Quecksilberlicht - Thomas Stangl - E-Book

Quecksilberlicht E-Book

Thomas Stangl

0,0

Beschreibung

Ein chinesischer Kaiser, der von der totalen Herrschaft über die Zeit träumt, Autorinnen aus dem 19. Jahrhundert, die sich gegen die Zwänge ihrer Wirklichkeit auflehnen, ein Mädchen im Simmering des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, am Rand der Stadt und am Rand der Weltgeschichte: Thomas Stangl löst einzelne Momente der individuellen Lebensgeschichte, eigener und fremder Familiengeschichten sowie weit entfernte historische Momente aus ihren Zusammenhängen und montiert sie zu neuen Konstellationen. Er verwebt Gesten, Handlungen und Szenen zu einem faszinierenden, jeder Zeitordnung enthobenen Roman und errichtet einen kontrastreichen Erzählraum, in dem vermeintliche Selbstverständlichkeiten neue Bedeutung gewinnen und konventionelle Vorstellungen von Biografie, Identität und Wirklichkeit verloren gehen. Quecksilberlicht ist ein Roman soghafter Kraft über Geschichte, das Vergehen der Zeit und das Fortleben alles Geschehenen in unser aller Leben. Der chinesische Kaiser hielt sich für das Zentrum des Universums und versuchte, durch die Einnahme von Quecksilber unsterblich zu werden; er starb an Quecksilbervergiftung. Nicht er und nicht der Autor ist das Zentrum der Welt, ein jeder, eine jede ist es. Und die Literatur von Thomas Stangl ist der Ort, an dem sie weiterleben. 

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 377

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Stangl

Quecksilberlicht

Roman

Inhalt

I. Rundherum ist nichts

II. Zweite Welt: Schranken

III. Die Bücher. Die Geister. Die Häuser.

IV. Reinheit, Sauberkeit

V. Betten. Spaziergänge.

VI. Vom Töten und Schreiben

VII.

VIII. Die Rückseiten des Raums

Das Mädchen läuft aus dem Haus.

Rundherum ist nichts.

Dieses Licht.

Diese vergangenen Jahrhunderte, in denen es immerzu stinkt.

Diese schönen Toten, die ich besuche, ihre weiße Haut, ihre leeren Gesichtszüge, ihre Hunde, ihre Pferde, ihre Krieger, diese schönen Räume, die Ausreibfetzen, mit denen manche der Toten versuchen, ihre kleinen Wohnungen sauber zu halten, Blicke in den Spiegel vermeiden sie, denn sie wissen nicht, ob sie jung sind oder uralt. Die schöne Tante Helene auf den Knien am Linoleumboden, neben ihr ein Kübel Dreckwasser. Emilys Knochen.

Dieses klare Licht, ich befinde mich in einem leeren Raum, mit weißen Wänden wie in einem Museum. Ein einzelnes Bild, auf dem fast nichts zu sehen ist: Die Andeutung einer Wolke; oder Farbe, die nichts ist als Farbe und kaum das.

Du schaust mich an, diese befremdliche Figur aus einer befremdlichen anderen Zeit.

Zimmer mit Parkett- und Stein- und Linoleumböden und tapezierten Wänden, eine weite Ebene, übereinandergeschichtete Hügel, Himmel und Meer, lose gewoben und durchlöchert, voll vergessener Räume, Zonen, in denen kleine Formen als Gekritzel geboren werden und verschwinden. Das sind wir.

Wir wohnen in quecksilberglänzenden Gruften, sind Knochenstaub, Wolken. Wir rennen mit unseren Hunden über die Felder, im wunderbaren peitschenden Regen, krallen unsere nassen Finger in ihr nasses Fell. Wir jagen auf unseren toten Pferden durch die schöne Hölle.

Siehst du?

Ich weiß nicht, ob ich sehe. Ich schreibe und weiche aus.

Jede Geste läuft ins Leere, so muss es scheinen. Ich habe erst jetzt gemerkt, dass ich hier wohne, mit all dem, was zu mir gehört an Bildern und Zeug, dass ich hier wohne und Gesten nachziehe oder sie fortsetze, in merkwürdigen Schnörkeln, Verzeihung, in Schnörkeln wie Rauchkringeln, bis die Luft sich wieder klärt.

Das Mädchen läuft aus dem Haus, verzweifelt, mit einem Schrei in der Kehle. Es gibt keine Richtung, nur ihre Verzweiflung, undurchdringlich und fast abstrakt, ich stelle mir vor, diese Verzweiflung hätte sich losgelöst vom Leben, zu dem sie gehört, der Person, der Geschichte und festgesetzt an diesem Ort, in der Luft. Rund um das Mädchen ist nichts (und auch sie ist schon lange tot), aber die Verzweiflung ist da, die Geste, in der Luft hängengeblieben, ausgebrochen aus dem Leben, zu dem sie gehört, frei verfügbar (so bilde ich mir ein).

Ich versuche, den Ort zu rekonstruieren; was ist das für ein Haus, aus dem das Mädchen (meine Großmutter, an die ich keine Erinnerung habe, dreizehn Jahre alt) läuft? Das hier, unter diesem grauen weiten Himmel, ist jedenfalls Simmering, »Arsch von Wien«, der XI. Bezirk, in einer Zeit, die über hundert Jahre zurückliegt. Der Schlachthof ist nah, das Gaswerk, der Zentralviehmarkt, die Gleise der Schlachthausbahn und die Pferdestraßenbahn zum Zentralfriedhof. Dann aber auch Wiesen, tiefer unten, schon nah am Donaukanal, die Heide. Die Straßen sind breit, mit dörflich niedrigen Häusern, dahinter die Rauchfänge der Fabriken, überall Staub, Pferdemist, ein lose gewobenes Netz aus Tagen, Bildern, Gerüchen. Geht sie einen Schritt zu weit, durch den Tunnel einer finsteren Sekunde hindurch, gelangt sie ins Moor, der Gestank bleibt der Gleiche, er folgt ihr, ins Moor, das sich ausbreitet gleich hinter den letzten Häusern von Haworth, kahle blaue Bäume und ein ausgebleichter Himmel, er folgt ihr (während sie langsam ihre Gestalt verliert) in die Bambuswälder und über betäubend grüne Hügel, all das entsteht Schritt für Schritt, Regionen, Vorzeiten und Gegenwarten und ihre hingekritzelten Bewohner.

Das sind wir. Siehst du?

Jaja.

Ein Igel läuft quer über den Weg, pass auf, dass du nicht draufsteigst. Die Wohnung ist sicherlich zu eng, unerträglich eng, eine Wohnung in Simmering Anfang des 20. Jahrhunderts.

Sie läuft aus dem Haus, abends, unter einem weiten, einem löchrigen grauen Himmel, drei Stufen hinunter auf die Straße, ein Mädchen mit langem blondem Haar, das sie vermutlich zu Zöpfen geflochten und vielleicht unter einem Tuch versteckt hat, sie läuft aus dem Haus, verzweifelt und mit einer ihr fremden Wildheit, als sollte sie nie mehr zurückkehren. Ich stelle mir vor, die Geste würde in der Luft hängenbleiben und die Verzweiflung von einem zum anderen wandern, die Verzweiflung der äußersten Momente, man kann diese Verzweiflung ja nicht für sich behalten, über ein ganzes Leben und den Tod hinweg.

