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Hans Herlin

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Beschreibung

Drei Jahrzehnte deutscher Geschichte, die schicksalsträchtigen Jahre zwischen 1939 und 1969, sind hier von Hans Herlin, der diese Zeit selbst intensiv miterlebt hat, zu einer aussagestarken Handlung verarbeitet worden. Zentrales Handlungsthema ist die Rivalität zweier Freunde, die beide dieselbe Frau lieben … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 484

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Hans Herlin

Freunde

Thriller

FISCHER Digital

Inhalt

Für JuliaDer Autor hat sich [...]Madrid, 7. Oktober 1969Erstes Buch1234567891011Zweites Buch1234567891011Madrid, 7. Oktober 1969

Für Julia

Wer ein einziges Mal das Strahlen des Glücks auf dem Gesicht eines geliebten Menschen gesehen hat, weiß, daß es für einen Menschen keine andere Berufung geben kann, als dieses Leuchten auf den ihn umgebenden Gesichtern hervorzurufen … und der Gedanke an das Unglück und die Nacht, womit wir durch unser bloßes Dasein die Gemüter der Menschen erfüllen, denen wir begegnen, zerreißt uns das Herz.

Albert Camus, Tagebuch 1924–1951

Der Autor hat sich verpflichtet, Namen von Personen, die in der Aktensammlung des Landratsamtes Landsberg am Lech festgehalten sind, nicht zu veröffentlichen oder schriftlich oder mündlich an andere Personen weiterzugeben. Alle Personen und Orte der Handlung sind frei erfunden, eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Madrid, 7. Oktober 1969

Sie ging voraus, die steilen Treppen hinunter, die zum Tresorraum der Bank führten. Ihr Haar kräuselte sich, und die Haut in ihrem Nacken war, selbst für eine Spanierin, sehr dunkel. Ich sah nur den Nacken, das Stückchen Haut und das dünne goldene Kettchen, das sie um den Hals trug, und ihre Beine, ebenfalls dunkel unter den hellen Strümpfen, zwei schmale schlanke Beine unter dem engen blauen Rock. Ich achtete auf ihre Beine und auf ihren Nacken und versuchte nicht an das Geld zu denken, um nicht zu aufgeregt zu erscheinen.

Sie führte mich an einen Tisch, an dem ein Mann in einer blaugrauen Uniform saß. Sie nannte meinen Namen, und er schob mir ein Buch hin; er deutete auf eine Stelle, und ich setzte meine Unterschrift zwischen die beiden Linien, Hans Pikola, und folgte dann den Beinen weitere Stufen hinunter. Die Español de Crédito war eine alte Bank, und, obwohl sie in der Paseo de la Castellana, einer der bekanntesten Geschäftsstraßen Madrids, lag, keiner dieser modernen Marmorpaläste; sie war alt und ehrwürdig, und dort ein Safe zu. mieten, war für einen gewöhnlichen Sterblichen schlechthin unmöglich; die Safes wurden von Generation zu Generation weitervererbt, wie die guten Plätze in einer Stierkampfarena. Aber für Fritz Lehr war nie ein Ding unmöglich gewesen, und das Safe war auf seinen und meinen Namen gemietet; obwohl ich plötzlich Zweifel hatte, daß das Geld wirklich da sein würde. »Ihren Schlüssel, Señor.« Ich hatte nicht bemerkt, daß wir bereits in der Stahlkammer waren. Wir standen vor einer Wand mit vielen gelben Fächern. Der Raum war hoch und eng, und der Lack um die Schlüssellöcher herum war abgekratzt. Sie hatte ihren Schlüssel in das Fach gesteckt und wartete, daß ich meinen hervorholen würde. Ihre Bluse stand am Hals offen, und ich sah das goldene Kreuz auf der dunklen Haut, und ich dachte, daß Julia nie Schmuck getragen hatte. »Ihren Schlüssel, Señor«, wiederholte sie, lächelnd. Ich hatte ihn die ganze Zeit in der Hand gehabt. Er war heiß und feucht, und ich wunderte mich, daß er paßte und sich drehte. Sie schwang die kleine Klappe zur Seite, zog den mattglänzenden Metallkasten halb hervor und lächelte mich an. Sie deutete hinüber zu ein paar Tischen und wandte sich dann ab und ließ mich allein; der Geruch eines Parfüms, das ich nicht kannte, verschwand mit ihr; ich blieb allein zurück, tief unter der Erde, in dem Gewölbe, das plötzlich wie eine Grabkammer roch.

Ich nahm meine Tasche und die Kassette und trug beides hinüber zu den Tischen, die wie kleine Wahlkabinen durch halbhohe Trennwände voneinander abgeschirmt waren. Nur eine alte Dame saß dort; sie hatte Papiere vor sich liegen und schnitt die Coupons ab und stapelte sie sorgfältig neben sich auf. Ich sah, daß sie eine eigene Schere dazu benutzte, nicht die, die an einer Schnur an der Seite des Tisches herabhing; die Schere war klein und golden wie das Amulett der Spanierin. Die alte Dame trug viele Ringe und Armbänder, und wenn sie die Schere benützte, gab es jedesmal ein leises Geräusch.

Ich verschwand hinter meiner Abschirmung. Ich stellte die leere Tasche, die ich mitgebracht hatte, neben meine Füße. Die mattglänzende Kassette stand vor mir. Ich war überrascht, wie klein sie war, und wieder hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, dies alles sei nur ein verrücktes Spiel, eines von diesen Kinderspielen, bei dem einem die Augen verbunden werden, und dann wird man im Kreis herumgeführt, in die falsche Richtung; ich war darauf vorbereitet, daß die Kassette, wenn ich sie öffnete, leer war.

Ich hob den Verschluß und stellte den Deckel hoch, lehnte ihn gegen das Holz der Umrandung. In der Mitte der Kassette lag ein Gegenstand, der von einem weichen, gelben Tuch umschlossen wurde, und darum herum lag das Geld. Ich brauchte den Gegenstand nicht zu berühren, um zu wissen, was das Tuch zudeckte; ich hatte, als ich mit Fritz Lehr über den Auftrag sprach, mich gefragt, woher ich die Waffe bekommen sollte; ich konnte sie nicht gut im Flugzeug mit mir führen, und ich kannte niemand in Madrid, der sie mir hätte besorgen können; ich hatte mich einfach nicht darum gekümmert, so als hätte ich geahnt, daß ich die Waffe hier finden würde.

Ich starrte auf die gebündelten Banknoten; aber das Eigenartige war, daß ich jetzt, da die Unsicherheit vorbei und das Geld wirklich da war, nicht die erwartete Freude spürte. Es war fast wie in dem Augenblick, als ich mir ausgerechnet hatte, wieviel 250000 Dollar in D-Mark waren. Ich hatte, als Lehr die Summe nannte, gedacht, es müßten gut und gerne eine Million sein. Eine Million, das war eine magische Zahl, viel mehr als 250000 Dollar. Als ich mir dann die Kurse angesehen hatte, stellte ich fest, daß der Dollar weiter gefallen war und ich nur DM 3,80 bekommen würde; das bedeutete, daß es nicht ganz eine Million war, nicht genau jedenfalls, nur 950000, und ich war enttäuscht gewesen, ich kam mir betrogen vor, als hätte mir jemand die fehlenden 50000 D-Mark gestohlen, als käme es genau auf diesen Betrag an.

Mich beunruhigte das Geld. Es waren neue 100-Dollar-Noten, sauber gebündelt, mit Banderolen der Bank versehen, glatte Rechtecke, wie Blöcke aus Metall; in dem künstlichen, hellen Licht wirkte das Notenpapier grau, unecht. Ich starrte die Bündel an, als handle es sich um eine Währung, die nicht existierte. Ich nahm eines der Rechtecke heraus. Es fühlte sich noch immer nicht wie Geld an. Ich zog einzelne Scheine heraus; sie waren kalt und glatt und ohne Leben. Ich begann, das Geld zu zählen, ein Bündel nach dem anderen, ich verzählte mich, und dann gab ich es auf und steckte die Scheine in die Banderolen zurück; sie paßten plötzlich nicht mehr in die schmalen gelben Streifen hinein, und das war das erste Mal, daß ich die Empfindung hatte, daß es wirkliches Geld war. Ich fing von vorne an, einfach, daß ich die Scheine aus den Bündeln nahm, sie flüchtig durchzählte und versuchte, sie wieder in die Banderolen zurückzustecken. Die alte Dame hatte sich erhoben. Sie trug ihre Kassette unter dem Arm, und als sie an mir vorbeiging, warf sie einen Blick hinter die Abschirmung und lächelte zu mir herüber; so als seien wir Partner in einer Verschwörung; es war dieses Lächeln, das mich schließlich überzeugte, daß das, was ich hier gezählt hatte, wirklich Geld war, 25mal 10000 Dollar, eine Million Mark, oder doch fast eine Million.

