Die Gesundheitsdiktatur - Peter P. Nawroth - E-Book

Die Gesundheitsdiktatur E-Book

Peter P. Nawroth

5,0

Beschreibung

Sie wollen gesund bleiben? Essen Sie Gemüse, schlucken Sie Vitamine und treiben Sie Sport! Ist es wirklich so einfach? Und warum glauben wir das? Und was, wenn alles, was wir in Sachen Gesundheit von Kindesbeinen an gelernt haben, hanebüchener Unfug wäre? Diät, Sport, Vitaminpräparate – all das soll uns Gesundheit garantieren und Krankheit abwenden. Gesundheitsgurus und Pharmaindustrie leben hervorragend davon. Viele von uns orientieren sich an deren Diktat – bis ein neuer Trend den alten ablöst. Dem gegenüber steht eine Medizin, die oft nur noch repariert statt zu heilen und hilflose Patienten zurücklässt. Einer der angesehensten Mediziner Deutschlands klärt auf über die Fehlinterpretationen der medizinischen Wissenschaft. Er widerspricht Empfehlungen für einen Lebensstil, der nur Geld kostet, ohne echten Nutzen zu bringen. Und sensibilisiert für eine sichere Orientierung im Dschungel der falschen Propheten und Gesundheitsfallen.

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Copyright der deutschen Ausgabe 2016:© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Holger Schiffelholz

Gestaltung, Satz und Herstellung: Martina Köhler

Lektorat: Egbert Neumüller

Korrektorat: Hildegard Brendel

ISBN 978-3-86470-320-1eISBN 978-3-86470-329-4

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]/plassenverlag

INHALT

Vorwort und Fragestellung

1. Wissenschaftliche Studien – oder: Eine kurze Interpretationshilfe im Dschungel der Daten

2. Die Verantwortung der Wissenschaft – oder: Die Verführung zur Selbstherrlichkeit

3. Die gesellschaftlichen Aspekte – oder: Warum das Thema Lebensstil nicht nur eine wissenschaftliche Angelegenheit ist

4. Warum das Thema Lebensstil und Krankheitsprävention uns alle betrifft – oder: Wie wir uns mithilfe verschiedener Wissenschaften ein Urteil bilden können

5. Gesundheit durch Religiosität – oder: Glaube und Irrglaube

6. Wie kommen Medizin und Theologie zu einer gemeinsamen Bewertung der Frage des Lebensstils – oder: Warum und wo beide ins Gespräch kommen

7. Epidemiologie, eine statistisch basierte Wissenschaft und ihre Tücken – oder: Warum es beim Thema Übergewicht eine so große Verwirrung gibt

8. Sport und Verbesserung der Langlebigkeit bei Gesunden – oder: Warum man sich Gesundheit nicht erarbeiten kann

9. Das Übergewicht ist eine Seuche – oder: Übergewicht als Folge einer Fehlentwicklung in der Gesellschaft?

10. Diabetes und seine Prävention – oder: Wie der Glaube an eine messbare Größe allen den Kopf verdreht

11. Ist das Ziel der normnahen Glukosekontrolle des Diabetikers sinnvoll – oder: Gibt es eine „personalisierte“ Medizin?

12. Aspekte des Alterns – oder: Die große Flucht?

13. Testosteron und Vitamin D3 für älter werdende Menschen – oder: Hormonwunder gibt es immer wieder?

14. Diät für Gesunde – oder: Essverhalten als Konsequenz der gesellschaftlichen Einbindung?

15. Vitamine als Schenker der Zukunft – oder: Wie viel Angst haben wir?

16. Therapie mit nicht wirksamen Substanzen – oder: Wie viel Placebo brauchen wir?

17. Mediterrane Kost – oder: Die Wunderlösung vom Mittelmeer?

18. Fehlverstandene Wissenschaft – oder: Der Bezug des Gesundheitswahns zum Menschenbild

19. Vom Gottesbild zum Menschenbild – oder: Warum es sich lohnt, sich mit Theologie zu befassen

20. Die Selbstbegrenzung der Medizin – oder: Wie leicht die medizinische Wissenschaft übermütig wird

21. Körperbild und Selbstverständnis – oder: Wie die Medizin uns verändert

22. Schall und Rauch – oder: Wie man über Gesundheit und medizinische Forschung anders denken kann

23. Heilung und Fürsorge für Kranke im Neuen Testament – oder: Lassen sich die Heilungsberichte im Neuen Testament auch modern lesen?

24. Die Fremdbestimmtheit der Gesundheit – oder: Die Rolle von Gnade und gesundem Menschenverstand

25. Begrenzung der Wissenschaft – oder: Die Gefahren der Vereinnahmung der Medizin durch Ideologie

26. Lebensstil versagt – oder: Der Lösungsweg ist die Lebenskunst

27. Welche Folgerungen sind nun aus dem Diskurs zu ziehen – oder: Wie geht es weiter?

28. Weiterführende Literatur

Danksagung

VORWORT UND FRAGESTELLUNG

WORUM GEHT ES?

Es geht um Lebensstil. Das klingt harmlos, uninteressant und unspektakulär. Überlegt man jedoch, was sich hinter diesem Begriff verbergen kann, wird es spannend. Denn unter den Begriff „Lebensstil“ fallen so wichtige das Leben bestimmende Dinge wie Religiosität, das Einhalten traditioneller Lebensformen einschließlich Reinheits- und Bekleidungsgeboten, aber auch andere Dinge, die keineswegs als unwichtig gelten können: Ernährungsweisen, Bewegung, Kontrolle des Körpergewichts und vieles mehr. Alle diese Punkte verbindet eines: Sie betreffen ganz zentrale Aspekte des Lebens, der Lebensgestaltung und des Wohlbefindens. Daher sind Änderungen im Lebensstil immer ein tiefer Eingriff in die Freiheit der individuellen Lebensgestaltung. Das gilt auch, wenn es um Eingriffe in den Lebensstil geht, die die angeblich gesunde Lebensführung betreffen. Für einen Eingriff muss es immer eine Berechtigung geben. Für einen die Gesundheit betreffenden Eingriff in die Lebensführung eines Menschen kann die Berechtigung nur aus wissenschaftlichen Studien kommen, die belegen, dass ein Eingriff tatsächlich der Gesundheit des anderen Menschen nutzt. Der Nachweis der Wirksamkeit ist das einzige, worauf eine Empfehlung, den Lebensstil zu ändern, beruhen darf. Die Freiheit des Einzelnen, sein Leben nach seinen Wünschen, Bedürfnissen und Gegebenheiten zu gestalten – mithin seinen persönlichen Lebensstil zu wählen –, ist Ausfluss der unantastbaren Würde des Einzelnen. Doch liegen entsprechende wissenschaftliche Studien überhaupt vor? Studien, die nachweisen, dass ein bestimmter Lebensstil die Gesundheit bei Gesunden verbessern kann? Das Buch wird darüber aufklären.

Daher geht es in diesem Buch um eine für Medizin wie Politik, Rechtswissenschaft, Ethik und Theologie gleichermaßen zentrale Frage: Wie halten wir es mit dem Respekt vor der unantastbaren Würde des Menschen? Zwar wird die Würde in ihrer Unantastbarkeit in Feiertagsreden immer betont. Die Bewahrung und Beachtung der Menschenwürde gilt als unverrückbarer Eckpfeiler unserer Gesellschaft. Doch ist dies wirklich so?

Wäre dem so, gäbe es gar keinen Grund, ein Buch zu schreiben, in dem die Gefährdung der Unantastbarkeit das zentrale und immer wiederkehrende Thema ist. Doch wo lauert die Gefahr?

Gerade beim Thema Gesundheit und Lebensstil scheint es doch klar zu sein, dass man Mitmenschen etwas Gutes tun will, ihnen zu einem besseren Leben zu verhelfen. Dieser naiven Anschauung, diesem guten Glauben an die Richtigkeit der Interpretation wissenschaftlicher Daten widerspreche ich. Also habe ich mit dem Buch ein Anliegen, ein Anliegen, das ich anderen mitteilen möchte. Dieses Anliegen ist die Sorge, dass aufgrund falsch verstandener und falsch interpretierter wissenschaftlicher Daten der Respekt vor der Unantastbarkeit der Würde des Mitmenschen in Gefahr ist, wenn nicht sogar mit Füßen getreten wird.

Die Gefahr entsteht durch die Popularisierung von Forschungsdaten, die unkritisch auf andere übertragen werden. Es ist ja bekannt, dass man sich krank essen und durch zu wenig Bewegung schädigen kann. Inzwischen kam die Idee auf, die akzeptiert und verbreitet wurde: Auch das Gegenteil müsse stimmen. Der Kehrsatz von „Man kann sich krank essen und durch falschen Lebensstil Krankheit erzeugen“ lautet:

„Gesunde können durch einen bestimmten Lebensstil ihre Gesundheit verbessern oder verstetigen.“ Die Folge: Man rät Menschen zu einem „gesunden Lebensstil“, in der Annahme, die gleichen Empfehlungen würden allen nutzen. Es ist das Ziel des Buches aufzuzeigen, was bei Themen wie Sport, Ernährung einschließlich der so gepriesenen mediterranen Kost, Vitamine, Fischöl, Übergewicht und Diabetes tatsächlich wissenschaftlich erwiesen ist und was nur Ideologie. Der Leser soll sich selber über die aktuellen Studien zu diesen Themen informieren können.