Meine Großmutter ist seit über fünfzig Jahren tot, ich kenne sie nicht und behaupte nicht, ich könnte sie je kennenlernen, über diesen Moment hinaus, jetzt, über diese Verzweiflung ihrer dreizehn Jahre hinaus, ich könnte sie schreibend kennenlernen. Ich höre einen Schrei. Und vor ihrem Blick wird alles weiß, als würde die Welt beiseitegeschoben. Du schaust mich an, diese befremdliche Figur aus einer befremdlichen anderen Zeit. Ich muss mir einbilden, dass du mich anschaust, sonst würde es nicht funktionieren. Sonst bliebe es eine Beschreibung.

Meine Großmutter ist seit langem tot, mit dreizehn Jahren denkt sie, sie habe gerade auf immer ihre Zukunft verloren, rundherum ist nichts, sie schaut ins Nichts und schreit es an.

Ich kenne diese Art von Schrei, nur in den äußersten Momenten zu hören, ganz kurz und wie in eine Schale verpackt, abstrakt, kaum der Schrei eines einzelnen Menschen, er wandert und wird von einem zum andern vererbt.

I. Rundherum ist nichts

1.

– Ich habe im Traum einen Zauberigel gesehen! Mit weichen Stacheln! Der hat mich sogar hergezaubert!, sagt das vierjährige Kind beim Aufwachen begeistert. Man kann ein Wesen träumen, das einen herbeizaubert, herbeiträumt.

Weiße Wände wie in einem Museum, das Kind ist ins Bett der Eltern gezaubert, in die Wirklichkeit, noch ganz zart und neu, und ich rolle mich aus der Decke, um ihm zu folgen, in den Morgen eines Frühlingstages hinein, in das Spiel, in dem ich Vater bin. Am Leben, bekleidet mit meiner beglaubigten Existenz. Sonnenlicht dringt durch das weiße Rouleau vor dem Schlafzimmerfenster, zeichnet Schattenfiguren, ein Bild, auf dem fast nichts zu sehen ist. Die Zeit wird langsam ablaufen und scheint wie festgehalten, weil ein Tag dem anderen gleicht. Aufstehen und Kindergarten und Computer, Einkaufen, Abendessen, Fahrrad, Bücher, Bier. Burggasse, Neubaugasse. Die Tage sind schwerfällig und zugleich wie hergezaubert, wer (welcher Blick aus einer wirklicheren Welt) versichert mir, während ich dem Kind folge, dass unsere Körper, in den Räumen und Gängen dieser Wohnung und der Straßen rundherum, wirklich da sind, an genau diesem Tag da sind, diesem Frühlingstag (der keinem anderen gleicht, nein, keinem anderen).

Dass es ein Kind gibt, heißt, die Zeit wird weiterlaufen, eine Abfolge von Generationen, ich führe nicht vorzeitig ein Ende herbei, bringe nichts durcheinander mit meinem Lebensunwillen oder meinem Unglauben. Ich bin brav und respektiere die Zeit und die Abfolge der Generationen, die Alten gehen ab und Junge treten auf, die bitte weitermachen und nichts durcheinanderbringen sollen und selbst Kinder zeugen, bevor sie sterben. Es gibt »die Zukunft«, aber ich weiß nicht, ob das stimmt, ich kann »Zukunft« nicht denken. Die Zeit mag weiterlaufen, doch zugleich verwirrt sich die Zeit, die Rollen sind unklar. Der Letzte sein, immerzu. Die Letzte sein, vor hundert Jahren, jetzt. Genau an diesem Tag, der keinem anderen gleicht. Versuchsweise wechsle ich den Platz; Kinder und Alte wechseln die Plätze; Blick eines Großvaters, einer Großmutter auf ein schlafendes Kind (ich bin das Kind, der Vater, der Großvater). Vergangenheit und Zukunft geraten durcheinander, die Vergangenheit wird deutlich, deutlicher, als sie sein dürfte, dort im Leeren, wo auch die Gegenwart ist, dieser Sogkraft kann jeder einzelne Tag verfallen, mit ihm die Räume und Gänge dieser Wohnung, in die das Licht morgens nur durch weiße Rouleaus eindringt, für Momente ist auf nichts zu vertrauen als auf einen seltsamen Zauber, den Zauber des Lichts und der Wörter.

In einem Traum, vor zwanzig Jahren (ich schlief bei offenem Fenster, sporadischer Autolärm, ab und zu Vögel, Menschenstimmen, die Müllabfuhr), entdeckte ich eine Theorie von George Berkeley über den Film. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich einen Band von Berkeleys Gesammelten Werken aus der Universitätsbibliothek ausgeliehen, der verstreute Schriften enthielt. In dem Moment erst, als ich diese knappen und beiläufigen Bemerkungen (darum handelte es sich eher als um eine Theorie) las, erstaunte mich, dass auf den Seiten davor schon von Fotografien die Rede war. Berkeley meint, dass sich im Film Personen nicht als eigenständige Wesen darstellen lassen, sondern nur als eine Art von Schatten oder Ornamenten, die restlos im Bild aufgehen. Ich fragte mich, auf welche Art von Technik, auf welche verlorengegangenen schwarzweiß verhauchten Experimentalfilme sich diese so überraschende wie (auf den ersten Blick) falsche These bezieht. In mein Notizbuch will ich jedenfalls diese Entdeckung einer Theorie über den Film aus dem Jahr 1715 eintragen; nachdem ich schon einen Halbsatz niedergeschrieben habe und wie automatisch weiterschreibe, merke ich, dass ich nicht in mein Notizbuch schreibe, sondern in Berkeleys Buch selbst: die winzigen Buchstaben, die ich mit meinem schwarzen Kugelschreiber auf den vergilbten Seiten dieses sehr alten Buches (vielleicht eine Erstausgabe aus dem Jahr 1715) hinterlasse, gleichen exakt den tiefschwarzen Druckbuchstaben des Originaltextes auf der gegenüberliegenden Seite. Das weiche, alte, dichte Papier zieht meine Schrift in ganz wunderbarer Weise an: ich muss mich davon losreißen, schrieb ich später in mein Notizbuch, um in dieses Heft zurückzufinden.

Das vierjährige Kind sagt, nah am Einschlafen, aus dem Zugfenster auf einen See schauend:

– Ich habe noch nicht so lang wie ihr mein Leben gehalten. Ich habe nur zehn Minuten mein Leben gehalten.

– Leben gehalten, was heißt das?

– Dass ich noch keine Minute gestorben bin.

Ich erinnere mich nicht an den Blick aus dem Fenster, an den See, ich erinnere mich, dass wir seit vielen Stunden, seit dem frühen Morgen im Zug gesessen sind, wir, eine Familie, ein fast neuer fast unauflöslich scheinender fast noch zeitloser Zusammenhang, müde, das Buch, in dem ich ab und zu lese, liegt auf dem Tischchen, wir sind zwischen Koffer und Rucksäcke gezwängt, was heißt das, seit Stunden, was heißt das, Familie, was heißt das, fast neu. Ich denke, vor zehn Minuten war vielleicht nichts. Was, wenn die Tage diesem Zeitmaß gehorchen, zehn Minuten dehnen sich ins Dunkel des Anfangs hinein und umfassen viele, ungezählte Tage (und wie in Hilberts Hotel ist zwischen Tag und Tag immer noch ein anderer Tag hineinzuschieben, die Unendlichkeit ist aus Unendlichkeiten aufgebaut, in denen die winzigsten Einzelheiten Kraft und Klarheit gewinnen).

