der nördlichen Trasse der Transsibirischen Eisenbahn durch den Ural. Es kreiste über dem Gebiet von Karmel und verschwand nach einer halben Stunde in dieselbe Richtung, aus der es gekommen war.

Es war ein Zweisitzer, eine englische Type; Nikulin hatte es mehr als einmal beobachtet, so dicht über den Baumkronen, daß er den Piloten und in dem Sitz hinter ihm den Beobachter mit seiner Kamera erkennen konnte. Nikulin hatte sich daran gewöhnt, und es beruhigte ihn in gewisser Weise: Die Erkundungsflüge hatten ihm gesagt, daß man bisher nichts entdeckt hatte. Aber heute empfand er auch das anders.

*

Er bewegte sich nicht von der Stelle, solange das Flugzeug in der Luft war. Als das Motorengeräusch sich entfernte und dann ganz verstummte, machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Lager.

Der Weg führte durch dichten Föhrenwald, hohe, graue Stämme. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, und der nadelbedeckte Waldboden war trocken wie Zunder. Das gute Wetter, ein Altweibersommer in einem Höhenklima, hatte sein Leben in den Bergen bisher einfach gemacht.

Das Terrain stieg an. Der Wald lichtete sich, der Boden wurde steiniger. Er war hungrig, er spürte ein starkes Verlangen nach einer Zigarette. Dennoch legte er keine Pause ein. Er war ein Mann von eher kleiner Statur, aber die Art, wie er sich bewegte, zeugte von Zähigkeit und Ausdauer. Auch sein hageres Gesicht mit den breiten Flächen hatte einen starren Ausdruck von Beharrlichkeit.

Er hielt nur einmal an, als er die alte Paßstraße erreichte, eine Stelle, die im Volksmund ›Friedhof der Pferde‹ genannt wurde. Die Luft war hier verändert, dünner und kühler; es lag nicht nur an der Höhe und daran, daß die Sonne tiefer stand. Der Wind hatte gedreht. Er kam jetzt aus Nordost, ein kalter Wind mit heftigen Böen. Nikulin spürte – durchschwitzt wie er war – ein Frösteln auf seiner Haut.

Er wandte sich um. Er überblickte von hier das ganze Gebiet von Karmel, die Täler und Bergrücken des Ural, Kette um Kette von dicht bewaldeten Hügeln; gegen Nordosten erhoben sich kahle Bergmassive und vereinzelte schroffe Spitzen über die Waldgrenze. Den Ort selber konnte er von seinem Standort aus nicht sehen; in der Dunkelheit zeigte ihm der Widerschein der Lichter dessen Lage an, aber am Tage war Karmel durch einen der bewaldeten Bergrücken seinen Blicken entzogen. Nur die Bahnstation außerhalb des Ortes, am Beginn der Ebene, war sichtbar.

Er richtete seinen Blick dorthin. Fern am Horizont sammelten sich Wolken. Die Ebene war in jenes eigenartige Licht getaucht, das vor dem Sonnenuntergang hier in den Bergen herrschte, ein ganz besonderes Licht, das die Luft klar und durchsichtig machte. Nichts bewegte sich in der Ebene, nicht eine einzige Staubfahne. Wieder fühlte Fedor Nikulin etwas anderes: Er sah überall Bewegung, Männer, die seine Spur suchten; er spürte geradezu, wie sie die Region überschwemmten, in Karmel einfielen. Nicht einzeln mehr, wie der Engländer, sondern ganze Rudel von Haien – als witterten sie die Beute.

Nichts eigentlich hatte sich verändert. Aber Nikulin fühlte: Alles hatte sich verändert.

»Akula! Prokliataia Akula!«

Er stieß den Fluch aus und wandte sich ab. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Er wandte sich noch einmal um. Er starrte auf die dicht bewaldeten Hügelketten um Karmel.

Er bemerkte zum ersten Mal, daß die Blätter der Laubbäume, die in den Tälern und niedrigen Lagen zwischen den Fichten und Föhren wuchsen, sich zu verfärben begonnen hatten.

Sie hatten, dachte Fedor Nikulin, den Farbton von Goldbarren …

1

Quinn hatte allen Grund, sich gut zu fühlen, der Tag begann vielversprechend. Ein kalter, trockener Frost überkrustete das Schilfrohr weiß und machte das Licht des frühen Morgens klar und durchsichtig. Der Irtysch bildete hier in jedem Herbst durch Überschwemmung ein viele Kilometer breites, sumpfiges Seegelände. Inseln, von Schilf umwachsen, trennten die Wasserläufe. Während der Kahn sich langsam vorwärtsbewegte, brach die hauchdünne, frische Eisschicht auf beiden Seiten; in der klaren, frostigen Luft hatte das Geräusch etwas Helles, Metallisches, wie das Anschlagen einer Stimmgabel. Im Osten, jenseits des Flusses, stieg die Sonne auf, ein fahler, runder Ball, verschwommen im Morgendunst; zu schwach, wie es schien, um jemals die ungeheure Weite der sibirischen Steppe zu erleuchten.

»Wenn es weiter friert«, hatte der russische Jäger vorausgesagt, »gibt es massenhaft Enten.« Sie hatten Omsk um Mitternacht verlassen und Sednews Jagdhütte außerhalb von Boloto vor Sonnenaufgang erreicht. Sofort nach einem einfachen Frühstück hatten sie das Boot bestiegen.

Oliver Quinn war ein Mann, der den größten Teil seines Lebens in der freien Natur verbracht hatte, und man sah es ihm an. Er war zweiundvierzig; sein Haar begann bereits grau zu werden, aber es war dichtes Haar, und der ganze Mann vermittelte den Eindruck von Kraft und Gesundheit. Er hatte ein schmales Gesicht und braune Augen, deren Intensität einem nicht sofort auffiel, weil sie tief verborgen in ihren Augenhöhlen lagen. Alles in allem sah er aus wie ein Mann, von dem man sich schwer vorstellen konnte, daß er zu Selbstzweifeln neigte.

Sednew, auf der Bank hinter ihm, zog die Stange ein, mit der er das Boot vorangestoßen hatte. Der Kahn glitt noch einige Meter weiter und kam am Rande einer der vielen kleinen Inseln, halb verdeckt von Schilf, zum Stillstand. Die Strömung war hier stärker, so daß sich auf dem Wasser kein Eis hatte bilden können. Einige Federn trieben auf der grauen Wasseroberfläche. Sie hielten sich oben, waren also frisch verlorenes Gefieder. Sednew deutete stumm darauf, aber Quinn hatte sie bereits entdeckt. »Du hattest also recht«, sagte er.

»Mach dich bereit, Anglitschanin!«

Sein Name, Quinn, ging Sednew irgendwie nicht über die Zunge. Er hatte ihm angeboten, ihn mit seinem Vornamen anzureden, aber damit stieß er bei dem alten Jäger auf kein Verständnis: Jemand, der ihn für seine Dienste bezahlte, erwarb damit gleichzeitig Respekt und Distanz, und so war es bei Anglitschanin, Engländer, geblieben.

Wieder hörte er Sednew in seinem Rücken flüstern. Quinn nahm die doppelläufige Schrotflinte. Warum, fragte er sich wieder, fühlte er sich nicht besser? Auf der Jagd vergaß er gewöhnlich alles, was ihn beunruhigte. Es blieb kein Platz für andere Gedanken als das Wild.