Es geht um die Frage, ob die Wissenschaft wirklich für eine Einzelperson so sicher vorhersagen kann, was der richtige Lebensstil ist, um diesen angeblich als gesichert geltenden richtigen Lebensstil anderen aufzudrängen. Es geht nicht darum, daran zu rütteln, dass gesichert ist, wie man sich durch einen falschen Lebensstil schaden kann. Aber es geht darum, zu hinterfragen, ob der öffentlich erzeugte Druck, bestimmte messbare Lebensstilkriterien einzuhalten, gerechtfertigt ist. Es geht darum, zu hinterfragen, ob man durch einen bestimmten Lebensstil seiner Gesundheit nutzen kann, um „gesünder als gesund“ zu werden. Es geht darum, zu hinterfragen, ob es genügend Daten gibt, die es denen, die diese Daten kennen, erlauben, ihre Vorstellung des richtig gesunden Lebens anderen aufzudrängen. Die Darstellung der wissenschaftlichen Daten wird zeigen: Der Gesunde kann sich nicht gesund essen, wohl aber durch Fehlernährung Krankheit verursachen.

Das ist wichtig, denn Ratschläge, was man tun und lassen solle, werden in unserer Gesellschaft nicht nur sehr eindringlich verbreitet, sie bedrängen einen geradezu. Nichtbefolgen dieser angeblichen Erkenntnisse wird mit Sanktionen bedroht. Normen des Verhaltens und Normen des Aussehens werden dafür geschaffen. Die Folgen für Psyche und Schicksale bleiben unbeachtet. Diese Normen schreiben vor, was „richtig“ ist, und sagen uns:

Wir sind zu dick, wir essen falsch, wir treiben zu wenig Sport. So wird uns eingeredet – alles angeblich auf fester wissenschaftlicher Erkenntnis beruhend. Die Wissenschaft sagt uns, wie denn nun jeder sein Leben zu führen habe. Es scheint klar zu sein, was jeder zu wiegen hat, weil eine bestimmte Menge an Fettmasse ideal sei oder dass zu viel schädlich sei. Diejenigen, die die angeblich gesicherten wissenschaftlichen Daten auf die zu beglückenden Mitmenschen gießen und sie angeblich zum Glück bringen, sagen uns, wie viel Süßes oder Salziges man essen sollte beziehungsweise nicht essen darf. Die Gesundheitsapostel wissen, angeblich wissenschaftlich basiert, wie viel Alkohol der Mensch zu sich nehmen sollte, natürlich mit klarer Aussage, ob Rot- oder Weißwein. Selbstverständlich ist auch bekannt, wie viele Minuten pro Tag man sich mit welcher Pulsrate zu bewegen hat. Die Wissenschaft ist angeblich objektiv, nicht anzweifelbar, die Daten so eindeutig, dass aus dem Recht zur Belehrung und Information geradezu eine moralische Pflicht wird, die potenziellen Segnungen wissenschaftlicher Erkenntnis allen zuzutragen. Und alle sollen gehorchen.

Es geht um die Frage, ob die Wissenschaft nun wirklich herausgefunden hat, wie jeder sein Leben zu führen hat und in einer Solidargemeinschaft auch führen muss, ansonsten macht er sich – da er unnötig Kosten verursacht – an der Solidargemeinschaft schuldig. Damit geht es um den Allmachtsanspruch der Gesundheitswissenschaften in Anbetracht der zu schützenden Würde zur selbstbestimmten Lebensführung des Einzelnen.

Was darf die Gesundheitswissenschaft an der Lebensgestaltung des Mitbürgers bestimmen, wozu darf sie ihn zwingen? Sind Ratschläge harmlos, weil sie nur Ratschläge sind, oder können sie zum Zwang werden, wenn sie von Medien und Ärzten gleichermaßen weit verbreitet werden? Es gilt zu prüfen, ob der erzeugte Druck zum gesunden Lebensstil die Grenzen des „guten Rates“ überschritten hat und anfängt, Mitmenschen Zwängen mit potenziellen schädlichen Nebenwirkungen auszusetzen. Daher werden Studien und ihre Stärken oder Schwächen in diesem Buch nicht nur vorgestellt, sondern zusätzlich im Hinblick auf die Unantastbarkeit der Würde des Einzelnen und auf das Menschenbild beleuchtet.

Wo fangen die Grenzen der Wissenschaft an? Das betrifft nicht nur die Frage des Umgangs der medizinischen Forschung mit ihrem Objekt Mensch, es betrifft auch die Frage, ab wann Daten einer wissenschaftlichen Studie, der der Proband ja nach Aufklärung zugestimmt hat, als gesicherte Therapie auf andere übertragen werden dürfen. Wie bleibt medizinische Wissenschaft also human? Wie bleibt nicht nur die Wissenschaft human, sondern auch ihre Anwendung im Rahmen der Umsetzung in praktische Medizin? Somit geht es in diesem Buch auch um die Frage der Balance zwischen „Hominisierung“ und „Humanisierung“ der Medizin.

Der Begriff „Lebensstil“ klingt so harmlos. Die Ratschläge, die gegeben werden, um den eigenen falschen Lebensstil den angeblichen wissenschaftlichen Erkenntnissen anzupassen, klingen so wohlgemeint. Aber Essen und Bewegung sind wesentliche Inhalte einer selbstbestimmten Lebensführung. Hier einzugreifen heißt, sich vorher wirklich sicher zu sein, was an diesen Ratschlägen nun an Wirkung und Nebenwirkung zu erwarten ist. Wer keine Sicherheit hat, dass die Ratschläge etwas nutzen, wobei die nötige Sicherheit nur aus wissenschaftlichen Studien kommen kann, muss sich mit Empfehlungen zurückhalten. Damit stehe ich als Autor des Buches vor einer großen Hürde: Ich widerspreche der Mehrheit, ich widerspreche Fachgesellschaften, Experten und der im Allgemeinen als gesichert geltenden Mehrheitsmeinung.

Also: Nur eines der typischen Bücher eines Querkopfs, der dadurch Popularität sucht, dass er sich gegen die allgemeine Auffassung stellt, oder steckt doch mehr dahinter? Hier sollten Sie sich überraschen lassen! Es geht um mehr als nur einen Expertenstreit.

Denn es geht um die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen in all ihren Teilaspekten. Unteilbarkeit der Würde der Einzelperson begründet die Achtung vor der Einmaligkeit jedes einzelnen Mitmenschen. Unteilbarkeit der Würde bedeutet auch, dass Ratschläge für ein gesundes Leben seitens der Ärzte, der Kirchenvertreter, Politiker, Ernährungswissenschaftler oder Sportwissenschaftler nur im Hinblick auf die einzelne Person mit ihrer unantastbaren Würde gegeben werden können. Es geht damit um die Frage, was beispielsweise Vertreter der Politik oder der Kirche an Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müssten, ehe sie angeblich gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Forschung weiterverbreiten. Damit hat dieses Buch auch die Aufgabe, Hinweise zu geben, wie man Studien „liest“, sie interpretiert, und welche Kriterien an medizinische Studien angelegt werden müssen, welche Hürden überwunden sein müssen, ehe man Studienergebnisse verallgemeinern und auf andere Menschen anwenden darf, ehe man eine Therapie, einen Eingriff, durchführt.

Dies ist so wichtig, weil eine Empfehlung für ein gesundes Leben oder – noch schwerer wiegend – eine klare Aussage, was jemand zu tun oder zu unterlassen (!) habe, um nicht krank zu werden, immer ein tiefer Eingriff in die ganz individuelle Lebensgestaltung bedeutet. Dies erfordert hohe Verantwortung aufseiten derer, die Ratschläge geben und meinen, die Lebensformen anderer bewerten zu können. Dieser Verantwortung sollten sie nach Lektüre des Buches etwas besser gerecht werden können.

Es geht also auch darum, diejenigen in die Verantwortung zu nehmen, die Ratschläge für eine gesunde Lebensführung geben. Sie darauf aufmerksam zu machen, was das für denjenigen bedeutet, dem man den Rat erteilt. Wenn er sich krank isst, gilt nicht der erste Blick dem Ratschlag, was er nun besser zu machen habe. Humanisierung der Medizin meint in diesem Buch, dass der erste Blick der Ursache gilt, dem tieferen Grund, warum jemand einen Lebensstil wählt, der ihm schadet. Die Aufgabe lautet dann, dem Mitmenschen zu helfen, die Wurzel seines Problems zu erkennen, ihm dort zu helfen, wo die Problematik entsteht. Ist es so abwegig zu denken, dass er durch einen ungesunden Lebensstil ein anderes Problem löst und dass seine Problemlösung dann sekundär zum Gesundheitsproblem wird? Dann wäre ja der richtige, dem Menschen gerecht werdende Ansatz nicht eine Ernährungsberatung oder ein finanzieller Anreiz, sein Essverhalten zu ändern, sondern die Frage, wie man seine Lebenssituation so beeinflussen kann, dass der „falsche“ Lebensstil nicht mehr nötig ist, um das Grundproblem, zum Beispiel Einsamkeit, zu mildern.

Es wird auch die Frage gestellt, was es für die weitere Entwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Medizin bedeutet, wenn man zu früh, zu voreilig ihre Daten und Ergebnisse auf die Bevölkerung umsetzt. Schaden fernzuhalten ist das höchste Gut der Medizin, nicht aber, jede Mode an allen auszuprobieren. Nur im Bewusstsein dieser besonderen Verantwortung können Empfehlungen bezüglich des richtigen Lebensstils, der richtigen Ernährung, ausgesprochen werden. Verantwortung bedeutet einerseits, sicherzustellen, dass die Aussage wissenschaftlich korrekt ist. Andererseits fordert die Verantwortung auch, sich bewusst zu sein, dass es immer eine einzelne Person ist, die nach dem für sie selber richtigen Weg fragend den Ratschlag entgegennimmt und umsetzt. Da dies doch Allgemeingut und keineswegs strittig ist, könnte man fragen, wozu dann das Buch?

Die Antwort ist einfach: Das Problem liegt in den nicht erkannten Tücken der medizinischen Forschung. Die Tücken liegen in den Details der Studien. An dieser Stelle im Vorwort nur ein kleines Beispiel:

Wenn mit einer Therapie eine Millionen Menschen behandelt werden müssen, um statt zwei Erkrankungen nur eine Erkrankung auftreten zu lassen, ist dies eine Risikoreduktion um 50 Prozent. Wenn durch eine Therapie aber nur zehn Menschen behandelt werden müssen, um die Erkrankungshäufigkeit von zwei auf eine Erkrankung zu reduzieren, beträgt die Risikoreduktion ebenfalls 50 Prozent.