Eine Million – es wurde Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß das Geld mir gehören konnte, daß ich zwar einen Auftrag dafür zu erfüllen hatte, daß es aber dann mir gehörte, mir, Hans Pikola, dem Fotografen, der, was Geld anbelangt, immer ein Versager gewesen war, sich immer zu schnell zufriedengab. Ich hatte mich gefragt, ob die alte Reisetasche ausreichen würde für das Geld; und natürlich reichte sie, ich brauchte nichts von meinen anderen Sachen im Hotel zurückzulassen. Niemand würde es mir anmerken, niemand würde dem Mann besondere Beachtung schenken, der in ein paar Stunden aus dem Hotel Fénix treten würde, eine Tasche als einziges Gepäck in der Hand, der die Straße überquerte, auf die Straßenseite gegenüber, die am Nachmittag in der Sonne lag, der an den Geschäften vorbeiging, der die Auslagen nicht mehr beachtete, der alle die Dinge plötzlich nicht mehr brauchte, weil er sie haben konnte; ein Mann, der schneller ging als sonst, um zu den Taxis zu kommen, und dabei kaum sichtbar ein wenig den rechten Fuß nachzog, jedenfalls weniger als sonst, wenn er lange im Freien fotografiert oder in der Dunkelkammer gearbeitet hatte.

Kein Fotografieren mehr für Hans Pikola! Keine Werbefotos mehr, das, was einem wirklich an die Galle ging: drei Filme zu verschießen, bis der Bierschaum genau im richtigen Augenblick über den Rand lief – und dann stellte sich heraus, daß sie das Glas nicht genug gekühlt hatten und die Tropfen, die Frische suggerieren sollten, abgeflossen waren; keine Kindermoden, mit Modellen, die affektierter waren als die größten Stars unter den Mannequins; überhaupt keine Menschen mehr, Gesichter – Julia hatte die Fotografien katalogisiert, in große Stahlkästen eingeordnet, 15000 Bilder, die Ausbeute von dreißig Jahren; 15000, das bedeutete eineinhalb Bilder für jeden Tag; es war weiß Gott genug; nur das eine Bild hätte ich mir noch gewünscht, eine Aufnahme von mir, die Tasche in der Hand, bevor ich in das Taxi steigen würde, um mich zum Flughafen hinaus bringen zu lassen. Die Fotografie würde nicht zeigen, was ich wußte, was ein Mann von Fünfzig besser vor einer Vierundzwanzigjährigen verbirgt: die künstliche Kniescheibe in meinem rechten Kniegelenk; die drei fehlenden unteren Rippen auf der linken Seite; der auf ein Drittel wegoperierte Magen; der künstliche Unterkiefer, bei dem jeder der prachtvoll aussehenden Zähne mehr als eine Kamera gekostet hatte; und, eigentlich schon nebensächlich, die 2,5 Dioptrien auf jedem Auge – »Wie alt sind Sie«, hatte Dr. Blum bei der letzten Untersuchung vor drei Tagen gefragt. »Fünfzig? Aber das ist dann eine ganz normale Altersschwäche der Augen, zumal in Ihrem Beruf; ich muß sagen, das kommt eigentlich sogar relativ spät bei Ihnen.« – Die Fotografie würde nur einen großen, schlanken Mann zeigen, blond, ein schmales Gesicht, ein Nichtraucher-Nichttrinker-Gesicht, ein Mann, der viel an der Luft war, ein etwas rauhes Gesicht, sehr durchschnittlich, ein Typ, der in einem Versandhaus-Katalog Bekleidung tragen konnte, Bergstiefel, grobe Kordbundhosen. Man müßte ihm dazu nur die Haare schneiden. Sie waren etwas zu lang für einen Mann von Fünfzig, sie standen hinten auf dem Hemdkragen auf, aber Julia mochte sie so; sie hatte mich dazu gebracht, sie seit einem halben Jahr nicht mehr schneiden zu lassen.

Julia! Ich war sechsundzwanzig Jahre älter als sie. Und Dr. Blum, der mit einer um vierzig Jahre jüngeren Frau verheiratet war, hatte gesagt, daß das ganze Geheimnis darin bestehen würde, Geld zu haben. Sie müssen nichts anderes haben als eine Menge Geld, dann geht es gut. Hier war das Geld. Ich brauchte es nur später abzuholen, in ein, zwei Stunden, nachdem ich meinen Auftrag erledigt hatte …

Ich nahm das gelbe Tuch aus der Kassette und schlug es an den Ecken auseinander. Im Gegensatz zu dem Geld sah die Waffe gebraucht und sehr echt aus. Es war eine amerikanische Waffe, eine Armeepistole, Kaliber 45. Ich ließ das Magazin herausschnappen; es war gefüllt. Ich schob es wieder hinein und probierte den Schalldämpfer, der neben der Waffe gelegen hatte; er paßte sich nahtlos dem Lauf an. Es war eine mächtige Waffe, viel zu gewaltig für den Zweck, für den sie gedacht war, für einen einzigen Schuß aus kurzer Entfernung, denn der Mann, der jetzt in seinem Motel-Zimmer an der Avenida de Burgos auf mich wartete, hatte mich nie gesehen, obwohl ich ihn gut kannte. Ich wog die Waffe in der Hand, und ich spürte eine leichte Übelkeit.

Ich hatte mich zu entscheiden. Die Waffe oder das Geld. Brachte ich ihm das Geld, so bekam ich fünf Prozent der Summe. Nahm ich die Waffe und tötete ihn, so gehörte mir alles. Es war meine Entscheidung, aber es kam mir nicht so vor, als hätte ich wirklich die Möglichkeit zu wählen. Fritz Lehr hatte nicht umsonst mich ausgesucht, er hatte mich richtig eingeschätzt, damit gerechnet, daß mein Haß den Sieg davontragen würde.

Ich nahm die Waffe und steckte sie in meine Tasche. Ich warf die Geldbündel in die Kassette zurück, verschloß sie und trug sie hinüber und schob sie in das einzelne offenstehende Fach zurück. Ich schloß ab und steckte den Schlüssel zu mir. Ich holte meine Tasche und schritt auf den schmalen Ausgang zu. Die Stahlkammer glich mehr denn je einer Gruft.

 

Ich hatte mir den Rest so oft vorgestellt, daß ich wie im Traum handelte: Gegenüber der Bank stieg ich in den Schacht der Metro hinunter, fuhr bis zur Plaza de Castilla, nahm den Bus bis Chamartin und von dort ein Taxi. Ich ließ mich an der Ecke Avenida de Burgos und Avenida de Manoteras absetzen. Die Tasche in der linken Hand, ging ich dann weiter und hielt Ausschau nach der Renault-Werkstatt.

Die Gegend war trist, eine richtige Industriezone, und die Avenida de Burgos, die Nationalstraße 1, war hier draußen eine jener breiten, unfreundlichen Ausfallstraßen, die nirgendwo zu beginnen und nirgendwo zu enden scheinen und die überall gleich aussehen, mit ihren billigen Würstchenbuden und Tankstellen und Schrottplätzen. Man sah kaum Häuser, und so hatte man einen weiten Blick über die Ebene bis hin zu den Guadarrama-Bergen; sie lagen in einem leichten grauen Dunst, aber ich meinte, ich sähe Schnee auf den Kuppen. Ich hatte mich in der Bank, vor allem unten in der Stahlkammer, wie ein Fremder gefühlt; aber das Eigenartige war, daß ich mich hier bewegte, als sei mir dies alles bekannt, als sähe ich nichts Neues, nichts, was unerwartet war, überraschend. Die Gaskessel auf der rechten Seite, rötlich verrostet, ein Areal mit alten, außer Dienst gestellten Autobussen, die Autofriedhöfe, ein flacher Supermarkt mit vielen Fähnchen; es schien, als sei ich diesen Weg hundertmal gegangen, seit vielen Jahren, jeden Schritt; und als dann das Motel auf der linken Straßenseite auftauchte, gleich hinter der Renault-Werkstatt, wie Lehr gesagt hatte, wußte ich sofort, daß ich mein Ziel erreicht hatte

Das Motel lag etwa zwanzig Meter zurück von der Straße. Es war so trist wie die Gegend, ein flacher Gebäudetrakt, von dessen Putz die rote Farbe abblätterte. Treppen führten zu dem höher liegenden Eingang, zum Empfang und einem Restaurant. Die einzelnen Räume lagen an einem Gang über den Garagen. Hinter einer Verkleidung aus Holz sah man schmale, braungestrichene Türen mit den Zimmernummern. Nur links und rechts des Eingangs gab es etwas kümmerliches Grün, sonst stand das Gebäude auf einer Betonfläche, schmutzig und grau, mit Ölflecken vor den Garagen. Ein rotes Neonlicht über dem Eingang, ein Pfeil, der trotz des Tageslichts immer wieder aufleuchtete, vermochte dem Ganzen nichts von seiner Schäbigkeit zu nehmen. Aber sicher war es vom Standpunkt des Mannes aus, der sich dort verbarg, ein gutes Versteck. Man konnte jeden beobachten, der sich dem Motel näherte; kein Baum, keine Gebäude, es gab nichts, was den Blick beeinträchtigte.