»Fertig? Er kommt direkt auf dich zugeflogen!«

Sednew hob die ineinander verschränkten Hände an den Mund. Quinn spannte den Hahn, spähte nach vorn, während er in seinem Rücken den Lockruf des Entenweibchens hörte, den der alte Jäger mit den Händen am Mund nachahmte; der Ruf klang so zart und lockend, daß er selbst Quinn einen Augenblick täuschte.

Über das Schilfrohr hinweg entdeckte er zwei Striche, und als der Enterich plötzlich hochstieg und in einer steilen Kurve wegdrehte, vernahm Quinn das heftige Schlagen der Flügel. Er hatte den Bruchteil einer Sekunde gezögert und kam nicht mehr zum Schuß; der Enterich schwebte nach unten nieder und wasserte auf dem Fluß, außer Sichtweite. Quinn hatte einen Blick auf den Vogel werfen können; den breiten, weißen Augenstreifen nach war es ein großer Krikenenterich.

»Ich hätte ihn nur angeschossen.« Quinn war ärgerlich auf sich selbst.

»Er kommt zurück«, flüsterte Sednew. »Warte es ab. Er kann nicht widerstehen …« Wieder begann er mit seinem Lockruf.

Quinn kniete sich am Bug auf den Boden nieder; das Boot war so leicht gebaut, daß er im Stehen keinen sicheren Stand hatte. Der Boden bewegte sich schaukelnd mit der Strömung. Der Wind hatte sich gelegt, Sednews Lockruf schwebte wie ein Lufthauch über dem Wasser. Die Abgeschiedenheit des Ortes, die Schönheit der Natur, das Warten auf das Wild – es hatte immer noch auf Quinn seine Wirkung ausgeübt, ihn seine innere Unruhe vergessen lassen; er sagte sich, daß es auch an diesem Morgen schließlich nicht anders sein würde. Er atmete ruhiger, mit offenen Lippen. Die Luft war so kalt, daß sie in seinem Munde zu gefrieren schien. Seine Hände umschlossen den Schaft der Flinte.

Er hörte plötzlich wieder das Flattern von Flügeln. Die Spitzen des Schilfrohrs bogen sich nieder, als der Vogel auftauchte. Diesmal schoß Quinn ohne Zögern. Der Krikenenterich machte einen Satz in der Luft, stieg hoch; dann begann er zu fallen, umgeben von weißgeränderten, blauschwarzen Federn.

Während Quinn den fallenden Vogel beobachtete, wartete er darauf, daß sich das Glücksgefühl einstellte, das er in solchen Momenten immer empfunden hatte. Aber er fühlte weder Befriedigung noch Enttäuschung. Als er sich umwandte und Sednew anblickte, lag nicht mehr als ein schmerzliches Lächeln auf seinem Gesicht. Der alte Jäger schien nichts Besonderes daran zu finden. »Der Tag ist noch lang«, sagte er. Er nahm die Stange und stieß sie auf den Grund; der Kahn kam frei, und Sednew steuerte ihn auf die Stelle zu, wo der Vogel mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Wasser trieb.

*

Sie hatten ein Dutzend Enten aller Arten und vier Schnepfen geschossen. Die Sonne war strahlend aufgestiegen in einem wolkenlosen Himmel; der Tag blieb kalt genug, so daß sie nicht von Mücken geplagt wurden. Auf dem Weg zurück zum Lager machten sie einen Umweg; Sednew fing einige Äschen für den Abend.

Quinn war in einer besseren Stimmung. Er hatte jenen Grad körperlicher Erschöpfung erreicht, der bei ihm zum Wohlbefinden gehörte. Er begann Omsk bereits zu vergessen. Sie würden die Nacht hier draußen verbringen, am nächsten Morgen in aller Frühe wieder auf Entenjagd gehen. Und er hatte mit Balajew eine Abmachung getroffen: Der Hauptmann würde von Omsk herüberfliegen und sie zu den Aissary-Bergen bringen.

Man mußte sich weit von Omsk entfernen, um noch in Ruhe jagen zu können. Die Offiziere der Weißen Armee, die dort stationiert waren, wußten oft nicht, wie sie ihre Zeit totschlagen sollten; sie gingen in Gruppen auf die Jagd, erlegten Niederwild mit Maschinengewehren, fischten mit Handgranaten; Wild war in der näheren Umgebung der sibirischen Stadt – dem Hauptquartier der Weißen Armee – rar geworden. Sednew hatte es fertiggebracht, von dem Gouverneur eine Sondergenehmigung zum Abschuß von zwei Stück Hochwild und einem Graubären zu erhalten. Sie wollten zusammen eine Woche in den Bergen jagen, und dann würde Quinn seine Entscheidung treffen, ob er seine Arbeit in Omsk aufgeben und nach England zurückkehren würde.

*

Sie richteten sich in ihrem Lager ein; sie hatten sich am Morgen dazu keine Zeit genommen. Die einfache Holzhütte mit ihrem Schilfdach stand am Ende eines Seitenarmes des Flusses. Quinn hatte sich ins Innere der Hütte zurückgezogen, um seine feuchten Stiefel zu wechseln. Sednew war dabei, die über den Sommer verfallene Feuerstelle wieder herzurichten. Er sang dabei vor sich hin: »Konnte nicht widerstehen … Nicht widerstehen … Der Verlockung einfach nicht widerstehen …«

Es war eine Angewohnheit des alten Kirgisen; er baute seine Sätze, stellte seine Fragen, machte seine knappen Bemerkungen, indem er sie in Gesang kleidete. Wenn Sednew einmal einen Satz normal aussprach, dann konnte man sicher sein, daß ihn etwas beunruhigte; genau das war jetzt der Fall: Quinn hörte im Innern der Hütte, wie der Singsang des alten Jägers abbrach.

»Anglitschanin! Kommen Sie!«

Quinn trat aus der Hütte heraus. Jenseits einer Fläche Torfmoor, auf der ihr Pferd weidete, stieg das Gelände an. Auf dem Hochufer verlief ein schmaler Pfad, ein Automobil stand dort und daneben ein Mann in Uniform. Er winkte zu ihnen herunter und rief seinen Namen:

»Quinn! Hallo, Quinn!«

Er stand nicht mehr als hundert Meter entfernt, aber die tiefstehende Sonne warf lange Schatten, und in der Weite der Landschaft wirkten der Wagen und der Mann spielzeughaft klein.

»Quinn! Würden Sie hierher kommen, bitte. Hallo, Quinn!«

»Das war eine kurze Jagd, Anglitschanin.« Sednews gebräuntes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen mit einer Haut wie aus Leder; es machte ihn älter aussehend, über seine Jahre hinaus.

»Nimm keine Notiz von ihm.« Quinn wandte sich ab, so, als würden sich das Automobil und der Mann damit in Luft auflösen.

»Quinn! Der Major will Sie sprechen!«

Wieder versuchte Quinn, die Stimme einfach zu überhören. »Wie weit bist du mit dem Essen?« fragte er Sednew.

Warum konnten sie ihn nicht wenigstens diesen einen Tag in Ruhe lassen!? Seine Zweifel, die Verbitterung, die er die letzten Monate gefühlt hatte, waren mit einem Schlage wieder da. Was für ein Narr er gewesen war, sich überreden zu lassen, diesen Posten in Rußland anzunehmen … Und Fitzmaurice war der Letzte, den er in diesem Augenblick sehen wollte.

