Max Weber - Jürgen Kaube - E-Book

Max Weber E-Book

Jürgen Kaube

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Beschreibung

Bereits als Dreizehnjähriger studiert er die Werke Machiavellis und Luthers, mit neunundzwanzig wird er Professor, er ist zeitweise glühender Nationalist und sieht sich als Gesellschaftstourist dennoch gern den American Way of Life an: Max Weber (1864 – 1920) gehört nicht nur zu den einflussreichsten Denkern der Moderne, sondern ist zugleich eine der schillerndsten, widersprüchlichsten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Er leidet an der zeittypischen «Nervenkrankheit», arbeitet wie besessen und vollendet dennoch kaum ein Buch; selbst sein Hauptwerk «Wirtschaft und Gesellschaft » erscheint erst posthum. Webers Bedeutung als Soziologe und Volkswirt, Historiker und Jurist ist unumstritten – seine Aufsätze haben Generationen von Akademikern und Politikern beeinflusst, weltweit –, aber was prägte ihn selbst, was trieb ihn an? Als Mensch ist Max Weber bis heute ein Geheimnis geblieben. Jürgen Kaube, einer der renommiertesten deutschen Wissenschaftsjournalisten, versucht in seiner mitreißend geschriebenen, anlässlich des 150. Geburtstags von Max Weber erscheinenden Biographie, dieses rastlose, stets am Rande der Erschöpfung geführte Leben zu ergründen – und entwirft zugleich ein faszinierendes Zeitbild der ersten großen Phase der Moderne.

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Jürgen Kaube

Max Weber

Ein Leben zwischen den Epochen

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungEINLEITUNGWARUM UNS MAX WEBER INTERESSIEREN SOLLTEERSTES KAPITELEIN MITGLIED DER BÜRGERLICHEN KLASSENZWEITES KAPITELKINDHEIT UND JUGEND – EIN FAMILIENROMANDRITTES KAPITELBERLIN, DER LIBERALISMUS UND DIE GELEHRTE KULTURVIERTES KAPITELUNTER ROTHÄUTEN, EXTREMEN CHRISTEN UND FELDWEBELN – DIE STUDENTENZEITFÜNFTES KAPITELDIE OFFENE HANDELSGESELLSCHAFT UND DIE RÖMISCHE IMMOBILIENBÖRSE – DER JUNGE GELEHRTESECHSTES KAPITELDER HAFEN DER RESIGNATION UND DIE STURMFLUT DER LEIDENSCHAFTEN – MAX WEBER WIRD GEHEIRATETSIEBTES KAPITELLANDARBEITER, BÖRSIANER UND DAS «POLITISCH UNERZOGENE SPIESSBÜRGERTUM»ACHTES KAPITEL«DER NERVÖSESTE MENSCH DER ERDE» – MAX WEBERS OBSESSIONEN UND SEIN ZUSAMMENBRUCHNEUNTES KAPITELWELTMACHT DURCH ASKESE – ROM UND DIE GEBURT DER PROTESTANTISMUSTHESEZEHNTES KAPITELDER IROKESENSTAAT, DER SCHNEIDER FRIEDRICH WILHELMS IV. UND DIE OBJEKTIVITÄT VON GOETHES LIEBESBRIEFENELFTES KAPITELWAHLVERWANDTE ANTIPODEN – SOMBART UND SIMMELZWÖLFTES KAPITELWO EIN WILLE IST, IST AUCH EIN HELD – DIE PROTESTANTISCHE ETHIKDREIZEHNTES KAPITELDER TRANSATLANTISCHE GESELLSCHAFTSTOURIST – MAX WEBER IN AMERIKAVIERZEHNTES KAPITELDER GENTLEMAN, DR. LOTH UND DIE RASSENFRAGEFÜNFZEHNTES KAPITELDAS WELTDORF UND SEIN GESELLIGES GEISTESLEBEN – DER INNENSEITER VON HEIDELBERGSECHZEHNTES KAPITELALFRED, KAFKA UND DIE APPARATESIEBZEHNTES KAPITELALLE WELT BESPRICHT EROTISCHE PROBLEMEACHTZEHNTES KAPITELELSE UND DER KONFUSIONSRATNEUNZEHNTES KAPITELDIE SOZIOLOGIE DER MUSEN, MINA UND DAS KOMMAZWANZIGSTES KAPITELEINE REIZBARE EXISTENZ? – AUFTRITTE, GERICHTSSZENEN, GELEHRTENSTREITEINUNDZWANZIGSTES KAPITELHERRSCHAFTSZEITEN, WEIHEN-STEFAN UND DIE SOZIALDEMOKRATIE ALS ARMEEZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITELRUSSLAND, DER SOZIALISMUS UND DIE ORGANISATIONSGESELLSCHAFTDREIUNDZWANZIGSTES KAPITELWERTGÖTTER – DIE WIRTSCHAFTSETHIK DER WELTRELIGIONENVIERUNDZWANZIGSTES KAPITELAN ETWAS STERBEN UND FÜR ETWAS STERBEN – MAX WEBER KOMMENTIERT DEN ERSTEN WELTKRIEGFÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITELDAS WARENHAUS DER WELTANSCHAUUNGEN – «WISSENSCHAFT ALS BERUF»SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITELDAS SCHAUSPIELHAUS DER GESINNUNGEN – «POLITIK ALS BERUF»SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITELSPÄTE JUGEND UND BLUTIGER MASKENBALL – MAX WEBER UND DIE RÄTEREPUBLIKACHTUNDZWANZIGSTES KAPITELDAS ENDEWIE ENTSTEHT EIN KLASSIKER?DER EDLE NIHILIST, SEINE WIRKUNGEN UND SEINE PROBLEMELITERATURVERZEICHNISPERSONENREGISTERBILDNACHWEISBilderteil
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Für meine Mutter

im Gedenken an meinen Vater

Peter Kaube (1937–2012)

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EINLEITUNG

WARUM UNS MAX WEBER INTERESSIEREN SOLLTE

Von Immanuel Kant gibt es den Satz, der Mensch sei «Bürger zweier Welten». Das hieß für Kant, dass wir frei sind und zugleich unfrei. In der einen Welt handeln wir spontan, in der anderen sind wir Ursachen unterworfen: sozialen Bedingungen, Trieben, natürlichen Anlagen. Bürger zweier Welten kann man aber auch historisch sein. Zum Beispiel, wenn man in einer Welt aufwächst, in der dem Bürgertum die Zukunft zu gehören scheint, und als Erwachsener in eine Welt eintritt, in der es seinem vermeintlichen Untergang entgegensieht. Wer das «Bürgertum» als geschichtliche Größe festhält, kommt dann nicht umhin, es zugleich als mächtig und ohnmächtig zu beschreiben. Eine andere Möglichkeit, sich als Bürger zweier Welten zu fühlen, ergibt sich, wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, die sich als Nationalstaat definiert und als christliche Kultur versteht, und zwanzig Jahre später der Nationalstaat sozialen Kräften ausgesetzt wird, die keine Rücksicht auf ihn nehmen, und die christliche Kultur bloß noch eine schwache Erinnerung ist. Oder nehmen wir etwas vergleichsweise Privates: Jemand heiratet unter Umständen, in denen Familien nicht mit jeder Ehe neu gegründet werden, sondern in denen die Ehen bereits existierende Familien fortsetzen. Heute würden wir von «arrangierten Heiraten» sprechen. Eheliche Treue gilt als selbstverständlich; wer offensiv von dieser Norm abweicht, hat Anspruch darauf, als Emma Bovary oder Effi Briest in die Literatur einzugehen. Und die unter solchen Umständen heiratende Person gerät nun wenige Jahre darauf in eine Welt, in der Ehebruch erwartbar ist, in der einige das Ausleben sexueller Bedürfnisse sogar zum Programm erheben und in der diese Person ihre eigene Ehe sowohl fortsetzt wie bricht.

Der Jurist, Nationalökonom, Historiker und Soziologe Max Weber war ein solcher «Bürger zweier Welten». Er lebte von 1864 bis 1920 und war der vielversprechendste Gelehrte seiner Generation, ein Exponent der protestantischen, preußischen, großbürgerlichen Elite. Am Ende seines Lebens war von der Welt, in die er hineingeboren wurde, nichts mehr übrig, und er hinterließ ein riesiges Werk – vor allem in Fragmenten, Dutzenden von wissenschaftlichen Aufsätzen, unpublizierten Büchern, Reden, Plänen. Viele sagen, er habe die Soziologie als Fach mitbegründet. Aber aus dem Verein der Soziologen, den er mitgegründet hat, trat er sofort wieder aus. Für viele sind die Worte «Rationalität», «Wertfreiheit» und «entzauberte Welt» mit seinen universalhistorischen Studien verbunden. Für andere war er ein fanatischer Nationalist, ein schillernder politischer Denker, der sich charismatische Führer an der Spitze der Demokratie wünschte und von der «Wiederkehr der alten Götter» in der Nacht der Moderne raunte. Beide Beschreibungen treffen zu. Er lebte im Zeitalter des Nationalstaats und in dem seiner Krise, in der Welt des historischen Gelehrtentums und in der Welt der ästhetischen Avantgarden, in der Welt der Gründerzeit und in der Welt der politischen Extreme.

1864, im Jahr der Geburt von Max Weber, wird Ludwig II. zum König von Bayern proklamiert. Jacques Offenbach bringt in Paris seine «Schöne Helena» heraus. In London wird unter Vorsitz von Karl Marx die «Erste Internationale» gegründet. Der amerikanische Bürgerkrieg tobt, den Konföderierten gelingt der erste erfolgreiche U-Boot-Angriff der Militärgeschichte, und der Begriff «Abnutzungskrieg» kommt zum ersten Mal auf. Jules Verne publiziert seine «Reise zum Mittelpunkt der Erde». In der Enzyklika «Quanta Cura» verurteilt Papst Pius IX. die Religionsfreiheit sowie die Trennung von Kirche und Staat und fügt unter dem Titel «Syllabus Errorum» einen Anhang hinzu, der die Meinungsfreiheit, den Pantheismus, Sozialismus und Kommunismus, Liberalismus und Indifferenz als Irrtümer bezeichnet. In Japan bereitet sich die Meji-Restauration vor, die das Land zurück zum alten Kaisertum bringen will und die Herrschaft des Kriegeradels beendet, damit letztlich aber das Land verwestlichen wird.