Nur drei Wagen standen vor den Garagen, alles alte Modelle. Vorne an der Straße lag eine Tankstelle, an der ich vorbei mußte. Ein Mann in einem fleckigen Overall pumpte mit einer Handpumpe Benzin in den Tank eines Wagens. Sonst war niemand zu sehen. Das Motel schien leer und verlassen, trotz des Neonzeichens. Es änderte sich auch nichts, als ich näherkam, im Gegenteil, die Türen sahen nun aus, als führten sie nirgendwohin, so als bestünde das ganze Gebäude in Wirklichkeit nur aus einer Fassade wie bei einer Filmkulisse und dahinter sei nichts, und wenn man die Türen öffnete, würde man nur den Himmel sehen.

Zimmer Nummer 16 lag am Ende des Ganges, am rechten äußeren Ende, das letzte in der Reihe. Vor der Garage, die dazugehörte, stand ein Wagen. Vor, nicht in der Garage. Vermutlich steckte der Schlüssel, und der Wagen war aufgetankt. Ich sah, daß sich eine zweite kleine Treppe am Ende des Ganges befand, unmittelbar neben Zimmer 16, so daß er den Wagen auf dem schnellsten Wege erreichen konnte. Es war wirklich der beste Ort und das beste Zimmer – genau das, was ein Mann auswählen würde, der daran gewöhnt war, sich zu verbergen. Er tat nichts anderes seit einundzwanzig Jahren. Aber für mich machte es keinen Unterschied. Ich dachte sowieso nicht über den Augenblick hinaus, da ich vor seiner Tür stehen und klopfen würde. Es war unmöglich. Es war unmöglich, sich vorzustellen, daß ich eintreten und in das Gesicht blicken würde, das Gesicht, das ich nur einmal in meinem Leben gesehen, und da nur auf einer Fotografie, die einen Mann zeigte, der um fünfundzwanzig Jahre jünger war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich ihn töten könnte; aber dann konnte ich mir ebensowenig vorstellen, daß ich es nicht tun würde!

Ich ging zuerst zu dem Wagen unter der Nummer 16. Es war ein alter Dodge. Ich öffnete die Tür an der Fahrerseite, und wirklich steckte der Schlüssel in der Zündung. Ich beugte mich in den Wagen, drehte den Schlüssel herum und blickte auf die Skala des Benzinanzeigers. Der Zeiger stieg langsam und wanderte über die Skala, bis er auf »Voll« stand. Ich empfand Genugtuung bei dem Gedanken, daß ich auch das vorausgesehen hatte. Ich stellte meine Tasche auf den Fahrersitz, nahm die Waffe heraus und schob sie unter den Gürtel meiner Hose. Ein geübtes Auge würde die Waffe dort sofort entdecken, aber das machte wenig; wenn er vorsichtig war, mußte er ohnehin damit rechnen; er konnte sich nicht sicher fühlen; keinen Augenblick in diesen einundzwanzig Jahren hatte er sich sicher fühlen können; und es war beides möglich, daß das seine Wachsamkeit verschärft oder aber eingeschläfert hatte.

Ich ging zurück zum Eingang. Ich wollte ganz sichergehen. Es war immerhin möglich, daß er Verdacht geschöpft und den Ort gewechselt hatte. Er mußte nicht nur die Angst kennen, sondern in jenen Jahren einen besonderen Instinkt für alle Gefahren entwickelt haben. Wenn man sich einundzwanzig Jahre lang erfolgreich verbirgt, mußte das fast zur zweiten Natur geworden sein. Vor den Scheiben des Restaurants hingen keine Gardinen. Ich sah keine Gäste, nur einen Mann hinter einer Bar, der vor sich ein Transistorradio stehen hatte.

Ich betrat die Empfangshalle. Es gab einen Tisch und an der Wand dahinter ein Gestell mit sechzehn Fächern. Der Schlüssel von Nummer 16 war nicht da. Es gab noch ein Plakat mit den Abfahrtszeiten der Züge und ein zweites mit Kinoanzeigen. Ich hörte das Radio, aber niemand kümmerte sich um mich.

Ich trat hinter den Tisch und fand das schwarze Buch mit den Eintragungen über die Gäste. Ich blätterte die Seiten vier Wochen zurück, bis ich seinen Namen fand. Er hatte sich unter Clemente Stoeber eingetragen, aber das war nicht sein wirklicher Name.

Die Unterschrift hatte keine Ähnlichkeit mehr mit derjenigen, die ich so oft in den Akten gefunden und immer wieder studiert hatte; damals hatte er noch Karl Boettcher geheißen, und seine Unterschrift war unleserlich gewesen, so eben, wie die Unterschriften von Ärzten es meist sind. Diese hier war leserlich, in der Art, in der die Unterschriften von Kindern leserlich sind. Und, auf die Unterschrift blickend, auf den fremden Namen, fragte ich mich, warum alle diese Mühe, warum so einen weiten Weg machen, um einen Mann zu töten, der seinen Namen wie ein Kind schrieb …

Erstes Buch

1

Natürlich weiß ich jetzt, wie und wann alles begann. Damals war es mir nicht klar, als ich den silbergrauen Mercedes unter den Kastanien am alten Stadtgraben parken sah und Christina Lehr ausstieg. Es war in der zweiten Septemberwoche, und überall tauchten die Plakate für die Wahlen am 28. September 1969 auf, auch hier draußen in der Augsburger Lechvorstadt. Ich hatte meine Wohnung und mein Atelier dort, in einem der vom Verfall bedrohten Häuser.

Es war ein heißer, sonniger Tag, aber auch in der Sonne wirkten die Häuser heruntergekommen; Putz und Stuckornamente bröckelten ab, die Fenster waren ungestrichen und die Balkongitter und Fahnenhalter verrostet. Im Graben unterhalb der Reste der alten Stadtmauer war der Wasserspiegel abgesunken, ein stumpfes Abwasser, und bei Ostwind war es besser, die Fenster nicht aufzulassen. Am Graben führte ein Fußweg entlang, und dort parkte der Wagen, im Schatten der Kastanien. Ich achtete erst darauf, als jemand meinen Namen rief.

Ich blieb stehen, überrascht, daß eine Stimme sich in fünfzehn Jahren so wenig verändern konnte; so lange hatte ich sie nicht gesehen. Natürlich hatte ich ihren Weg verfolgt, von Christi Stempa zu Mrs. Christina Weinberger, dann schlicht Christina, das Modell, das Fräulein-Wunder, und jetzt, seit einigen Jahren Christina Lehr, die Frau des bekannten Bauunternehmers.

Ihre Beine kamen zuerst aus dem Wagen, lange, schmale Beine, denen man nicht ansah, daß sie Strümpfe trug. Dann der Körper, ebenso lang und schmal; er schien weniger mit einem Kleid bedeckt als einfach mit etwas Grünem, grüner Farbe vielleicht, direkt auf die Haut aufgetragen – und dann das Gesicht, in dem man zuerst die beiden zu weit auseinanderstehenden Schneidezähne bemerkte, wenn sie lächelte.

Mit ihr kam ein Geruch von den Lederpolstern des neuen Wagens, von Parfüm, aber ich beachtete nur die auseinanderstehenden Zähne. Man sah sie nie auf den Fotografien von ihr; schon damals hatte sie, wenn ich Aufnahmen zu machen hatte, einfach einen falschen Zahn aufgesteckt, der genau die Lücke schloß. Ich hatte es wirklich vergessen, erst jetzt erinnerte ich mich daran. »Hallo«, sagte ich. »Hallo, Funny Face«, was auch einer ihrer Namen gewesen war.