Als könnte man mit übersteigerter Einbildungskraft ein weiteres Netz knüpfen als das einer bloßen geordneten Abfolge, die Alten gehen ab und Junge treten auf, die bitte weitermachen.

Unten am See, an dem wir vorbeigefahren sind, gibt es eine Wiese, heller als andere Wiesen, zum Hang hin ein altes Haus mit vielen Zimmern, abgeschirmt von der Umgebung, der Straße, den anderen Villen, das Gras auf der Wiese ist wie Licht, es gibt Bäume und die Spiegelung des Himmels im Wasser dort unten, Liegestühle auf der Wiese, den Duft überreifer Früchte, man kann die Augen schließen, auf dem Liegestuhl sitzend oder oben im still dahinbrausenden Zug, sie wieder öffnen, schauen, ob die Welt noch da ist.

Ich stelle mir vor, wie man sein Leben hält, nur von Sekunde zu Sekunde. Und das Leben eines anderen? Braucht es nur die Körper, die Blicke, das Gespräch, dann die Erinnerung und dann wieder die Körper und Blicke, oder bedarf es der Verdopplungen und Vervielfältigungen? So wie es – um nicht überwältigt zu werden von der bloßen Wirklichkeit des eigenen Lebens – des Traums bedarf, als Wiederholung, Verdichtung, Verzerrung des Erlebten, eines Erinnerns, das zugleich Vergessen ist, eines Vergessens, das sich als Gedächtnis inszeniert. Aber vielleicht dünnt sich, von Kopie zu Kopie, dieses gehaltene Leben nur immer mehr aus. Es sei denn, es fände eine andere Form. Dass jede Sekunde zurückgreift auf eine andere Sekunde, und wie ineinander verschränkte, vergriffene, verkrallte Finger –

– Es ist schwer, in diesem Hotel sein Zimmer zu finden, sagt er. Diese Gänge. Diese Treppenabsätze und halben Stockwerke.

– Wenn man so senil ist wie du, sagt sie, ist es überall schwer, sein Zimmer zu finden.

Sie spricht, ohne die Augen zu öffnen, tief in ihrem Liegestuhl, das Gras ist wie Licht.

Während ich in das Buch schreibe oder das Buch meinen Kugelschreiber und die Tinte aus meinem Kugelschreiber (als wäre er ein Federkiel) anzieht, bin ich (so denke ich später, zumindest spiele ich mit dem Gedanken) für einen Moment George Berkeley, ein Philosoph, mit dem mich wenig verbindet und der mir in vielen seiner Ansichten und seinem politischen Wirken als Bischof widerlich ist, und ich lebe im Jahr 1715. Ich lebe im Jahr 1715, als George Berkeley oder der Schatten George Berkeleys, und weiß vom Film, weiß, dass dort Menschen erscheinen können, doch nur als Bestandteil des Bildes, Schatten. Weiß ich auch, dass ich tot bin, dass es das Jahr, in dem ich mich befinde, »nicht mehr gibt«, nur noch als Schatten auf Papier? Oder als was sonst noch? Sein ist Wahrgenommenwerden.

Was tue ich hier. Was soll ich mit euch anstellen, was wollt ihr von mir.

2.

Meine Großmutter läuft aus dem Haus, sie ist dreizehn Jahre alt, gerade hat sie gehört, dass ihr Vater gestorben ist. Hat sie es gehört oder war sie dabei und hat zugesehen? Der Ort ist Simmering, nicht die Lorystraße, wie ich eine Zeit lang glaubte (und wo ich ein Haus entdeckt hätte mit drei Stufen herab zur Straße), sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit die Simmeringer Hauptstraße. Alles spielt sich in einem winzigen Radius ab, auf Nummer 21 wohnt der Rauchfangkehrermeister Bartholomäus Bottoli, auf Nummer 3 (ein langgezogenes einstöckiges Haus) ist die älteste Tochter seines Neffen, des Rauchfangkehrers Johann Baptist oder Johann Franz oder Johann Baptist Franz B., auf die Welt gekommen, vielleicht wohnt er immer noch hier, mit seiner Familie, mit sieben Kindern, die älteste Tochter ist dreizehn; in einer der Nebengassen in Richtung Schlachthof und Donaukanal liegt ein Friseurladen, in dem ein junger Mann aus Bruck an der Leitha, der nie als Friseur arbeiten wird, eine Lehre begonnen hat. Später verrutschen die Orte: rutschen teils näher zusammen, teils entfernen sie sich voneinander.

Nahe dem See, in einer stillen Gegend mit Villen tief unter der Bahntrasse, ruhen in einem Garten zwei Figuren auf Liegestühlen. Eine Stimme kommt aus dem Körper einer alten Frau, eine leicht mechanische alte Stimme mit winzigen Brüchen:

– Eine Minute war ich gestorben.

Der alte Mann im anderen Liegestuhl schaut sie an.

Man weiß nicht recht, wo ihre Stimme herkommt, sie hat die Augen jetzt geöffnet, schaut starr vor sich hin. Auf den See, höchstwahrscheinlich auf den See, vielleicht auch auf etwas hinter dem See. Es ist ein Nachmittag im Herbst, ein endlos langer Nachmittag im Herbst.

– Dieses Licht, sagt sie. Seid nicht naiv, dieses Licht ist giftig.

Er schaut sich um, ob er noch jemanden hinter sich sieht, aber da ist doch niemand.

Ich gehe die Nebengasse ab, in der (natürlich) kein Friseurladen zu finden ist. Auch das Haus auf der Nr. 3 wird nicht das richtige sein.

Alles spielt sich in einem winzigen Radius ab, aber irgendetwas stimmt nicht.

Johann Baptist Franz B., geboren als Giovanni Battista Francesco B., ist in die gleiche Stadt ausgewandert wie seine Onkel und Cousins, hat den gleichen Beruf wie seine Onkel und Cousins, anscheinend (längere Zeit, bis alles zusammenbricht) ähnlichen Erfolg; es gibt eine Kassette mit Golddukaten, längere Zeit, so heißt es, er hat sieben Kinder gezeugt, von denen ich manche noch kannte; was es sonst gibt, ist unklar. Ich frage mich, weshalb die Onkel und Cousins Spuren hinterlassen haben, ihre Namen, ihre Lebensdaten leicht zu finden sind, sein Name dagegen nirgendwo, weshalb er nicht im Familiengrab liegt, nicht im Adressbuch (1892, 1893 etc., 1903, 1904, 1905) eingetragen ist. Alles ist zusammengebrochen, der Vater tot, die Kassette leer, meine Großmutter will allein sein, deshalb läuft sie aus dem Haus, sie ruft, also kann man sie hören, aber ihr Schrei richtet sich an niemanden, er richtet sich an Gott, an alle, an diesen Moment, so als gäbe es keinen weiteren. Aber es gibt weitere Momente, selbst wenn diese Momente nicht mehr zählen, jemand sieht sie (eine ihrer kleinen Schwestern, zu klein, um zu begreifen, aber alt genug, um zu spionieren und zu wissen, dass jetzt alles anders ist), sie sieht sie und vergisst nicht und erzählt die Geschichte weiter.