Beide Male errechnet sich eine Risikoreduktion um 50 Prozent, dennoch sind die Studien völlig unterschiedlich zu interpretieren. Während man bei der ersten Therapieform sehr vorsichtig evaluieren muss, ob man fast einer Millionen Menschen eine Therapie zumutet, die den allermeisten nichts nutzt, kann man bei der zweiten Therapieform, bei der nur neun Menschen unnötig behandelt werden, etwas mutiger sein. Sollte also eine Empfehlung auf einem minimalen Effekt beruhen, der beim Einzelnen kaum nachweisbar ist, weil er so gering ist, und der nur dann statistisch signifikant wird, wenn er mit Tausenden von Menschen multipliziert wird, dann ist dies eine vielleicht wissenschaftlich korrekte Erkenntnis. Sie ist aber nicht geeignet, um als Ratschlag für eine bessere Gesundheit bei einem Mitmenschen einen Eingriff in seine persönliche Form der Lebensführung zu begründen. Es geht also um die Bewertung wissenschaftlicher Studien. Damit besteht eine Aufgabe des Buches darin, den Leser in den Stand zu versetzen, sich die nötigen Informationen über die Aussagefähigkeit wissenschaftlicher Studien selber erarbeiten zu können. Daher unternimmt das Buch den Versuch, dem Leser Kriterien an die Hand zu geben, um Auswirkungen scheinbar guter Ratschläge selber abschätzen zu können. Natürlich weiß ich, dass nur einige Studien genannt werden können und dass Unvollständigkeit Teil der Selektion der vorgestellten Studien sein wird. Ich verspreche Ihnen aber: Ich habe nicht tendenziös ausgewählt.

Es ist Ziel dieses Buches, den schwierigen didaktischen Spagat zwischen einfacher Formulierung und doch korrekter Information zu gehen. Das Buch versucht, den Spagat zwischen schwer lesbarer Sachinformation und spannender Interpretation zu schaffen. Spannung beim Lesen durch scheinwerferartiges Beleuchten einer Fachfrage, einer wissenschaftlichen Studie, aus verschiedenen Disziplinen. Dies ist wichtig, denn keine Wissenschaft kann behaupten, allein „den Menschen zu verstehen“, ihm ganz genau zu „seinem“ Glück verhelfen zu können. Es geht also um Grenzziehung, um Verhinderung der Überinterpretation medizinischer Studien.

Zudem werden Informationen über Gesundheit viel zu oft durch Geschäftemacher gesteuert. Deren gibt es in den verschiedensten Berufsgruppen mehr als genügend. Viele Berufsgruppen beschäftigen sich mit dem Thema Gesundheit. Alles hoch engagierte Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, bei Krankheit zu helfen. Jedoch verlaufen sich viele im großen Irrgarten der Unmengen an wissenschaftlichen Daten dadurch, dass sie die Möglichkeiten des helfenden Tuns überschätzen. Durchaus aus Liebe zu ihrem Beruf und Stolz darauf. So geraten sie dann ins Dickicht der Berufsinteressen und verlaufen sich. Sicherlich nicht immer, weil sie bestechlich und korrupt wären oder weil sie direkt davon profitieren würden. Die meisten verirren sich aus gutmütigem Glauben an ihren Berufsstand. Sie sind betroffen, wenn beim Auftreten einer Krankheit der Patient fragt:

Was hätte ich anders machen können?Warum haben Sie mir nicht geholfen, schon früher die Erkrankung zu entdecken?Wieso bekam ich keine Ratschläge, wie man die Erkrankung verhindert?Hätte ich doch … ! Ja – hätte ich doch, als ich noch gesund war!

In dieser Not reift dann bei den verschiedenen Berufsgruppen der verständliche Wunsch, zu zeigen, was man kann, könnte oder gekonnt hätte. Man ist ja stolz auf seinen Beruf. Es wird überlegt, ob man nicht doch schon hätte etwas tun können, als der Mensch noch gesund war. Genau dieser liebenswerte Wunsch ist die Lücke, in die die Lebensstil-Ideologie stößt: helfen vor Beginn der Erkrankung, helfen mit Mitteln, die keine Nebenwirkungen haben, sondern nur die Gesundheit verbessern, festigen, verstetigen. Beim anderen wächst vielleicht doch die Gier, die Lust am Geldverdienen, denn er sieht das Opfer in Sorge und weiß, dass er nun an ihm verdienen kann. Die Sorge, die Not, der Schmerz und das Leid – alle vier sind Eintrittspforten für unseriöse Versprechungen.

Die Gesundmacher greifen bei solch existenziellen Fragen mit ihren Versprechungen ein, schon ganz am Anfang helfen zu können. Sie sagen: Man war ja nie richtig gesund, sondern man merkte angeblich seine in den Anfängen steckende Krankheit nur noch nicht. Die Idee der Prophylaxe nimmt Gestalt an, sie wird zum Versprechen für diejenigen, die noch nicht krank sind. Dieses Versprechen zu beleuchten – wo stimmt es, wo nicht? – ist eine Aufgabe des Buches, das sich allerdings fast ausschließlich auf die Gesunden fokussiert, also auf diejenigen, die Angst haben zu erkranken. Das Buch ist geschrieben für diejenigen, die noch gesund sind, aber trotzdem jetzt schon Vorsorge betreiben möchten und fragen, ob das Angebot der Lebensstil-Intervention seriös ist. Hier werden auch einige Studien gezeigt, die Menschen mit einem erhöhten Risiko für eine Erkrankung betreffen, und es wird untersucht, welche Ratschläge man ihnen geben kann.

Denkt man die Idee der Prävention mithilfe eines angeblich gesunden Lebensstils präzise durch, dann kommt plötzlich eine ganz erstaunliche Erkenntnis: Die Geburt ist der Beginn der Krankheitsentstehung! Was für eine pessimistische Lebenssicht! Welch große Chance für diejenigen, die auf dem Gesundheitsmarkt nicht bei Kranken, sondern bei Gesunden ihr Betätigungsfeld suchen! Bei Erkrankten ist dies viel schwerer, denn da ja im Rahmen der Solidargemeinschaft diese für die Therapie bezahlt, hat die Solidargemeinschaft auch das Recht, überprüfen zu lassen, ob eine angebotene Therapie mehr nutzt oder mehr schadet. Deswegen haben es diejenigen, die bei Krankheit helfen wollen, viel schwerer als die Lebensstil-Ideologen. Bei der Therapie von Erkrankungen verlangt der Gesetzgeber einen Wirkungsnachweis. Diejenigen, die Therapien für Kranke anbieten, haben es nicht nur schwerer als die Lebensstil-Therapeuten, weil sie erst den Nutzen beweisen müssen, ehe sie die Therapie aus dem Topf der Solidargemeinschaft bezahlt bekommen. Von Ihnen wird außerdem auch mehr verlangt, ihr Tun wird noch aus einem ganz anderen Grund kritisch hinterfragt: Sie sind ja zu spät gekommen! Nicht nur aus gut verständlicher Sicht des Erkrankten, auch aus Sicht der Solidargemeinschaft, die gemeinsam für die Ausgaben der Krankenkassen aufkommt, wäre es besser (und billiger), der Mensch wäre erst gar nicht erkrankt. Bei Krankheiten kann die Medizin oft nur Leiden lindern, aber nicht heilen. Die Medizin ist dann – das macht sie so wenig spektakulär – auf Fakten angewiesen und darf der Versuchung der großen Versprechung nicht erliegen. Sie ist auf Interventionsstudien angewiesen, die von den Fachgesellschaften und Krankenkassen anerkannt sein müssen, um eine Therapieform erstattungsfähig zu machen. Diese Studien gibt es, sie werden aber nur teilweise vorgestellt, da sich das Buch auf den Bereich der Medizin konzentriert, in dem nur ein Erkrankungsrisiko, aber noch keine richtige Erkrankung aufgetreten ist. Die Studien aber, die sich auf Lebensstil-Interventionen bei schon Erkrankten beziehen, werden ebenfalls nur teilweise vorgestellt. Alle Studien vorzustellen würde den Umfang des Buches sprengen.

Wer die Geburt nicht als Beginn des zu therapierenden Erkrankungsrisikos versteht, wird den Versprechungen der Lebensstil-Interventionsindustrie widerstehen können. Wer aber das Risiko als Grund zu therapieren definiert und das Einfallstor der Not, der Sorge und der Angst dann nutzt, um Geschäfte zu machen – der ist Zielscheibe der Anklage dieses Buches. Das Buch hat das Ziel, durch sachliche Information, vor allem über die vielen Gebiete der Medizin, in denen noch kein ausreichendes Wissen verfügbar ist, vor Geschäftemachern und leeren Versprechungen zu warnen. Da aber die falschen Versprechungen dazu führen, dass anderen Menschen in ganz intime Bereiche des Lebens hineingepfuscht werden kann, muss es auch Ziel des Buches sein, zu hinterfragen, ob die Versprechung, die besagt, dass Gesunden durch einen bestimmten Lebensstil ein besseres und längeres Leben gegeben sei, ethisch vertretbar ist.

Die Kernaussage des Buches liegt in meiner festen Überzeugung, dass Not als Einfallstor für Versprechungen unlauter ist. Versprochen wird, oft kostenpflichtig, ein Stückchen Zukunft oder weniger Angst vor der Ungewissheit der Zukunft. Die Parallelität zum Ablasshandel der katholischen Kirche, der einer der Auslöser der Reformation war, ist deutlich: Wer sich beteiligt, dafür zahlt, dem geht es später einmal besser. Derjenige, der den Ablasshandel organisierte, hieß Tetzel. Auf seinem Klingelkasten waren das Fegefeuer und ein Teufel gemalt, über dem stand geschrieben:

„Wenn das Geld im Kasten klingt,die Seele aus dem Feuer springt.“

Später wird zu belegen sein, dass diese versprochene Heilung der Seele durch eine Spende gar nicht so anders ist als der Verkauf eines Vitamins mit dem Versprechen, es könne die Gesundheit erhalten. Es wird zu belegen sein, dass Ablasshandel gar nicht so anders ist als das Versprechen, im Alter glücklicher und fitter zu sein, wenn man sein Körpergewicht im „Normbereich“ belässt.