Sie kam näher, und ich mußte denken, daß alle großen Fotomodelle Ausnahmen von der Regel sind. Wer immer das gesagt hat, es traf auf Christina zu, immer noch, obwohl sie diesen Beruf lange aufgegeben hatte. Sie mußte jetzt neununddreißig sein, oder vierzig. Sie war zu flach, zu dünn, zu groß, 1,78, wenn ich mich recht erinnere. Und wer hatte nicht alles über ihre Schuhgröße – vierzig oder einundvierzig, glaube ich – geschrieben. Die Wirkung, die von ihr ausging, hatte nichts mit den Maßstäben gewöhnlicher Schönheit zu tun, sondern mit jener besonderen Ausstrahlung, die große Modelle haben: Sie sind da, voll und ganz, jeden Augenblick, sie schaffen eine bestimmte Stimmung, sie animieren … es war noch immer so mit ihr, ich spürte es, als wir zusammen weggingen.

Sie hatte den Wagen abgeschlossen, die Schlüssel in ihre Tasche fallenlassen und mich untergehakt: »Ich war nicht wirklich sicher, daß all dies hier noch existierte.« In der Art, wie sie sprach und wie sie die Sätze baute, merkte man, wie lange sie in Amerika gelebt hatte.

»Hier ändert sich nichts«, sagte ich. »Nicht viel jedenfalls, und es wird sich nie viel ändern. Dies ist keine Stadt, die Änderungen liebt.« Natürlich hatte sich viel geändert; aber ich wollte nicht von damals sprechen. »Was bringt dich hierher?«

»Ich komme von Zeit zu Zeit hierher. Ich habe hier einen Astrologen, den ich von Zeit zu Zeit aufsuche; er würde es sicher nicht gern hören, wenn ich ihn so bezeichne, aber mehr oder weniger ist er das.«

Wir waren vor dem Haus angelangt, das wie alle anderen seinen Verfall nicht verbergen konnte. Sie blickte es an, als messe sie es an ihrer Erinnerung. »Schon damals hast du es gehaßt«, sagte sie. »Und alles, was du wolltest, war, hier wegzukommen.«

»Ja, aber wie du siehst, ist nichts daraus geworden.«

»Das Schild ist nicht mehr da. Fotografierst du nicht mehr?« »Doch, was sollte ich sonst wohl tun.« Ich sah sie an. »Aber keine Modelle mehr.«

Wenn man das Haus betrat, war es eigentlich noch schlimmer; mit dem Marmorboden, der einmal gewesen war, den Resten der Jugendstilfenster; es gab sogar einen Lift, ein vergittertes Ungetüm; die Messingbeschläge glänzten, aber er war seit Jahren außer Betrieb, von der Baupolizei gesperrt; sie lächelte, als wäre alles andere eine Enttäuschung für sie gewesen. »Wirklich, geändert hat sich hier nicht viel.«

Ich brauchte ihr nicht den Weg zu zeigen; sie wußte, zu welcher Tür sie gehen mußte, das Wohnatelier war immer noch da, die beiden großen ineinander übergehenden Räume, nur daß alles noch überfüllter war, zu viele Möbel, zu viele Bilder, zu viele Dinge, die ich zusammengetragen hatte, Wertvolles und Minderwertiges. Sie bewegte sich darin, als würde sie sich selbst im Dunkeln auskennen; sie nahm Gegenstände in die Hand, blieb vor der Vitrine mit der Uhrensammlung stehen, las Buchrücken, betrachtete die drei Vergrößerungen, an denen ich gearbeitet hatte und die zum Trocknen aufgehängt waren. Auch mir wurde klar, wie wenig sich hier geändert hatte; bis auf die Reihe grauglänzender Metallkästen im Nebenraum, in dem die Abzüge und Negative eingeordnet waren.

Ich wollte ihr einen Stuhl freimachen, aber sie setzte sich auf die niedrige Bettcouch, auf die breite Decke aus Fuchsfellen. »Du bist immer noch mit ihr verheiratet?« fragte sie.

»Ja, immer noch.« Ich mußte erst nachrechnen. »Siebenundzwanzig Jahre. Kann ich dir etwas anbieten?«

»O nein, nichts. Und wie geht deine Ehe?«

Sie hatte es so einfach und natürlich gefragt, daß ich so natürlich wie möglich antwortete. »Sie geht nicht.«

»Ich habe immer gesagt, du taugst nicht zum Heiraten.«

»Ich habe auch nicht gedacht, daß du dafür taugst.«

»Aber ja! Ich tauge ideal zur Ehe. Eine Frau kann so immer noch am leichtesten zu Geld kommen. Schon als kleines Mädchen wollte ich reich sein. Ich wollte nie etwas anderes geschenkt bekommen, keine Puppen, kein Spielzeug, am liebsten war mir immer Geld. Es ist eine natürliche Veranlagung bei mir. Und ich hab’ dazugelernt, manchmal leicht, manchmal schwerer, aber gelernt habe ich es. Man kann wirklich fast alles für Geld kaufen, und ich mag Leute nicht, die das nicht zugeben. Ich wußte immer, ich wollte Geld. Du fühlst dich sicherer. Das ist es.«

»Du mußt viel Geld verdient haben als Modell.«

»Du verdienst viel, aber du gibst es auch wieder aus. Du kannst das Geld nicht zusammenhalten als Modell. Du hast Erwartungen zu erfüllen. Ich kenne keine von uns, die dabei reich geworden ist, ich meine, reich, wohlhabend. Und dann, du weißt, woher das Geld kommt, du weißt, wie du dich dafür geplagt hast – das nenne ich nicht Reichtum; reich bist du erst, wenn du dich nicht mehr fragst, woher das Geld kommt. Und das erreichst du als Frau nur in der Ehe.«

»Und wie ist die Ehe mit Fritz Lehr?«

»In Ordnung, glaube ich. Er gibt mir, was ich will, und ich versuche, ihm all das zu geben, was ihm wichtig ist. Und wir haben zwei Kinder. Frag nicht nach Fotografien, ich hab’ keine, aber ich bin eine gute Mutter. Sie sind drei und fünf, ein Junge und ein Mädchen. Erstaunt dich das?«

»Ich lese Zeitungen, auch die, in denen so etwas steht. Ich lese von deinen Kindern und deinen Parties, und wenn du eine Kunstausstellung eröffnest, und ich sehe die Fotografien, auf denen du mit jungen, langhaarigen Künstlern zu sehen bist, und ich frage mich …«

»Das fragt sich jeder.« Sie lächelte und zeigt dabei die auseinanderstehenden Zähne. »Jeder möchte gerne wissen, ob ich mit ihnen schlafe, aber ich bin eine sehr treue Ehefrau, so treu, daß ich mich manchmal frage … Nein, meine Ehe ist in Ordnung, in Grenzen, wie das so ist. Aber wenn du wußtest, daß ich zurück bin, warum hast du dich nicht gerührt? Fritz war doch einmal dein Freund.«

»Wir haben uns aus den Augen verloren.«

»Hast du ihn nie mehr gesehen?«

Ich hatte ihn gesehen, aber warum darüber reden; es war wirklich ein Ereignis, Christina anzusehen, wie sie dort saß, in dem grünen, ärmellosen Kleid am Rand der Couch, die Beine untergeschlagen; sie hatte sich nicht bewegt, saß von Anfang an in derselben Stellung. Diese Fähigkeit zur absoluten Bewegungslosigkeit, das hatte es so leicht gemacht, mit ihr zu arbeiten. Stunden konnte sie so sitzen, wenn man es von ihr verlangte, im grellen heißen Scheinwerferlicht, geschminkt, bis ihre Muskeln oft sichtbar zu zittern begannen aus Verkrampfung, bis Tränen aus den Augen traten, die man dann mit einem Fön aus dem Bild wegblasen mußte; aber die Fotos zeigten nie etwas von diesen körperlichen Beschwerden. »Hast du ihn noch mal gesehen?«

»Einmal.«

»Und?«

»Schwierig.«

»Wenn du nicht darüber reden willst.«

»Nein, warum nicht. Es war einfach schwierig mit ihm nach so vielen Jahren. Wir hatten uns seit 1945 nicht mehr gesehen. Es war in München, in einem Restaurant, er spielte den großen Boß; ein vornehmes Restaurant, wo die Kellner dich hochnäsig behandeln, aber um ihn sprang alles herum; es war wirklich kein günstiger Augenblick für ein Wiedersehen. Zuerst wußte er nicht, was er mit mir anfangen sollte, aber dann zeigte er mir Bilder von seinen Kindern und seiner damaligen Frau, dieser Amerikanerin; jedenfalls wußte ich am Schluß alles über sein neues Haus, über das Gut bei Steingaden, ich kannte seine letzten Umsatzzahlen. Aber daß wir uns wirklich noch etwas zu sagen hätten, kann ich nicht behaupten; und keiner von uns beiden hat sich dann wieder gemeldet.«

»Wann war das?«

»Elf, zwölf Jahre nach dem Krieg. Du warst noch nicht zurück. Es muß so 58 gewesen sein, ja, kurz nach meinem Unfall.«

»Du hattest einen Unfall? Du warst eigentlich ein guter Fahrer, eher vorsichtig.«

Es war zwei Jahre, nachdem ich den Postkarten-Verlag übernommen hatte. Ich brauchte den Wagen, wegen der umfangreichen Fotoausrüstung für die verschiedenen Außen- und Innenaufnahmen. Schon einmal waren mir wertvolle Apparate gestohlen worden, und so hatte ich jetzt immer einen Hund dabei, der beim Wagen blieb und so scharf war, daß ich den Wagen unbesorgt offen stehen lassen konnte. Ich hatte an jenem Tag eine Lechschleife fotografiert, eine ziemlich unzugängliche Stelle; als ich zurückkam, war der Wagen ausgeraubt, und der Hund lag da, vergiftet, und ich war so zornig und krank, daß ich wie blind gefahren sein muß, und vielleicht auch zu schnell; es war ein Herbsttag mit einem starken, peitschenden Föhnwind gewesen, und der erfaßte den leichten Wagen, als ich aus dem Waldstück herauskam.