1920, im Todesjahr Max Webers, tritt der Friedensvertrag von Versailles in Kraft, gut einen Monat später wird im Münchner Hofbräuhaus die NSDAP gegründet. Im sogenannten Kapp-Putsch versuchen nationalkonservative Kreise die Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Der Film «Das Kabinett des Dr. Caligari» von Robert Wiene kommt auf die Leinwand. In Paris erscheinen «Die magnetischen Felder» von André Breton und Philippe Soupault, das erste Werk des literarischen Surrealismus. Die ersten privaten Radioprogramme gehen auf Sendung. F. Scott Fitzgerald veröffentlicht seinen ersten Roman und Sigmund Freud seine Abhandlung «Jenseits des Lustprinzips», über die Macht der Triebe und der Verdrängung. In Antwerpen finden die vierten Olympischen Spiele der Neuzeit statt, Piet Mondrian malt zum ersten Mal in jenem geometrischen Stil, den er fortan nicht mehr aufgeben wird, Greta Garbo wird erstmals auf Zelluloid gebannt, und Lenin hält seine Rede «Den Kapitalismus einholen und überholen».

Diese fast zufällig herausgegriffenen Ereignisse, die mit den Eckdaten des Lebens von Max Weber verbunden sind, illustrieren den Charakter der Epoche, in der sich dieses Leben zugetragen hat. In ihr wird unabweisbar, dass die Welt eine Welt ist. Es trägt sich zu, was wir heute «Globalisierung» nennen und irrtümlicherweise für etwas ganz Neues halten. Der Industriekapitalismus erlebt seinen Höhepunkt, technische Innovationen wie der Telegraph, das Dampfschiff ohne Segel und die Nutzung von Elektrizität erschließen Raum und Zeit. «Weiße Flecken» auf den Landkarten gibt es bald nur noch in den Polargebieten. Die großen Ideologien – Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus – werden ausgeformt und technische Utopien formuliert, die Zeitgenossen erleben den Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetherrschaft. Der Kapitalismus zeigt sich zusammen mit der Massendemokratie, der in Disziplinen organisierten Wissenschaft sowie der Säkularisierung als bewegende Macht des Weltgeschehens, und sogleich versuchen verschiedene Gesellschaftsentwürfe und intellektuelle «Projekte» sich aus dieser Welt zu verabschieden. Anonyme und dezentrale Kräfte treiben den gesellschaftlichen Wandel voran, was bei vielen das Bedürfnis weckt, die Geschichte gewaltsam wieder in den Griff zu bekommen.

Im selben Zeitraum, zwischen Geburt und Tod Max Webers, hat Deutschland, über dessen Gesellschaft er am meisten nachdenkt, besonderen Anteil an diesen welthistorischen Veränderungen. Als Weber geboren wird, leben knapp siebenunddreißig Millionen Menschen auf dem Gebiet, das wenige Jahre später das Deutsche Reich heißen wird, zwei Drittel davon in Gemeinden mit weniger als zweitausend Einwohnern, nicht einmal zwei Millionen in Städten mit mehr als einhunderttausend Einwohnern. Als er stirbt, ist die Bevölkerung Deutschlands trotz der Verluste im Weltkrieg und der vielen Grippetoten und obwohl im Westen und Osten große Gebiete an Frankreich und Polen abgetreten wurden, auf knapp zweiundsechzig Millionen angewachsen. Mehr als fünfzehn Millionen davon leben in Großstädten, nur noch etwa ein Drittel in Gemeinden unter zweitausend Einwohnern. Die Industrieproduktion des Landes betrug 1864 umgerechnet 492 Millionen amerikanische Dollar (Großbritannien brachte es auf 1,12 Milliarden), 1905 – als Webers berühmteste Schrift «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» erscheint – liegt sie bei 2,48 Milliarden Dollar (Großbritannien: 2,85 Milliarden Dollar). Der Vergleich zeigt, wie schnell sich Deutschland in jenen Jahren entwickelt und zum Vorreiterland der industriellen Revolution aufgeholt hat. In Webers Geburtsjahr studierten in Preußen ein halbes Prozent der Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen, in seinem Todesjahr hat sich ihr Anteil vervierfacht: 1864 gab es insgesamt etwa siebentausend Studenten, als Weber selbst das Studium aufnimmt, sind es knapp achtzehntausend, als er stirbt, gut dreiundsechzigtausend.

Zwischen 1864 und 1920 durchläuft das Land überdies einen massiven politischen und rechtlichen Wandel. Das von liberalen Abgeordneten dominierte Parlament Preußens hatte mit dem Kabinett des Königs von 1859 an den preußischen Verfassungskonflikt über die Frage ausgetragen, wem von beiden das Budgetrecht und damit die Finanzierungshoheit über die Armee zustand. Otto von Bismarck, der im Verlauf dieser Krise 1862 zum Ministerpräsidenten Preußens ernannt wurde, gab die Macht fortan nicht mehr ab; obwohl das Königreich eigentlich eine konstitutionelle Monarchie ist, erkennen manche daher in Bismarck den eigentlichen Souverän jener Jahre. Unter seiner Führung wird 1867 der «Norddeutsche Bund», nach Beitritt von Baden, Bayern, Hessen und Württemberg 1871 das Deutsche Reich gegründet. Im Jahr 1900 tritt das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft. Nach dem Ende der Monarchie im November 1918 wird mancherorts eine Räterepublik, in Berlin die parlamentarische Demokratie ausgerufen, und im Jahr darauf verabschieden die Abgeordneten der Nationalversammlung im beschaulichen Weimar eine neue Verfassung.

Um die Zeit zu verstehen, in der sich dieser epochale Wandel zutrug, ist Max Webers Leben und Werk schon deshalb aufschlussreich, weil er sich mit fast allen diesen Ereignissen und Veränderungen befasst hat. An den Diskussionen über die Industrialisierung Deutschlands beteiligt er sich ebenso wie an den Kontroversen über die Folgen der Politik Bismarcks. Weber denkt über die Voraussetzungen einer deutschen Weltmachtstellung nach und engagiert sich zugleich auf Seiten evangelischer Kreise in der «sozialen Frage». Er überlegt, ob Börsen nur der Finanzspekulation dienen oder eine Funktion für moderne Geldwirtschaften haben, nimmt am «Kulturkampf» zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche teil (und schlägt sich auf die protestantische Seite), er fordert eine imperialistische Politik Deutschlands nach außen und eine liberale nach innen. Den Aufstieg des Sozialismus kommentiert er ebenso wie die Russischen Revolutionen. Und die «erotische Bewegung», den Kampf um Frauenrechte, die Rassenlehre, die Massenmedien.

Unter den Wissenschaftlern seiner Zeit ragt Max Weber dadurch hervor, dass er selbst – fast möchte man sagen: manisch – an einer Beschreibung dieser Gesellschaft gearbeitet hat, die während seiner Lebenszeit entstanden war. Dabei durchlief Weber eine ganze Reihe von Kulturen, die zu jener Zeit gehören. Er stammt aus nationalliberaler Familie, übt während des Studiums den burschenschaftlichen Habitus, ist aggressiver Chauvinist und pflegt zugleich eine Hassliebe zum «typisch Deutschen». Mit einem beispiellosen Arbeitswillen wühlt er sich in die Forschungsliteratur hinein und lastet sich bei seinen Studien ein Pensum auf, das unvorstellbar ist. Er steht in Kontakt mit jeder bedeutenden politischen und intellektuellen Bewegung seiner Epoche sowie ihren Repräsentanten, erleidet, sexuell gequält und überarbeitet, alle Formen der «Nervenkrankheit», die um 1900 zur Zeitdiagnose gehörte, ist als Rekonvaleszent jahrelang eine Art europäischer und transatlantischer Gesellschaftstourist. Schon früh beschäftigt ihn, der «Literaten» verachtet, die literarische Avantgarde seiner Zeit, unterhält er Beziehungen zur Boheme. Nach dem Ersten Weltkrieg gehört er für viele zu den Hoffnungsträgern der Weimarer Republik, an deren Verfassungsberatungen er ebenso teilnimmt wie an den Friedensverhandlungen in Versailles.

Weber ist der bekannteste deutsche Sozialwissenschaftler seiner Zeit und zugleich einer, der zu Lebzeiten nur zwei Bücher, seine Dissertation und seine Habilitation veröffentlicht hat. Sein Hauptwerk, «Wirtschaft und Gesellschaft», von dem manche bezweifeln, dass er es als Hauptwerk plante, erscheint erst nach dem Tod. Fast alles, was er gesagt hat, wird bewundert und bezweifelt: Seine Schrift «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» provoziert die Gelehrten seit ihrem Erscheinen zu endlosen Kontroversen. Max Weber ist der typische deutsche Gelehrte, was seinen Fleiß, seinen Stil und seine Fußnoten angeht – und ein «Wutbürger», stets geladen gegen seine Zeitgenossen, streitsüchtig, herrisch.