Ziel des Buches muss es daher sein, anders als sonst üblich zu informieren. Anders, weil dieses Mal eine nicht interpretierende, möglichst verständliche Darstellung medizinischer Forschungsergebnisse erfolgen soll. Ich möchte ja belegen, dass es sich nicht um einen Gelehrtenstreit handelt, dass nicht verschiedene Meinungen aufeinanderstoßen. Ich möchte vielmehr glaubhaft machen, dass es nachvollziehbare Fakten gibt, die den Versprechungen der Lebensstil-Propheten widersprechen. Ich möchte aber noch mehr: Das Buch möchte durch Wissensvermittlung die Sinne dafür schärfen, dass leere Versprechungen nicht nur leer und eine nutzlose Geldausgabe sind, sondern auch Unheil anrichten können. Das Buch möchte darüber hinaus deutlich machen, dass diese Versprechungen nur greifen können, wenn Verletzungen der Unantastbarkeit der Würde des Mitmenschen in Kauf genommen werden. Daher die Bezugnahme zur Ethik, zur Theologie und zum Recht jedes Einzelnen.

Um zu informieren, werden dem Leser Originaldaten aus wissenschaftlichen Publikationen angeboten, und zwar in möglichst verständlicher grafischer Darstellung. Dieses Buch ist anders als andere Bücher, weil es nicht die Forschungsdaten interpretiert, sondern zunächst die Originaldaten dem Leser vorstellt. Aber die Ergebnisse medizinischer Forschung werden nicht nur dargestellt, sondern sie werden dann im Antlitz theologischer und ethischer Deutung in ihrer Bedeutung für die Mitmenschlichkeit in unserer reichen, aber nicht immer mitfühlenden Industriegesellschaft gespiegelt. Das Buch entstand aus Sorge um die Mitmenschlichkeit. Ich ahne schon, welche Kritiken mich treffen werden! Dem sehe ich aber gelassen entgegen.

Sie, der Leser, sollen auf eine spannende Reise in eine Welt voller Ungewissheit, voller Widersprüche, mitgenommen werden. Allerdings in eine Deutung der Welt und des Menschen, die durchaus kompatibel ist mit einem ganz und gar nicht antiquierten Weltbild. In eine Welt, in der sich Gläubige aller drei abrahamitischen Religionen wiederfinden. In eine Welt, die auf die Ungewissheit und das Fehlen letzter Aussagen – immer gültiger Aussagen – setzt, denn Wissenschaft und Erkenntnis sind niemals beendet, sondern immer dem Wandel unterworfen. Daraus entsteht die Hoffnung auf Fortschritt und eine bessere Zukunft.

Das Buch setzt daher beim Leser voraus, dass er sich für die Schnittmengen seiner eigenen Lebensführung mit der Wissenschaft der Medizin, dem Handeln der praktisch gelebten Medizin und den großen Fragen der Religion und der Ethik interessiert. Das Buch setzt daher beim Leser die Überzeugung voraus, dass Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der Religionen und der Medizin guttut! Das Buch wäre undenkbar, ergäbe es nicht einen tieferen Sinn, wenn die Sprachbarrieren zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen durchbrochen würden.

Ziel dieses Buches ist es daher nicht, den Weg zur Verständigung mit allem, was auf dem Gesundheitsmarkt angeboten wird, zu suchen. Ziel ist durchaus die streitfreudige Provokation, ohne die Fehlentwicklungen nicht aufzuhalten sind. Dies wohl wissend, dass das Fortschreiten der Medizin einiges vom Gesagten bald wieder in einen neuen Kontext stellen wird. Aber das Buch hat den Anspruch, dem Leser Anregungen zu geben, wie er, wenn er mal wieder mit „Neuigkeiten aus der Medizin“ konfrontiert wird, damit umgehen kann. Mit wenigen Ausnahmen geht es beim Thema Lebensstil um eigentlich noch Gesunde. Gesunde und Menschen mit einem Gesundheitsrisiko können zu Opfern der Gesundheitskultur werden. Um Kranke geht es in diesem Buch nur am Rande.

Wenn aber die Zerstörung des Mythos „Lebensstil für Gesunde“ als einziges Ziel des Buches gesehen wird, dann wird es meinem Anspruch nicht gerecht, denn denn ich versuche mehr. Wenn man nämlich die Schnittstelle zwischen medizinischer Forschung, Ratschlägen, Theologie und Ethik bearbeitet, muss es um mehr gehen als nur um die Begrenzung der Medizin und um die Verhütung der Gefährdung des Menschen durch eine zügellos sich überschätzende Medizin. Denn auch Theologie und Ethik haben einen höheren Anspruch als nur Verhütung der Gefährdung durch übermütig gewordene Ärzte. Sie haben den Anspruch, Wege zum Glück, zum menschenwürdigen Leben, aufzuzeigen. Die Bearbeitung der Schnittstelle zwischen Medizin und Theologie wäre sinnlos, wenn am Ende nur die Warnung vor falschen Versprechungen der Medizin stünde.

Ich möchte am Ende des Buches auch einen Lösungsweg aufzeigen. Deshalb zeige ich einen möglichen Lösungsweg auf, der die Unmöglichkeit der totalen wissenschaftlichen Durchdringung des Menschen durch die Naturwissenschaft anerkennt. Einen Lösungsweg, der die Wissenslücke der Naturwissenschaft positiv aufnimmt und als Chance sieht, dem Menschen mehr zu bieten, als die Naturwissenschaft es alleine kann. Deswegen endet das Buch, nachdem es die Daten zur Lebensstil-Intervention bei Gesunden kritisch durchleuchtet hat, bei Menschen, die nur das Risiko einer Erkrankung in sich tragen, diese aber noch nicht erleiden – und zwar nicht allein mit einer Kritik am Mythos Lebensstil, sondern mit dem Angebot der Lebenskunst.

Doch zuvor muss der mühsame Weg gegangen werden, erst einmal zu verstehen, um was es geht, was die Natur einer wissenschaftlichen Studie ist und was man daraus schließen kann. Nur wenn man die jeweilige Aussagefähigkeit einer Studie abschätzen kann, ist es möglich einzuordnen, was ein erzieltes Untersuchungsergebnis für eine Person bedeutet. Nur wenn man Grenzen und Inhalt einer Untersuchung versteht, kann man ableiten, was es nutzen könnte, sich an die daraus gefolgerten Ratschläge zu halten. Nur wenn man die Bedeutung des Studiendesigns für die möglichen Schlussfolgerungen kennt, kann man erahnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein gegebener Ratschlag wirklich bei der einen Person, die ihn befolgt, ein Nutzen-Risiko-Verhältnis hat, das die Annahme eines Ratschlags sinnvoll erscheinen lässt.

Am Ende des Vorworts möchte ich Ihnen offen und ehrlich sagen, von wo aus ich argumentiere und was die Basis meines Denkens und Glaubens ist:

1. Ich weiß, dass ein falscher Lebensstil – dazu zählen falsches, einseitiges oder zu vieles Essen, zu wenig oder zu viel Bewegung, ein zu hohes oder zu niedriges Körpergewicht, zu viel oder zu wenig Schlaf et cetera – krank machen kann.

2. Ich weiß, dass Menschen sich nicht absichtlich durch einen falschen Lebensstil schädigen, sondern dass es dafür einen guten, meist tragischen psychosozialen Grund gibt. Daher ist Lebensstil-Intervention der zu kurz gegriffene Lösungsweg, denn das Grundproblem ist ein anderes.

3. Ich glaube, dass der wichtigste Satz der Schöpfungsgeschichte uns miteilt, dass Gott sah (nicht dachte!), dass das, was er machte, gut war. Das Ergebnis der Evolution ist so gut, dass mich nach Jahrmillionen der Evolution unseres Verdauungssystems nicht eine bestimmte Kost, ein bestimmter Sport oder eine bestimmte Lebensweise „gesünder als gesund“ machen kann.

4. Ich glaube aber auch, dass die Schöpfung gut ist, weil ihr Freiheit innewohnt. Nicht alles ist vorbestimmt. Zur Freiheit der Schöpfung gehört die Möglichkeit der Fehlentwicklung. Es gibt nicht nur die biochemisch nachvollziehbare Notwendigkeit, es gibt auch den Zufall. Eine Zelle kann sich, warum auch immer, fehlentwickeln, sodass Krankheit entsteht. Das ist Schicksal, nicht Schuld, und es bedarf der menschlichen Annahme im Leid und der Kunst der Wissenschaft. Denn die Freiheit der Schöpfung erlaubt es auch, eine Wissenschaft zu entwickeln, die es ermöglicht, Fehlentwicklungen einer Zelle, eines Organs, abzufangen, zu therapieren. Eine Wissenschaft der Medizin, die vielleicht nicht immer heilen kann, aber ein Leben mit der Krankheit erleichtert.

1.

Wissenschaftliche Studien – oder:

Eine kurze Interpretationshilfe im Dschungel der Daten

ES GIBT VERSCHIEDENE ARTEN von Studien, die man unterscheiden lernen muss, denn dies ist die Grundlage für eine informierte Entscheidung. Die Fehlinterpretation eines bestimmten Studientyps, nämlich der Beobachtungsstudie, ist die Hauptursache der Verwirrung und der Fehlaussagen zum Thema Lebensstil.

