Die Geschichte des Körpers - Thomas Stangl - E-Book

Die Geschichte des Körpers E-Book

Thomas Stangl

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem WORTMELDUNGEN Literaturpreis 2019 Eine Gruppe in einer Kleinstadt Gestrandeter wartet jeden Abend auf die Monster; ein Marquis kann Wirklichkeit und Traum nicht unterscheiden; von einem seltsamen Brauch wird weiterhin nicht abgelassen; ein alter Mann bekommt Besuch und gleitet in die Vergangenheit; ein Institut macht es sich scheinbar zur Aufgabe, Menschen an die Freiheit heranzuführen; ein Zivildiener erzählt von seiner Arbeit mit Demenzkranken; die »Stimme des Autors« meldet sich in konzentrierten Prosaminiaturen zu Wort; und nicht zuletzt komische Kürzesterzählungen und Collagetexte zeigen die große Bandbreite eines großen Autors. In Thomas Stangls erstem Erzählungsband ist der Körper der Speicher und Bewahrer von Erinnerung und Sprache, von Sehnsucht und Lust, von Fremd- und Alleinsein: »Aus dem Körper entstehen die Erinnerungen, es entsteht die Verzögerung, das Begehren.« Die Erzählungen eint die sinnliche Bildhaftigkeit, sie sind gleißend präzise, poetisch verdichtet und mitunter überaus humorvoll. Das Ungewisse und auch Groteske schwingen in surreal-fantastischen Begebenheiten mit. Wirklichkeitsverschiebungen und Perspektivwechsel führen uns irrlichternd durch einige Erzählungen. Und doch ist hinter den Traumwelten und labyrinthischen Korridoren der Raum des Politischen präsent: das Schicksal der Alten, Kranken und Geflüchteten, Überwachung und Kontrollmechanismen.

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Seitenzahl: 132

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Thomas Stangl

Die Geschichte des Körpers

Erzählungen

Literaturverlag Droschl

Think of London,small cityDark, dark in the daytimeDavid Byrne, Cities

Monster

Abends gehen wir alle vors Haus und warten auf die Monster. Sie kommen jeden Abend, heißt es; es ist nur ein Spiel, aber man muss es ernst nehmen und sich an die Regeln halten, es wiederholt sich Abend für Abend. Öfters dringen sie dann sogar ins Haus ein, kommen aber nur bis in den Flur, als wären die Treppen in den ersten Stock und die Türen zu den Wohnräumen für sie unüberwindliche Hindernisse. Ich weiß nicht, ob man sich mit ihnen unterhalten muss, ich weiß nicht, ob sie an die Treppen und die Türen zu den Wohnräumen drängen, mit sehnsüchtigen Blicken. Bevor sie einfach wieder verschwinden, als würden sie sich in nichts auflösen. Man muss nur Geduld haben.

In den ersten Stunden hat es mich überrascht, wie klein das Haus ist. Anna hatte sich einen falschen Bart umgebunden, recht sinnloserweise, weil man sie doch sofort erkennt, ihr langes dunkles Haar, ihr schmaler Körper, der vor mir eine schmale Treppe hinuntersteigt. Sie dreht sich um und erzählt mir, warum wir jetzt hinausgehen müssen, auch die Kinder, warum wir auf der Straße stehen werden, an diesem Sommerabend, ein unschlüssiges Herumstehen unserer ganzen Gruppe von zwölf oder fünfzehn Leuten, wir wissen nichts miteinander zu reden, schon jetzt, in diesem Stadium, wagen es auch nicht, unsere Telefone aus der Tasche zu holen oder uns auf den Boden zu setzen, ich bin mir trotz aller Instruktionen nicht sicher, ob ich die Monster erkennen werde, wenn sie denn auftauchen.