Es lohnt, vom Leben und von den Gedanken Max Webers zu erzählen, weil es sich um ein bewegtes, ein buchstäblich merkwürdiges Leben handelte und um Gedanken, mit denen er auf Fragen antwortete, die uns nach wie vor beschäftigen. «Durch die moderne Zeit, insbesondere, wie es scheint, die neueste, geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst kommen.»[1] Das notierte Webers Kollege Georg Simmel im Jahr 1900 mitten im Übergang zwischen den beiden Epochen, in denen er und Weber lebten, als viele glaubten, es könne nicht einfach so weitergehen wie im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts. Es erscheint im Rückblick als ein ebenso beklemmendes wie nachvollziehbares Gefühl, aber auch als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung – auf manche seiner Zeitgenossen warteten zwei Weltkriege und zwei Weltuntergänge. Die «heroische Moderne» (Heinz Dieter Kittsteiner) machte sich bemerkbar, in der Intellektuelle und Politiker sich zutrauten, die Weltgeschichte, von der sie meinten, dass sie sich seit mehr als hundert Jahren in die falsche Richtung bewege, durch heroischen Widerstand aus den Angeln zu heben. Denn das ist ja das Merkwürdige an dem von Simmel mitgeteilten Gefühl: Dass am Ende einer Zeit der permanenten Umwälzung und ständigen Neuerung bei vielen weniger das Bedürfnis entstanden war, diese unvertraute Epoche zu begreifen, sondern die Erwartung entstand, die Hauptsache, etwas ganz Großes, mit dem sich der Sinn all dieses Wandels erschließen lasse, stehe noch bevor.

Max Weber umschrieb, als er einmal die Politik Wilhelms II. kommentierte, dasselbe Gefühl etwas anders. «Man hat den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Geschwindigkeit, wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde.»[2] Wer in einem solchen Zug sitzt, für den werden diese nächste Weiche und das Begreifen von Weichenstellungen zur Hauptsache. Weber versuchte in einer Zeit, die viele in Weltanschauungen oder in Resignation gegenüber einem unverständlichen historischen Ablauf hineintrieb, das Denken nicht preiszugeben: Wie lässt sich das gesellschaftliche Leben beschreiben, ohne dabei einer Ideologie oder leichtfertigen Zeitdiagnosen zu folgen? Wir können heute nicht mehr die Antworten wiederholen, die Weber in seiner Zeit auf die Erfahrung ihrer Krisen gegeben hat. Der Sinn einer intellektuellen Biographie wäre aber erfüllt, wenn sich an ihr etwas über die Fragen lernen ließe – die Fragen der Lebensführung und die Fragen der Gesellschaftsbeschreibung, die für dieses Werk und dieses Leben die bedrängendsten waren.

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ERSTES KAPITEL

EIN MITGLIED DER BÜRGERLICHEN KLASSEN

Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauerstande gerechnet werden können.

Allgemeines Preußisches Landrecht, 1794

In der Frage, was einer ist, soll man ihn zuerst selbst hören. «Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen», hat sich Max Weber im Alter von einunddreißig Jahren in seiner Freiburger Antrittsvorlesung als Professor der Nationalökonomie 1895 den Zuhörern vorgestellt, «fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen».[3] Eine so bezeichnende wie merkwürdige Formulierung. Merkwürdig weniger, weil es in jenen Jahren für jemanden, der ersichtlich kein «von» im Namen trug, ziemlich überflüssig war, eigens zu betonen, weder ein Arbeiter- noch ein Bauernkind zu sein. Weber zählt sich nämlich gar nicht «der» bürgerlichen Klasse im Singular zu, wie sie Marxisten vom Proletariat oder Sozialgeschichtler vom Adel und den Bauern unterscheiden würden. Er verwendet den Plural und unterstellt damit, dass es mehrere solcher Bürgertümer gibt und dass nicht nur ihr Unterschied zu anderen Klassen signifikant ist, sondern auch ihre Verschiedenheit untereinander. Doch sich selbst wiederum fühlt er diesem Plural als Ganzem zugehörig; er sieht sich nicht als Mitglied einer bürgerlichen Klasse, sondern als Mitglied ihrer Gesamtheit. Das ist so, als hätte Max Weber gesagt: «Ich bin ein Bewohner der süddeutschen Städte.»

Max Weber war tatsächlich Mitglied der bürgerlichen Klassen. Er war es ökonomisch: Die Familie lebte, vor allem durch das mütterliche Erbe, im Wohlstand. Das Vermögen, so stellt Weber 1910 im Rückblick auf seine Jugend fest, «war nach damaligen Begriffen sehr groß, zumal Papa daneben 12000 Mk Gehalt hatte, also ca. 34000 Mk Einnahmen».[4] Das mütterliche Erbe, dessen Zinsen also beinahe das Doppelte eines hohen Beamtengehaltes ausmachten, beruhte auf Erträgen aus Handel und Industrie, auf europaweiten Geschäften in der führenden Branche der industriellen Revolution, dem Textilgewerbe. Die Französische Revolution hatte um 1800 zu einer massiven Kapitalflucht nach England geführt und traf dort auf technologische Umstände, die das Rad der Produktion immer schneller antrieben. Ein Urgroßvater Max Webers mütterlicherseits, der aus Frankfurt am Main stammende Cornelius Charles Souchay, nutzte das mit besonderer Fortune und besaß eines der damals erfolgreichsten Unternehmen überhaupt, in dem Herstellung, Vertrieb und Finanzierung zusammenliefen. Er war in Schmuggelgeschäften während der Kontinentalsperre engagiert, der von Napoleon Bonaparte zwischen 1806 und 1814 verfügten Wirtschaftsblockade gegen Großbritannien, und zog als Spekulant Profite aus den europäischen Kriegen jener Epoche. Die hugenottische Familie Souchay zählte zu den reichsten anglodeutschen Handelsdynastien und gehörte zu einem weit verzweigten Familiennetzwerk, das sich über mehrere Imperien erstreckte und dessen Kontakte deshalb nicht nur nach England, Belgien und Holland, sondern auch bis nach Kanada, Südafrika und Indonesien reichten.[5] Max Webers Großmutter war durch ihr Erbe Millionärin.

Väterlicherseits stammen seine Vorfahren aus Bielefeld, waren dort Leinenhändler und Mitglieder der örtlichen Honoratiorenschicht. Anders als das Leben der Souchays scheint das der Webers von einem etwas gemächlicheren Tempo bestimmt gewesen zu sein; Geldverdienen diente hier vor allem der standesgemäßen Lebensführung. Vor elf Uhr mittags, heißt es, erschien der Großvater nicht im Kontor.[6] Darin scheint er keine Ausnahme gewesen zu sein. «Was Bielefeld betrifft», so schreibt der preußische Handelsminister Christian Peter Wilhelm Beuth 1842 dem Sprecher der dortigen Unternehmer, «so habe ich Ihnen meine Meinung oft offen dahin erklärt, dass die Herren dort auf ihren Lorbeeren und Geldsäcken ruhende Kaufleute, aber keine Fabrikanten sind.»[7] Max Webers spätere Frau, Marianne, stammte aus einem Zweig derselben Familie, der aber ins benachbarte Herzogtum Lippe umgezogen war, weil ihr Großvater, der in Spanien ausgebildete Carl David Weber, sich dort dem preußischen Wehrdienst entziehen konnte.[8] Das Vermögen, das Carl David erwirtschaftete, übrigens ebenfalls in der Textilindustrie, war groß genug, um seinen vielen Kindern und Enkeln lange Zeit die finanzielle Unabhängigkeit zu sichern. Max und Marianne Weber konnten also beide auf Erbschaften ihrer Großeltern zurückgreifen, und so verarmte das Paar auch dann nicht, als Weber schon 1899 mit nur fünfunddreißig Jahren aus gesundheitlichen und psychischen Gründen sein Lehramt aufgab und bald danach als Rentier auf eigene Kosten lebte.

Auch dem politischen Bürgertum gehörte Max Webers Familie an: Sein Großvater mütterlicherseits, Georg Fallenstein, war Mitglied des Lützow’schen Freikorps, eines Freiwilligenverbands der preußischen Armee im Kampf gegen Napoleon, und zählte später zum Umkreis der Matadore von 1848, der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Deutschland. Friedrich «Turnvater» Jahn gehörte ebenso zu Fallensteins engen Bekannten wie der Historiker und Germanist Georg Gottfried Gervinus, einer der «Göttinger Sieben», die 1837 gegen die Aufhebung der hannoverischen Verfassung durch den König protestiert hatten. Webers Vater wiederum, Max Weber senior, war einer der ersten deutschen Berufspolitiker und saß für die nationalliberale Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus wie auch im Reichstag. Max Weber selbst wird sehr viel später ebenfalls, als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei des Nationalliberalen Friedrich Naumann, sich um eine Kandidatur für den Reichstag bewerben. Seiner Ausbildung nach war Max Weber Jurist, er liebäugelte kurz mit einer Karriere als Anwalt und Syndikus der Bremer Handelskammer, wurde aber durch seine historischen und sozialwissenschaftlichen Interessen in die Universität hineingezogen.

Das fügt den bürgerlichen Klassen, denen Max Weber angehörte, eine dritte hinzu, den Gelehrtenstand. Es ist wichtig, diese dritte Klasse von den beiden ersten zu unterscheiden. Denn die Gesellschaft, in die Weber hineingeboren wurde, ist durch drei ganz verschiedene Revolutionen gekennzeichnet, die alle «bürgerlich» genannt werden: Die politische Revolution zum demokratischen Verfassungsstaat, die ihren deutlichsten Ausdruck zuerst in Nordamerika und Paris fand. Die industrielle Revolution, die von England ausging und deren Symbole die Dampfmaschine, die Schnellpresse sowie der voll mechanisierte Webstuhl sind. Und schließlich die Bildungsrevolution, an deren Ende die durchgesetzte Schulpflicht stehen, die Abschlussprüfungen an höheren Schulen als Zugangsvoraussetzungen zur Universität und die Entstehung der wissenschaftlichen Disziplinen.[9] Vor allem in dieser letzten Revolution war Deutschland führend; weit mehr als ein halbes Jahrhundert lang, von 1850 bis 1920, werden viele wissenschaftliche Standards und solche der höheren Bildung in Deutschland gesetzt, und zwar sowohl in den Natur- und Ingenieurs- wie in den Geisteswissenschaften. Um zu sehen, was eine forschende Universität ist, fuhr man damals als Amerikaner wie Franzose nach Berlin, Bonn, Leipzig oder Heidelberg. Max Weber wächst in einer Zeit auf, in der Gelehrte ein immenses Prestige erwerben konnten. Er selbst war dabei aber nicht nur Forscher, sondern auch Exponent einer bürgerlichen Kultur, die sich durch ihren Bezug auf Bücher und Reisen, die Antike, das Gymnasium und das Zeitunglesen, das protestantische Christentum und den Nationalstaat definierte.