Die meisten Studien sind Beobachtungsstudien, dazu zählen auch die Querschnittstudien. Sie verfolgen die untersuchten Menschen nicht über einen bestimmten Zeitraum, sondern erheben die Daten nur zum Zeitpunkt der Beobachtung und treffen dann Aussagen wie: „Diejenigen, die sich wohlfühlen, treiben mehr Sport als diejenigen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind.“ Querschnittstudien messen und schauen, welche mathematischen Bezüge sich zwischen bestimmten Lebensstil-Formen und Messgrößen wie Sport und Zufriedenheit errechnen lassen. Aber sie können nie klären– egal wie mathematisch präzise sie rechnen –, ob diejenigen, die glücklich sind, nur wegen des Sports glücklich sind, oder ob es eine nicht eingerechnete Einflussgröße gibt, die diesen Effekt erklärt. Diese Form von Studien liefert daher gute Hypothesen für zukünftige prospektive Beobachtungsstudien. Das ist wichtig, aber leider überbewertet, weil es keine Richtschnur für therapeutisches Handeln, sondern nur Anstoß zur weiteren Forschung mittels einer Interventionsstudie sein kann.

Die nächste Form von Studien, die hier besprochen werden soll, ist die prospektive, also in die Zukunft angelegte, den Patienten über eine bestimmte Zeit beobachtende Studie. Sie kann beispielsweise untersuchen, ob sich Menschen mit unterschiedlichem Körpergewicht in den nächsten 20 Jahren auch im Auftreten von Todesfällen unterscheiden. Aufgrund ihrer längeren Dauer ist sie meist schon etwas belastbarer als eine Querschnittstudie und liefert gute Hypothesen. Aber da solche Hypothesen bildenden prospektiven Beobachtungsstudien nur einen mathematischen Bezug über die Zeit aufzeigen, also eine Korrelation, aber keine Ursache-Wirkungs-Beziehung, berechtigen sie allein nicht zum therapeutischen Eingreifen. Sie berechtigen nur zur Planung einer Interventionsstudie.

Darauf basierend können dann die für die Therapie relevanten Interventionsstudien geplant werden. Da eine Interventionsstudie – beispielsweise mediterrane Kost bei Hochrisikopatienten – ein Eingriff am Menschen ist, darf sie nur durchgeführt werden, wenn zuvor eine Hypothesen generierende Beobachtungsstudie es denkbar gemacht hat, dass die Intervention den therapierten Menschen etwas nutzen könnte. Den therapeutischen Eingriff untersucht die prospektive, doppelblinde, randomisierte und Placebo-kontrollierte Interventionsstudie. Etwas viele Fremdwörter? Hier die Erklärung:

„Prospektiv“ bedeutet: Ein Patient wird in die Studie aufgenommen und über den gesamten Studienzeitraum wiederholt untersucht. Eine solche Studie dauert etliche Jahre und ergibt ganz andere Datenqualitäten als Querschnittstudien, die Patienten nur zu einem bestimmten Zeitpunkt analysieren und dann zu errechnen versuchen, welche Parameter mit der Erkrankung korrelieren.

„Randomisiert“ bedeutet: Es gibt eine zufällig gebildete Kontrollgruppe und eine genauso zufällige, zum Ausgangszeitpunkt der Kontrollgruppe exakt vergleichbare Interventionsgruppe.

„Doppelblind“ bedeutet: Weder der Arzt noch der Patient weiß, in welchen Arm der Studie der Proband eingeteilt ist – in die Gruppe derer, die die echte Therapie erhalten, oder in die Kontrollgruppe derer, die nur Placebo oder konventionelle Therapie erhalten.

„Placebo-kontrolliert“ bedeutet, dass weder Arzt noch Patient erkennen können, ob der Patient z. B. ein richtiges Vitamin erhält, also den zu untersuchenden Wirkstoff, oder das Placebo, also eine Tablette, die genauso aussieht, aber nicht die zu untersuchende Wirksubstanz enthält.

Die Intervention versucht also genau das zu imitieren, was zwischen Arzt und Patient passiert: Der Arzt stellt eine Diagnose und bietet dem Patienten eine Therapie an, er interveniert. Jede Therapie, jeder „gute Rat“, ist eine Intervention. Daher kann die Wirksamkeit einer Therapie nur in Interventionsstudien untersucht werden, nur Interventionsstudien erlauben eine Aussage, ob eine Diät vorteilhaft ist oder nicht. Nach der vorher festgelegten Dauer der Intervention wird dann untersucht, welche Unterschiede es zwischen den beiden Gruppen gibt – der Kontrollgruppe einerseits und der Gruppe, in der die neue Therapie erprobt wird, andererseits.

Die nächsten Seiten sollen zumindest einen groben Eindruck geben, was diese Studientypen bedeuten, wie ihre Aussagen interpretiert gehören und inwieweit sie berechtigen, einer bestimmten Person, die um Rat fragt, eine Empfehlung zu geben. Vorweg: Da so viele Parameter das Leben eines Menschen bestimmen, gibt es nie eine perfekte Studie, die genau das abbildet, was bei einem bestimmten Menschen das Problem ist. Aber so viel sei schon gesagt: Da jede Therapie – und sei es der Rat, einen bestimmten Lebensstil zu wählen – eine Intervention, ein therapeutischer Eingriff ist, ist vor jeder Therapie zu fragen, ob eine Interventionsstudie vorliegt. Also: Vorsicht bei Therapeuten, die behaupten, eine solche Studie könne man bei der von ihnen vorgeschlagenen Therapieform nicht machen!

Diese Interpretationshilfe ist notwendig, denn ein Ziel des Buches ist es ja, Ihnen zu vermitteln, wo Grenzen naturwissenschaftlich-medizinischer Forschung existieren. Und Wissenschaft zu Selbstbegrenzung und Zurückhaltung aufzufordern. Denn nicht alles, was wissenschaftlich korrekt ist, muss als neue Erkenntnis gleich wie ein Regen über alle Menschen ausgegossen werden – so verlockend es in der medialen Gesellschaft auch sein mag, aus kleinen Studienergebnissen sofort große Schlagzeilen zu machen. So verlockend es sein mag, Hinweise zu haben, was möglicherweise helfen könnte, so unseriös ist es, diese Hinweise als sichere Therapie zu verkaufen. Das gilt insbesondere für Beobachtungsstudien, aber auch für doppelblind angelegte, prospektiv randomisierte, Placebo-kontrollierte Interventionsstudien, denn auch sie müssen interpretiert und richtig gelesen werden.

Beispiel: Wenn eine Änderung des Gesundheitsverhaltens beim Einzelnen nur 30 Tage eines sonst 80-jährigen Lebens ausmacht, ist diese Lebensverlängerung für den Einzelnen nur marginal. Sie kann für ihn irrelevant sein, auch wenn sie statistisch nachweisbar ist. Zudem gibt es zwei Möglichkeiten:

Die eine Möglichkeit wäre, dass eine solche Intervention das Leben bei jedem Menschen um 30 Tage verlängert, dann wäre die sogenannte „number needed to treat“ – also die Zahl derjenigen, die ihr Leben ändern müssten, um 30 Tage länger zu leben – eins. Das ist der Idealfall, denn jeder profitiert und weiß, was es ihm bringt. Dann weiß jeder, dass er mit Sicherheit 30 Tage länger lebt, wenn er den Ratschlag befolgt. Dann kann der Patient, dem diese Therapie empfohlen wird, nach Aufklärung für sich selber bestimmen, ob er sie durchführen möchte oder nicht. Also: ob der Aufwand es ihm wert ist oder ob er die 30 zusätzlichen Lebenstage nicht in Anspruch nehmen möchte, weil die Änderung seines Lebensstils ihm die anderen 80 Jahre vermiest.

Der Patient kann selbst entscheiden und sagen: „Die vorgeschlagene Intervention, beispielsweise jeden Tag einen Löffel Linsen zu essen, wird bei mir das Leben um 30 Tage verlängern. Da das Essen eines Löffels Linsen mir sogar schmeckt, werde ich das machen.“

Oder er denkt sich: „Da mir Linsen gar nicht schmecken und ich danach unter schrecklichem Durchfall leide, werde ich die Linsen nicht täglich essen. Dieser Eingriff in mein Leben mit dem daraus folgenden Durchfall ist mir diese minimale Verlängerung meines Lebens, um nur 30 Tage, angesichts der erwarteten 80 Jahre nicht wert.“

Also: Eine Empfehlung kann richtig sein – für den einen jedoch mit ganz anderer Auswirkung auf sein Leben, da ihm Linsen schmecken, als für den anderen, dem Linsen nicht schmecken und bei dem sie Durchfall erzeugen. Trotz gleicher Auswirkung auf die Lebensdauer werden die beiden Patienten unterschiedlich entscheiden.

An dieser Stelle muss ich Ihnen gleich den Zahn der Hoffnung ziehen, denn solch eine niedrige „number needed to treat“ wie 1, eine solche Effizienz einer Therapie, gibt es beim Thema Lebensstil nicht. Beim Thema Lebensstil beträgt die Anzahl der Menschen, die behandelt werden müssen, meist mehrere Hundert, wenn nicht gar viele Tausend, und der Zeitraum geht über mehrere Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte.