Ich hatte noch Glück. Der Wagen war Schrott, aber mir mußte man nur drei Rippen entfernen; und ich hatte einen zertrümmerten Unterkiefer, nichts, was ein guter Kieferchirurg nicht richten konnte. Sieh dir es an; ich habe nie so schöne Zähne gehabt.« Ich kehrte von mir zu Fritz Lehr zurück: »Es war einfach schwierig mit uns beiden. Es gibt Dinge, über die wir vielleicht nicht reden wollten.«

»Ich glaube, ihr zwei würdet euch sicher wieder verstehen. Ich hoffe doch, daß ich dich jetzt wieder öfter sehe. Du kennst unser Haus am See, zwischen Utting und Holzhausen, gleich hinter dem Gelände des Augsburger Segler-Vereins? Wir sind jetzt fast immer dort. Es ist natürlich nicht mehr ganz das alte Haus, ich hab’ einiges ändern lassen, aber der Park ist so wie früher, kein Baum ist weggekommen. Schrecklich, ich rede nur von mir, und du?«

»Das siehst du ja.«

»Malst du noch?«

»Ich habe nie gemalt!« Ja, ich mochte auch das Thema nicht, nichts von der Vergangenheit. Sie war verschlossen und versiegelt, und so sollte es bleiben. »Und du hast geschworen, nie mehr in diese Stadt zu kommen, wenn du erst einmal weg bist«, erinnerte ich sie.

»Ach, Pikola! Die Schwüre junger Männer und junger Mädchen. Daran soll man niemand erinnern, du hast recht. Ich spreche nicht mehr über deine Malerei und du nicht mehr über meine Schwüre. Dabei habe ich das wirklich alles vergessen. Vorhin, als du das zu mir sagtest, Funny Face, da mußte ich mich wirklich erst erinnern, wann und von wem ich den Namen bekommen habe. Ich fürchte die Vergangenheit nicht mehr, ich träume nicht mehr davon wie damals. Eine Frau in meinem Alter hat nur eines zu fürchten, die Zukunft.«

Ich sah sie an, schüttelte den Kopf und sagte: »Du siehst besser aus denn je. Du hast nie besser ausgesehen.«

»Ich werde vierzig in drei Wochen – vierzig, weißt du, was das für eine Frau heißt?«

Ich hätte ja sagen können, ich brauchte nur an Thea zu denken, aber ich sagte: »Du siehst nicht wie zwanzig aus, aber du versuchst auch gar nicht so auszusehen. Vielleicht siehst du deshalb aus wie dreißig.«

»Jetzt redest du wie mein Arzt. Jugend ist an die Jugend verschwendet, wie? Das wahre Leben der Frau beginnt mit vierzig. Mein Arzt nennt es das Alter, in dem die Frau den größten Preissprung macht – man ist in allem mehr wert, man ist in allem besser! Die Jahre, in denen eine Frau besser aussieht und sich besser fühlt denn je. Sie ist anziehender, erfahrener, sinnlicher. Vor allem viel sinnlicher! Sie hat mehr Vergnügen an allem, kann alles mehr genießen: Orte, große Dinge, kleine Dinge, und natürlich die Menschen in ihrem Leben – die Freunde, die Kinder, die Männer! Vor allem die Männer! Sie bekommt jetzt die richtigen Männer! Sie fallen ihr nur so in den Schoß. Alles fällt ihr in den Schoß, weil sie eine Frau ist, die Vertrauen zu sich hat! – Ich höre das alle vierzehn Tage von meinem Arzt, und damit es nicht bei Worten bleibt, spritzt er mir dieses herrliche Vitamin E und pumpt mich voll mit diesen noch wundervolleren Östrogenen.« Sie lachte. »Das ist das, was du mir ansiehst. Die richtigen Östrogene spannen deine Haut, lassen dein Haar glänzen, festigen deine Brüste, so du welche zum Festigen hast, sie … well, they spruce up your vagina too, and not to forget, your clitoris. Nun, du weißt sicher, wie direkt Ärzte reden können.« Sie bewegte sich zum ersten Mal. Sie stand auf und kam zu mir, stützte sich mit beiden Händen auf die Lehnen des Sessels, in dem ich saß. Ihr Gesicht, ihr grüner Körper waren über mir. »Weißt du, was er noch sagt! Im Gegensatz zu jüngeren Frauen, die sich beklagen, daß ihr Ehemann den Liebesakt häufig von ihnen verlange, haben die Frauen über vierzig das Problem, daß sie ihren Ehemann zu häufig plagen. Nimm dich also in acht vor mir. Deine Frau kann nicht plötzlich hier hereinkommen?«

»Nein. Sie arbeitet, und sie betritt diesen Raum nie. Manchmal glaube ich, sie hat die Vorstellung, daß hier schreckliche Dinge geschehen. Sie haßt diesen Raum geradezu, und besonders das Fuchsfell findet sie einfach geschmacklos.«

Sie sah auf das Fell, als sehe sie es erst jetzt. »Es paßt wirklich nicht ganz zu dir«, sagte sie. »Hast du es gekauft?« »Nein. Ich habe es geschenkt bekommen.«

Sie merkte, daß ich nicht darüber reden wollte.

Sie nahm wieder ihre Wanderung durch den Raum auf. Dort, wo ich die Filme entwickelte, waren zwei rote Lichter. Sie knipste sie an. Sie sah zu mir herüber, lächelnd. »Sag mal, bist du noch so gut wie früher?«

Sie hatte immer solche direkten Fragen gestellt. Sie war die einzige Frau, die ich kannte, die solche Fragen stellen konnte, und die einzige, der ich geantwortet hatte; so sagte ich, wobei ich ein Jahr unterschlug: »Ich bin neunundvierzig.«

»Aber Pikola! Das sind Fähigkeiten, die sich nicht verlieren.«

Ich war nicht sicher, ob sie wirklich von mir sprach. »Hast du Probleme mit ihm?« fragte ich und kam mir wie ihr Arzt vor. Sie antwortete ganz sachlich: »Nicht gerade Probleme.«

»Junge Mädchen?«

»Wie kommst du darauf?«

»Es könnte sein. Er ist ein Jahr älter als ich, und man sagt …«

»Nein, keine jungen Mädchen; die jungen Mädchen von heute fürchte ich nicht. Sie sind hübscher als wir waren, cleverer, ich kann sie oft beobachten bei mir, wenn sie auf der Jagd sind; vielleicht kenne ich die falschen Mädchen, aber die, die ich beobachte, die unsere Herren Direktoren anschleppen an den Wochenenden, die sind alle kühl und eisig – sie beherrschen alle Tricks, nur haben sie selber keinen Spaß an der Sache; sie sind todernst dabei! Ich habe das alles selber gemacht, aber ich war nicht so kalt dabei, ich war immer bereit, dafür etwas herzugeben. Nein. Fritz hat das durchschaut, darin ist er eben ein Reicher, ich meine, von Haus aus reich; er durchschaut, wenn es um sein Geld geht, nur um sein Geld.«

Ich mußte an Julia denken, die ein junges Mädchen war, aber ganz anders als die Mädchen, von denen sie sprach, anders auch als Christina; aber ich hatte nicht die Absicht, von ihr zu sprechen, zu niemandem.