Alle drei Revolutionen hatten für das Bürgertum jedoch einen ambivalenten Charakter, der schon im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erkennbar wurde. Einer Gesellschaft, die unter dem Eindruck des Sturms auf die Bastille und der Abschaffung der Monarchie in Frankreich stand, mochte es zunächst so scheinen, als tauschten im modernen Staat Adel und Bürgertum, der «erste» und der «dritte Stand», bloß die Plätze, als werde nur die Spitze neu besetzt und das Ganze nunmehr nach bürgerlichen Gesichtspunkten regiert. Solche Gesichtspunkte, dachte man weiter, ließen sich vor allem der industriellen Revolution entnehmen, dem bürgerlichen Interesse an Gewerbe, Handel, Fabrikation – der Entfaltung des Privateigentums also. Und schließlich wurde auch Bildung als eine spezifisch bürgerliche Idee der Vervollkommnung von Individuen aufgefasst. Der «Bildungsroman», jene Gattung, die um 1800 entstand und das europäische Erzählen mehr als neunzig Jahre lang bestimmte, hat diese Idee in seinem Handlungsschema anschaulich gemacht: Der junge, unheroische Held setzt in ihm die Traditionen seiner Herkunft nicht fort, sondern sieht sich einer aufregenden Moderne ausgesetzt, die Erwartungen auf Glück in ihm weckt; erst in der Konfrontation mit der Wirklichkeit lernt er aber, wie viele Illusionen darin lagen. Bürgerlich daran erschien nicht nur das Recht, sein eigenes Glück zu suchen und diese Suche neben Leben und Freiheit wie in der amerikanischen Verfassung zum dritten unveräußerlichen Recht des Individuums zu erklären. Bürgerlich erschien auch die Lösung, die «Bildung» im Konflikt zwischen Glück und Freiheit, Festlegung und Mobilität, Selbstbestimmung und Sozialisation, Ehe und Liebe, Realismus und Romantik zu geben versprach: die Verinnerlichung ihres Widerspruchs, der Kompromiss, die Entsagung.[10]

Doch näher betrachtet lag das eigentlich Umstürzlerische der modernen Revolutionen darin, dass sie nicht einfach nur die Trägerschicht der gesellschaftlich dominanten Einflüsse, Machtpositionen und Kulturen austauschten. Es zogen nicht einfach nur neue Herrschaften in die Beletage der Gesellschaft, die ganze Struktur des Gebäudes änderte sich. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde mit dem Aufstieg der sozialistischen Parteien und anderer Massenbewegungen beispielsweise immer deutlicher, dass die Demokratie nicht an das Bürgertum gebunden ist. Zugleich führten die Funktionalisierung des Eigentums in den großen Aktiengesellschaften, der Aufstieg der Angestellten und der Organisationsbürokratien ebenso wie der entstehende Wohlfahrtsstaat vor Augen, dass sich die moderne Markt- und Geldwirtschaft nicht einfach als das Betätigungsfeld einer «Bourgeoisie» beschreiben lässt, der diesseits des Staates nur das Proletariat gegenübersteht. Schließlich wurde auch die Idee der Bildung dem Bürgertum aus den Händen genommen und einerseits durch das relativiert, was Max Weber später das «Fachmenschentum» nennen wird: Der Spezialist verdrängt den abendländisch orientierten Gesamthumanisten, der selbst natürlich stets nur ein Spezialfall gewesen war. Die bürgerliche Kultur, Oper und Museum, die sogenannte klassische Antike und der an sie angeschlossene Kanon verlieren ihre Verbindlichkeit. Die Kunst löst sich in den Avantgarden seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vollends von freundlichen Einstellungen gegenüber der bürgerlichen Sphäre, und viele Künstler finden Unbürgerlichkeit ästhetisch befriedigender, interessanter oder abenteuerlicher. Nach 1914 wird es dann nicht mehr von der Bildung, sondern vom Krieg heißen, dass er kein Individuum unverändert gelassen hat. Aber schon vorher, in den Romanen von Joseph Conrad, die auf Schiffen spielen, in Robert Musils «Törleß» von 1906, für den Jugend keine Öffnung, sondern eine Qual ist, wie in Franz Kafkas «Amerika» (1911 bis 1914) oder im «Porträt des Künstlers als junger Mann» (1904 bis 1914) von James Joyce, ragen die Organisationen so stark in die Biographien der Romanhelden hinein, dass diese nicht mehr die Bürger, sondern gewissermaßen die traumatisierten Angestellten des Romangeschehens sind.

Für die bürgerlichen Klassen, zu denen Weber sich zählte, ergab sich daraus eine paradoxe Lage: die paradoxe Lage einer Schicht nämlich, die zugleich mit ihrem rapiden Aufstieg und ihren Erfolgen die zunehmende Irrelevanz ihrer Identität als Gruppe und ihrer «Kultur» verarbeiten musste. Anders als der Adel, der über Jahrhunderte hinweg alle gesellschaftlichen Bereiche als Familiennetzwerk beherrschte, fächerte sich das Bürgertum sogleich in ein Wirtschaftsbürgertum, die Angehörigen der Professionen (Ärzte, Juristen, Lehrer, Pfarrer), die Gelehrten sowie die Ingenieure und Techniker auf.

Ein Mitglied der bürgerlichen Klassen war Weber also, weil er in jeder dieser Hinsichten – Besitz, politische Stellung, Gelehrtentum, Bildung und Lebensstil – zu den Eliten seiner Epoche zählte. «Bürgertum» war um 1895, als er seinen eigenen Hausstand gründete, in Deutschland ein exklusiver Begriff und keinesfalls mit «Staatsbürger» oder «Einwohner» zu übersetzen. Es war beispielsweise etwas anderes als einhundert Jahre zuvor, als auch einfache Gewerbetreibende noch selbstverständlich zum Stadtbürgertum zählten.[11] Nun waren sie zu «Kleinbürgern» geworden und wie die Angestellten, die sich in Webers Lebenszeit als eigenes Berufsmilieu herausbildeten, keine Mitglieder des Bürgertums als Stand. Jene Bildungs- und Besitzbürger, in deren Welt Weber aufwuchs, machten nicht mehr als fünf Prozent der damaligen Bevölkerung aus. Trotz dieser überschaubaren Größe aber und trotz der Tatsache, dass dieses Bürgertum stets in Städten lebte, bildete es keineswegs eine homogene Gruppe, weil Wohlstand Bildung weder voraussetzte noch automatisch nach sich zog und Bildung ihrerseits weder selbstläufig zu einem Vermögen verhalf noch zu politischer Vollmitgliedschaft in Städten.

Insofern ist die Teilhabe Max Webers an allen diesen Dimensionen von Bürgerlichkeit ein charakteristisches Merkmal seiner Herkunft und seiner Karriere. Er wuchs in einem Verwandtschafts- und Bekanntschaftsnetzwerk von Kaufleuten, Professoren der Geisteswissenschaften, Parlamentariern und hohen Beamten auf. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er im politischen und intellektuellen Zentrum des gerade unter preußischer Führung geeinigten Deutschen Reichs. Seine erste Vorlesung, in der er die eingangs zitierte Selbstbeschreibung gab, bestritt er mit Thesen, in denen er sich zum nationalen Machtstaat bekannte und seinen eigenen Klassen vorwarf, zu dessen Aufbau und Stärkung bislang nicht viel beigetragen zu haben. Seine wichtigsten Publikationen galten der Frage, aus welchem «Geist» die bürgerliche Welt entsprungen sei, welche Art von Rationalität man ihr zuschreiben könne und welche Gefahren die Freiheit zu gewärtigen hat, von der sie sich bestimmt sieht. Insofern kann Max Webers Werk als ein Beitrag zum Begriff der bürgerlichen Lebensführung und Politik gelesen werden.

Zu seiner Karriere und Biographie gehört es allerdings auch, dass sich Weber nicht nur in fast allen diesen Dimensionen von Bürgerlichkeit als gescheiterte, oder besser: hinter seinen eigenen Erwartungen zurückbleibende Existenz begreifen musste. Gegen Ende seines Lebens fragt ihn seine Geliebte Else Jaffé, ob er jemals einen Menschen habe sterben sehen. Er verneint. Und sie daraufhin: «Tod nicht, Geburt nicht, Krieg nicht, Macht nicht – so als ob das Schicksal einen Schleier zwischen ihn und die Realität der Dinge gebreitet habe, – ob das vielleicht sein ‹Stern› sei? Und er, so ein paar Worte vor sich hinflüsternd, – ja, es sei wohl so.»[12] Weber gründete keine Familie, hatte nie mit der Waffe in der Hand für seine Nation gekämpft und besaß nie ein politisches Amt. Die Geliebte hätte ihr schweres Urteil noch ausdehnen können: Das Vermögen, das Weber ererbt und erheiratet hatte, wurde durch ihn nicht vermehrt.

