Die gespaltene Gesellschaft - Jürgen Kaube - E-Book

Die gespaltene Gesellschaft E-Book

Jürgen Kaube

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Beschreibung

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in Talkshows und Zeitungen gefragt wird, was unsere Gesellschaft – noch – zusammenhält. Ob Arm gegen Reich, Ost gegen West, Land gegen Stadt, Jung gegen Alt oder der anhaltende Streit über Identitäts-, Glaubens- oder Genderfragen: Die gesellschaftliche Spaltung erscheint als ein Signum unserer Zeit. Jürgen Kaube und André Kieserling gehen dieser Diagnose auf den Grund: Schrumpft die Mittelschicht wirklich, und wie stellt man überhaupt fest, wer zu ihr gehört? Wenn das islamisch dominierte Viertel in Berlin-Neukölln eine Parallelgesellschaft ist, muss dann nicht auch das Villenviertel im Grunewald so bezeichnet werden? Waren frühere Gesellschaften tatsächlich stärker integriert, oder herrschten dort nur andere Konflikte und Ungerechtigkeiten? Die Gesellschaft, so kann man sagen, besteht wesentlich aus Ungleichheiten; gefährlich aber wird es, wenn Ungleichheit zu immer stärkerer Polarisierung, zu einem permanenten Gegeneinander führt. Was also ist nur mediales Gerede, und wo drohen echte Zerreißproben? Jürgen Kaube und André Kieserling sorgen in einer unübersichtlichen Lage für Orientierung – und liefern nichts weniger als eine schlüssige Deutung unserer gesellschaftlichen Gegenwart.

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Seitenzahl: 322

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Jürgen Kaube • André Kieserling

Die gespaltene Gesellschaft

 

 

 

Über dieses Buch

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in Talkshows und Zeitungen gefragt wird, was unsere Gesellschaft – noch – zusammenhält. Ob Arm gegen Reich, Ost gegen West, Land gegen Stadt, Jung gegen Alt oder der anhaltende Streit über Identitäts-, Glaubens- oder Genderfragen: Die gesellschaftliche Spaltung erscheint als ein Signum unserer Zeit.

Jürgen Kaube und André Kieserling gehen dieser Diagnose auf den Grund: Schrumpft die Mittelschicht wirklich, und wie stellt man überhaupt fest, wer zu ihr gehört? Wenn das islamisch dominierte Viertel in Berlin-Neukölln eine Parallelgesellschaft ist, muss dann nicht auch das Villenviertel im Grunewald so bezeichnet werden? Waren frühere Gesellschaften tatsächlich stärker integriert, oder herrschten dort nur andere Konflikte und Ungerechtigkeiten? Die Gesellschaft, so kann man sagen, besteht wesentlich aus Ungleichheiten; gefährlich aber wird es, wenn Ungleichheit zu immer stärkerer Polarisierung, zu einem permanenten Gegeneinander führt. Was also ist nur mediales Gerede, und wo drohen echte Zerreißproben?

Jürgen Kaube und André Kieserling sorgen in einer unübersichtlichen Lage für Orientierung – und liefern nichts weniger als eine schlüssige Deutung unserer gesellschaftlichen Gegenwart.

Vita

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. «Hegels Welt» wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis als Sachbuch des Jahres 2021 ausgezeichnet.

André Kieserling, geboren 1962, ist seit 2006 Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld. Er gilt als einer der bekanntesten Weiterentwickler der Systemtheorie Niklas Luhmanns.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01295-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Einleitung: Die Angstlust an der Spaltung

1 Zusammenhalt oder Was wird überhaupt gespalten?

2 Versäulung: Die Gesellschaft geschlossener Milieus

3 Politik und Polarisierung: Der Fall der Vereinigten Staaten

4 Gegner werden zu Feinden: McCarthy und wir

5 Lokalpolitik und die Gesetze des Stammeslebens

6 Der ausbleibende Aufstand

7 Testfall Pandemie: Geimpfte und Ungeimpfte

8 Hass im Netz

9 Wechselwähler: Reger Verkehr über politische Gräben

10 Die Mittelschicht in der Klassen- und Nichtklassengesellschaft

11 Alte weiße Männer oder Spaltet Identitätspolitik?

12 Die gespaltene Gesellschaft und ihre offenen Briefe

13 Gibt es Parallelgesellschaften?

14 Nordirland – Eine Spaltungsgeschichte

Epilog Spaltung diesseits des Bürgerkriegs

Einleitung:Die Angstlust an der Spaltung

Keine Woche, in der nicht in den Massenmedien, in Talkshows und Zeitungsartikeln, aber auch in sozialwissenschaftlichen Beiträgen behauptet wird, es drohe eine Spaltung der Gesellschaft oder sie sei längst gespalten. Zumeist sind mit «Gesellschaft» dabei Nationalstaaten und ihre Bürger gemeint. Zwischen ihnen schwinde der Zusammenhalt, teils durch soziale Gegensätze, die immer größer würden, teils durch Individualismus, Egoismus und das wechselseitige Unverständnis sozialer Gruppen. Die Gegensätze, die dabei angeführt werden, erstrecken sich über die verschiedensten Dimensionen: Arm und Reich, Jung und Alt, Frauen und Männer, Eingewanderte und schon länger Ansässige, Geimpfte und Nichtgeimpfte, Land- und Stadtbewohner – es wird eine gesellschaftliche Spaltung zwischen so gut wie allem behauptet.

Belege? Die Präsidentin des Bayerischen Landtags sprach dort kürzlich davon, es sei die Aufgabe der Parlamentarier, «jeder Spaltung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken». Kaum dürfte sie damit aber gemeint haben, dass starke Gegensätze unerwünscht seien. Sie ist Mitglied einer Partei. Partei heißt in der demokratischen Praxis: gegensätzlicher Teil. Was also meint sie jenseits der politischen Aufgabe, Bürgerkriege zu verhindern, deren Gefahr gegenwärtig nicht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht?

Der Schriftsteller Jochen Schimmang, der die Landtagspräsidentin in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung zitiert, befürchtet seinerseits, es gebe vielleicht bald gar keine Gesellschaft mehr, weil sie in zu viele auf ihre Identität pochende Teile, in ganz verschiedenen Welten lebende Atome zerfalle. Zeitdiagnosen, wir lebten in einer «Gesellschaft der Singularitäten», wollen einen «Verlust des Allgemeinen» erkennen. Das gemeinsam Geteilte nehme ab. Aber wie verschieden können die Welten sein, wenn nach wie vor zusammen erzogen, gearbeitet, geliebt und gestritten, geredet und kollektiv entschieden werden muss? Ist beispielsweise die Anhänglichkeit an Moden des Konsums oder der «identitätspolitischen» Selbstbeschreibung ein Beleg für mehr Individualismus oder als Mode gerade ein Kollektivphänomen? Womöglich lässt sich der Satz, die Gesellschaft bestehe aus Individuen, Atomen, Singularitäten, leichter hinschreiben, als ein vollständig individuelles Leben geführt werden kann.