Quinn zögerte, sah sich um, als suche er in der Natur Unterstützung. Er blickte über den ausgeuferten Fluß, die schilfumstandenen Inseln, hinaus in die gewaltige Steppe – ein riesiger, leerer Raum bis zum Horizont. Weite, offene Flächen hatten Quinn immer fasziniert. Die Hälfte seines Lebens hatte er in der Wildnis verbracht, zwanzig Jahre davon in Kanada, auf der Suche nach Gold. Nostalgie nach seinem früheren Leben hatte ihn dazu bewogen, London zu verlassen und nach Rußland zu gehen. Als er jetzt über die öde Steppe blickte, hatte die dürre Erde in dem besonderen abendlichen Zwielicht etwas von einem fremden Planeten.

Er wandte sich an Sednew. »Ich bin morgen früh zurück«, sagte er. »Spätestens komme ich mit Balajew.« Er war nicht sicher, ob der alte Jäger ihm wirklich glaubte.

»Ich werde warten«, sagte Sednew. Die Falten in seinem Gesicht vertieften sich, als er lächelte. »Es wäre schade um die Abschußgenehmigung.«

Quinn war froh, daß der Kirgise wie er etwas vortäuschte, an das sie beide nicht mehr glaubten …

2

Der Weg von Boloto nach Omsk bietet kaum eine Abwechslung. In der Stimmung, in der Quinn sich befand, zog die Fahrt sich noch mehr in die Länge. Wie ziellos schlängelte sich der Feldweg durch das verdorrte, graue Grasland der sibirischen Steppe. In der Nacht war der Boden gefroren gewesen, jetzt fuhren sie in einer dichten Staubwolke dahin. Im September, wenn es jeden Tag wolkenbruchartig regnete, war es überhaupt unmöglich, die Jagdhütte zu erreichen. Und das war jetzt nicht einmal einen Monat her.

Der Fahrer des Ford suchte nach etwas unter seinem Sitz. Er hielt eine flache Flasche in der Hand, als er sich wieder aufrichtete. »Echter Navy-Rum.« Als ob er wüßte, daß Quinn ablehnen würde, hob er die Flasche an seinen Mund und nahm einen tiefen Schluck. Er blickte Quinn kurz von der Seite an. »Ich bin sozusagen außer Dienst.« Er sprach durch die Nase, so, als plagte ihn ein Schnupfen.

Die Uniform spannte sich über seinem Körper. Er mochte um die dreißig sein, hatte ein fleischiges Gesicht; den blassen, farblosen Augen darin war abzulesen, daß er sich wenige Illusionen bewahrt hatte und daß er vom Leben nur eines erwartete: es möglichst mühelos und bequem zu verbringen.

Der Name, mit dem er sich vorgestellt hatte, war Sergeant Rice. Quinn erinnerte sich nicht, ihm bisher begegnet zu sein; aber es gab viele von seinem Typ, die bei der britischen Militärmission in Omsk Dienst taten.

»Sie arbeiten für Fitzmaurice?«

»Seit Ewigkeiten.«

»Warum will er mich sprechen?«

Rice verfiel in eine Art Pidgin-Englisch. »Ich nur indischer Laufbursche … Bringen Nachricht von großem Sahib.«

»Was ist so dringend?«

Rice blickte Quinn vorsichtig abschätzend an. »Es gibt Sahibs und Laufburschen«, sagte er. »Daran kannst du nichts ändern! Warum reden wir nicht über etwas anderes … Was tun Sie mit den Enten?«

Sednew hatte die Jagdbeute mit ihm geteilt, und die Enten und Schnepfen lagen eingepackt auf dem Rücksitz des Ford.

»Ich könnte Ihnen ein gutes Angebot machen für die Vögel.«

»Sie sind nicht zu verkaufen.«

»Ich bezahle mit Rum. Echtem, aus den Beständen der Navy. Eine Flasche pro Vogel?«

»Ich mache mir nichts aus Rum.«

»Seife? Echte französische – drei Stücke?«

Quinn war die Lust vergangen, sich mit Rice zu unterhalten. Vermutlich wußte er wirklich nicht, weshalb Fitzmaurice nach ihm schickte. Zu seiner Überraschung sagte der Sergeant plötzlich:

»Alles, was ich aufgeschnappt habe, ist – es hat einen Toten gegeben.«

»Was soll das heißen?«

»Ein Agent, einer von unseren Männern … Ich habe nur durch Zufall davon gehört.« Rice bot Quinn erneut die Flasche an. »Vielleicht jetzt einen Schluck?«

Quinn wehrte mit einer stummen Geste ab. Er war verwirrt: Major John N. Fitzmaurice war der Chef des Britischen Geheimdienstes in Rußland. Aber Quinns Arbeit für den Major hatte nichts mit Agenten zu tun. Er war als Experte für Bodenschätze nach Sibirien gekommen. Als man ihm vor jetzt sechs Monaten in London den Posten anbot, hatte der Mann aus dem War Office ihm die Aufgabe als ein faszinierendes Abenteuer angepriesen, eine Rolle in der Art eines Lawrence von Arabien. Man hatte ihn an seine patriotische Pflicht erinnert: Sie sind ein reicher Mann, Quinn! Ist das wirklich alles, was Sie interessiert, noch ein bißchen reicher zu werden? Befriedigt Sie das, einen Mann in ihrem Alter? Dort draußen, in Rußland, werden Sie wirklich gebraucht.

Doch die meiste Zeit hatte Quinn dann hinter seinem Schreibtisch festgesessen. Und genau da lag sein Problem: Die Pfunde zuviel, die er mit sich herumtrug, zeigten ihm, daß etwas in seinem Leben nicht in Ordnung war. Übergewicht, Gleichgültigkeit gegenüber dem, was er aß, Nachlässigkeit in seiner Kleidung und ein unwiderstehlicher Drang nach körperlicher Betätigung – Quinn hatte es nie lange ausgehalten, gegen seine Natur zu leben …

*

Sie hatten die Steppe verlassen. Die Straße wurde leicht abschüssig. Es wurde jetzt schnell dunkel, und Quinn konnte die Stadt sehen, deren schwache Lichter in der Abenddämmerung aufschienen.

Omsk nannte sich ›Hauptstadt der Sibirischen Steppe‹, und sie war dabei, noch weiter aufzusteigen, zur Kapitale einer neuen Regierung zu werden, mit einem neuen ›Höchsten Herrscher‹, dem Admiral Koltschak. Zum ersten Mal in diesem Bürgerkrieg der ›Weißen‹ gegen die ›Roten‹ schienen sich die diversen weißrussischen Kräfte – General Denikin im Don-Gebiet, General Judenitsch vor Petrograd und Koltschak in Sibirien – auf ein Oberkommando geeinigt zu haben. Zum ersten Mal stellten sich im Kampf mit den Roten Erfolge ein, verwandelten sich die Fronten mehr und mehr in einen Ring, der sich immer enger um Moskau schloß.

In Quinns Augen jedoch war die Hauptstadt Omsk nicht mehr als ein über Nacht errichtetes Provisorium. Die einstöckigen Holzhäuser standen eng zusammengedrängt an beiden Ufern des Flusses. Das gute Dutzend Kirchen mit ihren gedrungenen, goldenen Kuppeln, einige weiße Steinpaläste, graue Regierungsgebäude und Kasernen änderten wenig an dem eintönigen Bild. Und über dem Ganzen wirbelten fortwährend Wolken von Staub, feinem Steppensand, den die ständigen Ostwinde herantrugen und über der Stadt ausgossen, als sei sie ihnen ein Dorn im Auge, und je eher sie unter Sand begraben wurde um so besser.