Wir schauen alle möglichst unauffällig zum Ende der Straße hin. Auch die Kinder sind ganz still. Es ist eine ziemlich leere Straße, eine Kleinstadt-Stadtrandstraße, wie es sie ununterscheidbar zu tausenden in diesem Land gibt. Sie könnte Nelkenstraße heißen oder Tulpenstraße oder nach irgendeinem vor dreißig Jahren verstorbenen Kleinstadtbürgermeister benannt sein. Ich will nicht nach Erklärungen suchen. Ich will nicht, dass die Kinder mir Fragen stellen. Es ist so, dass. Dass wir hier sind. Dass wir hier alle wohnen müssen, für wie lange, in einem der kleinen Zimmer, die uns Anna zur Verfügung gestellt hat.

Ja, es sind kleine Zimmer, dafür sind es viele, es sind schmale Gänge und Treppen, dafür haben drei oder mehr Stockwerke mitsamt Keller in diesem Haus Platz. Wir könnten nicht alle hier bleiben, gäbe es nicht diese Räume, so beengt sie auch scheinen mögen.

Jeden Morgen von Anna geweckt werden, aus einem totengleichen Schlaf, von Anna ohne Verkleidung, in ihrem weißen Hauskleid, die von Zimmer zu Zimmer geht und die Fensterläden öffnet. Es ist so hell am Morgen, das Licht so leicht. Wir brauchen nicht viel zum Leben, seit wir Wohnung und Auto los sind. Den Kindern fehlen ihre Kuscheltiere, sicherlich, und mir die Bücher. Ich stelle mir vor, wie die Blätter braun werden und die Landschaft im Herbst langsam ausbleicht.

Die Kinder memorieren die Namen ihrer Kuscheltiere, deren Gesichter und imaginäre Persönlichkeiten. Dann die Gesichter ihrer Eltern und Schulfreunde.

Woran sind die Monster zu erkennen? Sie sind eine Spur größer als wir und recht still. Und sie können sich mit befremdlicher Geschwindigkeit bewegen, ohne wirklichschnellzu sein: es ist eher so, als wären sie immer einen Hauch zu schnell oder zu langsam.

Es ist Routine. Für einige von uns, die schon länger hier sind, ist es Routine, auch ich muss es als Normalität ansehen.

Ich stelle mir also vor, wie diese Straße, die Büsche, der Himmel, das Gras neben den Zäunen, die rostigen Fahrradteile am Rand der Straße, die braunen Blätter der Bäume und Sträucher, wie all das ausbleicht bis zum Verschwinden und dann eine neue Materialität bekommt. Ich stelle mir das fast weiße Gras vor, die fast weißen Büsche, den weißen Himmel.

Ich stelle mir vor, wir würden selbst ausbleichen, zu lange dagestanden, zu wenig aufmerksam, zu leise. Und dann würden auch unsere Blicke keinen Halt mehr finden, später, im Herbst, doch jetzt ist Sommer, die Bäume breiten ihre Äste über uns, am Ende der Straße wird vielleicht gleich Bewegung entstehen, wir warten. Ein milder Abend im Sommer.

Aber was sollen wir tun, wenn sie nicht kommen, gerade heute? Was sollen wir tun, wenn es Nacht geworden ist, und sie sind nicht gekommen?

Wir werden nicht einfach ins Haus zurückgehen können und uns vormachen, es sei nichts gewesen. Ich sehe, dass Anna, verborgen unter ihrem falschen Bart, zu zittern beginnt, ich möchte ihr den Bart abreißen und ihr ins weiße bleiche Gesicht schauen.

Die Frauen sagen nicht mehr viel. Es wird schwer, jemals wieder von hier wegzukommen, ich überlege, in welche Richtung es zum Bahnhof ginge, aber ich muss beinahe lachen über diese Überlegung. Ich stelle mir die Bahnsteige vor, die Kiesbetten, die Gleisanlagen im hohen Gras, die weißen, fast durchsichtigen Bahnsteige, die weißen, fast durchsichtigen Züge. Die Fahrscheinautomaten, vor denen wir mit unseren Kreditkarten stehen, aufs Display starrend, Anweisungen, denen wir zu folgen versuchen, Schritt für Schritt, während die Zeit voranschreitet, wie man so sagt, und die Nervosität steigt.

Es ist nur ein Spiel, aber man muss es ernst nehmen und sich an die Regeln halten.