Kein Buch, keine Kinder, kein Krieg, kein Vermögen, kein Einfluss: Dass ein Autor, ein Gelehrter oder ein Künstler zum Zeitpunkt seines Todes oder kurz danach völlig gescheitert scheint, ist nicht so selten. Seltener schon, wenn er an diesem Nullpunkt seiner eigenen Ambitionen und der Erwartungen, die an ihn gerichtet waren, aus der großen Höhe einer gesicherten Existenz und eines vielversprechenden Anfanges angekommen ist. Max Weber, das Mitglied der bürgerlichen Klassen, wird in der kurzen Zeit von sechsundfünfzig Jahren ein Leben durchlaufen, in dem die meisten der Gewissheiten, von denen diese Klassen bestimmt waren, unter dem Druck des sozialen Wandels zersprangen und dann in der Hitze eines Weltkriegs vollends verdampften. Überaus selten aber, dass ein solcher «Abstieg» sich mit der Erarbeitung eines unfassbar variantenreichen, thesenstarken, enzyklopädischen Werkes verbindet, sodass man sagen kann: Je mehr sich dieser Mensch von dem entfernte, was ihn einst begünstigte, desto größer wurden seine Leistungen. Am seltsamsten allerdings, dass die Dimensionen dieses Werkes, das bei seinem Tod in verstreuten Publikationen und einem riesigen Torso vorlag, von dem Moment an, in dem es in Deutschland beinahe vergessen schien, mit jedem Jahr wuchsen und Weber auf den merkwürdigsten ideengeschichtlichen Wegen zu dem nach Karl Marx bekanntesten und nach Luther und Goethe vermutlich meisterforschten deutschen Intellektuellen der wissenschaftlichen Weltliteratur wurde.

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ZWEITES KAPITEL

KINDHEIT UND JUGEND – EIN FAMILIENROMAN

Viele Eltern erziehen die Kinder nur für die Eltern.

Jean Paul

Der vierzehnjährige Max Weber berichtet Ende Dezember 1878 aus Charlottenburg an seinen Vetter, Fritz Baumgarten, von den Weihnachtsgeschenken, die er gerade bekommen hat: «Da war zuerst ein englischer Shakespeare, von dem ich allerdings vorläufig noch keinen Gebrauch machen kann, aus Mangel an Kenntnis der englischen Sprache. Da ich ja erst seit einem Vierteljahre englischen Unterricht habe. Indessen denke ich, mir bis Ostern so viele Kenntnisse erworben zu haben, um ihn dann einigermaßen verstehen zu können. – Ferner drei Bände Curtius ‹Geschichte der Griechen›, den ich mir hauptsächlich gewünscht hatte und der mich auch ganz besonders interessiert. Ich habe schon vielfach in ihm herumgelesen und kann nur die Schönheit der Sprache und die schöne Form, in der alle Ereignisse mitgeteilt werden, bewundern. Sodann bekam ich noch ein Buch über ‹Cicero und seine Freunde›, eine deutsche Bearbeitung eines französischen Werkes von Boissier. Ich habe in diesem Buche bis jetzt noch nicht viel gelesen, glaube aber, daß es mich in hohem Grade interessieren wird.»[13] Außerdem bekam er noch eine Ausgabe kunsthistorischer Bilderbogen sowie zwei Romane von Walter Scott – «Der Talisman» und «Quentin Durward» –, und er berichtet seinem Vetter überdies, dass er gerade das «schwer zu verstehende» Buch «Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie das übrige Europa» des Historikers und Sprachwissenschaftlers Victor Hehn gelesen habe, während er sich sonst mit lateinischen Schriftstellern beschäftige, die «Geschichte Roms» des Livius lese «u. dgl.».

Und dergleichen. Je nach Edition umfassten allein die Weihnachtsgaben etwa viertausend Druckseiten, dazu noch mehr als fünfhundert Seiten Kulturgeschichte der Natur und Livius. Ein ziemlich viel lesender Junge also. «Es ist möglich», schreibt er im selben Jahr, «daß ich ein für Bücher, resp. deren Aussprüche und Deduktionen sehr empfindliches Menschenkind bin.»[14] Selbst für den Fall, dass er gegenüber dem Vetter, der damals gerade Klassische Philologie und Archäologie studierte, die weniger bildungsträchtigen Geschenke weggelassen haben mag, und auch wenn man die Ankündigung, er werde nach einem halben Jahr Englischunterricht die Werke Shakespeares einigermaßen verstehen können, als kleine Angeberei gegenüber dem acht Jahre Älteren deuten darf – dass ihm überhaupt solche Geschenke gemacht wurden, zeigt an, wie der junge Max Weber von seinen Eltern und seiner Umgebung wahrgenommen wurde. Mit elf Jahren erhält er Benjamin Franklins Autobiographie geschenkt, der Zwölfjährige liest Machiavellis «Der Fürst», wirft «einen Blick» in Luthers Werke, wie er seiner Mutter schreibt, beschäftigt sich mit Stammbäumen mittelalterlicher Herrscherhäuser und fragt seine Großmutter, wie denn bei ihnen der Türkenkrieg beurteilt werde.[15] Mit vierzehn zeichnet er eine historische Karte von Deutschland im Jahr 1360. Walter Scotts «Die Kerker von Edinburg» (The Heart of Midlothian) bezeichnet der Fünfzehnjährige als einen der ergreifendsten Romane, die er kenne. Seine Klassenkameraden hingegen läsen lieber «allerhand moderne Bazarnovellen» und Skandalgeschichten, «ganz wie ich mir die Lektüre des vornehmen Roms in der ersten Kaiserzeit denke».[16]

Tatsächlich liest der Knabe nicht nur, er hält auch früh seine Eindrücke beim Lesen fest, was weit über altkluge Bemerkungen zu Homer als «ein Bildungsmittel für alt und jung»[17] hinausgeht. So notiert er zur «Ilias», es fehle ihr die Spannung, auf jede Katastrophe sei man längst vorbereitet. Das ist in seinen Augen allerdings keinesfalls ein Nachteil; man könne die Lektüre darum leichter unterbrechen, und darüber hinaus dürfe das Epos ohnehin nur in geringem Maße «spannen», schließlich habe es den Helden möglichst zu verherrlichen. Weber beobachtet sich früh selbst beim Lesen. Im Zuge dieser kleinen Betrachtung erwähnt und beurteilt der Vierzehnjährige, den sein Vetter aufgefordert hatte, von seinen Vorlieben an Schriftstellern zu berichten, nicht nur die Werke Walter Scotts und Victor von Scheffels, sondern auch die von Herodot, Livius und Cicero. Zwar muss er sich nach seinen Kommentaren zu Letzterem den Vorwurf anhören, er habe seine Meinungen zu Büchern nur aus anderen Büchern, aber dagegen wehrt er sich: Wenn Theodor Mommsen und er übereinstimmten, dann läge das daran, dass die Lektüre der Reden Ciceros eben zu solchen Deutungen führe.

Die Liste der Lektüren, von denen der junge Max Weber in seinen Briefen berichtet, beschreibt gut, welche Art von Bildung hier erfolgte. Die Antike, historische Romane, Geschichtswerke – wir sind im Berlin der Gründerzeit, der Historismus errichtet nicht nur Monumente der Architektur, sondern vor allem solche der Gelehrsamkeit. Das Interesse an Geschichte nimmt ungeheuer zu. Neben den Werken Theodor Mommsens und Heinrich von Treitschkes gehören die vaterländischen brandenburgisch-preußischen Romane von Willibald Alexis – dem «märkischen Walter Scott» (Theodor Fontane) – und Gustav Freytags «Bilder aus der deutschen Vergangenheit» zur bevorzugten Lektüre des jungen Max Weber. Später wird ihm das Abiturzeugnis ein herausragendes Wissen attestieren, das leider ohne Schulfleiß erworben worden sei.[18]

Werfen wir einen längeren Blick auf den Büchertisch Webers an jenem Weihnachten 1878, denn die Geschenke darauf sind sprechend. Ernst Curtius beispielsweise, dessen «Griechische Geschichte» sich Weber gewünscht hatte, ist damals gewissermaßen der diensthabende Gräzist in Berlin. Im Geburtsjahr Webers hält er seine weithin wirksame Vorlesung über Griechische Kunstgeschichte.[19] Sechs Jahre lang der Erzieher des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des späteren «99-Tage-Kaisers» Friedrich III., hatte er zwischen 1875 und 1881 die Ausgrabungen von Olympia geleitet, war Sekretär der Philologisch-historischen Klasse an der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Professor an der Berliner Universität – Professor für Archäologie, aber auch «Professor der Eloquenz», wie es in seiner Ernennungsurkunde von 1868 heißt; ein Titel, den Curtius als letzter Gelehrter der Berliner Universität führte. Die Reden zu den Universitätsfeiern – seit 1849 nicht mehr auf Latein, sondern auf Deutsch – hatte nicht zufällig ein Kenner der sogenannten «klassischen Antike» zu halten. Die Altertumswissenschaften verstanden sich als Teil jener Kräfte, die zur Reichseinigung von 1871 beigetragen hatten: Als Curtius 1869 Bismarck jene «Griechische Geschichte» überreichte, die Jahre später auf Webers Gabentisch lag, soll der spätere Reichskanzler geantwortet haben, den Entwicklungsgang eines Volkes darzustellen, das bei großen geistigen Gaben durch Uneinigkeit der Fremdherrschaft anheimgefallen sei, könne zum nationalen Zusammenhalt der Deutschen beitragen.

Es war üblich, solche großzügigen Bogen zu schlagen. Auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts zwischen Monarchie und Parlament hält Curtius 1862 seine Jahresrede über «Die Freundschaft im Alterthum», nicht ohne darin den Geist der Eintracht und des Vertrauens zu beschwören, die in Griechenland «die verschiedenen Elemente zum Dienst des Organismus»[20] gebunden habe. Als Papst Pius IX. 1864, im Geburtsjahr Max Webers, die Enzyklika «Quanta Cura» mit ihrer Forderung, der Staat habe sich der Kirche unterzuordnen, und ihrem Katalog der modernen Irrlehren veröffentlichte, sprach Curtius über die Freiheit, die sich die Griechen gegen theokratische Unterdrückung bewahrt hätten.