Sie hatten den Om zu überqueren; man sah kaum etwas von dem Wasser wegen der vielen Boote; sie ankerten Reihe neben Reihe, alte Lastkähne mit faulendem Holz, Flußdampfer, die früher zwischen Omsk und Irtysch verkehrten, aber jetzt schwimmende Hotels waren. Omsk hatte normalerweise eine Bevölkerung von vierzigtausend, aber die Zahl hatte sich verdreifacht wegen der Truppen und vor allem wegen der Flüchtlinge, die aus den von den Bolschewiken besetzten Gebieten hierher geflohen waren.

Das jenseitige Ufer der Brücke über den Om war von einem Geschützstand versperrt; hoch aufgeschichtete Sandsäcke ließen gerade genug Platz für den Ford. Ein Maschinengewehr war aufgebaut; die Wachen trugen englische Uniformen und Helme in den Farben der Interventionsstreitkräfte – einen weißen Stern auf schwarzem Grund.

Die meisten waren ältere Jahrgänge, für den normalen Dienst an der Front untauglich. Sie übernahmen Wachaufgaben in der Stadt, sicherten die Depots, die an der Bahnstation lagen, patrouillierten des Nachts die Innenstadt. Der Anblick der Männer deprimierte Quinn jedesmal immer wieder. Auch der Wachsoldat, der an den Ford herantrat, trug vier Verwundetenspangen an seiner Uniform. In dem Licht der über die Brücke gespannten Lampen hatte er das Gesicht, das dazu paßte, schmal, eingefallen, mit einem zweifelnden, argwöhnischen Ausdruck.

»Ausweiskontrolle.« Er gab sich Mühe, seine Stimme schroff klingen zu lassen. Als er Rice erkannte, winkte er müde ab. »Du hast dir verdammt viel Zeit gelassen! Sie haben schon zweimal nachgefragt.«

»Wir hatten eine Reifenpanne.«

Der Wachhabende hatte die Vögel in dem offenen Ford auf dem Rücksitz entdeckt. Sein Gesicht hellte sich auf. »Verkaufst du welche?«

»Schmeckt dir das Büchsenfleisch nicht mehr?«

Der Soldat spuckte aus. »Man sagt, es gibt nichts, was Rice nicht verkauft.«

Rice lachte, legte den Gang ein, fuhr weiter. Die Straße, tagsüber von Flüchtlingen überfüllt, lag leer und ausgestorben vor ihnen. Das einzige Zeichen von Leben waren die Patrouillen der Schwarzhelme, die jeweils zu viert ihre Runden machten.

Sie hatten die ganze Stadt zu durchqueren. Einen Augenblick überlegte Quinn, ob er den Sergeanten bitten sollte, vor seinem Quartier anzuhalten, so daß er die Kleidung wechseln konnte. Aber es wäre ihm wie ein Eingeständnis erschienen, daß er die Hoffnung aufgegeben hatte, noch in derselben Nacht nach Boloto zurückkehren zu können, und so schwieg er.

Sie hatten die letzten, einstöckigen Holzhäuser der südlichen Vorstadt erreicht. Der Himmel war plötzlich von einer fast unnatürlichen Helligkeit über dem Stützpunkt der alliierten Militärmission – Dutzende von Eisenbahnwagen, zum Teil ganze Züge, die auf den Gleisen abgestellt waren.

Die hell strahlenden Bogenlampen – deren Strom von einem eigenen Kraftwerk erzeugt wurde – hingen über dem Wagenpark zwischen hohen Masten. Das »Goldene Ghetto« war wie eine Demonstration: Wir werden die roten Teufel in die Flucht jagen, schienen die Lichter verkünden zu wollen. Auf Quinn hatte dies immer nur die gegenteilige Wirkung: Die Zurschaustellung von Zuversicht hinterließ bei ihm nur ein Gefühl von Unbehagen.

Hohe Rollen von Stacheldraht, in zwei Reihen hintereinander aufgestellt, umgaben die Mission. Ein Holztor versperrte den Haupteingang; an seinem Bogen staken die vier Flaggen der Interventionsmächte, deren Länder auf der Seite der ›Weißen‹ gegen die ›Roten‹ kämpften: der Union Jack, das Sternenbanner, die Trikolore Frankreichs und Kanadas Ahornblatt.

Auch hier waren die Maschinengewehre aufgebaut. Die Wachen aber waren zackig aussehende, junge Militärpolizisten. Sie bestanden darauf, die Ausweise zu prüfen. Daß Rice sie mit Flüchen bedachte, übergingen sie mit Schweigen.

Sobald sie innerhalb des umzäunten Geländes waren, bat Quinn den Sergeanten, anzuhalten.

»Ich geh’ den Rest zu Fuß.«

Rice war sofort hellwach. »Und die Enten und Schnepfen? Ich biete Ihnen … eine Flasche Rum und ein Stück Seife.«

»Gib sie Ivory«, sagte Quinn. Das war der Koch von Fitzmaurice, ein Inder. Rice war so verblüfft, daß ihm für einen Moment die Worte fehlten. Aber er gab seine Sache noch nicht verloren.

»Ich gebe Ihnen eine Quartflasche echten Navy-Rum und zwei Stück Seife – für jeden einzelnen Vogel.«

Quinn sagte nichts und machte sich auf den Weg. Er hörte Rice’ Stimme noch einmal in seinem Rücken: »Zwei Flaschen Rum und zwei Stück Seife …«

3

Quinn ging langsam, nahm sich Zeit. Seine Glieder waren steif, er mußte sich einfach bewegen. Er bemerkte, wie angespannt er war; eine Vene unter seinem linken Auge zuckte. Er berührte die Stelle mit seinem Zeigefinger, wie um sich zu vergewissern. Er wollte Fitzmaurice in diesem Zustand nicht gegenübertreten.

Es war drei Wochen her, daß er das letzte Mal hier gewesen war. Es war ein heißer Tag gewesen, die Luft voller Mückenschwärme. Zeltplanen waren an hohen Stangen über die Dächer der Eisenbahnwaggons gespannt, um sie gegen die sengende Sonne zu schützen. Sie waren verschwunden, und an ihrer Stelle hatte man Holzdächer errichtet, in Erwartung der ersten Schneefälle.

Er ging einen abgestellten Zug entlang, überquerte ein Gleispaar; überall standen die Wagen, manchmal nur zwei, drei, manchmal ganze Züge, komplett mit Lokomotiven. Er erreichte den ersten Wagen von Fitzmaurice’ Zug, mehrere Erste-Klasse-Wagen. Einer von ihnen war hell erleuchtet. Darüber schwankte an einem hohen Mast die Richtantenne einer Funkstation.

Die Züge hatten in Rußland eine große Bedeutung. Es war nicht nur, daß sie – wo Straßen manchmal monatelang im Schlamm versanken – oft die einzige Möglichkeit der Fortbewegung darstellten. Seit Beginn des Bürgerkrieges verbanden sie die weit auseinanderliegenden Fronten mit der Etappe; sie versorgten hungernde Armeen, stärkten die Moral von Truppen. Und Züge gaben – neben dem Komfort, den sie boten – Autorität. Je höher der Dienstgrad eines Offiziers war oder auch nur je wichtiger sich jemand einschätzte, um so mehr versuchte er, sich ein besonderes Prachtexemplar anzueignen.

Fitzmaurice’ Salonwagen hatte früher einmal der Zarenmutter, der Kaiserin Maria Feodorowna, gehört. Anspruchslosigkeit war nicht Fitzmaurice’ Art, und so hatte er sich den Wagen wie selbstverständlich angeeignet. Fitzmaurice war von Indien hierher versetzt worden, und er war es von dort gewöhnt, mit gewissem Luxus untergebracht zu werden. Der Wagen bestand aus dem früheren Speisesalon, in dem er sein Büro eingerichtet hatte, einem Wohnraum, einem Prunkschlafzimmer, einem Badezimmer, einer Küche, in der Ivory arbeitete, und drei weiteren Coupés mit Doppelbetten für das Personal.