Ein Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Joseph Stiglitz, schließt aus dem immensen Reichtum, den ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung genießt, bei abnehmenden Aufstiegschancen für alle anderen, ein Klassenkonflikt mit den restlichen 99 Prozent liege in der Luft. Die ökonomische Ungleichheit zehre den sozialen Zusammenhalt auf. Tatsächlich ist der Anteil des Einkommens, das im obersten Prozent der amerikanischen Haushalte erzielt wird, in den vergangenen vierzig Jahren von 7 auf 16 Prozent gestiegen, der Einkommensanteil der unteren 80 Prozent um 7 Prozent gesunken. Der Klassenkonflikt ist jedoch trotz zunehmender Armut und starker Plutokratie ausgeblieben. Eine Erklärung dieses Umstands wäre hilfreicher als die Behauptung, ein solcher Konflikt stehe unmittelbar bevor.

Andere meinen eine gesellschaftliche Spaltungslinie entlang der Mediennutzung und des «Digital Divide» zwischen Fernsehzuschauern, Zeitungslesern und den sich ausschließlich in sozialen Medien bewegenden Bürgern zu erkennen. Die Pandemie habe die digitale Spaltung der Gesellschaft verschärft, meint auch die Bertelsmann-Stiftung, weil die älteren Bürger in Umfragen mitteilen, das Internet sei für sie genauso wichtig wie zuvor – und nicht etwa wichtiger. Dass nur ein Viertel der Personen, die älter als sechzig sind, am «Digitalisierungsschub» teilgenommen haben wollen, ist für die Stiftung offenbar ein besorgniserregender Befund. Ein wenig liest sich das, als behaupte jemand, die Gesellschaft drifte auseinander, weil nur manche, aber nicht alle nicht bereit sind, den Fernsehapparat einzuschalten. Es scheint eine hohe Bereitschaft zu Spaltungsdiagnosen und nachgerade eine Angstlust daran zu geben.

Die Coronapandemie selbst hat Spaltungsbehauptungen in den Massenmedien zum alltäglichen Refrain gemacht. Einerseits verstärke sie Ungleichheiten, weil Personen je nach ihrem Einkommen, ihrer Wohnsituation, ihrer Kinderzahl, ihrem Geschlecht und ihrem Alter unterschiedlich stark von der Pandemie betroffen sind. Andererseits spalte sie inzwischen die Bürgerschaft in Geimpfte und Nichtgeimpfte. Eine Ethikerin bringt die 2G-Regeln der Epidemiebekämpfung in Zusammenhang mit einer Spaltung der Gesellschaft, weil durch diese Regeln dem ungeimpften Teil der Bevölkerung der Zugang zu Aktivitäten des guten Lebens genommen werde. Das gelte bei fehlender staatlicher Kostenübernahme für Coronatests auch für Bürger, die ungeimpft bleiben wollen, aber sich die Tests nicht leisten können.[1]

 

Die Belege für einen zunehmenden medialen, wissenschaftlichen und politischen Gebrauch der Begriffe «Spaltung» und «Polarisierung» wären leicht zu vermehren, aber wir halten an dieser Stelle inne. Beide Begriffe gehören zum Vokabular der Zeitdiagnose, in ihnen bündeln sich die Versuche, vor einer besorgniserregenden sozialen Entwicklung zu warnen. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos legt folgerichtig eine Umfrage vor, der zufolge fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die Gesellschaft für «zerrüttet» halten, was allerdings noch hinter den Zahlen aus Südafrika, Brasilien, Ungarn und den Vereinigten Staaten zurückbleibt. Am wenigsten gespalten empfinden ihr Gemeinwesen danach Südkoreaner, Italiener, Japaner und Kanadier.[2] Wer demgegenüber eine Polarisierung der Gesellschaft in Abrede stellt, befindet sich in einer Minderheitenposition. In Deutschland sind die entsprechenden Werte seit fünf Jahren stabil, zugleich befinden «nur» 47 Prozent aller deutschen Befragten, das Land sei im Niedergang, der viertbeste Wert unter fünfundzwanzig Nationen. Gespalten, aber ganz okay – der Demos der Demoskopie ist ein eigenartiges Wesen, vielleicht hat es mit den Fragetechniken zu tun.

Zum Anstieg der Spaltungsdiagnosen haben die Auftritte und Wahlergebnisse populistischer Parteien in den vergangenen zehn Jahren beigetragen. Der Brexit und die polnischen, ungarischen, britischen Regierungen, die AfD in den Jahren der stärksten Flüchtlingsaufnahme sowie die Zunahme rechtsradikaler und islamistischer Gewalt in Teilen Europas – dies alles hat die allgemeine Bereitschaft erhöht, sich in einer schon gespaltenen oder von Spaltung bedrohten Gesellschaft zu sehen. Der Populismus seinerseits pflegt ein entsprechendes Vokabular. Technokratische Kosmopoliten, eine globalisierte Klasse, die in einer «abgehobenen Parallelgesellschaft» lebe, so heißt es, regierten gegen das lokal gebundene Volk und seine nichtglobalen Interessen. Die Gesellschaft spalte sich in «Anywheres» und «Somewheres», in «Egal-wo»- und «Irgendwo»-Bürger.[3] Das Volk, das so angesprochen wird, wählt dann allerdings nicht überall populistisch, sondern in Deutschland zuletzt zu beinahe 90 Prozent andere Parteien. 90 Prozent «Anywheres» wird es aber wohl nicht geben. Das sogenannte Volk muss also selbst als gespalten bezeichnet werden, in Wähler von angeblichen «Systemparteien» und die bundesweit 10 Prozent des Protests gegen sie.

Wir kommen darauf zurück, ob in der Spaltungsdiagnose nicht die große Menge der Wechselwähler vergessen wird, die es in manchen Nationalstaaten gibt und die das Bild fester, einander feindlich gesonnener Blöcke relativiert.[4] Insbesondere Beschreibungen der Vereinigten Staaten, in denen die Wechselwähler nur eine Minderheit sind und in denen der Wahlerfolg Donald Trumps auf eine seit langem herrschende politische wie kulturelle Polarisierung zurückgeführt wird, bestätigen demgegenüber den Eindruck der gesellschaftlichen Spaltung. Interessant ist hier, dass solche Analysen oft darauf hinauslaufen, dieser Wahlerfolg hätte vorhergesehen oder zumindest nicht für unwahrscheinlich gehalten werden können.[5] Trumps Wahl kam jedoch für die meisten Beobachter als Überraschung. Everything is obvious, once you know the answer – alles ist ganz offensichtlich, sobald du das Wahlergebnis kennst, wäre hier ein Buchtitel zu übersetzen.[6] Das spricht nicht gegen eine gesellschaftliche, also mehr als nur politische Spaltung der Vereinigten Staaten, aber es macht aufmerksam darauf, wie abhängig solche Diagnosen oft von der Wahrnehmung einzelner Ereignisse sind.

