Regeln des Tanzes - Thomas Stangl - E-Book

Regeln des Tanzes E-Book

Thomas Stangl

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Beschreibung

'Es ist mitten im Winter, ein grauer Tag in einer Reihe von grauen Tagen, ein guter Zeitpunkt.' Wofür? Um sein Leben zu ändern; für den 'totalen Umsturz der Verhältnisse'. Stangls vierter Roman ist der Zustandsbericht rund um diesen Imperativ herum, der die Veränderung des schlechten Bestehenden verlangt: Da ist eine junge Frau, die als Demonstrierende gegen die neue, rechtslastige Regierung in Wien im Februar 2000 durch politisches Handeln ein neues Existenzgefühl erfährt. Ihre Schwester Mona geht zur selben Zeit einen ganz anderen Weg, der in einem schockierend-befreienden acte gratuit endet. Und 15 Jahre später gerät ein Dr. Walter Steiner in eine existenzielle Krise, da seine Frau ihn verlässt; gleichzeitig verbindet ihn der zufällige Fund von alten Bildern mit diesen zwei Frauen und stellt neue Zusammenhänge her. Die drei Personen dieses Romans durchstreifen Wien zu unterschiedlichen Zeiten, mit unter- schiedlichen Motiven, und versuchen auf unterschiedliche Weisen, in der Wirklichkeit anzukommen – durch politisches Engagement, durch Kunst oder durch die Aufkündigung aller existierenden Zwänge. Stangls Roman ist eine hypnotische Meditation über unsere Gegenwart und die Rolle, die der Kunst darin und in unserem Leben zukommt, ein Roman voller magischer Momente.

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Seitenzahl: 390

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Thomas Stangl

REGELN DES TANZES

Roman

Literaturverlag Droschl

Die beiden Mädchen scheinen ein merkwürdiges Haus zu bewohnen oder immer wieder dorthin zurückzukehren. Es ist nicht sicher, dass das Haus im Süden liegt, auch wenn fast immer die Sonne scheint, manchmal leuchten die Pflanzen im Garten in beinah unwirklichen grünen, roten und violetten Farbtönen auf, die Gesichter, die nackten Arme, die Körper in den Kleidern oder in Jeans und T-Shirt werden dann zu anderen, fremderen Pflanzen oder die Pflanzen zu anderen, fremderen Körpern, dieses Muster muss es immer gegeben haben, dieses Muster muss es immer weiter geben. Davon hängt alles ab. Das hier könnte eine Zeit sein, die nicht aufhört, man könnte zurückblättern, neu ansetzen, endlos aus demselben Traum erwachen, immer wieder in denselben Traum hinein einschlafen. Manchmal fällt das Sonnenlicht schräg durch die Jalousien in die weißgestrichenen Räume, dann beginnt Müdigkeit sich auszubreiten, jeder Lichtstreifen bringt einen neuen Raum hervor. Nach einiger Zeit sind die Möbel wiederzuerkennen, die Sofas, die Sessel, die Vitrinen mit spiegelnden Gläsern, man könnte glauben, die Anordnung der Räume zu kennen, aber immer wieder schieben sich, wenn man sie in der Vorstellung durchwandert, neue Kammern oder Gänge, neue Ecken und Windungen ins Bild, immer wieder musst du zurückblättern: sodass dir manchmal scheint, du würdest Jahre brauchen, um in den Garten zu gelangen, manche Räume würdest du niemals finden, andere, an die du dich erinnerst, nicht wiederfinden. Nur die Gesichter wirst du nicht vergessen oder verwechseln, du bist dir sicher. Diesen Blick –

In the pines, in the pines,

where the sun don’t ever shine,

I will shiver the whole night through

Verfasser unbekannt

Ich tanze nicht an einem Ort, ich tanze den Ort.

Min Tanaka

I(Stadt, 4. Februar 2000 und später)

Also gut, es geht nicht anders, beginnen wir mit den Bildern. Was sind schon Bilder: Formen auf Papier oder Bildschirmen, Licht, versteckte Magie.