Nichts hinterlassen. Absolut nichts, kein Grab, keine Aufzeichnungen, keine Adresse, keinerlei Erbe.

Nur die Geste prägt sich in den Raum ein. Und die Geschichte saugt sich mit anderen Geschichten voll, der Raum, umgebungslos, saugt sich mit anderen Räumen voll.

Der alte Mann schließt die Augen, und dann ist die Szene wieder da, an die er sich erinnern will.

In ihrem Haar haben sich Blätter verfangen und Wasser tropft von ihren Brustwarzen. Hinter ihr ist nichts. Sie sieht dich an. Hinter dir ist nichts.

II. Zweite Welt: Schranken

1.

Dieses massive Bett, ein Bett aus dem 19. Jahrhundert, diese eingefallenen Wangen, dieses schwere Bettzeug, der Regen, das Moor. Die Stille, die nur in den äußersten Momenten zu hören ist (und dann die Angst, der Kopf würde zerplatzen, und dann unvermittelt oder sogar gleichzeitig die Ruhe, als wäre die Gefangenschaft zu Ende). Der peitschende Regen, der wunderbar peitschende Regen. Diese drei Stufen und die niederen Häuser, der Himmel, die Heide. Dieser Berg, der seit dem Tod des Herrschers dort ist, wo früher kein Berg war, und man kann herumgehen, zwischen anderen Touristen, den anderen Touristen und den Führern mit ihrem Gerede ausweichen. Um die Szene herum formt sich eine fragile, vielleicht empfindliche und empfängliche Zone.

Das Haus Simmeringer Hauptstraße Nr.3, das heute einer Autoversicherung gehört, liegt an der Grenze zwischen Sankt Marx und Simmering, dort wo der 71er seine Haltestelle fast direkt unter der Stadtautobahn hat. Es ist schwer vorstellbar, dass dieses Gebäude ein Wohnhaus sein sollte, es erinnert eher an eine Kaserne: Ich zähle im ersten Stockwerk dreißig Fenster zur Straße hin. Dieser klobige Kasten von einem Gebäude, lese ich später, war seit Mitte des 19. Jahrhunderts eines der sogenannten Rinnböckhäuser, ein zeitgemäß hygienisches, platzsparendes Arbeiterwohnheim mit Gangküchen. Ich stelle mir vor, hier ist immerzu Karfiol gekocht worden, Karfiol und Kartoffeln, sonntags billiges Fleisch, an Festtagen Schnitzel, in Schweineschmalz herausgebacken, oder ein Huhn; ich stelle mir vor, die Hühner liefen im Hof herum, und in den langgezogenen Gängen vor den Küchen stank es nach Ruß und Karfiol. Die zu vielen und zu mageren Kinder rannten die Gänge entlang und wurden durch die Wohnungstüren angeschrien, sobald sie zu laut waren. Bangerten, Saugfrasster. A Ruah wird sein. Johann Franz B. muss arm gewesen sein, als er noch vor der Geburt seiner ersten Tochter hier einzog, vielleicht eben erst eingewandert aus seinem piemontesischen Heimatdorf; wann ist er ausgezogen, sollte er wirklich zu Wohlstand gekommen sein, dann sicher schon lang vor 1905.

Drei niedere Stufen, sie müssen da sein, in der Lorystraße vor einem stillen Haus nah am Kanal (der schon damals kein Kanal war, sondern eine Bahntrasse) habe ich sie gefunden, Stufen aus Kopfsteinpflaster auf die breite Straße hinaus, aber es kann sie auch in der Simmeringer Hauptstraße geben, auf Nummer 21, sagen wir, nach hinten hin, zur Rinnböckstraße, dem Rinnböckhaus Nr. 3 entkommen läuft das Mädchen hinab in die Rinnböckstraße, das Gelände fällt dort bald ab, zu den Gleisen der Schlachthausbahn, dem Zentralviehmarkt, dem Donaukanal viel weiter unten. Vielleicht hört man das Kreischen der Räder, das Gebrüll der Rinder und Schweine, auf Nummer 3 muss man es gehört haben, Nummer 21 ist ein paar hundert Meter weiter entfernt.

Sie verflucht Gott. Warum hast du mir das angetan.

Und ich stelle mir vor, damit beginnt meine Geschichte.

Es ist eine unordentliche Geschichte, Konturen, die sich auf einer fast weißen Leinwand abzeichnen, durchbrochene Linien, plötzliche Annäherungen und Querverbindungen. Im Zentrum der Geschichte stehen die Bücher. Ein dreizehnjähriges Mädchen, das gerne liest und drei niedere Stufen hinab auf die Straße läuft, als würde es aus seinem Leben laufen. Ein englischer Junge, der als begabt gilt und aus dem nichts werden wird, Branwell oder auch (nach dem Vornamen seines Vaters und dem Familiennamen seiner Mutter) Patrick Branwell genannt, ein Junge, der über ein massives Bett mit einer toten Frau, über ein Bett mit einem toten Kind gehalten wird, um sich zu verabschieden, und diese Szene, dieser Blick ins weiße Gesicht eines Leichnams, wiederholt sich sein ganzes kurzes Leben lang immer wieder. Die Stille dieser Szene, die unerträgliche Stille. Er müsste etwas sagen oder aufschreiben, aber es gibt nichts zu sagen oder aufzuschreiben; irgendwann wird er es tun, denkt er, irgendwann muss er es versuchen, aber er wird es niemals tun, er wird hunderte und tausende Seiten mit irgendwelchen Geschichten und Gedichten anfüllen, wird sich betrinken, schreien, krakeelen, aber er wird es niemals aufschreiben, er wird nie etwas sagen. Er wird immer alles falsch machen; was ist das für ein Leben: alles falsch machen und immer auch wissen, dass man alles falsch macht. Die fünf Schwestern dieses Jungen und ihre kurzen Leben, und das Moor, der Wind, die Hunde, der Regen, die Gräber, an denen du kniest und mit bloßen Händen in der Erde kratzt, der Gestank.

Ein Punkt, an dem er aus sich heraustritt und sich betrachtet, dieser Junge mit den fünf Schwestern, einen Kreis um sich zieht und die Sprache und die Bilder verliert. Ein Punkt, an dem sie aus sich heraustritt und sich betrachtet, Emily, seine Schwester, allein und schlaflos in ihrem Bett, und nach jemandem ruft, einem Besucher (I’ll come when thou are saddest, laid alone in the darkened room), ein Punkt, an dem du aus dir heraustrittst und dich betrachtest. Ich trete aus mir heraus und betrachte euch, so als gehörtet ihr zusammen, wärt Teil ein und derselben Welt.

Vielleicht ist all das am besten aus der Ferne, aus diskreter Distanz sichtbar. Geste für Geste, Ort für Ort.