Noch schien der klassische Bildungskanon also intakt, noch war das rustikale Wort Wilhelms II. von 1890 nicht ausgesprochen: «Wer selber auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Kulissen gesehen hat, der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer!»[21] Max Weber wird in einer Schulwelt groß, in der beides – die klassische Bildung und das Nationale – noch keine Gegensätze bildeten. Noch war nämlich auch die Zeit nicht angebrochen, in der die Antike dem Bürgertum in all ihrer Fremdheit und Archaik, ihren Zumutungen dargestellt wurde. Zwar hatte der Kirchenhistoriker Franz Overbeck – ein Studienfreund von Max Weber sen. und Mitglied derselben Göttinger Burschenschaft – bereits 1873 in seiner Schrift über «Die Christlichkeit unserer heutigen Theologie» einen ähnlichen Abgrund zwischen dem ursprünglichen Christentum der Spätantike und dem der Gegenwart festgehalten wie ein Jahr zuvor Friedrich Nietzsche in seiner Untersuchung über «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» zwischen dem Griechentum und der bürgerlichen Welt des neunzehnten Jahrhunderts, die sich sentimental darauf bezog. Doch das Echo dieser Detonationen wurde erst zehn, zwanzig Jahre später laut. Für den jungen Max Weber aber gilt, dass sich das politische und historische Urteilsvermögen in einem Hin und Her des Blicks zwischen der gegenwärtigen Politik und der Antike bildete.

Allerdings sollte es für Weber später stets mehr Rom als Athen sein, das sein Interesse fand, so wie es auch Rom war, «das seine historische Imagination inspirierte, nicht der Nationalstaat der Gegenwart», wie Lawrence Scaff meint.[22] Vielleicht wäre es noch genauer zu sagen, dass Rom für Weber früh den Hintergrund bildet, vor dem die Eigenheiten der Neuzeit wahrgenommen werden. Schon drei Wochen nach dem eingangs erwähnten Weihnachtsfest berichtet er seinem Vetter von der ersten Lektüre des Buches über Ciceros Freunde, an dem ihm die Einleitung über das Briefeschreiben in alter und neuer Zeit «merkwürdig» erscheint, in der Gaston Boissier prognostiziere, «daß man bald nur noch auf dem Wege des Telegraphierens einander schreiben werde».[23]

Auch Boissiers Buch, 1869 auf Deutsch erschienen, macht den vergleichenden Blick deutlich, der sich in der Beschäftigung mit der Antike schulte. «Die Politiker in jener Zeit hatten in weit höherem Grade das Bedürfnis zu schreiben, als es die jetzigen haben.»[24] Max Weber hatte für diese These des französischen Althistorikers und Sekretärs der Académie française auf Lebenszeit die lebendige Anschauung an seinem Vater. Die heutigen Politiker, meinte Boissier, hätten statt des Briefverkehrs die Zeitungen und selbst der private Briefwechsel werde vermutlich abnehmen, weil die Geschwindigkeit der Post es inzwischen entbehrlich mache, noch viel Mühe auf die einzelnen Briefe zu verwenden. «Jetzt, wo man weiß, daß man schreiben kann, wann man will, sammelt man nicht mehr Material […]; man schreibt nicht mehr vorräthig, ‹man sucht nicht mehr seine Vorrathskammer zu leeren›, man bemüht sich nicht mehr, nichts zu vergessen […].» «Ohne Zweifel», heißt es an der Stelle, die Weber merkwürdig vorkam, «wird bald an die Stelle der Post der Telegraph getreten sein; wir werden nur noch durch dies rasselnde Instrument, das Bild einer materiellen und eiligen Gesellschaft, und das in dem Stil, den es anwendet, etwas weniger als das Nothwendige zu geben sucht, Mittheilungen machen.»[25]

Dass Weber mit einem Buch über Ciceros Briefwechsel beschenkt wurde, mag auf einen Hinweis seines besagten Vetters Fritz Baumgarten zurückgegangen sein. Mehr als drei Monate vor jenem Weihnachtsfest hatte sich Max Weber bei ihm über Cicero beschwert. «Ich habe bisher fast in jedem Buche über Cicero, das ich gelesen habe, ihn gelobt gefunden. Aber ich weiß wirklich nicht, worauf sich dieses Lob gründet.» Weber interessiert die politische Haltung des römischen Anwalts und Konsuls, dessen erste Anklagerede gegen den Verschwörer Catilina für ihn «eigentlich nur ein langes Gewimmer- und Klagelied» ist, das den Verschwörer seiner Sache nur desto sicherer habe machen müssen, vor allem da Cicero ihn bitte, die Stadt zu verlassen. «Konnte er ihn nicht in der Stadt festhalten und abmurksen lassen? Die Verschwörung war ja offenkundig. Keiner hätte es ihm verdacht, er sagt es ja selbst.» Nein, Cicero sei schwankend, schwach, ohne Energie und ohne das Vermögen, den richtigen Moment abzuwarten. Durch Boissiers Buch konnte er sich bestätigt fühlen, wird Ciceros eigentliche Begabung darin doch als die natürliche Eitelkeit dessen bezeichnet, der um des Gefallenwollen willens sich stets zum Zuschauer dessen macht, was er erzählt, und der durch diese Bereitschaft, sich von allem beeindrucken zu lassen, um es lebendig wiederzugeben, zu einem mittelmäßigen Politiker wurde. Wir werden Webers Art, vom Politiker Entschlusskraft und Eindeutigkeit zu fordern, in seinen politischen Einlassungen noch oft finden. Einstweilen übt er zunächst noch grimmige Entschlossenheit beim Lesen. Er habe es auf sich genommen, heißt es im August 1879 an den Vetter, sämtliche vierzehn philippischen Reden Ciceros durchzulesen, auf der Suche «nach einem Beispiel für eine bestimmte Art hypothetischer Sätze».[26] Der junge Max Weber muss die Freude oder besser vielleicht: der freudige Schrecken seiner Lateinlehrer gewesen sein.

Schlagen wir nun noch ein letztes und womöglich das wichtigste Buch auf, das der Vierzehnjährige im Winter 1878 las, Victor Hehns Buch über die Wanderung der Kulturpflanzen und Haustiere in Europa, das 1870 erschienen war und in den folgenden Jahren in rascher Folge immer wieder aufgelegt wurde. Weber hat es geliebt, es stand am Beginn seines lebenslangen Interesses für die landwirtschaftlichen Grundlagen der Zivilisation. Er wird sich über historische Agrarverhältnisse habilitieren, seine Professur erwirbt er sich durch eine Untersuchung zur Lebenssituation ostelbischer Landarbeiter, als er 1904 in den Vereinigten Staaten einen Vortrag halten soll, wählt er als Thema die Agrarverfassung Deutschlands und der Vereinigten Staaten, und noch 1909 verfasst er einen langen Artikel über «Agrarverhältnisse im Altertum».

In Victor Hehns Buch, das in den Jahren von 1855 bis 1864 entstand, in denen sein Autor Oberbibliothekar der öffentlichen Kaiserlichen Bibliothek in St. Petersburg war, begegnete Weber der These, dass die Natur ein Zivilisationsprodukt ist. Hehn ist einer der ersten Ökologen und Landschaftshistoriker. Der Historismus vollendet sich in dieser These: Nicht nur ist die Geschichte von keinerlei Naturkonstanten, anthropologischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt, vielmehr ist, was uns als Natur erscheint, seinerseits Resultat von Geschichte. «Die Natur gab Polhöhe, geologische Formation des Bodens, geographische Lage: das Übrige ist ein Werk der bauenden, säenden, einführenden, ausrottenden, ordnenden, veredelnden Kultur.» Hehn hält ein Plädoyer gegen den Kulturpessimismus, wonach früher alles kräftiger gewesen sei, die Böden ergiebiger, die Natur vielfältiger, deren gestörte Ordnung wiederhergestellt werden müsse. «Solchen Stimmungen und Phantasien gegenüber gibt es jetzt Widerlegungsgründe, die den ältesten Zeiten nicht zu Gebote standen, nämlich die Zahlen der Statistik und die Rechnungen der Naturwissenschaft.» Zugleich trägt er aber ganz trocken vor, was die Naturgeschichte dem Europäer mitzuteilen hat, nämlich die Begrenztheit seiner Fortschrittsphantasien durch die ökologischen Umstände, unter denen die Ausbeutung der Pflanzen- und Tierwelt sich vollzieht. «Was die Städte verzehren, ist dem Lande entzogen und kommt ihm gar nicht oder in geringem Maße wieder zu.»

Wir sind in einer Zeit, in der man sich der Probleme bewusst wird, die mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft einhergehen, und auch jene Bedingungen allmählich in den Blick kommen, die sich nicht vom Menschen beeinflussen lassen: «Auch England wird keinen Weizen mehr tragen, wie einst auch sein Kohlen- und Eisenvorrath erschöpft sein wird; dann wird Mexico noch fruchtbar sein, für welches aber auch der Tag der ewigen Ruhe kommen wird; und so weiter durch alle Länder beider Hemisphären durch. Und was der Mensch durch seine Nutzung nur beschleunigt, das muss auch auf dem Wege des natürlichen Pflanzenlebens, auch wenn es nie einen Menschen gegeben hatte, als letzte Folge sich ergeben. Dann wird auch, setzen wir noch hinzu, alles Gebirge auf Erden durch die Kraft der Wasser und Winde und der Verwitterung geebnet sein und die Sonne, die immerfort Wärme abgiebt, ohne dass ihr die verlorene durch irgend Etwas, so viel wir wissen, ersetzt wird, todt und kalt sein und mit ihr die Erde und der Mensch. Glücklicher Weise können wir die Zeit, in der dies Alles sich vollziehen wird, auch nicht annähernd berechnen und haben unterdes Muße abzuwarten, ob in unserer Schlusskette sich nicht irgend ein Glied als unhaltbar erweist und damit die ganze Voraussage trügerisch und zur hypochondrischen Chimäre wird.»[27] Nach dieser in ihrem Realismus wie in ihrer Skepsis gegen sich selbst eindrucksvollen Einleitung folgen bei Hehn akribische Einzelstudien über das antike Wissen vom Pferd, vom Weinbau und von der Aufzucht beispielsweise von Lauch, Feigen und Buchweizen, von der Gewinnung von Butter, Honig und Bier. Welche Bedeutung hatten Katzen, welche Blumen in der Zivilisationsgeschichte, wie verfuhr man bei der Obstzucht, wann kam Senf auf? Noch heute teilt sich die Faszination dieses Werkes mit, das dem vierzehnjährigen Weber vor Augen geführt haben dürfte, wie sich das Alltägliche über historische und philologische Studien erschließen lässt und wie viel Geschichte in dem steckt, was dinghaft vor einem steht. Und umgekehrt: dass Geschichte mindestens so sehr die Geschichte der Flachsgewinnung und des Anbaus von Reis ist wie die Geschichte der Staatsaktionen.