Quinn näherte sich dem blaulackierten Salonwagen. Zwei Militärpolizisten hatten vor dem Eingang Posten bezogen. Eine der starken Bogenlampen hing direkt über dem Wagen. Auf einem parallel laufenden Gleis waren weitere Wagen abgestellt. Eines der Abteilfenster stand offen. Eine Platte spielte auf einem Grammophon. Sie war zerkratzt, außerdem war der Apparat nicht voll aufgezogen; die Melodie war kaum zu erkennen.

Quinn trat an das offene Fenster. »Hollis?«

Ein Gesicht erschien im Rahmen des Fensters; der Rauch der Zigarette zwischen seinen Lippen hüllte es ein. »Oh, hallo … Q-Q-Q-uinn.«

»Ist Hollis nicht da?« Hollis war Fitzmaurice’ Stellvertreter.

»Er wollte in die St-St-adt. Er ist gerade erst weg. H-H-Haben Sie ihn nicht gesehen?«

»Was ist passiert?«

Fraser nahm die Zigarette aus dem Mund. Er hatte ungewöhnlich helle Haare, fast wie ein Albino. »Er betrinkt sich«, sagte er. »Sie kennen Hollis. Wenn die Sonne untergeht …«

Quinn unterbrach ihn: »Irgendein besonderer Grund?«

»Er zerstört seine Leber – und warum nicht!?« Fraser machte eine Geste mit der Hand. »Es ist dieses verfluchte Lager! Diese verfluchte Stadt! Dieses ganze verfluchte Land! J-J-Jesus Christus! Was tun wir eigentlich hier!?« Er warf den Zigarettenstummel weg. »Ich dachte, Sie seien auf der Entenjagd. Die Russkis haben wohl schon alle abgeschlachtet!«

Quinn deutete auf den blauen Salonwagen. »Warum will der Major mich sehen? Hat Hollis nichts darüber gesagt?«

»N-Nein. Er hatte es eilig, in die Stadt zu kommen. Noch eiliger als sonst. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß Fitzmaurice sich in verdammt mieser Laune befindet.«

Er zog sich vom Fenster in sein Abteil zurück. Quinn hörte, wie er das Grammophon aufzog und die ›Decca‹ wieder auflegte; es war ein Tango, ein Stück, das man in London überall hörte.

Einer der beiden Militärpolizisten verlangte seinen Ausweis. Er prüfte ihn schweigend, reichte ihn zurück. »Achten Sie auf die Stufen!« warnte er. Zimmerleute hatten ein Holzpodest errichtet, vier Stufen, damit der Major leichter in seinen Wagen hinaufsteigen konnte.

*

John Neville Fitzmaurice war ein kleingewachsener Mann; trotzdem war das nicht der erste Eindruck, den man von ihm hatte. Böse Zungen behaupteten, er trage ein Korsett; er hielt sich jedenfalls so kerzengerade, daß er tatsächlich einige Zentimeter an Größe zu gewinnen schien. Außerdem war da sein Kopf. Quinn, der sich ihm gegenüber niedergesetzt hatte, hatte ihn direkt vor sich: ein eckiger Schädel auf einem starken, breiten Hals; das kurze Haar in der Mitte gescheitelt.

»Sitzen Sie bequem?« fragte er. »Sind Sie hungrig? Es ist etwas Roastbeef übrig und Yorkshire-Pudding.«

»Danke. Nein.« Sollte Fitzmaurice schlechter Laune sein, so zeigte er nichts davon. Aber Quinn wußte aus Erfahrung, daß seine Freundlichkeit nichts zu bedeuten hatte.

»Tee werden Sie nicht abschlagen?«

»Tee ist ausgezeichnet.« Quinn fühlte sich beengt; er trug noch immer seine dreiviertellange, pelzgefütterte Jacke. Fitzmaurice hatte ihn nicht aufgefordert, sie abzulegen.

Bis auf das Licht der Schreibtischlampe lag der Raum im Halbdunkel. Die Holzverkleidung der Wände war vergoldet, wie auch das andere Mobiliar. Ein dichter Teppich bedeckte den Boden, die Vorhänge waren aus einem karminroten, plüschartigen Stoff. Die Dekoration zeigte den Geschmack einer Frau, die Üppigkeit liebte; es war eigentlich erst Fitzmaurice selbst – in seiner tadellos sitzenden Uniform, hager wie ein Jockey –, der diesem Raum etwas Gespenstisches gab. Sich vorzustellen, wie er in dem verschnörkelten Prunkbett der Kaiserin lag!

Fitzmaurice lächelte, als habe er Quinns Gedanken erraten. »Hier ist nichts verändert! Übrigens – sie verlangt ihren Salonwagen zurück! Seit sie in Erfahrung gebracht hat, daß er sich in Omsk befindet, setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung.«

»Wie lehnt man den Wunsch einer Kaiserin ab?« fragte Quinn.

»Maria Feodorowna befindet sich auf der Krim. Wir in Sibirien. Dazwischen die Roten. Daran wird sich auch wohl so schnell nichts ändern.« Fitzmaurice bürstete sich ein unsichtbares Staubteilchen von seiner Uniform. »Wenn wir Briten unsere Kriege so geführt hätten wie diese ›Weißen‹, gäbe es kein Empire.«

Fitzmaurice war Berufssoldat, ein Mann der Armee. Er stammte aus einer Familie, die dem Empire über Generationen hinweg hervorragende Armeeführer gestellt hatte. Er selbst hatte seinem Vaterland in China gedient, den Boxer-Aufstand mitgemacht, in Tientsin gekämpft und dann in Indien. Erst seine angegriffene Gesundheit – Anfälle von Asthma, eine überstandene Amöbenruhr – hatte seine Karriere in der Armee vorzeitig beendet; soweit die offizielle Version. Gerüchte sagten anderes: Fitzmaurice habe die Tochter eines indischen Maharadschas zu seiner Mätresse genommen, ein Skandal, der vertuscht worden sei. Niemand wußte jedenfalls genau, weshalb Fitzmaurice sich dem Secret Service angeschlossen hatte.

Jemand klopfte an die hintere Tür des Salons. Es war Ivory, der den Tee brachte. Er war ein hagerer, dunkelhäutiger Inder in einem weißen, gestärkten Drillich. Er stellte das Geschirr auf dem Schreibtisch ab und zog sich zurück. Erst an der Tür sagte er: »Vielen Dank für die Vögel, Mr. Quinn. Eine willkommene Abwechslung für unseren Speisezettel.«

»Sie hatten also Glück!« sagte Fitzmaurice, als Ivory gegangen war.

»Solange es anhielt.«

»Ich habe so einen Krieg noch nicht erlebt«, sagte Fitzmaurice. »Die einzigen Siege, die meine Männer erringen, sind die mit Angelrute und Jagdflinte.«

Fitzmaurice schien nicht in Eile zu sein. Er zog eine silberne Dose aus der Tasche, öffnete sie und hielt sie Quinn hin: »Nehmen Sie …« Die Dose enthielt hauchdünne Teilchen von Blattgold. Fitzmaurice streute sie in Drinks, in seinen Tee, selbst in eine heiße Consommé. Es war ein indischer Guru, der ihm das geraten hatte, und Fitzmaurice schwor darauf.