Branwell: Immer diese entsetzliche Straße. Diese rußigen schwarzen Häuser. Immer diese Steigung, er möchte mit einem Riesenschritt, einem alles verschlingenden Satz rauf oder runter kommen. Und es regnet und der Wind bläst, immer dieser Weg zum Pub und ein Bier und noch ein Bier und noch ein Bier bitte, sonst gibt es eins in die Fresse. Und der Weg zurück und die Knochen der Schwestern unterm Kirchenboden gleich gegenüber vom Haus. Herr, schreibe ihren Namen in deine Hand. Diese Begräbnisgesellschaften und die Röcke der Frauen und was sie unter den Röcken haben und die Kurve der Straße, das Kopfsteinpflaster, das Pfarrhaus, warum nicht die Tür eintreten. Gewiss muss in diesen Tagen, da es keinen schreibenden Dichter gibt, der auch nur Sixpence wert wäre, der Weg für den nachrückenden besseren Mann offen sein. Soviel zu mir.

Die kleine Schwester, Helene, ist zehn Jahre alt und schaut zu, eine Nebenfigur. Von ihrer eigenen Verzweiflung – der Verzweiflung über den Tod ihres Vaters, der Verzweiflung später über ihre Schönheit, ihre Männer, die Selbstmorde ihrer Männer – ist nicht die Rede, ich kenne sie nur als Gegenstand von Anekdoten und anekdotisch gewordenen Erinnerungen, die Jahrzehnte auseinanderliegen und von völlig unterschiedlichen Personen zu handeln scheinen. Ich weiß nur, sie erzählt die Geschichte weiter, siebzig Jahre später, in einer beängstigend sauberen und doch in der Erinnerung immer düsteren und engen Gemeindewohnung in der Schlachthausgasse in Erdberg, einer Wohnung mit spiegelndem, täglich gebohnerten Linoleumboden und Anrichten, von deren Inhalt ich nichts weiß; sie erzählt sie ihrer Nichte, die einmal in der Woche zu Besuch zu ihr kommt, während der Sohn (ich, acht oder neun Jahre alt) in der Nähe einen quälenden Gitarrenkurs absolviert. Spanische Gitarre unter vier oder fünf Jahre älteren Kindern oder eher schon Jugendlichen, mit denen ich kein Wort wechsle. Meine Mutter bringt mich zum Kurs und geht zu ihrer Tante, wo sie mich erwartet. Es sind die Siebzigerjahre, gleich wird auch für mich die Zeit stehenbleiben, ich sehe eine weiche, in Watte eingelegte Landschaft, die Siebzigerjahre, von der Angst begrenzt. Alle, die jetzt noch leben, leben für immer, die Alten von jetzt werden für immer alt sein, für die jetzt Jungen ist alles noch möglich, die Zukunft wird nie beginnen.

Sicher begegnen sich das Mädchen und der junge Friseurlehrling, der nie als Friseur arbeiten wird, ab und zu auf der Straße, sicher werden sie sich begegnen, auch wenn sie daran jetzt nicht denken kann, sie kann an nichts denken, alles ist verloren. Ihr Vater ist tot, in der Kassette ist kein Geld mehr, ihre Zukunft, alles, was sie sich erträumt hat, ist weggeschnitten. Sie wird die Schule nicht abschließen, sie wird keine Lehrerin sein, das Wissen gehört ihr nicht, sie hat kein Recht darauf, auf das Wissen, auf die Bücher, auf ihr Leben. Sie wird in diesem engen Raum bleiben, Simmering, nah an den Schlachthöfen, am Arsch von Wien. Die Zukunft anstelle ihrer Zukunft beginnt; diese Zukunft, in der ich lebe und so tue als ob.

Der alte Pastor läuft aus dem Haus. Als alle seine sechs genialen und verrückten Kinder gestorben sind, läuft er aus dem Haus, Patrick Brunty oder (wie er sich seit langem nennt) Patrick Brontë, mit dem Gewehr in der Hand, seinem geliebten Gewehr, und schießt ein Loch in die Luft, dorthin, wo er Gott vermutet.

Immer wieder, bis heute. Damit das Loch sichtbar wird, jeder muss es spüren. Der Himmel ist grau und löchrig, das Gewebe des Wirklichen ist zum Zerreißen dünn geworden, nicht dass Gott dort fehlte, es fehlen die sechs Kinder, es fehlt Giovanni Francesco (oder Giovanni Battista oder Johann Franz, wie er sich im neuen Land nannte), es fehlen die anderen. Aber die Zukunft anstelle der Zukunft hat begonnen.

Ich will nicht so tun, als bliebe mehr als diese paar Momente; herausgekratzt aus dem Blei der Vergangenheit. Und vielleicht sollte ich erst erklären, wie ich in diesen Raum gekommen bin und wie diese Leute zu mir gekommen sind, diese Figuren auf weißen Leinwänden.

Ihr lebenden Toten, ich verspreche euch nichts, mehr als das wird am Ende von euch nicht übrig sein.

2.

Fünf Uhr früh in einer schlaflosen Nacht. Auf dem Balkon stehen. Die Sterne sind fett und hell und nah. Auf der Erde ist nichts, nur die Sterne sind da: fett und beinah berührbar.

Vor einiger Zeit begann ich, wie von selbst, folgenden Text zu schreiben:

Ich bin davon überzeugt, dass die Brontë-Geschwister immer noch in dem Pfarrhaus in Yorkshire im kalten kleinen Zimmer gegenüber vom Treppenabsatz zusammenhocken und sich die Details ihrer erfundenen Welten ausmalen (nur das Jahr und das Datum sind nicht mehr genau zu erkennen). Angria (die Welt der beiden Älteren) und das Königreich Gondal (das Reich von Emily und Anne). Welten in hellem Licht und von der Kraft eines religiösen Glaubenssystems (so schreibt Charlotte später). Das Licht von der einen und von der anderen Seite durchdringen sich: Drinnen gewinnt im Schein der Öllampe der Herzog von Zamorna immer beunruhigendere Realität, draußen, jenseits des Kirchhofs, ziehen hoch oben, wie eine zweite Landschaft, Regenwolken über die Moore und weiten Hügel, dazwischen blitzt manchmal ein nördlich lichter Himmel auf, fast greifbar, aber niemals ganz. Genauso, in gleicher Nähe und Entferntheit sind auch diese Körper, ist Emily Brontës Körper fast greifbar, fast als mein eigener Körper zu spüren, fast, aber niemals ganz.

Aber wann ist denn der eigene Körper ganz als eigener Körper zu spüren.

Ich bin davon überzeugt, dass Franz Kafka immer noch in seinem Elternhaus in Prag auf seinem Bett liegt, mit Kopfschmerzen, die manchmal nachzulassen scheinen und manchmal unerträglich werden, während im Nebenzimmer (ein Lichtstreifen unter der Tür) lärmend Karten gespielt wird. Pferdegetrappel von der Straße und der Brücke her, vereinzelt Automobilmotoren, der Elterngeruch aus dem Schlafzimmer, der Bratengeruch aus der Küche, vor dem ihm ekelt. Dieser Kopfschmerz und der magere Körper Kafkas in seinen engen Kleidern. Der Geruch Familie. Vielleicht wird Julius Caesar immer noch und immer wieder ermordet, oft durchgekaute und schon recht streng riechende lateinische Gedanken im Kopf, und Vergil stirbt, unter langwierigen Visionen, in seinem Gehirn gehen Universen auf, Paradiese, Höllen, Sätze voller Widerhaken formen sich. Dieser oder jener erfundene oder wirkliche Caesar oder Vergil, der unter der Last seines antiken Namens, seiner verkommenen Machtgier, seiner toten Sprache hervorkriecht.