Um bei dem oben gewählten Beispiel zu bleiben: Bei der Fantasiestudie, in der Linsen essen das Leben um 30 Tage verlängert, kann durchaus etwas ganz anderes herauskommen, sobald die „number needed to treat“ größer als 1 ist:

Es stimmt zwar, dass das Leben im Durchschnitt durch Linsen verlängert wird. Aber bei einigen wird es um 20 Jahre verlängert, bei anderen hingegen verkürzt! Also profitiert nicht jeder davon, sondern einige haben einen großen Nutzen, andere nur einen kleinen, und eine dritte Gruppe kann sogar Schaden nehmen. Dann sollte man zwei Kenngrößen errechnen: nicht nur die „number needed to treat“, sondern auch die „number needed to harm“. Dann ist die Aufklärung des um Rat fragenden Menschen noch komplizierter, denn ich kann ihm ja nur einen Mittelwert bieten, keinesfalls jedoch die Sicherheit, dass er derjenige ist, dem es nutzt oder schadet, oder ob er derjenige ist – falls es ihm nutzt –, der nur zehn Tage oder ganze 20 Jahre länger lebt. Und wie seine ganz individuelle Lebensqualität sein wird, wenn er denn so alt wird, weiß der Arzt nie! An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig der Arzt-Patienten-Kontakt und die von jeder Gesundheitsideologie befreite gemeinsame Wegfindung sind. Deutlich wird auch, dass eine solche Studie nie die letzte sein kann – die Studie, die die endgültige Antwort findet. Denn da einige Patienten profitieren, andere nicht, muss in einer Folgestudie untersucht werden, wie man diejenigen erkennt, denen die Linsen durch Verlängerung des Lebens um mehr als zehn Jahre sehr viel nutzen, und von denen unterscheidet, denen sie sogar schaden könnten.

Nicht nur im obigen Beispiel, sondern bei allen Formen des „gesunden Lebensstils“ trifft eine ganz andere Zahl als die „number needed to treat“ von 1 zu: Die gemessenen Effekte sind beim Einzelnen nicht nachweisbar, man braucht nicht zehn, nicht 100, sondern zumeist Tausende Menschen, um einen kleinen Effekt zu messen, der dann mit der Gesamtzahl der Bevölkerung hochgerechnet die berühmten Zahlen der großartigen Verbesserung der Gesundheit ergibt – wenn man den angeblich richtigen Ratschlägen nur folgen würde. Dies dem Leser konkret aufzuzeigen, an den Beispielen Sport, Gewicht, Diabetes und Diabetesprävention sowie mediterrane Diät – das ist Aufgabe und Ziel des vorliegenden Buches.

Doch Achtung: Diese Effekte sind aus Beobachtungsstudien errechnet, nicht aus Interventionsstudien! Wir kennen sie alle, die Millionen Menschenleben, die gerettet werden könnten, wenn man mehr Sport triebe, mehr Gemüse zu sich nähme, weniger wöge. Aber stimmt das und ist es so einfach, wie die Gesundheitsprediger immer sagen? Ein Gesunder, dem etwas geraten wird, hat doch nur ganz einfache Fragen:

„Wisst ihr wirklich, dass das stimmt, was ihr ratet, und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mir etwas nutzt, wenn ich einen Teil meines ganz persönlichen Lebensstils danach ausrichte?

Habt ihr nur geschaut, was miteinander korreliert, und dann angenommen, ihr wüsstet genau, welche Variablen – die nicht immer alle bekannt sind – dann herausgerechnet wurden, oder habt ihr eine Interventionsstudie durchgeführt, in der Personen meines Alters, meines Lebensstils, meines genetischen Risikos eingeschlossen wurden? Wobei die eine Gruppe ein Placebo erhielt und die andere Gruppe die empfohlene Korrektur des Lebensstils?

Und habt ihr dann nur einen sogenannten Surrogatparameter gemessen, also einen Wert, der keine Krankheit anzeigt, sondern nur deren Risiko, oder habt ihr echte Endpunkte wie Krebs, Schlaganfall etc. gemessen?

Habt ihr diese Empfehlung in einer prospektiv angelegten randomisierten Interventionsstudie untersucht?“ Da die Antwort fast immer „nein“ lautet, veranlasste mich das, dieses Buch zu schreiben.

Am Anfang möchte ich Ihnen daher anhand ganz konkreter wissenschaftlicher Studien für das, was tatsächlich hinter den Aussagen steckt, nicht nur ein Gefühl geben. Sie sollten auch möglichst in die Lage versetzt werden, die originalen Studiendaten selber zu interpretieren. Es geht um die Aussagen, mit denen uns eingeredet wird, man wisse, was für jeden der richtige Lebensstil sei. Ihnen soll anhand konkreter Abbildungen ein Gefühl für das Verhältnis einer meistens leider nur geringen Effektstärke zum nur individuell abzuwägenden Eingriff in die eigene Lebensführung gegeben werden. Es geht also in dem Buch auch darum, bei Ihnen, dem Leser, Interesse zu wecken, sich mit Freude auch einmal selber zu informieren im Dschungel der Ratschläge, die alle gut gemeint, aber vielleicht nicht zielführend und oft einfach nur falsch sind. Die gezeigten Daten sind unverändert aus den Originalpublikationen entnommen, die die Wissenschaftler selber lesen und mit deren Hilfe sie einander die Forschungsergebnisse auf Kongressen vorstellen. Nur manchmal wurden die Abbildungen etwas grafisch verbessert, der Verständlichkeit halber. Es wird daher im Buch strikt getrennt zwischen sachlicher Darstellung der Daten und der darauf folgenden ganz persönlichen Interpretation des Autors.

Also geht es in dem Buch darum, Ihnen dabei zu helfen, Studien und verschiedene Arten von Studien richtig einzuordnen, zu verstehen, für sich selber so zu lesen, dass Sie sagen können: „Basierend auf diesen Studienergebnissen bin ich der Auffassung, dass ein bestimmter Lebensstil für mich richtig ist. Ich bin beispielsweise bereit, pro Woche fünf Stunden Sport zu treiben.“ Deutlich wird herausgestellt, dass die meisten Erkenntnisse über das Thema Essen und Lebensstil bei Gesunden nur auf Beobachtungsstudien beruhen. Diese sind durchaus interessant und wir Ärzte brauchen sie, denn ohne sie könnten wir keine Hypothesen darüber bilden, welcher Eingriff bei welchem Menschen sinnvoll ist. Und nur mit solchen Hypothesen sind Interventionsstudien ethisch begründbar. Die Beobachtungsstudie liefert eine Hypothese, zum Beispiel „Fünfmal pro Woche einen Apfel essen reduziert das Krebsrisiko“. Das kann aber sehr wohl falsch sein, wenn eine wesentliche Variable bei der Berechnung mathematischer Zusammenhänge eines klinischen Ereignisses – der Krebsdiagnose – mit einer Lebensstilform – also Äpfel essen – vergessen wurde. Das wäre der Fall, wenn man vergäße zu berücksichtigen, dass beispielsweise Apfelesser weniger rauchen. Dann wäre nicht das Apfelessen per se, nicht die bekannten Inhaltsstoffe des Apfels für die geringere Krebsrate verantwortlich, sondern ausschließlich ein zufälliges Zusammentreffen des Nichtrauchens, als dem wichtigsten Faktor, mit dem Apfelessen, einem dann eben nicht so wichtigen Faktor.

Ein anderes Beispiel: Wenn die Herzinfarkt-Häufigkeit bei Vegetariern mit der von Fleischessern verglichen wird, aber nicht andere Unterschiede wie Gewicht, Sport, Bildung oder Rauchen berücksichtigt werden, ergibt sich zwangsläufig ein falsches Ergebnis. Es entsteht eine Legende, beispielsweise dass Vegetarier vor Herzinfarkt geschützt seien. Was möchte dieses Beispiel dem Leser aufzeigen? Ganz einfach: Ohne eine exakt vergleichbare Kontrollgruppe ist jede Aussage wertlos!

An einem humorvollen Beispiel soll dies nun besprochen werden: Da Schokolade nicht nur gut schmeckt, sondern auch einerseits kalorienreich ist und andererseits wirksame pflanzliche Bestandteile enthält, die angeblich positive und gesundheitsfördernde Effekte auf Gefäße besitzen, soll der Unterschied zwischen Beobachtung mit mathematischer Korrelation und einer therapeutischen Interventionsstudie am Beispiel der Schokolade aufgezeigt werden.

Man liest ja immer wieder tolle Dinge über die Schokolade, nicht nur wie schnell man sich mit kalorienreichen Süßigkeiten dick essen kann, sondern auch wie viele die Gesundheit fördernde Bestandteile Schokolade enthält. Schokolade – der Inbegriff des menschlichen Traums vom Schlaraffenland. Man kann sie vielfältig genießen, als heißes Getränk, als kaltes Eis, in Pralinen oder zum Rotwein. Sie scheint alles auf den Kopf zu stellen, was uns die Freude am Essen nimmt, denn sie ist einfach gesund und gut. Meist ist es ja so, dass richtig gute Speisen als ungesund gelten. Doch nicht das Hinterfragen dieser wunderbaren Wirksamkeit soll jetzt das Thema sein, sondern eine – zugegeben als Glosse – publizierte Wirkung. Der Autor der Abbildung 1 auf Seite 26, die dem New England Journal of Medicine entnommen wurde, einer der besten medizinischen Zeitschriften der Welt, zeigt eine ungeheuer starke mathematisch als signifikant errechnete Beziehung zwischen der Anzahl der Nobelpreise und dem jährlichen Schokoladenkonsum der Bürger eines Landes.

Deutlich ist in Abbildung 1 erkennbar: Die Korrelation der Anzahl Nobelpreise zum steigenden Schokoladenkonsum ist sehr stark. Sie ist mathematisch gesehen viel stärker als der Bezug von Übergewicht zu Herzinfarkt und frühem Tod. Ist die Aussage deswegen korrekter, nur weil die statistische Korrelation stärker ist? Sie werden sich nun denken: „Na ja – nur eine Glosse, es ist doch klar, dass das nicht stimmen kann. Da muss es eine nicht beachtete Variable geben, die alles erklärt und mal wieder beweist, dass eine Statistik nur so weit richtig ist, wie man sie selber gefälscht hat.“ Korrekter gesagt: Eine Statistik ist nur so viel wert wie meine Fähigkeit, sie zu „lesen“, sie zu interpretieren.

