Diverse Wunder - Thomas Stangl - E-Book

Diverse Wunder E-Book

Thomas Stangl

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem viel gelobten Erzählband "Die Geschichte des Körpers" legt Thomas Stangl mit "Diverse Wunder" einen ebenso fulminanten Nachfolger vor. Im Geist von Kafka und Daniil Charms und mit einer Prise Julio Cortázar versehen treffen hier Witz, Absurd-Groteskes, Phantastisches und tiefer Ernst aufeinander. Von nachdenklichen Tieren und Minipolizisten durchstreifte Texte versprechen letzte Enthüllungen; in Fortsetzungen lesen wir u. a. einen "Abenteuerroman" und eine "Vorgeschichte"; einige Figuren – wie z. B. ein Hundemaler, jemandes Neffe, die Akrobatin – tauchen wiederkehrend auf, sodass wir an deren Leben, Lieben und Leiden teilhaben; selbst Jesus, Wittgenstein, Trotzki sowie ein Schattenpriester bekommen ihre Auftritte. Kurzum: Es geschehen eigentümliche Dinge in diesem Band. Thomas Stangl verführt uns über die Grenzen der Realität in ungeahnte Fiktionswirklichkeiten und schreibt so verspielt und fabulierlustig wie noch nie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 71

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

 

Thomas Stangl

 

 

Diverse Wunder

Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literaturverlag Droschl

Prolog

Manchmal wird mir klar, dass das, wovon ich schreiben will, alle anderen schon seit jeher wissen. Jeder Baum weiß es, jeder Baum in der Dämmerung, und Baum für Baum, die sich den Abhang hinab vom Haus zum See aneinanderreihen. Jeder Fisch und jeder Vogel weiß es und der See mit seiner unbewegt im schwachen Licht spiegelnden Oberfläche. In jedem schlechten oder wunderbaren Gedicht oder Roman, in jedem Lächeln und jeder Berührung ist es zu lesen. Niemand hat je etwas anderes gesagt, seit ein paar tausend Jahren, aber ich habe es erst jetzt begriffen oder bin erst jetzt dabei, es zu begreifen. Und muss nichts anderes tun, als den Stoff, den ich vor mir habe, zu reinigen. Alles abzuschaben, was überflüssig ist.

Bis jeder Satz nur noch das bestätigt, was alle wissen, Baum und See und Haus, Gedicht und Roman nicht mehr da sind, der Körper, der ihnen Ruhe gab, das Glitzern und Blühen, das Lächeln und die Berührung. Bis nur noch dasteht, was alle wissen oder gewusst haben; aber an einem Ort, den es bisher nicht gab.

Es ist kein Verdienst, diesen Ort erfunden zu haben, zufällig bewohne ich diesen Ort.

An diesem Ort eins

An diesem Ort wohnt ein kleiner Fisch, aus roten, weißen und schwarzen leuchtenden Steinchen zusammengesetzt. Kein Christenfisch, sondern ein altes, heidnisches, völlig unsymbolisches Fischchen.

Auch wenn sonst wenig übrig ist, die meisten Mauern eingestürzt sind, die Wände abgekratzt, dieser Fisch ist da, wohnt auf einer ausgetrockneten Mauer, in den Ruinen, und sucht die Blicke der Besucher, wenn es denn Besucher gibt.

Ein Fisch

Ein Fisch interessiert sich für nichts. Ein Fisch frisst seine Kinder, wenn das, was ihm entgegenschwimmt, zufällig seine Kinder sind. Ein Fisch ist reines Erstaunen. Wir alle essen gerne Fische, noch lieber als Huhn, denn vor den Hühnern schämen wir uns irgendwie.

Die Ordnung des Bewusstseins (»Koje«)

Wir sind auf Reisen und gezwungen, einen Arzt aufzusuchen. Die Ambulanz oder Arztpraxis befindet sich im zweiten Stockwerk eines leicht bröckligen Gebäudes in der Innenstadt. Die Warteräume sind überraschend geräumig und gleichen der verwinkelten Umkleide eines alten Schwimmbads, mit Gängen und Nischen und mit schmalen Sitzbänken vor hohen Spinden oder Wandverkleidungen aus locker aneinandergeschraubten Holzbohlen. Ich bilde mir ein, man könne, sobald man aufgerufen wird, von beiden Seiten her ins Ärztezimmer (die »Koje«) eintreten, und wandere also sozusagen sorglos die Gänge entlang um die »Koje« herum. Dort auf der anderen Seite spricht mich von einer gegenüberliegenden Nische aus ein schon seit längerer Zeit hier wartender Mann an. Er ist etwas älter als ich, ein Einheimischer im Trainingsanzug, mit verschattetem Gesicht, er redet sehr leise. Fast so leise wie ich selbst.

– Ich muss Ihnen etwas gestehen, sagt er. Seit einiger Zeit plane ich jede Nacht vor dem Einschlafen minutiös, was ich träumen werde.

Er redet so, als wäre ich ein Arzt oder Therapeut und nicht selbst Patient; immerhin bin ich ein Fremder, also seines gleichgültigen Vertrauens wert, meine Begleiter haben mich in diese Ambulanz oder Arztpraxis gebracht, allein hätte ich kaum hergefunden.

– Das ist faszinierend, sage ich, ganz ehrlich. Und Sie planen wirklich jedes einzelne Detail?

Der Mann nickt missmutig.

– Darf ich fragen, was Sie von Beruf sind?

Ich nehme an, er müsste ein Ingenieur sein oder ein Architekt.Er versteht meine Frage nicht gleich, und als ich sie wiederhole, ist es, als würde sie ihm etwas ungehörig erscheinen. Als würde ich mich seines Vertrauens nicht würdig erweisen; seine Fähigkeit als kuriosen Spleen abtun wollen. Mir erscheint die Frage in der Wiederholung selbst etwas ungehörig.