Quinn nahm einige der Teilchen, ohne daß er sich die Mühe gab, zu verheimlichen, was er davon hielt. Er fühlte sich mehr und mehr unwohl; es war ihm zu heiß in seiner Jacke, und Fitzmaurice’ Benehmen irritierte ihn. Die dichten Vorhänge dämpften die wenigen Geräusche: die Schritte der Wachen, die draußen hin- und hergingen, die Töne der zerkratzten Schallplatte.

Schließlich stellte Fitzmaurice seine leere Tasse zurück auf den Tisch. »Sie scheinen heute nicht in allerbester Stimmung zu sein. Langweilt Sie Ihre Arbeit? Ihre Berichte sind ausgezeichnet!«

»Haben Sie je einen meiner Berichte gelesen?«

»Mir genügt es, daß London mir immer wieder versichert, wie hervorragend Hauptmann Quinn seine Aufgabe versieht. Man sitzt dort mit glänzenden Augen über Ihren Schätzungen. Gold, Platin, was weiß ich! Sie geben unserer Anwesenheit hier einen Sinn. Kriege werden heutzutage um Absatzgebiete und Bodenschätze geführt! Vielleicht war es immer so. Sie sind unersetzlich! Schmeichelt Ihnen das nicht?«

»Haben Sie mich zurückgerufen, um mir Honig um den Mund zu schmieren?«

Fitzmaurice antwortete nicht sofort. Dann sagte er: »Denken Sie daran, Ihren Posten aufzugeben?«

Quinn fragte sich, wie Fitzmaurice darauf gekommen war. Er hatte mit niemandem je von seinen Zweifeln gesprochen. Er fühlte Fitzmaurice’ Blick auf sich gerichtet. Es schien ihm nicht der Mühe wert zu sein, sich zu verstellen. »Es war der Grund, weshalb ich mir diese Woche genommen habe – um eine Entscheidung zu treffen.«

»Und zu welcher sind Sie gekommen? Das sinkende Schiff zu verlassen?«

»Sie haben mir nicht genug Zeit gelassen. Aber die Idee, in einem Zug nach Wladiwostok zu sitzen, ist verlockend.«

»Als was bezeichnen Sie sich, Quinn?«

»Wie bitte?«

»Ihr Beruf?«

»Geologe.«

Fitzmaurice schwieg, als verblüffe ihn die Antwort. Dann fuhr er fort: »Nach dem, was ich höre, sind Sie ein reicher Mann.«

Quinn entspannte sich zum ersten Mal. Er lächelte. »Ich habe mehr, als ich je ausgeben kann.«

»Es ist Gold, mit dem Sie Ihre Millionen gemacht haben? Der Goldmann – nennt man Sie nicht so in London?«

»Es dauerte fünfzehn Jahre, bis ich ein Gebiet entdeckte, das ein »gutes Gestein« hatte, wie wir es nennen. Im Normalfall findet man nicht genug, daß es ökonomisch sinnvoll wäre, es abzubauen. Nur einige Körnchen als Souvenir. Viele haben ein Vermögen dabei verloren.«

»Sie sind Eigentümer der größten Goldmine in Kanada, Mitglied des Londoner Goldkartells … Wie reich sind Sie wirklich? Können Sie es beziffern?«

Diesmal lachte Quinn. »Warum sagen Sie mir nicht einfach, worauf Sie hinauswollen?«

Fitzmaurice lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Ich suche eine Antwort. Ich versuche, aus Ihnen schlau zu werden: Ein reicher Mann in London. Er könnte sein Leben genießen. Er kennt die richtigen Leute. Er gehört den richtigen Clubs an. Witwer, zweiundvierzig, gutaussehend. Und dennoch! Als man ihm diesen Posten in Sibirien anbietet, stürzt er sich förmlich darauf. Interessant – nicht wahr?«

Der Drang, seine Jacke zu öffnen, wurde fast unwiderstehlich, dennoch beherrschte Quinn sich. »Bitte, Fitzmaurice! Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen!«

»Sie könnten mir einen Gefallen tun, bevor Sie hier Ihre Zelte abbrechen. Eine Reise, in meinem Auftrag.«

Er erinnerte sich wieder an das, was Sergeant Rice ihm gesagt hatte. »Ich soll einer Ihrer Agenten werden?«

Fitzmaurice verzog keine Miene. »Was wissen Sie von meinen Agenten?«

»Nicht viel. Eher – nichts.«

»Sie sind mit Hollis befreundet. Sprechen Sie nicht mit ihm darüber?«

»Wenn Hollis einen Freund braucht, dann einen, der nicht mit ihm über seine Arbeit redet.«

»Wollen Sie nicht Ihre Jacke ausziehen?«

Quinn schüttelte den Kopf. Er bemerkte, daß er einige Knöpfe geöffnet hatte, aber er schloß sie wieder. Irgendwie war es nun eine Frage des Prestiges für ihn, durchzuhalten.

»Der Secret Service hatte einmal ein ausgezeichnetes russisches Netz«, sagte Fitzmaurice. »Das veränderte sich mit einem Schlage mit der Revolution! Noch etwas Tee, solange er noch heiß ist?«

»Vielen Dank, nein.«

Fitzmaurice füllte seine Tasse, streute etwas von den Goldblättchen aus seiner Dose in den Tee. Er trank und stellte die Tasse ab.

»Als ich den Posten hier übernahm, gab es keinen Service mehr in Rußland und kaum noch Agenten … Die Bolschewiken, Quinn, führen diesen Krieg mit anderen Methoden und Gesetzen, ohne Glacéhandschuhe. Wir verloren einen Agenten nach dem anderen. Einigen gelang es zu fliehen. Ein paar konnten untertauchen … Ich mußte wieder bei Null anfangen.«

Fitzmaurice erhob sich aus seinem Stuhl. Eine Landkarte hing an der Wand hinter ihm; sie war das einzige fremde Element in diesem Raum. Wenige Nadeln mit schwarzen Köpfen staken in der Karte. Fitzmaurice deutete auf sie. »Das sind, um in Ihrer Sprache zu sprechen, meine claims. Ich greife nach allem, was nur ein bißchen glänzt. Das sind schon Jubeltage, wenn wir einen Zug zum Entgleisen bringen, eine Brücke sprengen, wenn wir eine Waffenfabrik für eine Woche stillegen …« Er deutete auf eine Nadel, die im unteren Teil des Ural in der Karte stak. »Manchmal mache ich mir etwas vor, um den Mut nicht zu verlieren; diese Nadel, zum Beispiel, sollte nicht mehr in der Karte stecken.« Er zog sie heraus. Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er legte die Nadel neben sich auf ein Blatt Papier. Er hob den Kopf. »Es war einer meiner Agenten – Ira Cutter.«

Quinn spürte einen quälenden Schmerz. Etwas, das er glaubte längst vergessen zu haben, kam zurück. Als geschehe es wieder, sah er die steile Abfahrt von der Duo-Mine, spiegelglatt von dem Eisregen; den umgestürzten Schlitten, zertrümmert zwischen zwei Baumstämmen. Katherine.

Katherine, die Frau, die er geliebt hatte, die ihm in so vielem ähnelte, in ihrer Vitalität, ihrer Neugier, ihrem Drang, mehr zu wissen. Ira Cutter hatte sie zu der Fahrt überredet: Ein Tag weg von der Universität, an der Katherine Geologie studierte, weg von den Büchern, die Cutter verachtete; ein Ausflug zum Lake Superior, auf dem man bereits schlittschuhlaufen konnte …

Und Cutter hatte das Telegramm gesandt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Katherine noch gelebt, obwohl sie bei dem Unfall so schwere Verletzungen erlitten hatte, daß sie nie mehr aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte. Quinn hatte im Norden Schürfproben untersucht. Bis ihn die Nachricht erreichte und bis er in dem Krankenhaus in Hemlo eintraf, war Katherine bereits gestorben.