Googeln wir «Spaltung der Gesellschaft» und beschränken uns also auf den deutschen Sprachraum. Wir erhalten am 25. Juli 2022 ganze 5,7 Millionen Ergebnisse. Ein Drittel der deutschen Bevölkerung, heißt es in einem der Treffer, gehöre einer Studie der Universität Münster zufolge zwei extrem verhärteten Blöcken an: entweder dem Lager der «Verteidiger», die sich eine ethnisch und religiös homogene Bevölkerung wünschen und sich durch Fremde bedroht fühlen, oder dem der «Entdecker», die mit der Demokratie ganz zufrieden seien, keine Fremdenangst oder Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen hätten. Über diese Studie wird weithin berichtet und stets in dem Sinn, dass das Land in zwei Extreme, Blöcke, Lager gespalten sei.[7]

In der Studie selbst wurden insgesamt fünftausend deutsche, französische, polnische und schwedische Bürger in Deutschland nach ihren Einstellungen zu Fremden, Migration und zur Demokratie befragt. Das Ergebnis war, dass 14 Prozent der Befragten «Entdecker» seien, 20 Prozent «Verteidiger». Damit wären immerhin 66 Prozent der deutschen Bevölkerung keinem der Extreme zuzuordnen. In Frankreich waren es nur 25 Prozent der Befragten – 11 Prozent «Entdecker», 14 Prozent «Verteidiger» –, die sich ihnen zuordnen ließen, in Polen hingegen 72 Prozent (45 Prozent «Entdecker», 27 Prozent «Verteidiger»).

Eine Frage, die sich aufdrängt, wäre darum, inwiefern eine «übergreifende gesellschaftliche Konfliktlinie» vorliegt, wie es in der Studie heißt, wenn zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sich gar nicht in diesem Konflikt engagieren. Sind zwei Drittel im Vergleich mit Polen viel oder im Vergleich mit Frankreich wenig? Man muss die Polarisierung nicht untertreiben wollen, um solche Rückfragen zu haben. Anders gefragt: Mit welchen Zahlen wären wir zufrieden, bei welchen Zahlen wären wir nicht alarmiert? Oder sind wir inzwischen unter allen Umständen alarmiert?

Schaut man sich die Studie aus Münster näher an, die Hinweise auf eine Spaltung der Gesellschaft geben soll, so spricht sie von «substantiellen» Anteilen der Bevölkerung, die polarisiert seien. Zugleich finden sich Formulierungen wie diese: «Wenn auch die Gruppe derjenigen, die dem Prinzip der ethnisch-religiösen Zugehörigkeit [also der These, dass es in Nationalstaaten Obergrenzen für die Mitgliedschaft von Bürgern anderer ethnischer Herkunft und Konfession geben sollte] umfassend und nahezu vorbehaltslos zustimmen, in drei der vier Länder eine klare Minderheit darstellt, so ist die Gesamtheit derjenigen, die ein solches enges, auf Homogenität abzielendes Verständnis von nationaler Zugehörigkeit zumindest in Ansätzen vertreten, doch durchaus erheblich.»[8] Ein langer, aber dennoch unklarer Satz. Die Gruppe der Homogenitätsfreunde sei eine deutliche Minderheit, aber zusammen mit denen, die eine mittlere Zustimmung zur homogenen Gesellschaft – oder eine Zustimmung zu mittlerer Homogenität? – äußern, sei sie «doch durchaus erheblich». In der Berichterstattung über die Studie werden dann die «klare Minderheit» ebenso wie die mittleren Positionen weggelassen. Mitunter auch von Autoren der Studie selbst, wenn sie vor Mikrophone treten. Etwas Bedrohliches mitteilen zu können, scheint eine große Faszination auszuüben.[9]

Die ältere Frage war, was die Gesellschaft, oder wenn man den Plural will: was Gesellschaften zusammenhält. Oft wird formuliert: was sie noch zusammenhält. Anscheinend besteht der Eindruck, früher seien die westlichen Gesellschaften stärker integriert gewesen. Durch «gemeinsame Werte», wird dann gern gesagt, obwohl eine Reihe dieser Werte nach wie vor auf allen Seiten denkbarer Spaltung hochgehalten wird. Es sind nicht viele Bürger ernsthaft gegen Freiheit, Wohlstand, Gesundheit, faire Bezahlung oder Gleichberechtigung der Geschlechter. Überdies hat jeder Wert seinen Gegenwert, der auch geschätzt wird.[10] Werte führen insofern leicht zum Streit darüber, welcher von ihnen denn gerade den Vorzug erhalten soll. Und schließlich ist die Zahl der ins Feld geführten Werte eher gewachsen als geschrumpft, man denke nur an Nachhaltigkeit oder an die Rücksichtnahme auf geschlechtliche Selbstbezeichnung. Werteverfall als solcher kann es mithin kaum sein, der die spaltungsbedrohte Gegenwart von angeblich stärker integrierten Vergangenheiten unterscheidet.

Doch bevor man das Heute mit dem Gestern sinnvoll vergleichen kann, bedarf es einer zutreffenden Beschreibung der Gegenwart. Heute, so die gängige Diagnose, herrschten die Polarisierung von Gruppen, der unvermittelbare Dissens und die Kompromisslosigkeit. Die Anlässe für diese Beobachtung sind vielfältig: krasse Einkommens- und Vermögensunterschiede, rassistische Gewalttaten, abfällige Redeweisen im Internet oder bei Theaterproben, das vermutete Verschwinden der Mittelschicht, religiöse Fundamentalismen. Mitunter ist davon die Rede, es existierten inzwischen «Parallelgesellschaften», vor allem in den Städten.

Dieser Eindruck soll hier geprüft werden. Nicht nur, weil die Dramatik der Behauptung, die Gesellschaft stehe vor tiefen Spaltungen, generell eine solche Überprüfung verdient. Sondern des Näheren auch, weil es wichtig erscheint zu klären, ob sich diese Dramatik einer rhetorischen Absicht oder einer Analyse verdankt. Stehen wir im Bann massenmedial angeregter Unruhe, oder ist das Eis, auf dem wir uns befinden, tatsächlich so dünn, dass jederzeit mit Brüchen gerechnet werden muss?

In die Diagnose der von Spaltungen bedrohten Gesellschaft gehen eine ganze Reihe ungeklärter Voraussetzungen ein. Sie sind zum einen empirischer Art: Schrumpft die zwischen Extremen ausgleichende Mittelschicht wirklich, und wie stellt man überhaupt fest, wer zu ihr gehört? Wenn das islamisch dominierte Viertel in Berlin-Neukölln eine Parallelgesellschaft ist, muss dann nicht auch das Villenviertel im Grunewald so bezeichnet werden? Oder gibt es Unterschiede, die den asymmetrischen Begriffsgebrauch rechtfertigen? War jene vergangene Zeit, in der die Gesellschaften angeblich stärker integriert waren, womöglich nicht durch mehr Konsens gekennzeichnet, sondern bloß durch andere Konflikte und Ungleichheiten?