Chinesische Kaiser sterben der Reihe nach, vom Quecksilber vergiftet, das sie unsterblich machen sollte.

Ich sitze jetzt um halb drei Uhr nachts ohne Brille und mit gebeugtem Rücken vor dem Schreibtisch über meinem Notizbuch und zugleich wird im Hof des Hauses, in dem ich wohne, die Synagoge niedergebrannt, an die eine Tafel vor dem Eingangstor erinnert. Landsleute, Dreckschweine in Uniform brennen unter meinem Fenster unter Jubel und Gejohle die Synagoge nieder, rechts hinter den Fahrradständern, den Papiermüllcontainern und dem Kindertanzclub, da sind die verkohlten Reste und die Büros, die heute die Trakte im Innenhof besetzen, da ist das Feuer, die Büros und der Tanzclub, dann ist da die Synagoge. Die Brontë-Geschwister, vier Lebende und zwei Tote, hocken an einem dunklen Winternachmittag im Schein einer Öllampe auf dem kalten Fußboden des Pfarrhauses in Yorkshire, während ihr Vater mit einem Herz voller Verzweiflung (ich weiß das) vor seinen Büchern oder vor seiner Weinflasche sitzt.

Ich schrieb weiter:

Ich bin überzeugt, dass du immer noch, wie im Sommer 1922 oder war es ’20, in jedem Moment aus dem Wasser steigst, mit einem tapsenden, vom Wasser gehemmten Schritt und einem Schritt für Schritt weiter sichtbar werdenden nassen Körper, und mich bemerkst, während ich zum Schein, natürlich nur zum Schein, den Blick abwende; dass du mich bemerkst, aber zugleich so tust, als würdest du mich nicht bemerken, und ich weiß nicht, was in der nächsten Sekunde passieren wird, und bin mir zugleich sicher, du wüsstest schon ganz genau, wann sich unsere Blicke treffen werden, wann einer von uns (muss es ich sein?) etwas sagen wird und was er oder sie sagen wird, wie das Gespräch sich entwickeln wird und was sich aus dem Gespräch entwickeln wird.

– Wovon redest du? Ich erinnere mich nicht. Ich hasse das Schwimmen. Ich habe das Schwimmen schon immer gehasst.

Ach, ihr seid das. Ich erkenne sie wieder, diese beiden Alten, die im letzten Abschnitt erschienen sind (viel weiß man noch nicht über sie), sie sitzen in diesem Garten am See auf Liegestühlen, seltsam steif, wie hingepflanzte Spielzeugfiguren, wenn sie die Augen öffnen, wirkt es künstlich; ein Aufklappen; wenn sie die Augen wieder schließen, fühle ich mich erleichtert.

Dieser Apfelduft im Garten. Dieser betörende Geruch nach faulenden Äpfeln. Dieser bis zur Übelkeit betörende Geruch. Rot und gelb und braun, weißfleckig, halb abgeflacht liegen die Äpfel im trockenen Gras, Hornissen und Wespen umschwirren sie, knabbern an ihnen, graben sich in sie hinein.

– Schau dir dieses Wasser an. Dieses Wasser ist giftig.

Die Personen sitzen seltsam steif wie Spielzeugfiguren in ihren Liegestühlen, und in diesem Moment kam ich ins Stocken. Wovon wollte ich überzeugt sein. Von einem Besitz oder von der Aufgabe des Besitzes. Es gehört mir oder: Ich gehöre euch.

Denn anscheinend hing alles von der Wiederholung ab, der Verdopplung, der Erzählung: Als wäre es notwendig, dass ich es weiß oder zumindest wissen kann; so als hielte ich mich, diese blasse Figur, die am Schreibtisch vor dem Computer sitzt oder den Kopf in Bücher gesteckt auf dem Bett liegt, für den Gott dieser anderen Zeiten. Einen neutralen und passiven Gott, der nicht viel mehr wäre als ein Speicher für eine Unzahl fast willkürlich ausgesuchter alter Aufnahmen (Blitzlichter, ihr habt die Augen unschön aufgerissen, während ihr aus dem Dunkel auftaucht), dennoch einen Gott. Ich muss alles nachträumen, alles verzerren, alles Verzerrte ins Bild stopfen.

Das ist bloß Literatur, ganz konventionell.

Ich schaue in die Häuser, in die Köpfe, gehe die Straßen der Vergangenheit ab. Wolken oder die Andeutungen von Wolken, eine sehr dünne Farbschicht. Pflastersteine, die nach groben Schuhen verlangen, Räume, in denen es immerzu stinkt, doch ich rieche nichts, Gott riecht nichts (könnt ihr noch etwas riechen, liebe Tote?).

Ich sitze also nur am Schreibtisch vor dem Computer und zoome Stadtpläne oder abfotografierte Gemälde heran, ich liege lesend im Bett, doch unter dem Anschein der Neutralität und Passivität übe ich (so dachte ich jetzt) perfide meine Macht aus, entscheide, was ich sehe und was für immer gesehen werden soll. Ich schneide aus, ordne, Figuren und Räume, fülle sie mit neuem Inhalt, verschließe sie, stecke sie an andere an und entscheide, dass sie für alle Zeit so sind; dass sie dort sind, dort gewesen sein werden, so gewesen sein werden, für alle Zeit (denn sonst lohnt es sich nicht). Dieses Licht der Wiederholung hält sie nicht nur fest, es verändert sie. Ich entscheide, wer ihr seid und wer ich sein will.

Ich spreche von mir oder tue so, als würde ich von mir sprechen.

Ich, aufs Papier gezaubert, übe meine Macht aus, indem ich geschlossene Kreise zeichne, aus denen die Augenblicke und die Szenen nicht mehr entkommen können; jeder in seinem Kreis. So halte ich auch mein eigenes Leben, wie etwas, von dem ich gelesen habe und ein paar Bilder gesammelt, so will ich es neu formen und verzerren. In meinen Erinnerungen zweite, bleibende Ebenen schaffen (manche Erinnerungen bringen sie von selbst hervor), und es kommt jeweils nur auf diese zweite Ebene an. Die offizielle Ebene, die aus dem Verlauf des Lebens losgeschnittene Wiederholung, Punkt für Punkt, Schnitt für Schnitt. Andere Momente, von denen ich nichts wissen will, Szenen und Lebenszeiten, für die ich mich schäme und von denen andere Menschen oder Götter (die Lesenden, die Welt) nichts wissen dürfen, kann ich, so dachte ich, zum Vergessen und zur Vernichtung verurteilen. Beides ist gleich tröstlich: die unauslöschliche Erinnerung und das vollkommene Vergessen.

Ausschneiden und festhalten; töten, was nicht ausgeschnitten und festgehalten ist.

Am konsequentesten in dieser Methode war Qin Shihuangdi, König von Qin, Sohn des Himmels, erster erhabener Kaiser.