Seine Schwester

– Dass sie ein Büschel Haare ausgespien hat, hast du doch nur geträumt. Und solltest du es nicht nur geträumt haben, ist immer noch nicht klar, was es bedeutet.

Ganz plötzlich war die Schwester des Paters aufgestanden, aus dem Zimmer gegangen, und dann, als du ihr nach einer gewissen Zeit gefolgt warst, hattest du die Haare in der Waschschüssel gefunden, ein Büschel Haare in bräunlichem Schleim, sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, Spuren zu verwischen. Ihr Kleid war noch schmutzig, als du sie wiedersahst, dieses helle Kleid. Es war an einem Vormittag, es musste am Dienstag gewesen sein (aber warst du am Dienstag nicht nach L. gefahren, um den Advokaten zu treffen?). Es waren Stunden vergangen, als sie wieder auftauchte, ihr Gesicht war bleich, aber du erkanntest ihr Lächeln wieder; dieses Lächeln, das ihre Wangen mit einem Rot wie von einem nahen Feuerschein überzog. Du dachtest an die Nacht, nicht die letzte, an eine seltsam weit entfernte Nacht, ihr hattet das Haus verlassen, den Garten, wart auf der Erde gehockt, ein Käuzchen ruft aus dem Geäst des Baumes hinter dir, jedenfalls flüstert die Schwester des Paters, es wäre ein Käuzchen; von allen Bäumen rund um euch sind die Schreie der Käuzchen zu hören, du glaubst der Schwester des Paters, was auch immer sie sagt, und legst den Kopf in ihren Schoß. Auf deinen Wangen der Widerschein des Feuers: ein glühendes Rot. Dein Herz klopft, in deiner Kehle fühlst du etwas wie ein pelziges Kratzen.

– Alphonse, flüstert die Schwester des Paters immer wieder.

Dr. Kelsen schlug seine Beine übereinander und nahm einen Schluck aus der Teetasse. Du sahst ihn erwartungslos an, du hattest nur aus einem flüchtigen Impuls heraus zu erzählen begonnen.

– Dass die Schwester des Paters ein Büschel Haare erbrochen hat, sagte Dr. Kelsen, haben Sie doch nur geträumt, Marquis. Und sollten Sie es nicht nur geträumt haben –

Du schütteltest den Kopf. Du erinnertest dich an diese Nacht, an die schmutzverkrusteten Schenkel der Frau. Du erinnertest dich an den fremdartigen Geschmack morgens in deinem Mund. Ein Geschmack nach Blut und nach noch etwas anderem als Blut. Die Erinnerung erschien dir klar und unpersönlich. Du spürtest es in deiner Kehle, kratzig und beinah lebendig, als könnte es den anderen anspringen, aus einem Gelächter heraus, mit scharfen Krallen.

Nach noch etwas anderem als Blut. Du gingst auf Doktor Kelsen zu, deine Hose spannte am Schritt, deine Arme und Finger, alle Teile deines Körpers schienen ein Eigenleben zu haben.

– Alles, was man sich vorstellt, wird wirklich, sagtest du leise. Alle Zeiten sind ein und dieselbe Zeit.

Du bist so dünn geworden. So blass, beinah durchsichtig.

Die anderen

… dass er oder sie noch einmal einschläft nach der Liebe, vormittags, nackt, im überhitzten Schlafzimmer, ab und zu hört er (oder sie) durch die geschlossene, aber unversperrte Tür die Schritte der anderen, er (sie) hat seine (ihre) Kleider nicht in der Nähe: halbwach stellt er sich vor, stellt sie sich vor, wie er, sie aufstehen wird und nackt durch die Wohnung gehen, dieser Moment wird dazugehören, dieser Moment ist wichtig. Als er aufsteht und aus dem Zimmer geht, durch den Flur, ins Wohnzimmer, in die Küche, ist niemand da. Sonnenlicht auf dem Parkettboden. Als sie aufsteht und aus dem Zimmer geht, durch den Flur, ins Wohnzimmer, in die Küche, ist niemand da. Sonnenlicht auf dem Parkettboden, das Holz wie aus Licht, ein Körper wie aus Licht. Sie macht sich einen Kaffee und sucht nach einem Zettel mit einer Nachricht. Er macht sich einen Kaffee und sucht nach einem Zettel mit einer Nachricht. Sein Geschlecht ist noch feucht. Sie hört Schritte vor der Eingangstür, den Schlüssel. Er schaut auf.