Hinzu kommt begrifflicher Klärungsbedarf. Was soll es beispielsweise bedeuten, wenn es heißt, Gesellschaften seien davon bedroht auseinanderzufallen? Es gibt Dissens, es gibt Konflikte und es gibt Gewalt in jedem modernen Gemeinwesen, und zwar seit jeher. Außerdem gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Individuen, den Haushalten, den Wohnquartieren. Solche Unterschiede allein reichen jedoch selbst dann nicht aus, nationalstaatliche Verbünde zu zerstören oder die Rede vom Zerfall einer Gesellschaft zu rechtfertigen, wenn drastische Armut drastischem Reichtum gegenübersteht, die Bildungsdifferenzen groß sind oder die Lebensweisen in einer Bevölkerung stark voneinander abweichen. Die Gesellschaft, so kann man sagen, besteht aus Ungleichheiten. Was also heißt «Zusammenhalt» und «Zerfall», wenn etwas anderes gemeint sein soll als das Unbehagen an den Unterschieden der Gesellschaft oder an ihrem Zurückbleiben hinter politisch formulierten Erwartungen?

Dabei stellt sich die Frage, unter welchen Umständen Ungleichheit zu Polarisierung führt. Ein Argument des Buches wird sein, dass Polarisierung erst eintritt, wenn Ungleichheiten sich bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen häufen. Wenn also die Tatsache, schwarz, katholisch oder eine Frau zu sein, auf dem Dorf zu leben oder keinen Hochschulabschluss zu haben, über alle möglichen anderen Eigenschaften einer Person entscheidet: ihre politischen Einstellungen, ihr Einkommen, ihre Chancen im Wohlfahrtsstaat und vor Gericht, ihr Heiratsverhalten, ihre Lebenserwartung und so weiter.

In der Soziologie wird an dieser Stelle oft von gesellschaftlicher «Versäulung» gesprochen. Der Begriff kam vor mehr als siebzig Jahren in den Niederlanden auf, um eine Situation zu beschreiben, in der von der konfessionellen Zugehörigkeit einer Person auf ihre gesamte Kommunikation geschlossen werden konnte. «Man kannte ja niemanden, der nicht katholisch war», ist eine typische Aussage für diese Situation innerhalb der katholischen Säule. Hier fanden sich Unternehmer, Arbeiter, Bauern, Gewerkschaften, Radioanstalten, Zeitungen, Schulen etc. – und dasselbe in der protestantischen oder der sozialistischen Säule.

Ähnliche Analysen liegen heute zu den Vereinigten Staaten vor, die vielfach als «gespaltene Nation» beschrieben werden. Nicht nur stehen sich Demokraten und Republikaner unversöhnlich gegenüber, ihre Wählerschaft scheint ebenfalls versäult und einander feindlich gesonnen. Das heißt unter anderem, dass sie einander kaum begegnen, weder in den Familien noch in den Stadtquartieren. Demokraten wohnen in den Städten, Republikaner auf dem Land. Die Migration kommt den Demokraten zugute, Republikaner sind weit überwiegend weiß. Man denkt entlang solcher Unterschiede. Glaubt man Umfragen, denken Republikaner mehrheitlich, ein Drittel aller Demokraten sei nicht heterosexuell (es sind kaum mehr als 5 Prozent). Demokraten wiederum schätzen, dass mehr als ein Drittel der republikanischen Wähler mindestens 250000 Dollar im Jahr verdient (es sind 2 Prozent). Polarisierung ist also ein Prozess, der durch wechselseitige Unkenntnis oder besser: wechselseitig irrtümliches Bescheidwissen verschärft wird.

Rund um den Brexit wurden auch in Europa solche Klumpenbildungen diskutiert: Stadt/Land, jung/alt, wohlhabend/prekär, gebildet/weniger gebildet waren hier die Unterscheidungen, die stark untereinander zusammenhingen. Doch auch solche Verknüpfungen vermitteln schnell ein zu eindeutiges Bild. Für den Brexit stimmten rund 52 Prozent der Wähler, dagegen waren rund 48 Prozent. Die Großstädte waren mehrheitlich dagegen, aber in den Großstädten gab es zugleich hohe Zahlen an Befürwortern; in London fast 40 Prozent, in Liverpool ebenso, in Birmingham und Leeds betrug der Vorsprung der Brexit-Gegner kaum mehr als ein Prozent. Insofern kann wohl kaum von einem klaren Stadt-Land-Gegensatz gesprochen werden, auch wenn in Yorkshire mitunter fast drei Viertel der Stimmen für «Leave» waren. Es gibt eben unter den Städtern auch Alte, Arme, Unstudierte, so wie es unter den Jungen auch Landbewohner und unter denen mit höherem Abschluss auch Alte gibt.

Im Folgenden soll gefragt werden, wie es zu solchen polarisierungsnahen Situationen kommen kann, welche gesellschaftlichen Kräfte dem entgegenstehen, und ob den westeuropäischen Gesellschaften eine ähnliche Entwicklung wie in den Vereinigten Staaten droht. Dabei ist es wichtig, Polarisierung nicht nur (partei)politisch aufzufassen. In Deutschland, wo die Wechselwählerschaft eher zunimmt, wird beispielsweise nach wie vor die Ost-West-Unterscheidung als ein prominenter Schlüssel für Karrieren in allen möglichen Bereichen betrachtet. Ob sich das etwa auf die Ebene der Familien, der Mediennutzung und der religiösen Einstellungen übertragen lässt, ist zu klären. Dasselbe gilt für eine der ältesten Behauptungen, die Gesellschaft steuere auf einen Konflikt zweier Interessengruppen zu. Die Bedeutung, die der Unterscheidung von Arbeit und Kapital, mithin der These von der Klassengesellschaft zukommt, in der wir angeblich leben, ist unklar. Einfach nur nachzuweisen, dass es Unterschichten gibt, dürfte nicht ausreichen. Denn für einen gesamtgesellschaftlichen Konflikt braucht es mehr als statistisch ermittelte Ungleichheiten, nämlich eine Umsetzung solcher Unterschiede in Aktionen. Existiert also die unterdrückte Klasse nicht nur an sich, sondern auch für sich? Wenn Klassen existieren, spalten sie und ihr kapitalbesitzendes Gegenüber also die Gesellschaft auch außerhalb intellektueller Beschreibungen? Und wenn nicht, woran liegt das?