Ich sollte nach China reisen und nach England, die Pandemie hindert mich daran, vielleicht ist es gut so. Ich zoome einen Stadtplan auf Google Maps und schaue mir einen Amateurfilm über Haworth in Yorkshire an, immer diese entsetzliche Straße, seit fast zweihundert Jahren. Diese rußigen schwarzen Häuser. Dieser Ruß, diese kleinen Engländer, diese Bewohner dieser Häuser. Immer diese Steigung und diese Kurve, er möchte mit einem Riesenschritt, einem alles verschlingenden Satz rauf- oder runterkommen. Und es regnet und der Wind bläst, immer dieser Weg zum Pub und ein Bier und noch ein Bier und noch ein Bier bitte, sonst gibt es eins in die Fresse. Und der Weg zurück und die Knochen der älteren Schwestern unterm Kirchenboden gleich hinter dem Haus. Herr, schreibe ihren Namen in deine Hand. Diese Begräbnisgesellschaften und die Röcke der Frauen und was sie unter den Röcken haben und die Kurve der Straße, seit fast zweihundert Jahren die Gasse auf- und abrennen, das Kopfsteinpflaster, das Pfarrhaus, warum nicht die Tür eintreten.

Diese Kurve, wo er manchmal aus dem Tritt kommt und in den Dreck fällt. Die Scheiße rinnt im offenen Kanal die Main Street hinab, am Black Bull vorbei (drübersteigen und sich die Schuhe nicht schmutzig machen). Auch sonstwo kommt er manchmal aus dem Tritt und fällt in den Dreck, nach einer gewissen Zeit merkt er es nicht mehr, es geht uns allen so.

Ich bin der Erste von uns vieren, der stirbt. Plane nichts für mich, Papa.

Jaja, Gott hat nichts für mich geplant, wir haben uns geirrt. Er hat meinen Namen gelöscht. Ich habe mein Gesicht gelöscht, aus dem Bild, das ich gemalt habe, und nicht nur aus diesem Bild. Gott hat meinen Namen gelöscht.

Die Sterne sind fett und hell und nah, Quecksilbersterne.

3.

Qin Shihuangdi, der erste erhabene Kaiser, ist in einer riesigen Gruft bestattet, deren Inneres seit über zweitausend Jahren kein Lebender gesehen hat. Drei Hügel, die einander stützen, bedecken die Gruft, deren Inneres ein Abbild des Reiches darstellt; die Philosophie, die Politik und der persönliche Wahnsinn des Kaisers stützten einander, so wie die Hügel über seinem Leichnam einander stützen.

Der Mann, der die chinesische Mauer bauen ließ und die Verbrennung aller Bücher anordnete, die vor der Zeit seiner Herrschaft verfasst wurden, ist eine der beunruhigendsten Herrscherfiguren. Er ließ Millionen Menschen ermorden, am Ende mordete er aber, um den Tod zu besiegen. Er will die Vergangenheit auslöschen; seine Herrschaft (und sein Leben) sollen für sich stehen. Im einzigen Raum, der zählte, dem Raum der Gegenwart. Die Philosophie, der er (wie seine Vorgänger, die Könige von Qin, und wie sein Kanzler, der Philosoph Li Si) folgt, der Legalismus, erklärt den Menschen für böse und das Wissen für schädlich. Die Gesetze sollen wie Naturgewalten über die Menschen richten. Jeder Irrtum, jedes Fehlverhalten, jedes Verbrechen muss mit dem Tod und der Auslöschung der Sippe bestraft werden. Das Wissen von der Vergangenheit ermöglicht Vergleiche, also Widerspruch; deshalb muss es mit dem Tod bestraft werden. Alle, die es noch wagen über die klassischen Bücher zu reden, schreibt Li Si, müssen öffentlich hingerichtet werden. Jeder, der das Vergangene benutzt, um das Gegenwärtige zu verleumden, wird samt seiner Sippe hingerichtet. Beamte, die dies zur Kenntnis nehmen, es aber nicht melden, muss man genauso hinrichten. Diejenigen, die dreißig Tage nach Erlass des Gesetzes die Bücher nicht verbrannt haben, sind zu brandmarken und zu Zwangsarbeit beim Bau von Burgmauern und Monumenten zu verurteilen. Die wichtigsten Bauwerke aus der Zeit des Kaisers Qin Shihuangdi sind die Große Mauer und das Mausoleum, mit dessen Bau gleich zu Beginn der Herrschaft des damals dreizehnjährigen Qin (der damals, bloß König von Qin, noch Ying Zheng hieß) begonnen wurde.

Ich stelle mir ein schwaches Leuchten vor; im Dunkeln sein, scheinbar im Nichts, und dann dieses schwache Leuchten wahrnehmen (als wären da Flüsse, der Gelbe Fluss, der Jangtse; als wären da Sterne).

Ich las die Geschichte von Qin zuerst in einem Essay von Jorge Luis Borges, für den der Mauerbau und das Bücherverbrennen verwandte Gesten sind: Zunächst vermutet Borges noch ein persönliches Motiv hinter der Bücherverbrennung. Vielleicht wollte Qin Shihuangdi die gesamte Erinnerung auslöschen, um eine einzige Erinnerung auszulöschen, nämlich, eine etwas sentimentale Vermutung im Stil des 19. Jahrhunderts, die Erinnerung an die Schande seiner Mutter, einer Konkubine, die ein reicher Kaufmann und Groß-Lobbyist Qin Shihuangdis Vater geschenkt hatte und die später wegen Ausschweifung verbannt wurde (aber was bedeutete für Qin, den Sohn des Himmels, »Mutter«, was bedeutete »Schande«, was bedeutete »Ausschweifung«? Ich bin doch ganz allein. Ein dickes Kind unter Purpurgewändern. Eine Figur, die in Sänften und Kutschen durchs Reich getragen wird und gerne aufs Meer schaut, auf die Wellen, die ans Ufer schlagen. Ich.).

Fluchtpunkt der Serie von Überlegungen, die Borges spielerisch ausspinnt, ist Qins Obsession, den Tod aufzuhalten; die Mauer, die der Kaiser ums Reich ziehen ließ, könnte genauso wie der Versuch einer Auslöschung der Vergangenheit eine magische Schranke darstellen: Magische Schranken im Raum und in der Zeit, in der Hoffnung, dass der Verfall nicht in einen geschlossenen Kreis eindringen könne. In diesem geschlossenen Kreis gibt der Herrscher (so besagen es Inschriften auf Stelen) allen Dingen den Namen, der ihnen zukommt. Die Wörter lösen sich nicht von den Dingen.

Ich bin ganz alles, aber ich habe einen Plan und alle Mittel der Welt zur Verfügung. Ich bin ganz allein und der Mittelpunkt der Welt. Im Osten das Meer, im Westen die Berge, im Norden, unten, das Land der Toten.

Eine Mauer bauen. Aus Stein, aus Verboten wie Stein, aus größter Angst, mit aller Macht. Eine Mauer aus Zeichen, aus makellosen Wörtern, die wie Namen an den Dingen kleben. Ich ziehe in den Kreis, wovon ich schreibe.

Allem Anschein nach ist Qin gescheitert. Weder gelang ihm die Auslöschung der Vergangenheit, die klassischen Bücher (das Shijing, das Sjujing, das Ijing und so weiter, die Bücher der Lieder, der Riten, der Wandlungen, natürlich auch das Daodejing) haben alle seine Herrschaft überlebt und bis heute tauchen ab und zu Fragmente verloren geglaubter Bücher aus dem Jahrtausend vor Qins Geburt auf, noch ist die Mauer, an der Jahrhunderte lang weitergebaut wurde, jemals undurchlässig gewesen, noch hat ihn das Einnehmen von Quecksilber vor dem Tod bewahrt (ganz im Gegenteil). Und vielleicht sollte ich, wenn ich von der zweiten Ebene des Gedächtnisses und dem bewusst von ihr Ausgeschlossenen spreche, nicht vollkommenes Vergessen sagen, weil das Innere des Kreises sich niemals selbst genügen kann und immer Hinweise in sich trägt, auf ein Außen verweist und nur durch Leerstellen und Bezüge überhaupt als wirklich erscheinen kann.