Die Basis von Abbildung 1 sind exakt erhobene Daten, auch wenn sie eine Glosse ist. Hintergrund sind Untersuchungen, wonach sogenannte Flavonoide, die in Schokolade, grünem Tee, Rotwein und manchen Früchten vorkommen, in Tierversuchen die Denkfunktion verbessert haben. Es gibt Daten, dass sie die Gefäßfunktion verbessern und den Blutdruck senken können, sodass der Autor der Studie auf die Idee kam zu fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Nobelpreise pro zehn Millionen Einwohner eines Landes und dem Schokoladenkonsum geben könnte.

Abbildung 1: Schokoladenkonsum und Nobelpreisträger nach Ländern.Modifiziert nach Messerli FH, The New England Journal of Medicine 367:1562-1564, 2012.

Die einzelnen Nationen sind mit den Länderkennzeichen dargestellt, der Schokoladenkonsum in kg/Einwohner zeigt aus dem Internet recherchierte Daten. Es ergibt sich eine höchst signifikante lineare Korrelation zwischen dem Schokoladenkonsum pro Kopf und der Anzahl der Nobelpreisträger pro zehn Millionen Einwohner in insgesamt 23 Ländern. Aus diesen Daten kann hochgerechnet werden, dass es ungefähr 0,4 kg Schokoladenkonsum pro Einwohner und Jahr bedarf, um die Anzahl der Nobelpreise in einem Land um einen zu vermehren. Die dargestellten Daten zeigen, dass es keine Saturierung, also Abflachung, der Kurve gibt, das heißt, man kann daraus schließen: Je höher der Schokoladenkonsum, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass ein Land einen Nobelpreisträger stellt.

In seiner Glosse diskutiert der Autor – wie auch in richtigen wissenschaftlichen Studien üblich – die Limitationen seiner Untersuchungen und weist humorvoll darauf hin, dass insbesondere unbekannt ist, wie viel Schokolade die einzelnen Nobelpreisträger gegessen haben.

Die in der Abbildung gezeigte Berechnung ist genauso korrekt wie die bei den bekannten und überall akzeptierten Beziehungen zwischen Körpergewicht und dem Risiko einer Herzerkrankung oder zwischen Rauchen und verschiedenen Erkrankungen. Nur an die eine Statistik glauben wir, weil Experten es uns glaubhaft machten, an die andere glauben wir nicht. Aber: Es gibt keinen methodischen Grund, an der Richtigkeit der Beziehung zwischen Schokoladenkonsum und Nobelpreisen zu zweifeln! Warum glauben wir, wenn sie doch genauso erstellt wurde, an die eine Aussage, aber an die andere nicht? Ziel des Buches ist es, dem Leser einzuschärfen, dass dann, wenn es um Eingriffe in seinen Körper oder in sein Privatleben geht, der Glaube ein ganz schlechter Partner der Naturwissenschaft ist. Genau diesen Unterschied zwischen „Beweis“ und „Glauben“ aufzuzeigen war das Ziel dieser Glosse über Schokolade, denn nicht Glauben an eine Statistik und ihre Plausibilität, sondern ihre Überprüfung durch eine Interventionsstudie muss die Grundlage einer therapeutischen Empfehlung sein. Entweder ist die akademische Medizin eine auf bestimmten Methoden begründete Wissenschaft, oder nicht.

Gründet die Medizin ihr therapeutisches Handeln nicht auf Interventionsstudien, die die Therapiesituation in der Studie einmal simuliert haben, dann fehlt ihr die ethische Basis für eingreifendes Handeln, kurz gesagt: für die Therapie. Jede Therapie ist ein Eingriff und bedarf immer einer ethischen Begründung. Deswegen bedarf die Medizin immer der Interventionsstudie, in der an zwei Gruppen verglichen wird, welche Vorteile und welche Nachteile ein empfohlener Eingriff mit sich bringt. Das gilt auch, wenn es um völlig gesunde Menschen geht, die man gesund erhalten will, oder um Menschen mit Risikofaktoren für Erkrankungen, die man verhindern möchte.

Da diese Studienform bei Kranken Pflicht ist – denn ohne mehrere Interventionsstudien wird nie ein Medikament zugelassen –, stellt sich die Frage: Warum wird die Interventionsstudie bei Eingriffen in das Leben Gesunder nicht auch verpflichtend eingeführt? Nicht vergessen: Auch die Empfehlung, mehr Äpfel zu essen oder mehr Sport zu treiben oder zu hungern, um extrem schlank zu sein, ist ein Eingriff, der begründet gehört. Ein Eingriff, bei dem wir die folgenden Kennzahlen wissen wollen: die „number to treat“, also wie vielen von denen, die die Therapie erhalten, sie nutzt, und die „number needed to harm“, also wie viele ich durch die Therapie schädige! Und dann ist wichtig zu wissen: Wie lange muss die Therapie durchgeführt werden, bis Ergebnisse erzielt werden?

Also: Fehlende Daten aus Interventionsstudien dürfen nicht durch Glauben an bestimmte Therapieformen ersetzt werden, schon gar nicht aus geschäftlichen Gründen. Schon Hippokrates lehrte: Nur durch Vermeidung des Schadens als erstem Ziel der Therapie wird die medizinisch begründete Therapie ethisch vertretbar. Deutlich wird dies aus der Glosse, denn wenn man berechnet, wie eine Intervention auszusehen hätte, um die Nobelpreise in einem Land zu steigern, müssten Millionen Menschen mehr Schokolade essen, um einem zusätzlichen Wissenschaftler zum Nobelpreis zu verhelfen. Dass diese Aussage keine Polemik ist, werden Sie sehen, wenn es später an die Darstellung einiger Studien zum Thema Gewicht, Sport und gesundes Essen geht. Unglaublich, aber wahr – die Daten zum Thema Essen und Lebenserwartung Gesunder sind weit von der Qualitätsgüte entfernt, die nötig wäre, um Menschen Ratschläge zu erteilen. Die Basis der Ratschläge ist nicht weit weg von der Datenlage zur Schokolade. Für das Thema „Schokolade und Nobelpreise“ lassen sich Berechnungen anstellen:

Es lässt sich berechnen, dass die Amerikaner einen Nobelpreis pro zehn Millionen Einwohner mehr hätten, würden sie 400 Gramm Schokolade pro Kopf und Jahr mehr essen. Das wäre dann die Intervention, den Bürgern des Landes zu sagen: „Bitte esst mehr Schokolade, nicht nur damit wir mehr Nobelpreise im Land haben, sondern weil Nobelpreise auch etwas mit Intelligenz zu tun haben, damit eure Kinder intelligenter werden. Ihr tut euch und den Kindern etwas Gutes, wenn ihr euch überwindet, mehr Schokolade zu essen.“

Mathematisch ist diese Intervention plausibel. Doch glauben Sie wirklich, dass das stimmt? Aber wenn Sie das nicht glauben, wenn Sie sagen, das kann so nicht sein, warum akzeptiert man dann viele andere Angaben zum Lebensstil, die aus Studien stammen, die methodisch genauso gemacht sind wie die Schokoladen-Glosse? Liegt es vielleicht daran, dass man bestimmte Vorurteile hat, dass man schon etwas zu wissen meint und deswegen den Angeboten der Lebensstil-Propheten auf den Leim geht? Denn das meiste, was man so über „gesunde Lebensführung“ zu wissen glaubt, stammt aus Studien, die methodisch ganz ähnlich wie die Schokoladen-Glosse gemacht sind.

Um diese Legendenbildung bezüglich Sport, Gewicht und Diät geht es in diesem Buch. Es geht dabei auch darum, das Bewusstsein für Vorurteile zu schärfen und insbesondere dafür, dass es immer ein Irrweg ist, wenn man auf einer Hypothese die nächste Hypothese aufbaut. Hält man eine Hypothese für wahr und fügt dann auf dieser Annahme aufbauend die nächste Hypothese drauf, dann ist der Bezug zwischen diesen beiden Hypothesen zwar richtig, logisch und plausibel. War jedoch die Ersthypothese falsch, dann ist natürlich das Ergebnis der zweiten Annahme, die auf der falschen Annahme aufbaute, erst recht falsch.

Dies lässt sich an der Schokoladen-Glosse gut darstellen. Wenn man sich die deutsche Fahne in Abbildung 1 anschaut, sieht man, dass Deutsche kräftig Schokolade essen, aber aus der Linie herausfallen, zu tief liegen. Damit ist aus den gezeigten Daten eindeutig zu erkennen, dass wir Deutschen schokoladeresistent sind, denn obwohl wir viel Schokolade essen, haben wir nicht so viele Nobelpreise wie erwartet. Deutschland müsste genauso viele Nobelpreise pro Einwohner haben wie die Skandinavier. Woran liegt das? Haben wir ein Gen, das die gute Wirkung der Schokolade verhindert, oder fehlt uns das Gen, das hilft, die Wirkung der Schokolade auf die Erfindungsgabe zu vermitteln? Essen wir die falsche Schokolade? Oder liegt es daran, dass in Deutschland das Essen von Schokolade zu sehr als „Sünde“ gebrandmarkt wird und dass dadurch das schlechte Gewissen die für den Nobelpreis notwendige Erfindungsgabe des Genies behindert? Mit diesen Fragen wird aufgezeigt, wie schnell man auf einer Hypothese aufbauend weitere Hypothesen so generieren kann, dass die beiden Hypothesen in sich schlüssig sind, dass jedoch – da die erste Annahme falsch ist –, die zweite erst recht falsch ist.

Deutlich wurde eines: Beobachtungsstudien liefern Hypothesen, ohne die es keine Interventionsstudien gäbe. Doch ohne die Intervention sind Beobachtungsstudien nicht geeignet, Schlüsse zu ziehen, die berechtigen, in das Leben eines anderen Menschen einzugreifen. Mit Interventionen ändert man etwas, greift in einen Ablauf ein, beeinflusst den persönlichen Lebensstil. Dafür muss es eine Berechtigung geben. Wie leicht kann doch eine zu schnelle Urteilsfindung falsch sein! Wie schnell kann gut Gemeintes beim Thema Gesundheit anderen Schaden bringen, da es für sie nicht die passende Intervention darstellt. Eine Intervention, ein Rat, etwas im Leben zu ändern, kann selbst dann grottenfalsch sein, wenn er der herrschenden Meinung, dem gesellschaftlichen Konsens, entspricht. Nicht der gesellschaftliche Konsens über das, was man glaubt, dass es gesund sei, sondern die Qualität der Daten aus Interventionsstudien sollte das Handeln leiten.