Auch in Teilbereichen der Gesellschaft findet sich das Motiv der Polarisierung und ihrer Verhinderung. Die Familie beispielsweise fasst Personen quer zur Alters- und Geschlechterunterscheidung zusammen. So verhindert diese quasi natürliche Abgrenzungslinie die gesellschaftliche Entgegensetzung. Aus der Unterscheidung von Jung und Alt sowie Mann und Frau lassen sich nicht beliebige Oppositionen ableiten, wenn es Familien gibt. Die elementarste Form der «Mischehe» wäre, so gesehen, der Zusammenschluss zwischen Mann und Frau. Eine modernere Lesart desselben Gedankens: Der Feminismus erreicht keine allgemeine Gegnerschaft der Frauen gegen die Männer, weil die Erfahrung mit Letzteren in Familien und Ehen einer solchen Frontlinie entgegensteht. Radikale Feministinnen haben gelegentlich die These vertreten, die Konsequenz des politischen Kampfes gegen die vermeintliche Herrschaft der Männer sei die weibliche Homosexualität. Bei freier sexueller Selbstfestlegung der Frau bestehe umgekehrt keine Möglichkeit einer durchgehenden Ablehnung des Mannes. Das Konzept radikaler Spaltung hat sich nicht durchgesetzt.

Ganz analog kann gefragt werden, ob Formen des Generationskonflikts in ihrer Heftigkeit mit dem Grad der Erlaubtheit beziehungsweise Unerlaubtheit einer offenen Gegnerschaft gegen die Eltern innerhalb der Familien zusammenhängt. Anders formuliert: Was ermutigt zu starken Polarisierungen der (älter werdenden) Jungen gegen die (jung geblieben sein wollenden) Alten, und was entmutigt dabei eher? Ein Kapitel des Buches wird sich in diesem Sinne der Kombination von «alt», «weiß» und «Mann» zuwenden: als Beispiel für eine symbolische Gruppenbildung.

Es gibt gesellschaftliche Konflikte, die die Gesellschaft nicht spalten. Es gibt solche, die sie spalten, etwa wenn sie die Form von Kriegen annehmen. Es gibt umgekehrt Spaltungen ohne einen ersichtlichen Unterschied zwischen den Konfliktparteien. Und es gibt als extreme Variation davon den Rassismus, eine Unterscheidung um der Spaltung willen. Alle diese Formen und ihre Spielarten auseinanderzuhalten, ist eine Absicht der folgenden Darstellung.

Schließlich ein Hinweis auf unversöhnliche Konflikte, die in der Öffentlichkeit, also vor laufenden Kameras, ausgetragen werden. Kontroversen, in denen die Beiträge aufgrund von anderen Rollen und vorgängigen Engagements der Teilnehmer festgelegt sind, also durch das Gespräch selbst nicht variiert werden können, kennt man aus Parlamenten und Talkshows. Sie werden normalerweise an der Ideologie der offenen Diskussion gemessen und als Abweichung von deren Ideal verworfen. Nach den Funktionen der expressiven Darstellung des politischen Konflikts und seiner Parteien wird dann nicht gefragt. Es lohnt sich aber die Frage, wie solche Formen einer Versäulung von Gesprächen mit spezifisch politischen Konflikten, an die wir gewöhnt sind, sich von den Eklats der Cancel Culture und ihrer Polarisierungsspiele unterscheiden. Anders formuliert: Wie viel an den Diagnosen «Spaltung» und «Polarisierung» kann empirisch belegt werden, wie viel davon ist hingegen eine auf massenmediale Darstellungen einschließlich der Mikrobotschaften in sozialen Medien abzielende Rhetorik?

Die Absicht der folgenden Überlegungen ist also eine doppelte. Es geht zum einen darum zu zeigen, was soziologisch zur Frage bekannt ist, wann und wodurch in Gesellschaften Polarisierungen oder Spaltungen auftreten, die nicht bloß Konflikte sind, die auf Ungleichheiten beruhen. Denn es ist ja nicht so, als gäbe es kein Wissen in dieser Frage und als müsste die Beschäftigung mit ihr zwangsläufig aus dem Moment heraus und vermeintlich spontan erfolgen.

Zum anderen soll eine Reihe von Konflikten betrachtet werden, die gegenwärtig beanspruchen, die Gesellschaft als ganze zu betreffen und zu spalten. Dabei folgen wir der Vermutung, die Rede von der gespaltenen oder von Spaltung bedrohten Gesellschaft diene einerseits vor allem dazu, Aufmerksamkeit für bestimmte Konflikte und Interessen zu erzeugen und dabei von der Tatsache abzulenken, dass es derzeit keinen dominanten gesellschaftlichen Konflikt gibt. Die Spaltungsbehauptung dient der Konfliktaufwertung. Andererseits scheint es, als habe die Rede von drohender Spaltung die Funktion, das Unterlassen politischer Entscheidungen zu rechtfertigen. Wenn beispielsweise eine Impfpflicht die Gesellschaft spaltet, glaubt man nicht nur leichter von harten Maßnahmen gegen Impfunwillige Abstand nehmen zu können, sondern sieht es geradezu geboten, solche Folgen zu vermeiden. Als 1919 in ganz Deutschland die Schulpflicht eingeführt wurde, kam man nicht auf dieses Argument oder führte sie trotz etwaiger Spaltungen ein, Gleiches galt für die Gurtpflicht 1976 oder 1909 für die Pflicht, eine Führerscheinprüfung ablegen zu müssen. Unabhängig davon, ob man nun für oder gegen eine Impfpflicht, Schulpflicht, Gurtpflicht oder Wehrpflicht ist, weicht die Sorge, eine politische Entscheidung spalte das Land, vor allem befürchteten Konflikten aus. Wenn Spaltung hingegen ein viel unwahrscheinlicherer Fall ist und nur starker Dissens, aber nicht Zerrüttung oder Retribalisierung der Gesellschaft droht, gewinnt man einen anderen Blick auf den intellektuellen Bürgerkrieg, von dem behauptet wird, wir befänden uns mitten in ihm.

1Zusammenhalt oder Was wird überhaupt gespalten?

Was wird vermisst, wenn soziale Spaltung behauptet oder zumindest befürchtet wird? Geht es nur um scharfen Dissens und das unstillbare Verlangen mancher, in einer ganz anderen Gesellschaft zu leben? Oder geht es mehr als um Meinungen um Handlungen, die viel beschworene Abwendung von der Gesellschaft etwa, die diagnostiziert wird, wenn Jugendliche zeitweise, Sekten dauerhaft ein Desinteresse an überlieferten Lebensweisen zeigen und die Kommunikation mit dem Rest wenn nicht abbrechen, so doch stark reduzieren? Welches Ganze droht denn überhaupt zerlegt zu werden? Und in wie viele Teile? Es gibt ganz unterschiedliche Vorstellungen von einer nicht gespaltenen, sondern vereinten Gesellschaft, die hier als Antwort angeboten werden.