Zellen

In einem Gasthaus versucht ein verwirrter Gast, ein dicklicher Wiener mit Schnurrbart, vergeblich und mit wachsender Verzweiflung, die Speisekarte zu lesen oder die ihm bekannte Kellnerin, Frau Gerti, zu rufen oder eine Bestellung aufzugeben; überall stößt er auf sinnlose, ihm fremde Sätze (sogar die Sätze in seinem Mund drehen sich ins Sinnlose und Fremde um). Gewiss, der Mann scheint nicht sehr helle im Kopf zu sein, aber dass sein Stammwirtshaus mitsamt der Speisekarte, die gute Gerti, die er seit vielen Jahren jeden Donnerstag mit dummen Witzen bedenkt, und sogar sein eigenes Reden wie ausgetauscht sind, ist doch schwer zu begreifen. Die Wirkung auf Zuschauer ist komisch. Eine Frau betrachtet, in einer anderen Zelle, diese Szene auf einem Bildschirm. Plötzlich erschrickt sie: sie sieht am Bildschirm ihr eigenes rotes Kleid, das sie gerade in ein überfülltes Fach in einem Schrankraum gestopft hat, wie von selbst wieder herunterfallen. Sie sieht, während die Regale im Schrankraum lautlos umkippen und zu Boden stürzen, alle herabsegelnden Kleidungsstücke und Gegenstände auf dem Bildschirm wieder, allerdings jedes für sich, isoliert, ohne den sie umgebenden Raum. Das Inventar ihres Lebens.

Die einzelnen Zellen hängen durch einen schlichten Mechanismus miteinander zusammen: Jede schnelle Bewegung, jede heftige Geste in einem der Räume wird in allen anderen Räumen wiedergegeben und schiebt sich (bloß merkwürdig verlangsamt und zusammenhanglos) übers dort Wirkliche. Die Frau schaut in eine Außenwelt, in der jeder Schlag doch nur sie selbst trifft, allerdings nicht als Schlag, sondern als zäher, langgedehnter Schmerz.

Ich schaue auf den Bildschirm (in die Außenwelt). In einem Gasthaus versucht ein verwirrter Gast, ein dicklicher Wiener, vergeblich, die Speisekarte zu lesen oder eine Bestellung aufzugeben. Ist die Gerti heute nicht da. Seine Hände zittern. Gerti schaut auf ihren Monitor und beißt sich auf die Fingernägel. Ich weiß, dass sich die Szene für den dicklichen Wiener immerzu wiederholen wird. Immer wird er die Donnerstags-Kronenzeitung auf der Bank neben sich liegen haben, und die fettgedruckte Schlagzeile wird ihm ein Rätsel sein. Ich sehe ein rotes Kleid und stelle mir den Frauenkörper vor, der dieses Kleid füllt und zum Leben erweckt. Ich schreibe einen Satz und sehe das WortSpeisekarte. Ich sehe das WortSatzund wie das WortSatzins Rutschen kommt, ich sehe, wie das WortSpeisekarteins Rutschen kommt und zu Boden fällt, das WortFrauenkörperverdreht sich in meinem Mund. Es ist sinnlos, mich zu entschuldigen. Ich sehe meine Wohnungsschlüssel vor mir und versuche meine Hand nach ihnen auszustrecken, auch das ist sinnlos.

Auf dem Bildschirm ist zu erkennen, wie, im Maße meiner Bewegung, die Frau zurückweicht, als könnte sie aus dem Bild entkommen.

Schau mich nicht so an.

Schaut mich nicht so an.

Es ist sinnlos, mein Gesicht in den Händen zu bergen, die Augen zu schließen. Mein Wohnungsschlüssel liegt auf dem Boden und rutscht langsam in die Zimmerecke. Alle Zellen sind gut eingerichtet, alle Verbindungen und alle Zerstörungen sind festgelegt.

