Die Gewandmeisterin - Patrick McGrath - E-Book

Die Gewandmeisterin E-Book

Patrick McGrath

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Beschreibung

Es wird wieder Theater gespielt in London in diesem eisigen Winter 1947. Doch der beliebte Schauspieler Charlie Grice ist nun tot. Seine Witwe Joan, Die Gewandmeisterin, und ihre Tochter Vera sehen mit gemischten Gefühlen, wie ein anderer seine Glanzrolle übernimmt. Allzu nahtlos? Magisch lebensnah? Ein prickelnder Roman um Liebe, Tod und Trauer, tröstliche Kleider und schreckliche Uniformen. • Ein Roman von erzählerischer Finesse, spielend zwischen Theater und Realität, Tod und Liebe. • Faszinierend, überraschend und nicht ohne eine schaurige Note. • Mit viel Theaterflair und leichtfüßig vermitteltem psychologischem Tiefgang.

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PATRICK McGRATH

Die Gewandmeisterin

Roman

Aus dem Englischenvon Brigitte Walitzek

Für Maria

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagung

Anmerkungen

1

Der Schauspieler Charlie Grice war tot. Es war ein Schock, und die wackere Gemeinschaft der Männer und Frauen der Londoner Theaterwelt hatte sich zur Trauerfeier eingefunden. Es war Januar 1947, ein bitterkalter Tag in Golders Green. Wir versammelten uns auf dem Vorplatz, und wir waren so viele, dass die Nachzügler nicht mehr in die große Kapelle passten und draußen bleiben mussten. Ein volles Haus; nun, Gricey hatte das wahrlich verdient. Aber ob er selbst sich für Golders Green entschieden hätte, das bezweifeln wir doch sehr. Seine Tochter Vera trug eine dunkle Sonnenbrille und einen schwarzen Pelzmantel. Ebenfalls Schauspielerin, sah sie zerbrechlich aus und klammerte sich die ganze Zeit über an den Arm ihrer Mutter. Joan Grice, so hieß die Mutter, trug gleichfalls Schwarz, und einen Schleier. Sie war nicht sonderlich beliebt, Joan, aber es fiel schwer, an diesem Tag kein Mitleid für sie zu empfinden. Offenbar war es eine gute Ehe gewesen.

Uns ist zu Ohren gekommen, dass manche Joan Grice für schön halten. Eindrucksvoll, das ja, eine imposante Erscheinung. Ihr Haar war schwarz, ohne auch nur einen einzigen Silberfaden. Sie trug es streng nach hinten gekämmt, um, wie es hieß, der Welt noch besser mit sensengleicher Schärfe begegnen zu können. Ebenso groß wie ihr verstorbener Mann, schlank, das Gesicht blass und markant geschnitten, das Kinn immer hoch erhoben, wirkte sie wie aus hartem weißem Stein gemeißelt; der Gesamteindruck konnte dramatisch sein. Aber, ach – und wir sagen das nur höchst ungern – ihre Zähne waren grässlich! Bräunlich, mit schwarzen Verfärbungen an den Zahnhälsen, und mit Lücken dazwischen. Und wie bei so vielen Engländern war das vielleicht auch bei ihr der Grund für ihre mürrische Art, sprich, ihre tief verwurzelte Abneigung gegen jedes Lächeln. Aber ungeachtet ihrer scharfen Zunge war sie ein klar denkender Mensch, sogar wenn sie etwas getrunken hatte. Und sie war eine der besten Gewandmeisterinnen in ganz London.

Sie selbst bevorzugte gute, schwarze Stoffe und klassische Schnitte, vielleicht mit einem Hauch Silber an Hals oder Handgelenken. Mit der Nadel konnte sie geschickter umgehen als die meisten, wenn sie musste, und schnell war sie noch dazu. Mit einem kleinen Pölsterchen hier, einem Besatz da, einer Falte, einem Abnäher, einer Anstecknadel – einem Stückchen Spitze – konnte sie das hoffnungsloseste Kleidungsstück in etwas Elegantes und Vornehmes verwandeln. Unter dem Mantel trug sie eine Kastenjacke mit breiten Schultern und einen schmalen Rock. Reine Seide an den Beinen.