Als sollte die Scham mich überleben. (Aber was bedeutet für mich Scham, was Schande, gibt es noch Scham und Schande, sobald man schreibt? Und was heißt Scheitern, wenn man die Welt neuschreibt?)

Mein Herr! Lesen Sie, was ich schreibe! Handeln Sie nicht wie ein gewöhnlicher Mensch, Sie haben in James Hogg einen fähigen Autor verloren, gebe Gott, dass Sie einen neuen gewinnen in Patrick Branwell Brontë. Sie würden einen Fehler begehen, den Sie bereuen werden, sollten Sie das Gespräch mit mir verweigern. Man muss genügend Rum trinken, bevor man sich um die Stelle bei einer Zeitschrift bewirbt. Man muss Rum trinken, um die Straße und das Haus loszuwerden, die Bilder, diese Bilder von Maria und Elizabeth, die sich immer in den Kopf hineindrängen, das Bild der Mutter (übers Bett gehalten werden, Gebete, wachsweiße Gesichter, Wachs- und Weihrauch- und Ruß- und Leichengeruch). Die Möbel tun so, als würden sie leben. Das Bett tut so, als würde es leben. Dieses massive Bett, in dem der Baum heimlich weiterlebt, zerschnitten und zusammengepresst, blind und dunkel weiterlebt, während die Menschen immer blasser werden und dünn wie Bilder. Hauchdünn.

Aber diese Körperwärme, während wir dasitzen und uns Geschichten ausdenken, die Wärme dieser Geschichten, der Finger an den Stiften, des Atems, Erinnerst du dich? Eine der Schwestern, vielleicht die Kleinste, Anne, hebt ihren Blick zu Branwell, den sie in wenigen Jahren hassen wird, bemitleiden und irgendwie auch noch lieben, vor allem jedoch hassen und verachten. Aber er erinnert sich, ja. Es ist noch da. Das behaupte ich.

Ich dachte beklommen, aber auch triumphierend an diese Macht (aber vergaß ich nicht schon, dass es meine eigene Macht war? wusste ich nicht, dass ich scheiterte, sobald ich mich an meine Macht klammerte?). Ich schrieb weiter, so als würde der Bildschirm die Buchstaben und Sätze anziehen und herausfordern; alles wäre schon da, ich folgte den Linien eines vorhandenen Bildes, aber die Macht der Wiederholung, des Zurechtschneidens läge bei mir. Ich folge, dachte ich, sozusagen mit dem ganzen Körper, Schritt für Schritt den Linien eines körnigen Bildes, und zugleich gewinne ich Satz für Satz an Macht. Und es bliebe nicht bei den Buchstaben und Sätzen; es sind nicht nur Buchstaben und Sätze. (Diese Körperwärme, die Berührung der Stifte an den Fingern, euer Atem und die Lust des gemeinsamen Spiels, in dem Einfall über Einfall stürzt.)

Dieser löchrige graue Himmel. Diese nachtgraue Zimmerdecke und, Folie für Folie, der löchrige nachtgraue Innenhof, wo ich übrigens nichts sehe als das, was ich sehe. Ein Vordach, ein paar Fahrräder, die roten Deckel von Papiermüllcontainern, eine Vespa, keinerlei Spuren einer Vorzeit.

Und auf der anderen Seite des seit langem ungeputzten Fensters mein Zimmer. Dieser schmale, fast abstellkammerhafte Raum, in dem ich schreibe, ist mir immer unbestimmt und uninteressant erschienen, doch plötzlich macht mir die Vorstellung Angst, er wäre gar nicht mehr da, wenn ich ihn nicht beschreibe.

4.

Seit zehn Jahren schreibe ich in diesem Raum, und mir scheint jetzt, er wäre eine Art Abstellkammer. Alle Gegenstände hier drin werden zu Gerümpel: meine Bücher, die ich einmal geliebt habe, sie stapeln sich auf jeder Ablage und auf dem Boden. Die kleine Stereoanlage, die auf zwei zusammengeschobenen Dreieckstischchen neben dem Schreibtisch steht, ist kaputtgegangen. Alte Musikkassetten aus meiner Jugend, für die es kein Abspielgerät mehr gibt, liegen herum. Stapel vergilbender Zeitungen (Falter, Standard, Zeit usw.). Zwei Regiestühle, ich weiß nicht, wo meine Freundin sie her hat, Kleidungsstücke hängen über den Lehnen. Ein kleiner orangefarbener Teppich aus Oaxaca, Mexiko. Fünf oder sechs gerahmte Bilder, die zwischen einem Stehpult mit Rollschrank und einem schmalen IKEA-Metallschrank auf dem Boden lehnen. Eine wackelige schwarze Stehlampe, deren Fuß sich nicht mehr festschrauben lässt. Ein unverdrossener Kaktus, der neben alten Bleistiftspitzern auf dem Schreibtisch wohnt, und auf dem Fensterbrett ein Binsengewächs. Ein abgewetzter schwarzer Bürostuhl, und er knirscht, während ich mich beim Schreiben sacht nach links und rechts drehe. Und wieder zurück.

Die Frau im Liegestuhl starrt mich an; oder sie starrt das an, was sie an meiner Stelle sieht. Eine Barriere vor ihr in der Luft.

In der geräumigeren Kammer, einzige Lichtquelle hier drin, unter den drei aneinandergeschobenen Hügeln, sind die Flüsse und der Ozean (ach, und die Sterne). Oder sie waren es. Das glitzernde, weiche Quecksilber der großen Ströme ist unbeweglich oder es bewegt sich so unendlich langsam, dass die Bewegung, selbst über die Jahrtausende hinweg, für uns nicht wahrzunehmen ist. Für mich ist diese Bewegung nicht wahrzunehmen. Anfangs hat es einen Mechanismus gegeben, der die Ströme fließen ließ, den Gelben Fluss, den Jangtse (mitsamt der wilden Stromschneller, sage ich, der sanften Teiche, der drei Schluchten, der Städte und Berge an seinen Ufern) und vielleicht glaubte man die Wellen ans Meeresufer schwappen zu hören, ein seltsamer Ton, kaum einzuschätzen, so leise, von solcher Langsamkeit, als wäre die Zeit selbst verlangsamt, die Dinge hier drinnen wären die gleichen wie die Dinge in der Außenwelt, aber die Zeit wäre verlangsamt. Und nur deshalb würde er sich nicht bewegen, dieser schwere, feiste, einbalsamierte Leib in seinen Prunkgewändern. Nur deshalb würde er still daliegen, nicht zu seinem Spazierstock greifen, zu seinem Wagen schreiten, seine Krone aufs Haupt setzen, weil jeder Schritt Jahrhunderte oder Jahrtausende brauchte. Ich bin ein dickes Kind und der Herrscher über die Erde.

Fette Quecksilbersterne über mir.