Was der junge Leser bei Hehn aber auch finden konnte, waren Überlegungen zum Untergang der antiken Zivilisation. Einer ihrer Grundfehler, schreibt der Historiker, sei die unwirtschaftliche Konstruktion der Gesellschaft und des Staates gewesen «und die damit zusammenhängende Abwesenheit realistischen-technischen Sinnes bei den Menschen». Der habgierige Soldatenstaat habe verzehrt, was erwirtschaftet wurde, Zölle, Staatspachten und Handelsverbote hätten den Verkehr und die Reichtumsbildung gehemmt, der Sinn von Zins und Arbeitsteilung sei unbegriffen geblieben, es habe «Gleichgültigkeit gegen reelle Naturkenntnis» geherrscht. Man könnte auch sagen: Für Hehn kannten die Römer nur räumliche Eroberung, keine intellektuelle, technische, wissenschaftliche. Ihr Staat sei nur im Recht und im Krieg leistungsfähig gewesen und diese Sphären hätten vor «dem Hauch» des ebenfalls gegenüber Naturerkenntnis gleichgültigen «neuen christlichen Geistes ihren Halt und ihre tragende Kraft» verloren.[28]

Solche Beschreibungen haben den jungen Max Weber angesprochen: In den wenigen Lebenszeugnissen, die es von ihm aus diesen Jahren gibt, tritt uns fast immer eine Person mit außerordentlich realistischem Sinn entgegen, die buchstäblich «down to earth» dachte. Seine freie Zeit wendet er zu großen Teilen an das Studium schwieriger und gelehrter Texte, die er als Prüfungen seiner Leistungsfähigkeit begreift – «hauptsächlich aber lese ich Treitschkes vortreffliches Buch über die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert […], übrigens ist das Buch in manchen Teilen sehr schwer, man muß sich gehörig anstrengen, um den Zusammenhang zu verstehen»[29] –, er exzerpiert, was ihm wichtig erscheint, und korrespondiert über das Gelesene. Von Tätigkeiten, die er mit Erwachsenen nicht hätte teilen können, ist in den vorliegenden Jugendbriefen – siebzehn Stück hat Marianne Weber ausgewählt, um Auszüge aus ihnen 1933 zu veröffentlichen – kaum die Rede.

Der Eindruck drängt sich auf, dass Max Weber sehr früh als junger oder besser: als gar nicht mehr so junger Mann behandelt worden ist und sich selbst auch so vorkam. «Es liegt, glaube ich, etwa in meiner Natur, daß ich meine Gefühle selten anderen mitteile, es kostet mich oft Überwindung, es zu tun. Ich genieße in der Regel jede Freude für mich allein, aber deshalb sind meine Gefühle doch nicht geringer, es wird mir, wie gesagt, schwer, mich zu andern darüber auszusprechen. Auch das, worüber ich nachdenke, behalte ich gewöhnlich für mich, auf die Gefahr hin, überhaupt nicht für nachdenkend gehalten zu werden. Aus demselben Grunde bin ich auch ein schlechter Gesellschafter und, wie mir schmerzlich bewusst ist, ganz untauglich in der Unterhaltung.»[30] Auch dies die Sätze eines Vierzehnjährigen, der sich wohl nur über die Gefahr täuschte, «nicht für nachdenkend» gehalten zu werden, denn Kinder, für die das gilt, beschenkte auch damals niemand mit Sekundärliteratur zu Cicero. Dafür kann er mit fünfzehn immer noch nicht schwimmen, trotzdem er im Sommer zuweilen täglich baden geht. Seine Mutter hält 1880 fest, Max bekomme immer mehr das Aussehen eines angehenden Studenten, dass er neuerdings fechte, sei insofern gut, als er sonst jeder anderen «körperlichen Ausbildung» abhold sei.[31] Er übt Klavier, spielt auch mit Nachbarjungen, aber einen Bericht vom Schneemannbauen schließt er so ab: «Sonst passiert hier nichts gerade Besonderes, und die Tage vergehen wie immer über Essen, Wachsein und Schlafen.»[32] Ein halbes Jahr später heißt es, «man schläft, isst, trinkt, arbeitet, die Zeit vergeht einem unter den Händen wie Butter», und wenn ihn doch einmal Langeweile erfasse, lerne er «Herrn von Varnbühlers Zolltarif» auswendig.[33] Karl von Varnbühler, Abgeordneter der Deutschen Reichspartei im Reichstag und insofern Kollege von Max Webers Vater, hatte im Jahr zuvor Bismarck eine Denkschrift zur Zoll- und Steuerreform vorgelegt – keine ganz typische Lektüre für einen Fünfzehnjährigen, selbst wenn es nur ein Scherz unter Verwandten gewesen sein sollte. Man muss sich den jungen Max Weber als Knaben vorstellen, der früh ernst und arbeitsam geworden ist und vor den Blicken der Älteren, die er auf sich ruhen sieht, durch Wissen und Urteilsfähigkeit bestehen will.

 

Max Weber kommt am 21. April 1864 in Erfurt zur Welt. Sein Vater, von dem er den Vornamen bekam, hatte dem Textilgewerbe seiner Vorfahren und Ostwestfalen den Rücken gekehrt – er war der jüngste Sohn und damit nach alter Sitte zum Studium frei –, hatte Jurisprudenz studiert und seine Frau, Helene Fallenstein, in Berlin kennengelernt, als er vierundzwanzig war. Als Max Weber in Erfurt geboren wird, ist sein Vater dort hauptamtlicher Stadtrat. Er hat nach dem Studium und einer kurzen Tätigkeit als Redakteur des «Preußischen Wochenblatts», eines Organs aus den Reihen des gemäßigt konservativen preußischen Kulturministers Moritz von Bethmann Hollweg, die politische Verwaltungskarriere eingeschlagen. Sie führte ihn 1861 zu einer unbesoldeten Tätigkeit in der Berliner Stadtverwaltung, im Jahr darauf nach Erfurt und 1869 wieder zurück in die baldige Reichshauptstadt, wo er als Beamter in, wie er sagte «eine der größten Kommunalverwaltungen der Welt»[34] eintrat; von 1868 an nahm er ein Mandat im Preußischen Abgeordnetenhaus wahr und von 1872 an zusätzlich das im Reichstag. In der Verwaltung war nur eine schwache Arbeitsteilung durchgesetzt: Webers Vater leitete in der Bauabteilung den Tiefbau, arbeitete in der Armendirektion, beaufsichtigte die Stadtkasse und hatte zeitweilig den Vorsitz über das städtische «Erleuchtungswesen», das sich um die Gaslichter der Großstadt kümmerte.

Max Weber sen. gehörte zu jener nationalliberalen bürgerlichen Elite, die unter der Monarchie Demokratie darstellte und das Personal für die rasch wachsende Exekutive abgab, während der Monarch unter Bismarck Kaiser sein durfte. In einer Wahlrede, die Weber sen. 1872 in Coburg, seinem damaligen Wahlkreis, hielt und in der er von sich sagte, schon in seinen jungen Jahren «Politik gleichsam als Beruf» ins Auge gefasst zu haben, in dieser Rede begründete er auch, weshalb er die Arbeit im Rathaus von Erfurt einer universitären Laufbahn vorgezogen habe: «[E]s schien mir, als ob heutzutage, wo wir der Lösung sehr realer, nüchterner Aufgaben gegenüberstehen, nicht mehr vorzugsweise die Professoren zur politischen Tätigkeit berufen seien, wie es zu einer Zeit der Fall war, als es sich noch hauptsächlich um die Verarbeitung und Verbreitung politischer Ideen handelte. Eine praktische Tätigkeit mit einem festen Wirkungskreis erschien mir die bessere Basis für den Beruf zu sein, der mir vor Augen stand.»[35]

«Politik gleichsam als Beruf»: Die verblüffende Nähe der Formulierung von Weber sen. zu einem der berühmtesten Vorträge seines Sohnes – «Politik als Beruf» von 1919 – liegt auf der Hand. Die kleine Abweichung des «gleichsam» zeigt jedoch an, dass fünfzig Jahre zuvor es eben noch nicht selbstverständlich war und mit Einschränkung deklariert werden musste, die Lebensführung aus einer politischen Tätigkeit zu bestreiten, anstatt diese auf der Grundlage einer gesicherten Lebensführung zu ergreifen. Der Schwager Hermann Baumgarten hatte 1866 noch aus dem gleichen Befund – «Politik ist ein Beruf wie Jurisprudenz und Medicin, und zwar der höchste und schwierigste Beruf, dem sich ein Mann widmen kann»[36] – geschlossen, dass eigentlich nur der Adel die Zeit dafür habe. Allerdings gab es gar nicht genug Adelige, um die Aufgaben zu bewältigen, die sich der politischen Verwaltung einer Weltstadt in jenen Jahren zu stellen begannen.