»Nein, wirklich keine jungen Mädchen, es sei denn, es käme eines, das ganz anders ist … Nein, ich weiß nur, daß Fritz manchmal in München in einen dieser Massagesalons geht, nach einer Sitzung, oder wenn er aus dem Ausland zurückkommt, und es nicht weiter auffällt, wie er meint; Massage und kleines Bad, auch für Nichtschwimmer; er geht immer in denselben, in der Arcisstraße 51, zweimal läuten bei Micklich.« »Das weißt du alles?«

»Ich finde, es ist besser, ich weiß es.«

»Du bist immer noch so sehr geradeheraus.«

»Ja, ich weiß, es ist nicht sehr fraulich.« Sie hatte sich dem Fenster genähert. Dort waren Rollos angebracht, damit ich den Raum auch am Tag verdunkeln konnte, wenn ich entwickelte. Sie zog sie herunter. Die beiden roten Lampen brannten, und in ihrem Licht verschwand das Grün aus ihrem Kleid. »Ich habe versucht, alles zu berechnen, seit ich von dir weg bin«, fuhr sie fort. »Es ist nicht das schlechteste, oder? Ich glaube, meine Träume sind in Ordnung. Ich wollte Sicherheit, und ich habe sie bekommen. Aber ich bin natürlich nicht mehr die, die ich damals war. Wie war ich damals?« Sie erwartete keine Antwort. Sie beugte sich über mich: »Ich möchte gern, daß du mit mir schläfst.«

Ich versuchte, mich zu erinnern, welche Farbe Ihr Kleid gehabt hatte, aber ich konnte es nicht. In dem rötlichen Licht hatte es die Farbe ihrer Haut. Ich bemerkte nicht, wie sie sich auszog, wohin sie das Kleid legte und ob sie überhaupt etwas anderes trug als das Kleid.

Als ich im Bett neben ihr lag, sagte sie: »Ich war erst wenig über sechzehn, als du zum ersten Mal mit mir geschlafen hast, und du warst der erste Mann überhaupt. Ich bin dein Geschöpf, vergiß das nicht!« Sie wurde plötzlich still, als ihre Hände sich bewegten, und dann lachte sie neben mir, sehr leise, so als ob man auch beim Lachen flüstern konnte, und ebenso leise sagte sie: »You feel like old times … very much so.«

Die Rollos schlossen nicht ganz dicht an den Rändern; ich blickte auf die zwei Streifen Licht und dachte, daß es höchste Zeit war, sie zu erneuern. Da war vieles, was mich zurückhielt, zu vieles; warum sagte ich es ihr nicht? Man kann Vergangenes nicht zurückbringen; aber sie schien zu glauben, man könnte es; wie sollte ich sie widerlegen. Ich fühlte ihren Körper, die alte Verwunderung, wo unter dem Kleid diese Formen Platz gehabt hatten. Ich erinnerte mich an etwas anderes und nahm eines der Kissen und schob es ihr unter den Bauch; ich hörte wieder ihr Lachen: »So you still remember that too.« Daß sie es aussprach, machte es nicht besser; aber jetzt konnte ich es tun – auf die Art, die sie am liebsten hatte.

2

Sie war hinterher so natürlich wie zuvor. Sie hatte sich angezogen, ohne daß ich es richtig bemerkte. Sie mußte nichts zusammensuchen, nichts lag herum. Selbst um das Bett in Ordnung zu bringen, schien sie nur ein paar Handgriffe zu tun. Und als ich die Rollos hochließ und sah, daß ihr Kleid grün war, saß sie wieder in der ursprünglichen Stellung am Rand der Couch. Sie öffnete ihre Tasche, blickte in einen Spiegel und entschied, daß sie keinen Puder, keinen Lippenstift brauchte, sie legte sich das Haar ohne Kamm, nur mit den Händen. Sie holte eine Uhr aus der Tasche, blickte kurz darauf und sagte dann: »Sag, hast du alte Fotos von mir aufgehoben? Kann ich sie sehen?«

Es gab mir Zeit – Zeit, in den Nebenraum zu gehen, die grauen Metallkästen anzustarren. Ich sah unter C nach, Christina. Aber dort waren nur Zeitschriften-Ausschnitte, eine ganze Reihe von Vogue-Titelblättern, auf denen sie abgebildet war. Aufnahmen aus den frühen sechziger Jahren, die nicht von mir stammten. Ich zog den Schub St heraus und fand eine prall gefüllte Hängemappe mit einem Reiter: Christi Stempa s.a.Christina, Weinberger, Lehr. Was Julia machte, machte sie mit Perfektion. Ich sah mir die Mappe zuerst an; das meiste waren Aufnahmen für Zeitungsreklamen; Christina als Sparta-4711-Mädchen, Christina, die zu einem anderen Mädchen sagt: »Vor zehn Minuten gabst du mir eine Spalt-Tablette, und jetzt sind meine Kopfschmerzen weg« –, und dann die vielen Aufnahmen als Modell: Christina in Hüten von Velois, Strandanzüge von Hödesmann, Popelinmäntel von Jobis, Skianzüge von Bogner. Es waren alles Fotos aus den Jahren 48 bis 50, und sie kamen mir vor, als seien sie ein Jahrhundert alt. Ich suchte weiter, bis ich ein bestimmtes Foto fand, ein 6-mal-9, ein schlechter Abzug auf schlechtem Papier. Ich nahm es an mich und ging zurück und legte Christina die Mappe hin.

Sie breitete die Fotos auf dem großen Bett um sich aus. Ich saß in meinem Stuhl und blickte auf die kleine, schlechte Amateuraufnahme: Ein amerikanischer Militärjeep, ein amerikanischer Leutnant auf dem Beifahrersitz und hinter dem Steuer ein Junge in einer Uniform, die eine getreue Kopie der Leutnantsuniform war, einschließlich des Schiffchens und des regenbogenfarbenen Divionszeichens. Die Windschutzscheibe war heruntergeklappt; man sah das Gesicht des Jungen genau, der breit lächelte und das Steuerrad mit beiden Händen umklammert hielt. Der Junge hatte zwei Schneidezähne, die zu weit auseinanderstanden.

Es war eine Aufnahme von ihr, Christina, Funny Face, so wie ich sie zum erstenmal gesehen hatte, im Juli 1945. Im Hintergrund des Bildes war die amerikanische Kaserne zu sehen, in die Gulbies, der Lette, mich an jenem Tag mitgenommen hatte, weil er mich Leutnant Schwartz vorstellen wollte. Ich blickte auf die alte Fotografie, die jetzt vierundzwanzig Jahre alt war, und ich war nicht sicher, ob Christina das sehen wollte; nicht einmal, ob ich mich erinnern wollte.

Ich hörte damals ihre Geschichte von Duncan, dem Leutnant auf dem Bild; einiges von ihr; vieles aus den Träumen, die sie hatte, nachdem sie zu mir gezogen war. Sich jetzt zu erinnern, was brachte es zurück? Natürlich fielen mir die Rollschuhe ein: eine Stadt, Dresden, im Krieg, und ein junges Mädchen, das auf Rollschuhen die Stadt durchstreifte, um ausfindig zu machen, wo es etwas zu verdienen gab – am Altmarkt Autos bewachen für zwanzig Pfennig die Stunde, den Fischern an der Elbe Würmer verkaufen –, davon hatte sie viel erzählt. Wenig von zu Hause, zwei Brüder, die gefallen waren, der Vater, ein Schmied, der seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, weil ihm im Ersten Weltkrieg eine Hand weggeschossen worden war und er nie damit fertig wurde; die Mutter, die arbeiten mußte, das Mädchen zur Arbeit anhielt: Was sitzt du immer da und putzt an deinen Rollschuhen herum. Ich weiß gar nicht, was es da noch zu putzen gibt! Und sie war schon wieder unterwegs auf ihren Rollschuhen, teure, fest mit den weißen Stiefeln verbunden, einen dicken Schal umgeschlungen, Fäustlinge; es war kalt, Februar 1945, und morgen hatte ihre Mutter Geburtstag, am Vierzehnten. Das Mädchen hatte einen Brustbeutel umhängen, aber was konnte man schon kaufen; und so war sie unterwegs, nachmittags, nach der Schule, das letzte Schuljahr; sie wußte sich zu helfen, sie wußte, wo es Blumen zu stehlen gab.

Sie erwischten sie dabei, sperrten sie ein. Sie war ohne Ausweis, eine Nacht würde ihr nicht schaden; das konnte man am Morgen klären, ob das stimmte, der Name, Christl Stempa, die Adresse, das mit dem Geburtstag; Februar 45, so viele Flüchtlinge in der Stadt, so viele stehlende Kinder, das mußte geklärt werden, beizeiten. Die Nacht zum Vierzehnten, der schwere Luftangriff auf Dresden: Das Mädchen, immer noch die Rollschuhe an den Füßen, sitzt in einer großen Gemeinschaftszelle. Man läßt sie in der Zelle während des Angriffs. Ein Trakt wird getroffen. Das Haus hat gezittert, und sie haben gebrüllt, und in der Wand war ein brandrotes Fenster. Das weißt du noch von ihr, und daß sie am Morgen in dem wüsten Durcheinander davonlaufen konnte.