Joan war stolz auf ihre Arbeit und erwartete von allen, die ihr unterstanden, dass sie ihren hohen Maßstäben gerecht wurden. Sie hatte immer versucht, ihrem Mann die vernichtenden Äußerungen zu ersparen, mit denen sie andere, geringere Sterbliche traktieren konnte, nicht immer mit Erfolg. Aber wenn es die gemeinsame Tochter betraf – also wenn es um Vera ging –, war sie eine Löwin. Die meisten der Anwesenden waren ihr bekannt, allerdings gab es auch ein paar wenige – wir wussten, wer sie waren, oh ja –, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie sahen nicht aus wie Theatermenschen, aber schließlich hatte Gricey mit allen möglichen Leuten verkehrt, Kriminelle nicht ausgeschlossen. Sir John Brogue war da, ausnahmsweise in guter Verfassung, Joan hatte sich oft um seine Kostüme gekümmert, und da war Dame Anna Flitch, ganz in Weiß. Ein vages Lächeln auf dem schlecht gepuderten Gesicht, verteilte sie Lilien – wo um alles in der Welt hatte sie die in diesem Winter der Entbehrungen aufgetrieben? Ed Colefax war anwesend, und Jimmy Urquhart, der seinen Gefängnisaufenthalt offenbar unbeschadet überstanden hatte, ihre alten Freundinnen Hattie Waterstone und Delphie Dix – die ehemalige Revuetänzerin saß inzwischen im Rollstuhl – und Rupert, völlig abgebrannt, so hieß es, und natürlich viele von der alten Truppe, die, die den Krieg überlebt hatten – allein der Gedanke, dass Gricey das alles verpasste! Er wäre begeistert gewesen.

Vera trug immer noch die dunkle Brille und klammerte sich an den Arm ihrer Mutter, als sie auf die Kapelle zugingen – es war nicht zu übersehen, dass das arme Mädchen zutiefst bekümmert war. So hochgewachsen und anmutig, stattlicher als ihre Mutter und doch an diesem Tag so zart, es konnte einem wirklich das Herz brechen, dachten wir.

Veras Mann war Julius Glass, ehemals Theaterbesitzer, ein dünner Mensch mit fahler Haut, gute zwanzig Jahre älter als sie. Er nahm ihre linke Seite ein. Neben ihm ging Gustl Herzfeld, eine geflüchtete Jüdin, die er anscheinend vor den Nazis gerettet hatte – eine überaus interessante Person. Sie hatte Hattie erzählt, sie sei Julius’ Schwester, aber das bezweifelten wir. Offen gestanden fanden wir es unglaubwürdig. Julius sah ernst und wachsam aus und überragte seine Frauen wie eine Art gelber Fischreiher. Welche Gefühle Joan ihm an diesem Tag entgegenbrachte, ließ sich nur vermuten, aber uns war zu Ohren gekommen, dass Julius und Gricey nicht unbedingt auf bestem Fuß miteinander gestanden hatten – um es vorsichtig auszudrücken –, und es hieß sogar, Julius sei da gewesen, auf der Treppe, als er stürzte.

Aber sie stellten nun einmal die Familie dar, und gemeinsam wurden sie nach vorne geleitet und nahmen ihre Plätze ein. Hinter sich hörte Joan das Gemurmel vieler Stimmen und hin und wieder ein leises Lachen. Wir alle hatten Gricey geliebt; zumindest einige von uns. Dann wurde der Sarg hereingebracht. Ach, gewiss der schwerste Augenblick. Er hatte seinen Auftritt von links, getragen von sechs kräftigen Männern. Ein krampfartiges Aufschluchzen von Vera, und Julius legte den Arm um sie. Joan dachte, sie würde ihn von sich abschütteln, aber stattdessen schmiegte Vera sich an ihn, als würden ihre Beine anderenfalls nachgeben und sie selbst auf dem kalten Steinboden zusammensinken, das arme Mädchen. Und es war kalt in der Kapelle, verdammt kalt, wir sahen, wie sich der Atem der Sprecher in der klammen Kälte der gedrängt vollen, dunstigen Kapelle in Dampf verwandelte. Für den späteren Tag war Schnee vorhergesagt. Oh weh, dachten wir, wir können uns auf einen weiteren verflucht kalten Winter gefasst machen.

Dann traten sie der Reihe nach ans Rednerpult, um über den Mann zu sprechen. Es gab Anekdoten. Über seinen Kriegseinsatz als Sonderkonstabler im West End. Die Geschichten, die er erzählt hatte. Er war vor Ort gewesen, nachdem diese furchtbare Bombe in den Lüftungsschacht des Café de Paris eingeschlagen war, eine furchtbare Sache. Sie riss Snakehips Johnson in tausend Stücke. Hundertsechsundachtzig Menschen starben in jener Nacht in London. Nettigkeiten wurden in Erinnerung gerufen, moralische oder finanzielle Unterstützung, die er anderen in Zeiten einer Krise oder eines Verlusts hatte zukommen lassen. Finanziell, dachte Joan, und wo bitte war das Geld hergekommen? Es war nie besonders viel übrig gewesen.

Wellen der Sympathie wogten von jenen im hinteren Teil der Kapelle zu denen, die ihm am nächsten gewesen waren, das spürte sie in diesem Augenblick, und ein Großteil davon galt Vera, deren Geschichte den Anwesenden bekannt war. So vielversprechend, eine strahlende Bühnenpräsenz, das sagten alle. Völlig verzweifelt. Sie hatte ihrem Vater natürlich sehr nahegestanden. Alles, was sie konnte, hatte sie von ihm gelernt, und jetzt? Am Boden zerstört.