Der Haushalt, in dem Weber groß wird, ist von diesen vielfältigen Amtsgeschäften des Vaters geprägt, nämlich einerseits von seiner ständigen Abwesenheit, der Parlamente, der Verwaltung und der Wahlreisen wegen, und andererseits von der politischen Nutzgeselligkeit, die er pflegt, Einladungen von Abgeordneten, Beamten, Gesinnungsfreunden und so weiter. Zunächst wohnt man zur Miete in Tempelhof, dann wird 1872 ein Haus gekauft, in der Leibnizstraße 19 in Charlottenburg – heute mitten im «alten Westen», damals aber und bis 1920 noch nicht zu Berlin gehörig: «In Berlin und außerhalb Charlottenburgs bin ich noch gar nicht wieder gewesen», heißt es in einem Jugendbrief.[37] Die «Villa Helene», wie sie in der Familie genannt wurde, verfügt über einen Garten, der etwa zweieinhalbtausend Quadratmeter groß gewesen sein muss. Fast wie auf dem Lande, erinnert sich Marianne Weber,[38] sei man dort aufgewachsen. «Eine Ritterburg im Duodezformat» traf Ida Baumgarten, Max Webers Tante, bei ihrem ersten Besuch an, vier Stockwerke inklusive zweier Türmchen, acht Zimmer, «für Gäste, Mann und Kinder reizend […], für die Hausfrau mit kleinem Kind furchtbar beschwerlich».[39] Nicht nur der vielen Treppen halber, denn Helene Weber leidet unter der Abwesenheit des Mannes, der vielen Arbeit im Haus, die sie aber auch nur ungern delegiert, der ungeliebten Rolle als Gastgeberin für die Kreise, in denen sich ihr Gatte bewegt, sowie unter den Sorgen, die sie sich ständig um die Kinder macht und am meisten um Max.

Das Leben Helene Webers, geb. Fallenstein, war eine einzige Abfolge von Sorgen, es lagen mehrere Schatten auf ihm. Sie war sechzehn, als sie im September 1860 ihren späteren Gatten kennenlernte, und verlobte sich schon kurz darauf mit ihm. Das war völlig ungewöhnlich in einer Zeit, in der solche Entscheidungen in der großbürgerlichen Schicht, mit der wir es zu tun haben, sorgfältig abgesprochen und vorbereitet zu werden pflegten, zumal wenn es sich um eine Verlobung zwischen so jungen Personen handelte. Es heirateten schließlich nicht nur zwei Personen, sondern in jenen Kreisen stets auch zwei Vermögen, zwei Erbschaftsansprüche, zwei, wenn man so sagen darf, Knotenpunkte im Netzwerk hochrangiger sozialer Beziehungen. Das sollte nicht einfach dem Zufall momentaner Gefühle überlassen werden. Das Vokabular der reinen Liebesheirat war zwar schon durchgesetzt, aber eben nur als Vokabular, das den Betroffenen vorschrieb, sich zuerst zu verlieben, dann aber ordnungsgemäß und nach Absprache das passende Gegenüber zu heiraten.

Helenes Vater, Georg Fallenstein, freilich fiel als denkbare Instanz der Eignungsprüfung des Verlobten aus; er war schon 1853 verstorben. Nur ihre Mutter, Emilie Fallenstein, geb. Souchay, die den Reichtum und das weitgespannte Elitennetzwerk repräsentierte, lebte noch. An die Stelle des Vaters hatte sich informell dessen Freund und Biograph, Georg Gervinus, gesetzt.[40] Der Historiker war in Fallensteins Todesjahr kurzzeitig aufgrund seiner «Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts» wegen demokratischer Publikation als Hochverräter verurteilt worden, was zwar nicht rechtskräftig und von einem Oberhofgericht aufgehoben wurde, ihn aber dennoch die Lehrberechtigung der Universität Heidelberg kostete. Als Privatgelehrter arbeitete er weiter an seinen historischen Forschungen, in die er Hermann Baumgarten einspannte, der auf diese Weise im Hause Fallenstein seine spätere Frau Ida kennenlernte, Helenes sieben Jahre ältere Schwester. Gervinus erteilte den Töchtern Fallensteins, Ida, Henriette und Helene, Unterricht in Literatur, alten Sprachen, Musik und Geographie und drängte sich dabei, fünfundfünfzig an Jahren, der minderjährigen Helene sexuell auf, was die Familie allmählich mitbekam. Ob es bis zu einer Vergewaltigung ging, ist unklar, aber zum Beweis der Nötigung genügt es, aus einem Brief zu zitieren, den Helene im Januar 1861 an Ida schrieb, nachdem Gervinus Hausverbot erhalten hatte: «Er hatte mich nicht lieb, wie man ein Kind lieb hätte, sondern wie eine Geliebte, aber er machte mir Zumutungen, die ein Liebender seiner Geliebten nicht machen darf, und sein Weib war und bin ich doch nicht. […] Ich ekelte mich manchmal vor mir selber und dachte oft, dass es besser wäre ich spränge in den Neckar als dass es so fortginge. […] Dann sagte er immer wenn ich geistig mit ihm recht zusammen wachse, so würde er mich mit dem anderen in Ruhe lassen.»[41]

Die schnelle Verlobung Helenes mit Max Weber sen. mag darum auch aus dem Bedürfnis entsprungen sein, diese ungeheure Verstörung loszuwerden und den Ort, an dem sie stattfand, hinter sich zu lassen. Was blieb, war eine fortdauernde Entfremdung gegenüber der Sexualität. Jedenfalls sieht das der Sohn so. «Gervinus war Mamas schwärmerisch verehrter Lehrer, der berühmte Historiker. Mama hatte mit ihm das furchtbare Erlebnis, daß er sich in plötzlicher Gier an ihr zu vergreifen suchte. Das wurde für Mamas ganzes späteres Empfinden gegenüber dem sinnlichen Leben bestimmend», schreibt Max Weber 1910 an seinen Bruder Arthur, um ihm zurückliegende Familienkonflikte zu erklären.[42] Doch auch Helene Weber spricht sich darüber aus: «Ich komme ja aus der Zeit, wo der Körper nur als Träger der Seele sein Recht haben sollte, und ach, wie oft, gerade in der Ehe, war mein Flehen, ach wäre ich, wäre ‹er› ihn doch los oder verstände Herr darüber zu sein. Es ist dies auch vielleicht noch ein besonders starkes Erbteil der Mutter und religiös puritanischer Abstammung von beiden Eltern.»[43] Beide Mitteilungen zeigen, was wir später auch an Webers eigenem Leiden sehen werden, dass noch die intimsten biographischen Details innerhalb der Familie ausgiebig debattiert wurden. Sexualität beispielsweise war alles andere als tabu, sondern unter Verwendung bestimmter Sprachkonventionen ständiges Thema.

Das machte die psychische Belastung der Beteiligten unter Umständen jedoch nicht geringer, sondern größer. Es waren Formen zu wahren; Gervinus etwa wurde nicht angezeigt oder völliger Missachtung überantwortet, aber auf der Hinterbühne wurden Briefe über das Vorgefallene ausgetauscht, und es verbreitete sich das Wissen davon, was der Mutter in ihrer Jugend geschehen war, auch bei den Kindern. Zur Wahrung der Form gehörte dabei, dass die sexuell Schockierte sofort in eine Ehe flüchtete, von der sie wissen musste, und dann auch erfuhr, dass ihr dort Sexualität abverlangt werden würde. Was aber hätte sie auch stattdessen tun sollen? Das Leben konnte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts insbesondere für Frauen wie eine Falle erscheinen. Helene Weber bekommt zwischen 1864 und 1880 fast alle zwei Jahre ein Kind. Und dennoch interpretiert sie diese Falle als Pflicht, als Aufforderung, sich zu opfern. Zugleich leitet sie aus dem Opfer, das sie bringt, auch die Erwartung ab, dass andere das Weltbild bestätigen, dem zufolge solche Opfer mit moralischen Prämien vergolten werden. Doch während der Vater Max Webers die Anforderungen genießt, die sein Beruf an ihn stellt und auch zu Hause nur Erwartungen anmeldet, die volle gesellschaftliche Deckung besitzen – das funktionierende Heim, die geselligkeitsfähige Gattin, die Reproduktion der Familie –, muss die Mutter ihre Erwartungen gewissermaßen privat durchsetzen. Als überprivate Ressource dient ihr dabei eine Religion, die das Opfer in den Mittelpunkt stellt. Das erklärt auch den Moralismus ihrer Erziehung; es liegt nahe für eine sehr junge Frau, die ein ganzes Haus zu führen und viele eigene Kinder aufzuziehen hat, Prinzipien zuzuneigen.

Max Weber ist das erste von acht Kindern, wird als Stammhalter angesprochen und später oft die Rolle dessen annehmen, der für seine Geschwister spricht. Zwei Geschwister sterben früh, Anna 1866 direkt nach der Geburt, Helene 1877 vierjährig; Weber ist dreizehn und erlebt den Tod der Schwester also bei schon wachem Bewusstsein und Erinnerungsvermögen. Seine Tante Ida, die engste Vertraute seiner Mutter, hatte im Jahr seiner Geburt zwei Kinder verloren, darunter ihre erste Tochter, die einjährig nicht einmal drei Wochen vor Maxens Geburt starb. Von Idas insgesamt ebenfalls acht Kindern wurden nur vier älter als sieben Jahre. Das war damals keine Seltenheit, Helene Fallensteins Onkel, Eduard Souchay, verlor mit seiner Frau sechs von neun Kindern.[44] Helene selbst fiebert im Kindbett, Max wird als Säugling von einer Amme ernährt, einer Tischlerfrau, die kurz zuvor niedergekommen ist. Im Alter von zwei Jahren erkrankt er an Gehirnhautentzündung, die damals noch nicht medikamentös heilbar, ja nicht einmal dem Erreger nach identifiziert ist, und die, so berichtet die Mutter, Spuren der Ängstlichkeit an ihm hinterlässt. Es ist der Auftakt zu einer langen Krankheitsgeschichte. Zugleich erfährt Max von Beginn seiner Kindheit an bis ins Erwachsenenalter eine immense Zuwendung seiner Mutter. «Jedem leichten Genießen», schreibt sie, «war ein Ende gemacht, mir dafür aber auch die tiefinnerste Freudigkeit gegeben, meinen Mutterpflichten mit Hintanstellung alles anderen genügen zu wollen.»[45]