An diesem Morgen brannten sogar die Straßen, der Asphalt hatte sich entzündet; es war das einzige, was sie immer wieder erzählte, was in ihren Träumen wiederkehrte: Das Mädchen kam nicht voran, der heiße Asphalt klebte an den Rollen; sie stocherte ihn heraus, aber schon klebte wieder alles fest, rollte sich auf, zog dunkle Fäden … Ich komme nicht vorwärts … schrie sie im Traum, und dann erwachte sie und drehte sich zu mir um und fragte: »Habe ich geträumt?«

In der Kaulbachstraße stand das Haus der Eltern nicht mehr, überhaupt keines mehr; es hatte keinen Sinn, nach Leichen zu graben. Jemand hatte ihr geholfen, die Rollen von den Stiefeln zu schrauben, irgendein Junge, der ihr von seinen toten Eltern hätte erzählen können, es aber so wenig tat wie sie.

Es gab viele solche Jungen, und sie schloß sich ihnen an. Sie hatte keine Verwandten in der Stadt. Die Schule stand noch, aber der Junge lachte sie aus: Wer würde jetzt noch daran denken, in die Schule zu gehen? Sie wollte nicht von den Jungen ausgelacht werden. Sie schnitt sich die Haare ab und blieb bei ihnen, bei den Jungen, die umherzogen, stahlen – ohne Lebensmittelkarten mußte man stehlen –, weiterzogen, vor der nahenden Front her. Sie kam mit ihnen bis vor Prag, wich nach Wien aus, Salzburg. Sie trug längst Jungenkleider und nannte sich Christian. In Bad Reichenhall war der Krieg zu Ende, sah sie die ersten Amerikaner. Sie stand dabei, immer noch in ihren weißen Stiefeln, und sah zu, wie die Amerikaner deutschen Kriegsgefangenen Uhren, Ringe und Wertgegenstände abnahmen. Ein junger Leutnant hielt eine Leica in der Hand und blickte sich um, suchte ein Motiv für die erste Aufnahme mit der erbeuteten Leica und rief dann dem Jungen zu: »Hey, you, yes you with that funny face, come here, what’s your name? Was ist dein Name, funny face?« Ich blickte auf von der alten Fotografie und sah ein Gesicht, glatt, faltenlos; nichts erinnerte an das Mädchen mit den durchgelaufenen weißen Stiefeln, nicht einmal der Zahn. »Was ist? Was ist mit dem Bild?« Sie schien es schon ein paarmal gefragt zu haben. Ich war nicht sicher, ob ich es ihr zeigen sollte, aber ich stand auf und ging zu ihr. »Es ist von dir und Duncan. Erinnerst du dich an Leutnant Duncan?« Sie betrachtete die Aufnahme lange, ohne daß sich etwas auf ihrem Gesicht änderte. Dann sagte sie: »Natürlich erinnere ich mich an Duncan. Er gab mir den ersten Rat in meinem Leben, mit dem ich wirklich etwas anfangen konnte.« Aber dann verstummte sie und sah das Bild an, so wie ich es angesehen hatte.

Ich wünschte ihr nicht, sich an das zu erinnern, was mir bei der Fotografie in den Sinn gekommen war. Aber vielleicht dachte sie nur an die erste Begegnung mit Duncan und an das, was danach gekommen war: Es war nichts Ungewöhnliches, daß amerikanische Kampfeinheiten in jener Zeit einen der zahllos auf den Straßen umherirrenden Jungen mit sich nahmen. Es gab viele Einheiten, die sich einen Jungen hielten wie andere einen Kompaniehund. Es war ihr Maskottchen, ihr Talisman, er bedeutete Glück. Duncans Einheit hatte Funny Face behalten. Sie zog mit ihnen, bis nach Augsburg, in der Uniform, die extra für sie geschneidert worden war, komplett mit den Insignien der Division, dem bunten Regenbogen. Sie lebte mit ihnen, aß in ihren Casinos, sah ihre Filme. Sie hatte die Schlüssel zu Duncans Verpflegungskiste und zu seinem Jeep. Aber dann, von einem Tag auf den anderen, kam das Ende, die Kampftruppen wurden abgezogen, und es war aus mit der Maskottchenzeit. Damals war sie zu mir gezogen. Thea saß in Siebenbürgen, ich wußte nicht einmal, ob sie noch lebte.

Christina hatt die Fotografie aus der Hand gelegt. »Weißt du noch, daß wir am Schluß mit ihm fuhren, bis nach Bremerhaven? Und was Duncan mir im letzten Augenblick sagte, bevor er aufs Schiff mußte? Smile and advance. Es war das erstemal, daß ich wieder Mädchenkleider trug, und Duncan beugte sich herab und küßte mich auf die Wange und sagte: ›Never look back, funny face, just smile and advance.‹ Es war ein guter Rat. Ich hab’ immer versucht, mich daran zu halten.« Sie machte eine Handbewegung. »Ich wußte nicht, daß du das alles aufgehoben hast.«

»Du hast recht, man sollte es nicht tun. Aber einen Fotografen plagt immer der Gedanke, irgend jemand könnte irgendwann kommen und ein bestimmtes Bild oder Negativ verlangen, das er irgendwann einmal gemacht hat. Ein Fotograf kann nichts wegwerfen. Er muß einfach alles aufheben.«

»Es war keine schlechte Zeit damals, oder?« sagte sie. »Ich meine, es ging uns schlecht, aber es war eine gute Zeit, ich meine all die guten Vorsätze, die wir hatten. Und denkst du manchmal noch an die Eishockeyspiele? Erinnerst du dich noch an das Spiel in Garmisch? Ihr habt damals gewonnen, nur mit einem Tor. Es fiel ein einziges Tor, und ihr hattet Riessersee geschlagen, den SC Riessersee, der dann im Jahr 1948 Meister wurde. Was macht eigentlich dein Knie? Das passierte doch in dem Spiel in Garmisch, nicht wahr? Ihr habt nie verloren, wenn ich dabei war! Wenn ich damals nur mit nach Bad Nauheim gefahren wäre, vielleicht wärt ihr dann Meister geworden. Ist das Knie in Ordnung? Ich habe vorhin nicht gemerkt, daß es dich stört.«

Ich wollte, sie hätte das Letzte nicht gesagt. Aber sonst hatte sie recht; wir hatten damals ein gutes Team, und die zertrümmerte Kniescheibe war den zweiten Platz wert. Sie nannten es damals, ein bißchen abfällig, das »Lettenteam«, weil viele Letten darin spielten, die hier nach dem Krieg hängengeblieben waren. Gulbies spielte in dem Team, und niemand wußte, daß er bei der SS gewesen war; und Ansons natürlich, der Torwart, den ich schon 1936 in Garmisch-Partenkirchen bei der Weltmeisterschaft gesehen hatte; Ansons war das halbe Team, und er hatte mehr verloren in den vielen Spielen als nur eine Kniescheibe.

»Weißt du eigentlich, was aus den anderen geworden ist?« fragte sie.

»Ein paar sind hiergeblieben und spielen immer noch. Die meisten sind nach Amerika ausgewandert, so wie du damals; ich habe mit keinem Verbindung mehr.«

»Gulbies habe ich drüben einmal getroffen. Er hat es weit gebracht, er ist vielfacher Millionär. Er kauft Grundstücke, setzt fertige Häuser darauf, in einem komischen bayrischnordischen Stil, mit wuchtigen steingemauerten Kaminen in jedem Haus, und verkauft sie dann sündhaft teuer. So bin ich ihm wiederbegegnet; ich bekam eines seiner Häuser nach meiner Scheidung von Mister Weinberger. – Warum bist du damals nicht mit mir gegangen? Du hättest mitkommen können, das weißt du. Wir hätten beide Karriere gemacht, und du wärst vielleicht immer noch der erste Mann in meinem Leben.«

Vielleicht. Aber es war weit und fern, eine Vergangenheit, die nicht mehr existierte. Jacques Fath hatte Fotos von ihr gesehen und wollte sie als Modell. Sie war allein nach Paris gegangen, 1950, und drei Jahre später hatte ich sie noch einmal gesehen. Sie war schon Mrs. Christina Weinberger, frisch getraut mit einem amerikanischen Film-Offizier, und ihr Schiff, die America, ging am nächsten Tag von Le Havre nach New York. Smile and advance. Sie hatte Duncans Rat wirklich befolgt.