Quinn sah wieder dieselben Bilder, und er durchlebte denselben Schmerz, den er damals gefühlt hatte. Er hatte nie mehr ein Wort mit Cutter gewechselt; für ihn war er der Schuldige an dem Tod seiner Frau.

»Sie kannten Ira Cutter, das stimmt doch!?«

Quinn hörte Fitzmaurice’ Stimme von weither. Vielleicht entdeckte er gerade deshalb etwas Eigenartiges: Die Stimme des Mannes klang fast bittend.

»Cutter und Sie waren Partner, nicht wahr?«

Wieder dieser geradezu bittende Ton, als hänge viel für Fitzmaurice davon ab.

»Sie waren zusammen in Kanada – das Gold-Duo.«

Es existierten zwei Cutter für Quinn: der eine vor dem Unfall, der andere danach. Den zweiten hatte Quinn aus seinem Leben gestrichen. Der erstere hatte darin noch seinen Platz, über den konnte er reden. »Wir hatten beide zur selben Zeit dieselbe Idee. Wir trafen uns auf einem Schiff in Cardiff, beide waren wir blinde Passagiere. Ich war siebzehn, Cutter noch um ein Jahr jünger.«

»Sie beide suchten Gold?«

»Ihn packte das Goldfieber zuerst. Er steckte mich an.«

»Wissen Sie«, sagte Fitzmaurice, »als ich Cutter dieselbe Frage stellte wie Ihnen – nach seinem Beruf – da antwortete er: ›Goldgräber‹.«

»Er machte sich immer über meine Studien lustig. Alles, was Ira Cutter brauchte, war seine Nase – er roch das Gold. Und alles, was ihn interessierte, war – Gold zu finden. Es war ein Hunger, der bei ihm nicht zu stillen war.

»Sie überwarfen sich mit ihm?«

Quinn zuckte die Achseln. »Wir trennten uns vor zehn Jahren.«

»War es wegen des Goldes?«

»Nein. Wenn es darum ging, eine potentielle Ader auszumachen, war Cutter von uns beiden der Bessere. Er brauchte sich nur einen Fluß anzusehen, ein vulkanisches Gestein, einen Wasserlauf – wenn er auf eine Stelle zeigte, dann konnte man sicher sein, daß es dort eine vielversprechende Ablagerung gab.« Quinn machte eine Pause. »Neunzig Prozent allen Goldes werden von Männern wie Cutter entdeckt.«

»Aber nur zehn Prozent werden reich davon?«

»Sie müssen Schürfrechte erwerben; am besten auch die Rechte an den umliegenden Parzellen. Sie bezahlen Steuern für die Mineralrechte. Die ersten Bohrungen – das bedeutet erneut Kapital. Sie gründen eine Gesellschaft. Sie legen eine öffentliche Anleihe auf … All das langweilte Cutter, um es milde zu sagen. Das ging gegen sein Naturell. – Goldgräber, das war Cutter. Er hatte diese Liebe für unentdeckte Schätze, er war ewig auf der Suche nach dem nächsten Schatz. An alles andere verschwendete er keinen Gedanken.«

Fitzmaurice nickte. »So habe ich ihn eingeschätzt.«

»Wie kam es, daß er für Sie arbeitete?«

»Cutter war in Wladiwostok, als ich dort eintraf. Er kam aus dem Kolyma-Gebiet, wo er nach Gold gesucht hatte. Ich rekrutierte ihn, überredete ihn … Ich sah Schwierigkeiten voraus – sein Temperament, wie Sie sagen; ein Einzelgänger wie er, das macht einen Mann normalerweise unbrauchbar für den Service … Aber ich denke, es war eine gute Wahl.«

»Außer für ihn selbst.«

Fitzmaurice blickte ihn mißbilligend an. »Sie verschwenden keine Tränen, wie!?«

Quinn schwieg, verblüfft von der untypischen Art, in der Fitzmaurice reagiert hatte.

Fitzmaurice blickte auf die schwarze Nadel. »Cutter hielt sich hervorragend, fast zwei Monate lang. Am Ende verließ ihn das Glück …« Er hielt inne, blickte auf Quinn. Er schien auf eine Reaktion zu warten. Als keine kam, fuhr er fort, plötzlich heftig: »Wir wissen nicht, was genau geschehen ist. Vielleicht werden wir es nie erfahren. Sie wissen, wie die Roten ihre Exekutionen ausführen! Ihre Opfer verschwinden ohne Zeugen …«

Wieder wartete er vergeblich auf eine Reaktion. Der Tod von Cutter hatte Quinn nicht im geringsten bewegt; weil der Cutter für ihn längst gestorben war, bedrückte ihn der Gedanke in keiner Weise. Das Gegenteil war der Fall: Quinn stellte eine Art von plötzlich erwachter Neugier an sich fest.

»Sie sprachen von einem Gefallen, den ich Ihnen tun könnte«, sagte er.

»Sie kennen Karmel?«

Quinn blickte auf die Landkarte, dorthin, wo die Nadel gesteckt hatte. »Dort ist es passiert?«

»Das vermute ich. Was für ein Ort ist das?«

»Karmel? Die reichen Moskoviter gingen dorthin, zur Sommerfrische und zum Skifahren.«

Fitzmaurice schien überrascht zu sein. »Haben Sie nicht dort gearbeitet, als Geologe für den Fürsten Diazaro?«

»Für die Fürstin Xenia.«

»Es ging um eine Goldmine?«

»Sie machte keinen Profit, selbst bei den billigen Arbeitskräften, die zur Verfügung standen. Xenia Diazaro erwartete von mir ein Gutachten. Ein positives natürlich.« Quinn lächelte in der Erinnerung. »Es war die Zeit vor dem Krieg, als europäisches Kapital sich auf so etwas stürzte! Eine Goldmine im Ural! Sie versprechen zehn Prozent in Goldrubel jährlich und offerieren die Anleihe in Paris und London

»Und?«

»Die Familie war ehrlich genug, den Plan aufzugeben, als meine Untersuchungen ergaben, daß die Mine eine industrielle Ausnutzung nicht rechtfertigte.« Quinn beugte sich vor. »Um Himmels willen, Fitzmaurice! Was soll das?! Wozu diese Fragen? Meinen Sie, ich wäre jemand, Ihnen Cutter zu ersetzen?«

»Cutter – ersetzen?« Fitzmaurice machte eine Pause, als überrasche ihn die Frage. Dann schüttelte er den Kopf. »Was ich im Sinn habe, ist weit weniger spektakulär. Ich wollte Sie bitten, jemanden von dort hierher zu bringen – eine Frau.« Er nahm das Blatt Papier von seinem Schreibtisch und reichte es Quinn über den Tisch hinweg. »Das ist Cutters letzte Nachricht.«

Jemand hatte einen grauen Streifen auf das Blatt geklebt, zwei Zeilen, mit einer Schreibmaschine getippt, deren Farbband so abgenutzt war, daß Quinn Mühe hatte, den Text zu lesen: WENN MIR ETWAS GESCHIEHT – KÜMMERN SIE SICH UM MOURA TOUMANOWA

Die Nachricht war nicht signiert.

»Cutter?« fragte Quinn verwundert.