Er flüstert nur, mit einem minimalen Achselzucken:

– Ein Job … Schriftsteller.

 

Wir schweigen betreten, was sollten wir auch noch sagen. Ich bin an einen Schriftsteller geraten (auch wenn er nichts dafür kann). Ich bin an einen Schriftsteller geraten und trete in seinem Traum auf (auch wenn er nichts dafür kann). Er muss seinen Job tun, und ich mit meiner Begriffsstutzigkeit bin nun beinah im Weg. Ich habe etwas Angst, ich könnte von dem Ort aus, an dem ich mich befinde, überhören, wenn ich endlich aufgerufen werde. Ich habe etwas Angst, weil meine Begleiter sich anderswo in diesem Wartesaal, diesen Umkleideräumen befinden und sie mich vielleicht vergessen oder schon längst vergessen haben, wie viel Zeit mag inzwischen vergangen sein.

 

Ich würde mir wünschen, die »Koje«, die innerste Kammer dieses Gebäudes könnte wirklich einem Schwimmbad gleichen, ich stelle mir das grünliche klare Wasser, den Chlorgeruch vor, das Licht, das bis zur Decke hin die sanfte Wellenbewegung aufnimmt und wiedergibt. Ich stelle mir vor, die Decke wäre aus Glas. Ich nehme mir vor, dem Arzt oder den Ärzten alle Symptome meiner Krankheit, noch die peinlichsten Details genau zu schildern. Ich sage mir die Sätze vor. Satz für Satz, als ginge es um mein Leben. Satz für Satz, als wären es meine eigenen Sätze.

 

Wo ist die Tür zum Ärztezimmer, wo ist der andere Mann, dieser Schriftsteller (er kann nichts dafür), wo sind die Spinde und Bänke, meine Kleider, draußen die fremde Stadt und die Gebirge rundum, und ihr, meine Begleiter, wo seid ihr.

 

Alle Einzelheiten dieses Raums sind verloren.

Dichtung

Sie schreibt, die langen Röhren meiner Schenkelknochen, aus denen ich ein Gedicht ziehe. Sie greift unter ihre Röcke und in ihr Fleisch und zieht ein Gedicht hervor. Sie wirft das Gedicht ins Feuer, weil es nichts taugt, und lacht.

 

Dieses Lachen zieht uns die Haut zwischen den Schulterblättern zusammen. Wir krümmen uns unwillkürlich und unsere Köpfe sinken in den Nacken.

Die Katze

Es ist etwas unangenehm, dass im Garten ein älterer Herr herumschleicht, der so tut, als wäre er eine Katze, oder der glaubt, er sei eine Katze. Ich habe im Haus zu tun und will dabei nicht gesehen werden, doch da die Fenster offen stehen, bekomme ich immer wieder diesen älteren Herrn in den Blick. Er trägt schwarze Socken, eine Unterhose und ein senfgelbes Hemd (ohne Krawatte und mit geöffnetem Kragenknopf). Sein Haar ist grau und gut gepflegt. Sicherlich ist er ein Bank- oder Ministerialbeamter oder ein leitender Angestellter; ich stelle ihn mir an seinem Schreibtisch vor; ich stelle mir vor, was seine Kunden und Untergebenen sagen würden, wenn sie wüssten, wie er seine Wochenenden verbringt. Manchmal verschwindet er fast im hohen Gras. Manchmal setzt er zum Sprung an, er streckt seinen Hals vor und schaut konzentriert auf irgendetwas, das er in einem Gebüsch entdeckt haben mag. Dann sieht er mich an und winkt mich herbei, so als wollte er mir einen Tipp geben. Zögerlich und unwillig gehe ich zum Fenster. Ich habe gewiss anderes zu tun. Ich werde ihm nicht verraten, was ich in diesem Haus, in dem ich, so wie er, fürs Wochenende zu Gast bin, vorhabe; ich werde mich nicht mit ihm gemein machen.

Venedig eins

Der Kunstmaler Wu Daozi (oder auch Wu Daoxian) malte Hunde und beeilte sich, sie zu signieren, bevor sie davonliefen. Dieser braungesprenkelte Köter mit dem großen braunen Fleck an der Flanke ist ihm besonders gut gelungen. Er trabt quer über den Markusplatz. Eine dicke Frau mit Brille kommt vorbei und starrt den Hund an, als wollte sie ihn stillstellen. Die Signatur ist nicht zu erkennen. Der Hund weicht langsam zurück. Sozusagen knurrend, aber das Knurren ist nicht zu hören. Die dicke Frau verschwindet hinter den Arkaden und der Hund mischt sich unter die Touristen. Möglicherweise handelte es sich um einen Spaniel, aber ich kenne mich mit Hunden nicht sehr gut aus. Überhaupt mit Tieren. Mit der Natur und so.

Lektion

In jeder Stadt nach der Ankunft in der Bahnhofsunterführung die falsche Richtung einschlagen und dort, auf der anderen Seite der Stadt, das Zentrum suchen und es auch finden.

 

Anne Carson: »Would that be like waking from a dream and finding yourself on the back side of your own mind?«

Sommer in Berlin

Eine dickliche blonde Frau im blauen T-Shirt steht im Autobus der Linie 200 an der Tür. Auf den Oberarm hat sie eine dünne blonde Frau im blauen Trägerkleid tätowiert, möglicherweise eine Japanerin mit gefärbten Haaren. Die dickliche blonde Frau schaut misstrauisch um sich; sie ist keine Japanerin, und ihre Haare sind nicht gefärbt.