Soziale Gebilde unterscheiden sich in der Frage, wie viel offenen Streit unter ihren Mitgliedern sie zulassen können, ohne dadurch in eine Krise zu geraten. Am meisten stören Konflikte unter den jeweils Anwesenden. Wenn zwei von ihnen sich streiten, können die anderen währenddessen nicht einfach etwas anderes tun. Das Gespräch selbst wird zum Streit. Wie jeder weiß, können Familienfeste oder persönliche Freundschaften durch offenen Streit ruiniert werden. Auch heute noch sind gesprächsdichte Kleinsysteme in dieser Weise konfliktempfindlich, und auch heute noch mag ihre Moral daher ausgesprochen konfliktfeindliche Züge tragen. Sie empfiehlt dann beispielsweise, streitnahe Themen besser gar nicht erst aufzugreifen.

In den Anfängen ihrer Entwicklung war auch die Gesellschaft selbst ein solches Kleinsystem. Stammesgesellschaften waren, nach einer Formulierung des Historikers Peter Laslett, Face-to-Face-Societies.[1] Einige von ihnen waren so klein, dass sie für jedes ihrer Mitglieder aus lauter bekannten Personen bestanden. Die sozialen Beziehungen waren eng, dicht und rollenübergreifend. Man hatte es beim Ritual und auf der Jagd, beim Gabentausch und auf Kriegszügen mit immer denselben Personen zu tun. Konflikte ließen sich unter diesen Umständen kaum besser isolieren als unter Anwesenden, und eine Moral der Konfliktscheu, der Nachgiebigkeit und der Vermeidung des offenen Neinsagens schützte damals nicht nur den Interaktionsfrieden, sie integrierte die Gesellschaften selbst.

Erst an vorneuzeitlichen Hochkulturen hat man gelernt, dass große Sozialsysteme ein anderes Verhältnis zu Konflikten haben als kleine. Sie sind durch offenen Streit sehr viel schwerer zu gefährden und können ihn daher auch zulassen, ja, ausdrücklich dazu ermuntern: Lass dir bloß nichts gefallen! Die Moral des Jasagens ist dann keine Maxime für alle Lebenslagen mehr, sie muss durch eine Moral des Neinsagens ergänzt werden. Man muss beispielsweise nein sagen können, um sich gegen Zumutungen zu schützen, und der Umstand, dass es zwischen vielen möglichen Gegnern die festen Bande nicht gibt, die ein Konflikt zerreißen könnte, erleichtert es, ihn zu beginnen.

Man kann sich die Trennung von Gesprächsmoral und Gesellschaftsmoral auch an der zunehmenden Vielfalt von Rollenpartnern vor Augen führen, die vor Gericht zu ziehen man keinerlei prinzipielle Hemmungen hätte. In sehr vielen Stammesgesellschaften gab es die soziale Rolle des Richters noch nicht, aber auch in manchen Hochkulturen des asiatischen Raums, die sein Amt bereits kannten, hatten die streitentscheidenden Dritten mitunter nur wenig zu tun, weil sie anzurufen als Bruch mit der lokalen Gemeinschaft galt und darum von den Leidtragenden eines lokalen Unrechts nicht so leicht gewagt wurde. Heute konzentrieren sich die Hemmungen dieser Art auf den Bereich der intimsten Kontakte. Hier fürchtet man, dass ein Gerichtserfahren, wie immer es ausgehe, der Ehe oder der Familie nur schaden könne. Und hier verzichtet man daher auf die Durchsetzung eigener Rechte, wenn man die Sozialbeziehung überhaupt schätzt und fortsetzen will. Wie jeder Polizist weiß, werden Klagen gegen häusliche Gewalt häufig zurückgezogen. Fehlt dagegen das Fortsetzungsinteresse, kann man sich mit gerichtlicher Unterstützung auch gegen den Ehepartner oder die Eltern wehren.

Die klassische soziologische Differenz ist aber nicht die zwischen Gespräch und Gesellschaft, sondern jene zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie der Soziologe Ferdinand Tönnies schon vor einhundertdreißig Jahren aufgebracht hat.[2] Sie bestimmt mehr oder weniger ausdrücklich noch heute die Rede über Spaltung, Zentrifugalkräfte, Verlust an Zusammenhalt. Gesellschaft wird dabei als Feld der bejahten Unterschiede, der Konkurrenz, der normalen Differenzen und auch der Indifferenzen, also des gleichgültigen, kühlen oder, freundlicher gesagt, neutralen Verhaltens unter Personen bezeichnet. In der Gesellschaft begegnen sie sich diesem Bild zufolge zumeist reserviert, abwartend, auf Distanz.

Gemeinschaft hingegen soll vorliegen, wo das soziale Leben auf Verwandtschaft, Freundschaft, Zuneigung und anderen affektiven Beziehungen beruht, auf Nähe und gemeinsamer Herkunft. In der Gesellschaft werde getauscht und gerechnet, hieß es bei Tönnies, in der Gemeinschaft wechselseitig geteilt und geholfen. Ein Stamm wäre, so gesehen, eine Gemeinschaft, die zu anderen Stämmen, etwa durch Handel oder Krieg, ein gesellschaftliches Verhältnis unterhält. Das bedeutet nicht, dass es innerhalb von Gemeinschaften keine Konflikte gibt. Aber das Konfliktverhalten ist gehemmt, der Streit wird überwölbt von dem Gefühl, zusammenzugehören und füreinander einzutreten.

Dieses Gefühl ist zumeist auf lokale Gemeinschaften eingeschränkt, denen es leichtfällt, ihre Mitglieder von Fremden zu unterscheiden. We are family. Das heißt: Wir können Zuneigung und Beistand nicht auf beliebig viele Personen ausdehnen. Fremde gehören dann zur Gesellschaft, aber nicht zur Gemeinschaft. Man kann mit ihnen Geschäfte machen, gegen sie gewalttätig vorgehen oder sich von ihnen helfen lassen. Sie können Gäste sein und unter dem Schutz ihrer Gastgeber stehen, aber es wird angenommen, dass sie irgendwann weiterziehen oder ihren Status als Gäste verlieren. «So wird’s mir gehen, dass mich totschlage, wer mich findet», klagt der von seinem Land vertriebene Kain zu Gott (1. Mose 4,14), der darauf antwortet, wer dem Nomaden etwas antue, solle siebenfach bestraft werden. Das Unbekannte gilt mithin als bedenklicher Fall, für den eigene Maßnahmen getroffen werden müssen, weil von denen, die nicht der Gemeinschaft angehören, Unsicherheit ausgeht. Für den Fremden gelten darum zunächst andere Regeln als für die Stammesmitglieder. Hält er sich jedoch länger auf, kann er zu Arbeit herangezogen werden, oder freundlicher mit einem angelsächsischen Sprichwort aus den Gesetzen von König Eduard dem Bekenner formuliert: «Twa night gest, thrid night agen hine» – zwei Nächte lang ist man ein Gast, nach der dritten Nacht gehört man zur Familie, ist man «eigen». Aus den dem Fremden gewährten Schutzrechten entstehen Dienstpflichten.[3] Oder die Neuankömmlinge werden speziellen Ritualen unterzogen, um sie in die Gemeinschaft aufzunehmen, wie es auch in britischen Internaten und bei den Freimaurern üblich ist.[4] Die durch Fremde berührte Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft muss also zügig beseitigt werden.