Die Basis des Buches ist also die Aussage: Nur eine Interventionsstudie berechtigt zum ärztlichen Handeln, da ärztliches Handeln – dazu gehört auch der Rat, seinen Lebensstil zu ändern – immer eine Intervention ist.

Da stellt sich die Frage, warum Lebensstil-Propheten eine derartige Überzeugungskraft haben, ohne qualitativ hochwertige Interventionsstudien vorweisen zu können. Es stellt sich die Frage, wieso Patienten sich therapieren lassen, wenn so wenig Fakten, Daten, Ergebnisse vorliegen, die untersuchen, ob die Lebensstil-Therapie nutzt oder schadet.

Es ist aber nicht so einfach, dass man sagen könnte: Die Menschen glauben an die Wirkmacht des Sports oder der Vitamine, nur weil Geschäftemacher und deren Werbung ihnen das so lange eingeredet haben, dass sie – durch Marketing unkritisch geworden – die Selbstbestimmtheit der Lebensführung durch Fremdbestimmung ersetzt haben. Es gibt einen ganz wichtigen Grund für die einfache Überzeugungskraft der Lebensstil-Propheten:

Es gibt keinen Zweifel, dass man sich durch falschen Lebensstil schaden kann. Also müsste doch auch der Kehrsatz stimmen: Tue das Gegenteil, dann nutzt es! Das scheint plausibel. Aber auch wenn man dieses „sich selber schädigen“ tagtäglich um sich herum bei anderen Menschen beobachten kann, bleibt dennoch der Kehrsatz falsch, dass man durch einen bestimmten Lebensstil – wenn man ihn so früh begonnen hat, dass man dadurch sein Gesundsein fördert und stärkt – das Leben verlängern kann. Die schlechte Nachricht des Buches: Man kann sich durch falschen Lebensstil schädigen, aber eine bewusste Ernährung nutzt nichts, außer dass man sich eben nicht schädigt. Man kann aufpassen, dass man Schaden von sich fernhält. Am Ende des Buches wird aber verraten, dass man, wenn man nicht nur Laborwerte und körperliche Gesundheit im Sinn hat, durchaus etwas Positives für sich tun kann – doch davon später.

Es wird in diesem Buch in späteren Kapiteln auch darüber zu sprechen sein, warum jemand einen für sich ungesunden Lebensstil wählt. Er macht dies, das sei hier schon angesprochen, nicht weil er sich absichtlich schädigen will, und schon gar nicht, weil er einfach ungezogen ist und die Allgemeinheit durch Übernahme der Kosten, die im Laufe einer Erkrankung entstehen, schädigen will. Es muss also komplizierter sein! Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wenn man auf humane Art den Mitmenschen verstehen möchte, der sich durch falschen Lebensstil schädigt. Aber es ist nicht so einfach, dass das Gegenteil vom krank Machenden das Gesundheitserhaltende ist. Es ist nicht so einfach, weil das Ergebnis der Evolution gut ist – wir können uns schädigen, aber nicht uns nutzen. Das klingt paradox, aber wäre das Ergebnis der Evolution so schlecht, dass wir ohne Apotheke, ohne Lebensstil-Intervention nicht auskämen, dann wären wir ja eine Fehlentwicklung. Wir müssen, da das Ergebnis der Evolution, da das Ergebnis der Schöpfung gar nicht so schlecht ist, nur in der Mitte, der Balance, beim ausgewogenen Essen und Leben, bleiben.

Auch gesellschaftlicher Druck kann letzten Endes für die Gesundheit relevant werden, denn er führt dazu, dass Menschen sich gewissen Vorgaben anpassen, ob sie zu ihnen passen oder nicht. Dazu gehören der Druck, schlank zu sein, und die viele Menschen sehr beeindruckenden Schönheitsideale, denen sie nachstreben. Die Auswirkung solcher Ideale auf andere Menschen kann gar nicht hoch genug eingestuft werden, sie führen zum zwangsläufig auftretenden Wunsch, den Idealen, welche die Idole repräsentieren, nahezukommen. Ob das für eine Person gut oder schlecht ist, ob es ihr zu einem glücklichen Leben verhilft – oder weil die Person sich selber nicht mehr sehen mag, ihr schadet –, spielt beim Wunsch, den Idolen zu ähneln, keine Rolle. Gefragt wird nicht, was für einen selber gut ist. Denn da der Mensch ein sozial geprägtes Wesen ist, wird der Druck der Anpassung an Idole sehr stark und durch die Medien verstärkt dann so überwältigend, dass der Blick in sein gesundes Ich als Korrektur wegfällt. Den Idolen wird nachgeeifert, koste es, was es wolle. Nicht der Blick in das Ich, eigentlich eine natürliche Reaktion der Selbstkontrolle, sondern der Blick in den Spiegel bestimmt, was man sich zumutet.

Das Buch wäre jedoch etwas zu einfach geschrieben, würde es dem Leser nur mitteilen wollen, dass jede Interventionsstudie am Ende für jeden Menschen absolute Beweiskraft hat. Auch eine sehr gut durchgeführte Interventionsstudie erlaubt nur bedingt Aussagen bezüglich einer Einzelperson und nur Aussagen bezüglich der Personengruppe, die untersucht wurde. Deswegen: Die Schwächen der Interventionsstudie muss man ebenso kennen. Im Folgenden werden Schwächen auf zwei Ebenen beschrieben, um deutlich zu machen, worauf man beim Lesen einer Studie achten muss, ehe man das Ergebnis der Interventionsstudie auf sich selber beziehen kann:

Angenommen, es gäbe eine Interventionsstudie, die zeigen würde, dass bei Gesunden das Treiben von Sport Todesfälle reduziert, dann wäre die Empfehlung nur auf den ersten Blick klar: Treibe Sport! Aber könnte das nicht auch ein Irrtum sein, denn wir hatten ja schon dargestellt, dass die Intervention an einer Gruppe untersucht wird, aber immer ein einzelner Mensch es ist, der sein Leben ändert?

Wenn durch die Intervention – beispielsweise Sport zu treiben – die Todesfälle bei den Probanden von 50 auf 25 reduziert werden (siehe Abbildung 2, Seite 32), dann ist das auf den ersten Blick eine hervorragende Intervention, reduziert sie doch das Todesrisiko um 50 Prozent. Warum dann Sorge um den Einzelnen, warum dann nicht allen Menschen Sport empfehlen und denen, die nicht mitmachen, die Krankenkassenbeiträge erhöhen? Die Antwort: In der Abbildung fehlt eine wesentliche Information: Wie viele müssen behandelt werden, um die Todesfälle von 50 auf 25 zu reduzieren? Das Problem zeigt Abbildung 2.

Dies ist eine Abbildung aus einer erfundenen Studie. Auf der linken Hälfte der Abbildung ist zu sehen, dass die Anzahl der Todesfälle in der Kontrollgruppe 50 beträgt. In der Interventionsgruppe, also der Gruppe, die mit der Kontrollgruppe bezüglich Alter, Geschlecht etc. identisch ist, aber behandelt wurde, beträgt die Anzahl der Todesfälle nur 25. Um deutlich zu machen, dass eine Zahl allein genommen in die Irre führt – denn auf der linken Seite sieht es ja so aus, als ob die Intervention vielen nutzen würde –, sind die gleichen Zahlen in der rechten Hälfte noch einmal als Prozent der betroffenen Teilnehmer dargestellt. Hier sieht man, dass zwar der Unterschied zwischen Interventionsgruppe und Kontrollgruppe 50 Prozent beträgt, aber die Anzahl der Teilnehmer, die von der Intervention profitieren, so verschwindend gering ist, dass die Intervention sinnlos ist.

Abbildung 2: Absolute und prozentuale Wirkung.

Die linke Hälfte ist eindeutig in der Interpretation: Die Hälfte aller Todesfälle kann verhindert werden. Die rechte hingegen macht nachdenklich: Da wird die Zahl der Toten auch halbiert, aber als Prozent der Teilnehmer dargestellt. Jetzt lautet die Schlussfolgerung ganz anders: Wen interessiert schon ein Effekt, der nur 0,025 Prozent betrifft?

Die Gefahr der Angaben in Prozent, die ja leider in der Gesundheitsdebatte immer benutzt werden, zeigt das Beispiel auf der rechten Seite: Werden je 100.000 Patienten im Sport-Arm und 100.000 Patienten im Kontroll-Arm der Studie behandelt und sinkt dann die Todesrate im Sport-Arm von 50 auf 25, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass der eine Patient, dem man zum Sport rät, davon profitiert, sehr gering. Also sollte man doch nachdenken, ob der eine Mensch, der ungern Sport treibt und dem man zu Sport rät, davon wirklich profitiert. Die Aussage bleibt korrekt, aber die Implementierung auf alle Menschen muss plötzlich hinterfragt werden.

Auch wenn die Aussage „50 Prozent Risikoreduktion“ stimmt, wird sie doch vollkommen von der hohen Anzahl derer relativiert, die behandelt werden müssen, um ein Leben zu retten. Das ist der Aspekt, den man „number needed to treat“ nennt. Würden nur 100 Patienten behandelt werden müssen, um die Zahl der Todesfälle von 50 auf 25 zu senken, also auch um 50 Prozent, sähe es ganz anders aus. Dann könnte man schon eher sagen: „Bitte treibe Sport, obwohl es dir schwer fällt, denn die vorliegende Interventionsstudie belegt, dass dir dies mit hoher Wahrscheinlichkeit nutzt.“