Ich starre auf meine Füße. Warum nicht auf meine Füße starren, um mich nicht bewegen zu müssen. Um nicht die Fortsetzung jeder Bewegung mitanschauen zu müssen.

Nur ein alter Mann

Lange tat ich vor mir selbst so, als wäre ich kein Dieb. Ich war ein Tourist, ich war als Tourist (fast noch ein Student) in diesem Land gestrandet. Ich fuhr mit dem Zug von Stadt zu Stadt, schlüpfte nachts (für Augenblicke fast schwerelos) in die Abteile der schlafenden Reisenden; manchmal hatte ich auch ein Auto, dann benutzte ich lieber die Landstraßen als die Autobahnen, ich schaute auf die Wälder und stellte mir vor, irgendwo dort, an schwer zugänglichen Felswänden, musste es Stellen geben, wo noch niemals ein Mensch gewesen war. Es musste Verstecke geben, in den Wäldern und in den Städten. Räume, die auf nichts und niemanden warten, an nichts und niemanden erinnern. Ich war ein Tourist: Immer noch besuchte ich die Museen und schrieb in ein Notizbuch, was mir auffiel. Ich sah jünger aus, als ich war, mit meinen langen blonden Haaren.

Ich parkte das Auto, das ich weiter im Süden mitgenommen hatte, hinter dem Bahnhof, dort gab es einen etwas verwilderten Parkplatz, der nicht bewacht wurde und wo man keinen Parkschein brauchte. Die Reste einer Tankstelle waren zu sehen, ein Zaun aus bröckligem Beton.

Die Stadt war wie eine Insel von Seen und Wasserläufen umschlossen, das gefiel mir.

Als der Deutsche an der Tür geläutet hat, war ich eben erst nach Hause gekommen. Ich hatte den Beutel mit meinen Einkäufen noch nicht ausgepackt. Zeug vom Markt, ein wenig Gemüse, Kartoffeln. Ein bisschen Fleisch und auch Bier aus dem Supermarkt wollte ich noch kaufen, auch wenn es in letzter Zeit teuer war, ich brauchte das, um die Nächte zu überstehen.

Ich hatte die Kette noch nicht vorgelegt, machte die Tür auf, ohne nachzudenken, da stand dieser merkwürdig grinsende junge Mann. Mein Mädchen, dachte ich (so als wäre sie je mein Mädchen gewesen), aber vielleicht denke ich auch immer nur: Mein Mädchen (weil es das nie gab), und nun, dieses Deutschen wegen, merkte ich es. Touristen gab es in diesem Jahr sonst keine mehr, es war das erste Jahr ganz ohne Touristen, die Stadt wirkte leer, die Museen und Kirchen, der Palast mit dem gemalten Zimmer sinnlos, alles wie eingeebnet.

Ich ging zu Fuß ins Zentrum, überquerte, fast ohne auf den Verkehr zu achten, die vielspurige Via Bettinelli und kam durch eine Seitengasse zum Corso. In diesen Seitengassen am Bahnhof wohnen Leute, denen ich nicht in die Quere kommen wollte, ich spüre so etwas. Ich hatte meine Sonnenbrille auf und konnte unauffällige Seitenblicke auf die wenigen Passanten werfen. Die jungen Frauen. Die alten Leute. Noch näherte ich mich keinem. Eine Zeit lang stand ich an der Brücke über einem der Kanäle außerhalb der Fußgängerzonen und schaute auf einen großen Fisch, der sich nah an der Wasseroberfläche im Kreis drehte. Es war heiß, und ich ging durch die Stadt, als gäbe es hier Leerstellen, Orte, wo niemand wohnte, Häuser und Straßenzüge, die sich spurlos in Luft auflösen konnten. Ich betrat eine quadratische kleine Kirche mit hoher und kahler Kuppel und fühlte mich wie unter einem Schildkrötenpanzer; dann wurde ich unruhig, außerdem hatte ich Hunger. Irgendwo musste es einen Markt geben, es war kurz vor Mittag, keine schlechte Zeit.