 

Nun leben wir aber zumeist nicht mehr in Stämmen. Die Gegenwart von Fremden ist weithin normal. Die Stadt als weitverbreiteter Lebensraum impliziert die Anwesenheit großer Mengen von Unbekannten. Im Begriff der Menschheit und der Menschenrechte ist die Überzeugung grundsätzlicher Gemeinsamkeiten verankert, die alle Mitglieder der Gesellschaft weltweit verbindet. Neu Zugezogene müssen nicht in ansässige Familien integriert werden, sondern vor allem in den Arbeitsmarkt, in das Bildungssystem und in die Rechtsgepflogenheiten. Wenn sie einer anderen Konfession anhängen als den ortsüblichen, fällt daran zunächst auf, dass sie überhaupt und anders als rund 40 Prozent der Deutschen einer Konfession anhängen. Wer darüber hinaus im strikten Sinne auf der sozialen und kulturellen Ähnlichkeit seiner Zeitgenossen bestünde, käme vor lauter Aufregung über abweichende Erfahrungen kaum noch zum eigenen Leben. Wer gegenüber Migranten das Abendland ins Spiel bringt, übersieht insofern nicht nur, dass Christus ein Morgenländer war, sondern übertreibt auch das Abendländertum von Pegida-Demonstranten. Die Bemühungen, eine Leitkultur zu behaupten, zu der die Kenntnis wie Bewunderung von evangelischer Kirchenmusik oder Goethes Dichtung gehören soll, laufen auf dieselben Rückfragen zu: Wie viele Inländer wären nach diesen Kriterien integriert?

Die Übertragung von Erfahrungen des Miteinanders aus kleinen sozialen Verbünden – etwa der Jugendbewegung um 1900, der Kameradschaft im Krieg, von Sekten oder Familien – auf Staaten, Parteien, Firmen oder Universitäten weckt unerfüllbare Erwartungen an gesellschaftliche Einheit. Das zeigt sich auf den verschiedensten Gebieten. Besonders illustrativ sind die Erfahrungen, die mit dem Begriff der «Volksgemeinschaft» gemacht wurden, der einer von Konflikten, Konkurrenzen, Individualismus und sozialen Differenzierungen bestimmten Gesellschaft entgegengesetzt worden ist.[5] «Volk» lief im frühen 20. Jahrhundert der Nation als Integrationsbegriff den Rang ab. Die damit einhergehende Bestimmung des Volkes als einer ethnisch homogenen Abstammungsgemeinschaft, deren Wille zu verkörpern sei – etwa im Reichspräsidenten der Weimarer Republik – und nicht in wechselnden Mehrheiten und Streitereien repräsentiert werden könne, bahnte letztlich der Abweisung, Vertreibung und schließlich Tötung «gemeinschaftsfremder» Bürger den Weg sowie der Durchsetzung erpresster Zustimmung. Die Gemeinschaft wurde denen, die sich ihr nicht zugehörig fühlten, angeordnet. Das war ein giftiges Erbe des Ersten Weltkriegs. Kriege können über die inneren Differenzen und Differenzierungen einer Gesellschaft kurzzeitig hinwegtäuschen, beseitigen sie aber nicht.

Auf einem ganz anderen Gebiet und unter ganz anderen Umständen ist die These ausprobiert worden, clanförmig organisierte Firmen, in denen die Mitarbeiter sich mit Haut und Haaren von der Organisation beanspruchen lassen, führten zu höherer Produktivität. Gemeinschaft zahle sich aus. Das geschah in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck, die besondere, gemeinschaftliche Züge tragende japanische Unternehmenskultur (geringe Personalfluktuation, kollektive Entscheidungsfindung, nichtspezialisierte Karrieren, Kontakte der Mitarbeiter auch nach Ende der offiziellen Arbeitszeit) erkläre den Erfolg japanischer Firmen. Doch zum einen sind nicht einmal Familienbetriebe Familien, sondern folgen Rationalitäten, die ihnen nicht die Gemeinschaft, sondern die Konkurrenz, die Kundschaft und die Finanzwirtschaft vorgeben. Und zum anderen wurde auf gewichtige technologische und wirtschaftspolitische Gründe für den damaligen Erfolg japanischer Firmen hingewiesen, die ganz unabhängig von ihrem Managementstil und Gemeinschaftsgefühlen in ihrer Belegschaft waren.[6]

Oder nehmen wir Jugendgangs, die Straßenzüge als Reviere ihrer Gemeinschaft beanspruchen. Sie stoßen bald auf den Rechtsstaat, der zwischen Jets und Sharks keinen Unterschied macht oder jedenfalls nach seinen eigenen Normen keinen machen sollte. Fußballfans der Sorte «Ultras» wiederum können ihre stammesförmige Gemeinschaftsbildung nur rund um den Sport ausleben, die Unterscheidung zwischen Herne-West (für Gelsenkirchen) und Lüdenscheid-Nord (für Dortmund) aber nicht der gesamten Gesellschaft oder auch nur der Kommunalpolitik aufzwingen. Sie müssen sogar im Sport tapfer sein, da es erkennbar weder eine Gemeinschaft zwischen ihnen und den Spielern gibt noch die meisten Spieler Einheimische sind und mitunter sogar dann, wenn sie «aus dem Verein kommen», zu feindlichen Stämmen wechseln.

Familien schließlich, das Urbild von Gemeinschaft, sind schon lange keine großen Verwandtschaftsverbände mehr, durch die geregelt wird, wer in ihnen welche Ressourcen erhält, wer welchen Beruf ergreift, wer wen heiratet und als Mitglied zugelassen wird. Die Steigerung der Ansprüche an Intimität ging in der Geschichte der Familie mit ihrer allmählichen Verkleinerung einher. Zugleich erweiterte sich der Kreis der in Betracht kommenden Heiratspartner. Der europäische Hochadel mag zwar in manchen seiner Ausprägungen noch so tun, als könne die alte Welt eines verwandtschaftlichen Lebens, das mit den Funktionserfordernissen der modernen Gesellschaft nicht mehr eng verknüpft ist, aufrechterhalten werden. Doch wenn die Eltern der Herzogin von Cambridge einen Handel für Partyzubehör betreiben und die Herzogin von Sussex eine amerikanische Fernsehschauspielerin ist, die der Herzog über ein arrangiertes «Blind Date» kennengelernt hat, lockern sich offenbar selbst hier die Kriterien für Mitgliedschaft und gleichen sich denen von Kleinfamilien an: All you need is love.