»Wir hätten vielleicht Karriere gemacht«, sagte ich. »Aber der einzige Mann wäre ich sicher nicht geblieben.« Aber es hatte andere Gründe gegeben. Thea, die 1950 die Möglichkeit hatte, endlich nach Deutschland zu kommen, und Julia natürlich, das Kind, aber davon sprach ich nicht. Aber sie schien den Gedanken von meinem Gesicht abzulesen.

»Von Julia hast du noch gar nichts erzählt«, sagte sie. »Sie muß jetzt schon erwachsen sein, eine junge Dame. Wie alt ist sie jetzt?«

»Vierundzwanzig.«

Sie erhob sich und sah sich um. »Ich sehe nirgends ein Bild von ihr. Hast du kein Foto von ihr?«

»Nein.« Vielleicht war es dumm, das zu sagen. Aber ich wollte ihr keines zeigen, ich zeigte niemand Bilder von Julia.

»Kein Bild? Ist sie hübsch?«

»Ich weiß nicht.«

»Sieht sie dir ähnlich?«

»Man sagt ja.«

»Du mußt sie mitbringen! Sie wird sich sicher nicht mehr an mich erinnern. Aber ich sehe sie noch genau vor mir; sie war immer schrecklich ernst, wenn wir sie in diesem Kloster besucht hatten und wieder fortgingen und sie allein zurückließen. Versprich mir, daß du sie mitbringst. Ich gebe ein Gartenfest zu meinem Geburtstag! Du bist eingeladen, und du bringst Julia mit. Es ist schließlich mein Vierzigster. Weißt du das Datum noch – der 28. September, eine Anfangswaage, regierender Planet Sonne. Es ist der Sonntag, und ich gebe ein Gartenfest. Das Wochenende wird schön sein, mein Astrologe hat es mir vorausgesagt; und was Zgodda sagt,. ist bisher immer noch eingetroffen; beim Wetter kannst du dich absolut auf ihn verlassen. Der September ist schlecht für Gartenfeste, der Oktober ist meistens viel schöner. Im September muß man vorsichtig sein, außer ich frage Zgodda, he really is fabulous.«

Sie war plötzlich ganz Christina Lehr, die Gattin des Industriellen, die sich mit linken Schöngeistern umgab, elegant, kühl – und ich war jemand, der jetzt in ihren Plänen für ihr Fest eine Rolle bekommen hatte.

»Ach, du hast ja kein Auto. Ich schick’ dir einen Wagen.«

»Julia kann mich fahren«, sagte ich.

»Also ich rechne mit euch. Die schriftliche Einladung kommt nach. Ich muß jetzt gehen, aber ich hoffe, wir sehen uns jetzt öfter wieder.«

Das war der Augenblick, glaube ich – schon an der Tür –, in dem sie den Vorschlag mit der Festschrift machte. Ich muß sagen, ich nahm es damals nicht so ernst, weder die Einladung zu ihrem Gartenfest, das in jedem Fall bei schönem Wetter stattfinden würde, noch die Festschrift, die ich zusammenstellen sollte. Es wirkte damals eher auf mich so … nun, als hätte ich ihr einen Gefallen getan und sie wolle sich nun dafür revanchieren; als sei es ihr im letzten Augenblick noch eingefallen, daß eine Einladung doch nicht genug war für meine Dienste. Vielleicht tat ich ihr Unrecht, vielleicht war es einfach ihre Art, daß sie kleine favors auf Männer verschwendete, auf linke Autoren und progressive Künstler und Fotografen, die sie einmal gekannt hatte; little favors are something that you will be remembered by … Vielleicht ein Rat von Mr. Weinberger?

Jedenfalls: Die Firma Friedr. Lehr KG bestand am 1. November 1969 einhundert Jahre, und sie planten, zu diesem Jubiläum eine Festschrift herauszugeben.

»Du könntest das doch leicht machen, Pikola«, sagte sie. »Dafür hast du doch ein Auge und ein Gespür. Fritz wird sich dann rühren oder sein Bruder Gottfried. In Ordnung? Wie gesagt, ich hoffe, daß wir uns jetzt öfter sehen.«

Um Vitamin-E-Spritzen zu sparen? Ich weiß, ich war in einer eigenartigen Stimmung, als sie ging, und nahm es deshalb auch nicht ernst, was sie von der Festschrift gesagt hatte, und war vollkommen überrascht, als Gottfried Lehr mich zwei Tage später anrief. Aber das ging mir nicht durch den Kopf, als Christina mich verließ, als ich am Fenster stand und ihr nachsah. Sie stieg in den Wagen, der Körper zuerst, dann zog sie die langen Beine nach, und ich sah, wie sie lange, weiße Handschuhe anzog. Sie wendete den Wagen, und im Vorbeifahren, bei heruntergedrehtem Fenster, winkte sie mit der linken Hand; die Bewegung war nicht auf ein bestimmtes Fenster gerichtet.

Die Fotos lagen noch verstreut auf dem Bett. Ich räumte sie zusammen. Ich war froh, als sie wieder in ihrer Mappe in dem Metallkasten hingen. Ich stand dort und starrte die Kästen an. Sie wirkten plötzlich wie eine Reihe grauer Grabsteine auf mich; wie gut es war, daß sie dort fest verankert standen und die Vergangenheit begruben. Was für einen Wert hatte es, sich zu erinnern? Es gab keinen Zusammenhang zwischen dem Mädchen dort auf der schlechten 6-mal-9-Fotografie und der Frau, die ich wiedergesehen hatte. War Christina nicht der schlagende Beweis dafür, daß man aus dem schmerzvollen Zustand, den man das Leben nannte, das Beste machen konnte, immer und zu allen Zeiten und unter allen Umständen? Oder hatte Thea recht, die sagte: Und wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, ich würde sicher wieder nicht bekommen, was ich mir gewünscht habe, und sicher würde ich wieder alle Fehler machen, die ich in meinem Leben gemacht habe.

Und ich dachte noch: Man sollte sich wirklich nicht, wenn man nicht dazugehört, in die Nähe der Reichen wagen. Und, würde ich heute hinzusetzen, nicht in die Nähe der Glücklichen, wenn man nicht zu ihnen gehört.

3

Der Frisiertisch stand in der Fensternische. Thea wechselte die Plätze, wo sie den Akolhol aufhob. Aber die Seitenfächer des Frisiertisches waren eine gute Stelle, um mit der Suche zu beginnen. Ich hatte ihr Schlafzimmer lange nicht mehr betreten. Der Anblick war ein ziemlicher Schock; sie war morgens immer in Eile, und es mußte schwer sein aufzustehen, nach einem Abend mit der Flasche, jeden Tag neu sich wieder aufzuraffen, das Licht hereinzulassen, sich anzuziehen, zu frühstücken, der Krankenpflegerin der Mutter Anweisungen zu geben, während das Taxi draußen wartete. So sah der Raum auch aus, nach schnellem Aufbruch: die halboffene Schranktür, die Kleider auf dem Bett, die sie herausgenommen, aber nicht angezogen hatte, offene Schubladen, ein Paar Strümpfe, an denen sie im letzten Augenblick Laufmaschen entdeckt hatte. Am Fuße des Bettes lag der Morgenmantel, Seide und Violett – von allen Farben ausgerechnet Violett! Auf dem Nachttisch stand das leere Glas, ein geschliffenes schweres Rubinglas, das sie sich im Wohnzimmer immer vollgoß, das letzte, was sie tat an jedem Abend, ehe sie sich hierher zurückzog; das letzte Glas von vielen, aber das wichtigste, um ihr in den Schlaf zu helfen.

Der Frisiertisch war ein Schleiflackmöbel mit Spiegelaufbau – Überbleibel eines ausrangierten Schlafzimmers –, mit einer Glasplatte, von der man kaum etwas sah: halbausgedrückte Tuben, Töpfchen, Puderdosen, Nagellacke, von denen vermutlich die Hälfte eingetrocknet waren, zu viele Flakons Parfüm und Parfümproben, deren Düfte nicht zusammenpaßten; und dazwischen verstreut, wie exotische Tierchen, Haarklammern und Augenwimpern, besonders die letzteren sahen aus wie die künstlichen Fliegen eines Anglers. Und das alles lag in dem hellen Licht, das der Tisch direkt von dem Fenster bekam; was für einen Kampf mußten die beiden sich jeden Morgen liefern, der Tisch und die Frau. Und doch war Thea nichts davon anzumerken, wenn sie aus dem Haus trat und auf das wartende Taxi zuging; von meinem Fenster aus, wo ich sie oft beobachtete, sah man nur eine nicht mehr junge, aber gutaussehende Dame mittleren Alters, berufstätig und nicht ohne Erfolg.