Es konnte kein Zufall sein, dass er die Filmdosen fand. Nicht, dass er einen offenkundigen Sinn darin sah oder etwas Ähnliches erwartet hatte, aber er nahm sie bedenkenlos an sich, ruhig, ohne Hast und Aufregung, erst im Nachhinein erfasste ihn eine Art von Erregung, eine Art von Glück: als hätte er schon gesehen, was die Fotos für ihn (für irgendeinen, aber jetzt nur mehr für ihn) bereithielten, einen ganzen Film, in den er umsteigen könnte wie in eine parallele, auf Zelluloidstreifen festgehaltene Existenz.

Zu dieser Zeit hatte Doktor Steiner (wie er zuweilen auch für sich selbst hieß) gerade erst wieder begonnen, ziellos durch die Stadt zu laufen; wie vor Jahrzehnten, als er noch Geheimnisse und kleine Wunder hinter jeder Ecke, in jedem Schaufenster, in jedem Lokal, jedem Lächeln einer Frau, jeder Betrun-kenheit, jedem betrunkenen Monolog eines Unbekannten, jeder Ausstellung und jedem Buch erwartet hatte. Er hatte nun wieder Zeit, die Tage wurden immer kürzer, aber jeder einzelne schien ihm doch zu lang; er ließ sein Auto (nun ja, ein Mercedes) in der Garage stehen, steckte die Hände in die Taschen seines Sakkos und stieg bei der nächsten Station (Rossauer Lände oder Friedensbrücke) in die U-Bahn, auch wenn es (leider) nicht Paris war, man konnte lange Zeit kreuz und quer und hin und zurück durch die Stadt fahren, ohne den Untergrund zu verlassen, irgendwann entschied er sich dazu aufzutauchen, ganz unvermittelt, am liebsten in einem Stadtviertel, wo er gewiss nichts verloren hatte. U4, Umsteigen am Schwedenplatz, U1. Er könnte bis über die Donau hinausfahren, zu Neubausiedlungen beziehungsweise schon längst in die Jahre gekommenen Neubausiedlungen am Stadtrand. Es ist seltsam für diesen Autofahrer, sozusagen unbekleidet seinen Körper und sein Gesicht in der Menge spazierenzuführen. Dabei sieht er gut aus; täuschend gut; wie George Clooney in zehn Jahren oder Cary Grant 1965, ein vielleicht etwas derangierter George Clooney oder Cary Grant: immer war er davon überzeugt, dass dieses Aussehen wie auch seine Sprache nur dazu diente, zu verdecken, wie langweilig er war. Von seinem Sitzplatz aus schaut er lange Zeit einem unrasier-ten Mann in einer farblosen alten Arbeiterjacke zu, der mit einem Kugelschreiber in seinem Ohr bohrt. Es gibt eine Gesell­schaftsklasse, denkt er, in der alle Menschen von einer dünnen und durchsichtigen grauen Schicht bedeckt sind: ihre Hände, ihre Kleidung, ihre Gesichter, vermutlich auch ihre Seelen und ihre Gedanken, zumindest seit sie wissen, dass ihnen keine Hoffnung geblieben ist, nur noch Resignation oder Hass und Ressentiment. Ihr Stolz, ihre Stärke, ihre Zukunft (das gab es einmal, und einen Namen dafür) erscheinen ihnen selbst nun so lächerlich wie allen anderen.

Als sich der Mann umdreht, wendet er schnell den Blick ab; warum wirst du gleich nervös, warum glaubst du dich erkannt: du Müßiggänger mit Geld in der Tasche, Goldener Kreditkarte, immer noch, Stapeln und morschen Regalen voll modernden Wissens im Hirn: einer ungehörigen, ziellosen Neugier. Warum erscheint dir dieser Mann nun doch wirklicher als du selbst, und du weißt nicht, wohin mit deinen Blicken, bist plötzlich selbst sichtbar geworden. Er hielt es im Wagen nicht mehr aus, stand auf, nicht zu schnell, sich belauernd, du bemühst dich immerhin, sagt er zu sich selbst, auf dieser Flucht einen Anschein von Souveränität zu wahren (macht sie das ehrenhafter oder noch lächerlicher?). Rolltreppen, die ins Freie führen; ein Lichtschein, ein unbestimmter Lärm erwartet ihn oben, er wird, so plant er, einfach in die erstbeste Gasse hineingehen, die auf seinem Weg liegt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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