Kurz: Der Zusammenhalt moderner Gesellschaften kann nicht durch einen gemeinschaftlichen Sinn hergestellt werden. Dazu sind solche Gesellschaften intern zu vielfältig, dazu ist ihre Bürgerschaft zu inhomogen und zu mobil, dazu lebt sie zu sehr von Konflikten und Konkurrenzen, von Abweichung und von Eigensinn. Niemand könnte auch nur über einen städtischen Platz gehen oder in einen Supermarkt, würden durch die dort anwesenden Unbekannten Gemeinschaftsprobleme aufgeworfen. Erwartungen an Gemeinschaftlichkeit sind zu anspruchsvoll, um mit allen anderen Erwartungen an Freiheit, Arbeitsteilung oder Beweglichkeit kombiniert werden zu können. Das Verhältnis zu den meisten Mitmenschen ist eines unproblematischer Fremdheit, eines der Nichtbeachtung von und des routinierten Umgangs mit Unbekannten, eines von «Indifferenz und Minimalsympathie», wie es der Soziologe Rudolf Stichweh formuliert hat.[7] Lokale Stammessolidarität existiert, aber sie ist funktional und räumlich begrenzt und nicht beliebig belastbar. Man lebt beispielsweise auf der Insel Föhr nicht nur als Nordfriese im Gegensatz zu allen Fremden, sondern lebt im langen Sommer auch von ihnen, also vom Tourismus, was schnell Spannungen zwischen Heimatpflege, Grundstücksverkauf, nach außen gerichteter Folklore und Konkurrenz im Gaststättengewerbe auftreten lässt.

Diese Relativierung von Gemeinschaft macht sich auch über räumliche Distanzen hinweg geltend. Inwiefern bildet denn die Krankenpflegerin in Schleswig-Holstein eine Gemeinschaft mit der Steuerberaterin in Thüringen oder dem Gastwirt in Hessen und alle drei mit einem Finanzbeamten aus Rheinland-Pfalz? Dass sie untereinander einen Zusammenhalt haben, kann nicht durch ihre ethnischen Herkünfte, ihren Wohnort, ihre Familie, ihr Alter oder ihr Geschlecht begründet werden. Vielmehr muss zur Erläuterung des Zusammenhangs, der zwischen solchen Bürgern besteht, einerseits auf kühle Kategorien wie Grundgesetz, Steuerzahler, Wohlfahrtsstaat, Subventionsempfänger und Wahlberechtigte zurückgegriffen werden. Andererseits ist klar, dass sie gerade nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch ihre Unterschiede miteinander zusammenhängen. Die Arbeitsteilung ist ein typischer Fall solcher Unterschiede, die integrative Folgen haben, weil gerade arbeitsteilig lebende, sich nicht selbst versorgende Personen stark aufeinander angewiesen sind.

Es wird also durch starke Konflikte zumeist keine Gemeinschaft gespalten, denn wir unterhalten gar kein starkes gemeinschaftliches Verhältnis zu den allermeisten unserer Mitbürger. Vielmehr nehmen wir an, dass sie in Hunderten von Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens eigene und mit uns unabgestimmte Festlegungen treffen. Die Begründungslast liegt bei denen, die Einheitlichkeit zur Vorschrift machen wollen, also beispielsweise ein bestimmtes Familienbild, Bekleidungsnormen im öffentlichen Dienst, Sorten von Ernährung oder Sexualität, eine Begrenzung religiöser Ausdrucksformen. Im Normalfall wird Toleranz bis zu dem Punkt abverlangt, an dem der Freiheitsgebrauch der einen in die Rechte anderer eingreift. Darüber hinaus kann es dann noch Missbilligung oder sogar moralische Verachtung geben, die allerdings auf die Formen der schlechten Rede über andere eingeschränkt sind.

Demgegenüber gibt es selbstverständlich lokalen politischen Streit, der Risse durch eine Gemeinde legen kann. Kommunalpolitische Entscheidungen über die Ansiedlung von Industrien, Einrichtungen des Fremdenverkehrs oder der Energieversorgung, Maßnahmen des Straßenbaus oder Asylantenheime sind geeignet, solche Fronten hervorzubringen. Es ist dabei schwer, den Gemeinsinn selbst als Argument anzuführen. Wenn aber der soziale Zusammenhalt im Normalfall keine gemeinschaftliche Form hat, dann leidet er auch nicht an starkem Dissens oder Desinteresse. Die Vorstellung, alle müssten einander verstehen oder miteinander reden, die oft in der Forderung vorgetragen wird, niemand dürfe «ausgegrenzt» werden, ist politischer Kitsch. Die Gesellschaft ist in ihrem Zusammenhalt weder durch die Existenz von Verbrechern noch durch die Einrichtung von Gefängnissen bedroht; fast möchte man sagen: im Gegenteil.

 

Das bringt eine zweite Konzeption des gesellschaftlichen Zusammenhalts ins Spiel, die weniger pathetisch argumentiert. Ihr zufolge leben wir unter anderem in Nationalstaaten. Seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als das sowjetische Imperium zerfiel, ist die Welt fast vollständig in Nationalstaaten aufgeteilt. Wer über keinen Pass eines solchen Staates verfügt, hat es schwer.

Im Begriff der Nation wird dabei das Gefühl für Zusammengehörigkeit unter modernen Umständen und für sehr große, weit über Stämme hinausreichende Gebilde erneuert. Eine wichtige Verbindung ist dabei die Sprache, doch davon gibt es zahlreiche Ausnahmen: verschiedene Nationalstaaten mit derselben Sprache sowie mehrsprachige Nationalstaaten. Anders als es das berühmte Wort Ernest Renans suggeriert, eine Nation sei ein tägliches Plebiszit, tritt das Gefühl des Zusammenhalts auch nur in eng begrenzten Zeiträumen hervor, in Friedenszeiten etwa bei Sportwettkämpfen, in touristischen Kontexten, an Gedenktagen. Alle Staatsbürger sind rechtlich ständig, viele Staatsbürger emotional aber nur ausnahmsweise Deutsche. Denn es stehen für sie zumeist andere Rollen als die staatsbürgerliche im Vordergrund ihres alltäglichen Selbsterlebens.

Zwar hilft die nationale Zugehörigkeit bei mal mehr, mal weniger freundlichen Zuschreibungen, was französisch oder deutsch sei oder worin sich Norweger von Schweden und Finnen unterschieden. Doch auch das begründet keinen inneren Zusammenhalt der Nationen, weil sich solche Bezeichnungen von kulturellen oder habituellen Unterschieden in ihrem Inneren genauso und womöglich sogar schärfer ausgeprägt finden. Neben der Singularität der eigenen Nation gibt es die des Westfalentums, Bayerns oder des Saarländischen. Mitunter nennen Individuen auf die Frage nach der Zugehörigkeit zuerst die Region, eine Stadt oder Europa, bevor sie zugeben, außerdem Deutsche zu sein. Das wiederum, der Patriotismus und die eindeutig nationalkulturelle Selbstzuordnung, variiert zwischen den Nationen.

Die berühmte Formulierung, es handele sich bei Nationen um «imagined communities», vorgestellte Gemeinschaften, fängt das alles auf.[8]