Fitzmaurice lächelte. »Das war sein Plus als Agent. Es war ein Leichtes für Cutter, Frauen zu gewinnen. Für sein Bett und für seine Pläne.«

Quinn blickte unverwandt auf das Papier in seiner Hand. Schließlich reichte er es Fitzmaurice zurück. »Deshalb haben Sie mich rufen lassen?«

»Ich weiß, ich habe nicht den besten Ruf. Ich gelte als ein Schinder, der das Unmögliche von seinen Agenten verlangt. Aber ich habe mich immer um die gekümmert, die für mich arbeiten. Dieser Funkspruch ist eine Art letzter Wille Cutters. Kümmern Sie sich um Moura Toumanowa. Er wünschte sie in Sicherheit, aus welchen Gründen auch immer.«

»Es muß andere geben, die das tun können.«

Fitzmaurice schien ihn nicht gehört zu haben. »Bringen Sie sie her. Sie können ihr versprechen, daß wir sie mit neuen Papieren ausstatten. Wenn sie das Land verlassen will, werden wir ihr dabei helfen. Geben Sie mir bis morgen mittag eine Antwort … Das ist alles für den Augenblick.«

*

Als Quinn ihn verlassen hatte, saß Fitzmaurice noch lange an seinem Schreibtisch im Salonwagen und überlegte, was er herausgefunden hatte:

Kein Mann, der auf seine äußere Erscheinung allzu großen Wert legt. Das war etwas, was ihm selbst abging; er blieb immer ein Fitzmaurice, so, als ruhten die Augen aller früheren Fitzmaurice auf ihm.

Keine Angst, seine Meinung zu sagen. Lag natürlich daran, daß er Geld hatte.

Niemand, den man kaufen oder bestechen kann. Niemand, der sich leicht von etwas abschrecken läßt. Dazu kam seine Erfahrung als Geologe; das würde es ihm ermöglichen, die Situation an Ort und Stelle besser zu beurteilen.

Fitzmaurice starrte auf das Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. Hätte er Quinn die ganze Wahrheit anvertrauen sollen? Schließlich würde er sein Leben riskieren, so wie Cutter das seine riskiert hatte.

Er begann schwerer zu atmen; er rang nach Luft, aber das einzige, was er fühlte, war die Angst, im nächsten Augenblick ersticken zu müssen. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren, war wie gelähmt …

Er wußte, daß diese Asthmaanfälle vorübergingen, aber die Angst war immer dieselbe geblieben … Schließlich gelang es ihm aufzustehen. Er riß eines der Fenster auf. Als er wieder tiefer und ruhiger zu atmen begann, fühlte er eine so tiefe Erleichterung, daß er den Tränen nahe war.

Er kehrte an den Schreibtisch zurück. Er nahm das Blatt und ersetzte es durch ein anderes, das den vollständigen Text von Cutters letztem Funkspruch enthielt:

HOFFE, ZU EINER ABMACHUNG ZU KOMMEN. BEREITEN SIE TRANSFER SIBIRIEN VOR

Erst dann folgte der Text, den er Quinn hatte lesen lassen: WENN MIR ETWAS GESCHIEHT – KÜMMERN SIE SICH UM MOURA TOUMANOWA.

Wenn die Dinge sich so entwickelten, wie er es sich vorstellte, dann würde Quinn gar nicht anders können, als die Sache, die er einmal angefangen hatte, auch zu Ende zu führen!

Fitzmaurice erhob sich hinter seinem Schreibtisch und trat an die Landkarte. Er steckte die Nadel zurück an ihren früheren Standort, Karmel im Ural.

4

Der Russe versuchte, Quinn daran zu hindern, den Raum zu betreten. Er stand mit ausgebreiteten Armen vor der Türe; er war ein schmächtiger Mann mit herunterhängenden Schultern. »Ich habe meine Erfahrungen mit ihm«, sagte er flehend. »Er wird bösartig. Warum lassen Sie ihn nicht einfach seinen Rausch ausschlafen?«

Quinn stieß den Besitzer des ›Divan‹ ungeduldig zur Seite. Er trat in den Raum und schloß die Tür. Hinter ihm verstummten die aufgeregten Stimmen der Glücksspieler und die Musik aus der Bar.

Quinn wartete, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Das einzige Licht des niedrigen Raumes kam von einem Fenster im Hintergrund; ein fahler Mond schien durch die aufgerissenen Wolken. Ein Moskitonetz hing von der Decke herab und bedeckte das Bett in der Ecke, eine auf dem Boden ausgebreitete Matratze. Der Körper zeichnete sich nur als Schatten ab, aber seine Größe beruhigte Quinn, machte Hollis real.

Cloudesley Hollis, Fitzmaurice’ Stellvertreter, war ein Riese von Gestalt; in seinem Eisenbahnwaggon hatte er Tücher an den Türrahmen befestigt, um sich daran zu erinnern, sich zu bücken. Es blieb nicht aus, daß man über das ungleiche Paar seine Witze machte: Der kleingewachsene Fitzmaurice, der sich einen Riesen als Hofnarren hielt!

Quinn hob den Vorhang aus Musselin zur Seite. Hollis lag auf dem Rücken; er atmete heftig, und sein Gesicht, der Hals und die behaarte Brust waren mit Schweiß bedeckt.

»Hollis!« Quinn mußte sich überwinden, seine Schulter zu berühren.

Hollis murrte etwas und drehte sich auf die Seite.

Quinn ergriff seinen Arm und schüttelte ihn. »Hoch mit dir! Ich bringe dich nach Hause.«

Hollis richtete sich ruckartig auf. Sein Oberkörper schwankte, aber er hielt seine Fäuste in Boxstellung vor den Körper. »Willst du dich schlagen?« stammelte er. Er schlug zu, und Quinn konnte nur im letzten Moment ausweichen. »Na, komm schon! Schlag zu!« Hollis war auf den Beinen, stürzte sich auf ihn. Quinn kam dem Schlag zuvor; seine Faust traf Hollis auf den Mund. Hollis schwankte, und Quinn stieß ihn zurück auf die Matratze.

Er zögerte einen Augenblick, dann wandte er sich ab, verließ den Raum. Er lief bis ans Ende des Korridors und riß das Fenster auf. Die schwache Laterne über dem Eingang des Lokals gab einen schemenhaften Eindruck von der engen Gasse mit ihren schäbigen Häusern. Fraser hatte den Ford verlassen; er stand daneben, und obwohl die Menschen einen weiten Bogen um ihn machten, hatte er die Hand an seiner Waffe. Selbst von hier oben bemerkte Quinn, wie nervös er war. Als er seinen Namen rief, fuhr er zusammen.

»Komm herauf.«

Fraser trat zurück, blickte nach oben. »U-Und der Wagen? S-Soll ich den allein lassen?«

»Ich werde mit Hollis allein nicht fertig.«

Mit Hilfe Frasers gelang es ihm, Cloudesley Hollis anzukleiden. Er versuchte, weiter um sich zu schlagen, aber sie hielten ihn zwischen sich; jeder ergriff einen Arm, und so zerrten sie ihn mit sich aus dem Raum und die Treppe hinunter.

Der Russe erwartete sie unten am Treppenabsatz, aber von den Gästen unten im Lokal schenkte ihnen kaum einer Beachtung. In der Bar tanzten ein Dutzend Paare; andere Mädchen – die meisten Chinesinnen, Mongolinnen oder Mischlinge – saßen in ihren verschossenen Seidenfähnchen auf Polstern entlang der Wand und warteten auf Kunden. Der Raum dahinter, ein Spielsalon, war so gedrängt voll, daß man nichts als die Rücken der Spieler um die verschiedenen Tische sah.