Als die Trauerfeier vorbei war und wir beobachteten, wie der alte Gricey in seinem Sarg nach hinten abging, durch die Vorhänge – in seinem Sarg, seinem Sarg ! – und wie sollen wir ohne ihn weiterleben ?, das müssen beide, Mutter und Tochter, gedacht haben –, war die Gefahr eines Zusammenbruchs am größten. Aber sie standen hoch aufgerichtet da, Vera jetzt ohne die dunkle Sonnenbrille, sodass wir ihre feuchten, geröteten Augen in dem bleichen, tragischen, selbst im Kummer schönen Gesicht sehen konnten. Sie hakte sich wieder bei ihrer Mutter ein, als sie langsam durch den Gang schritten, und im ganzen Haus blieb kein Auge trocken, alle Blicke waren auf diese beiden groß gewachsenen, langsam dahinschreitenden Frauen in Schwarz gerichtet, die Mutter aufrecht und schmal, die Tochter unsicherer, fast schien sie in ihrer Trauer zu schwanken. Wie königliche Hoheiten wandten sie sich nach rechts und links, boten mitleidigen und verweinten Gesichtern, die ihnen aus Dutzenden Garderoben und von unzähligen Applausauftritten, Premierenfeiern und durchfrorenen Proben in kalten Gemeindesälen mit Eis an den Fenstern vertraut waren, ein verhaltenes Lächeln. Das hier war unsere Welt. Wir verabschiedeten uns von einem der Unseren.

Dann waren wir wieder auf dem Vorplatz. Julius hatte sein Haus für den Leichenschmaus angeboten, sogar für den Transport jener gesorgt, die kein eigenes Transportmittel hatten. Joan war nicht besonders glücklich darüber, das war klar, hatte aber nicht die Energie, dagegen zu protestieren, die Arme. Es ist ein weiter Weg nach Tipperary, noch weiter ist es von Golders Green nach Pimlico, aber wir fuhren los, Dutzende von uns, und als die Familie später zu uns stieß, nachdem sie Griceys Einäscherung beigewohnt hatte, war die Feier in vollem Gang.

Unterm weiten Sternenzelt

grabt mir meinen letzten Ort.

Schauspieler sind wie Priester, oder vielleicht wie Leichenbestatter, hört man oft, denn wir leben mit dem Tod auf mehr als vertrautem Fuß. Wir alle sind auf der Bühne Tausende von Malen gestorben, und wir nehmen das keineswegs leicht. Allerdings nehmen wir es auch nicht allzu ernst. Was wir ernst nehmen, ist das Leid der Hinterbliebenen, und so waren wir zuhauf für den alten Gricey erschienen, und als Joan und Vera das Haus von Julius betraten, war es randvoll, Leute in jedem Zimmer – sogar im Garten hinter dem Haus, trotz der Kälte und der langen Fahrt, aber Vera hatte darauf bestanden. Sie wollte, dass der Leichenschmaus für ihren Vater im Haus ihres Mannes stattfand, so wie sie gewollt hatte, dass er in Golders Green eingeäschert wurde, und wer hätte es ihr abschlagen können? Sie hatte ihre Gründe, und ihre Mutter wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr zu diskutieren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Selbst wenn es bedeutete, dass die Feier im Haus dieses Mannes stattfand.

Als sich die Haustür hinter ihnen schloss und das Gewoge der Stimmen über ihnen zusammenschlug und sie weitergehen und Teil des Ganzen werden oder vielmehr die Hauptrollen übernehmen mussten, hörte Joan sie zum ersten Mal – leise, amüsiert, doch unverkennbar – die Stimme ihres Mannes.

Reiß dich zusammen, Liebes. Das hier ist dein großer Auftritt.

In der Küche reichte ihr irgendjemand einen großen Gin, aber sie war verwirrt, geradezu fassungslos, weil sie Griceys Stimme gehört hatte, und sie wollte mehr. Sie wollte ihn noch einmal hören, nein, sie wollte sich mit ihm unterhalten, daher verließ sie die Küche und ging nach oben ins Schlafzimmer von Julius und Vera und setzte sich aufs Bett. Aber nichts. Stille. Sie flehte ihn an, noch etwas zu sagen. Sie hörte die Rufe und das Lachen der vielen Dutzend Leute, die unten versammelt waren, nicht aber Gricey. Zum ersten Mal seit seinem Tod hatte sie das Gefühl, zu zerbrechen wie ein abgestorbener Zweig im Winter, erzählte sie uns später. Sie weinte jetzt, ebenso sehr aus Enttäuschung wie aus Kummer, und merkte nicht einmal, dass sie zitterte, bis sich die Tür langsam öffnete. Sie drehte sich um, erstarrt, unfähig, vom Bett aufzustehen – ohne zu wissen, was sie erwartete –, dann erschien ein Kopf in der Tür. Vera.

«Hier bist du. Oh Gott, Mum, du bist ja halb erfroren.»

Sie bot wirklich einen erbarmungswürdigen Anblick, vermutete sie, zitternd und weinend auf dem Bett, und es war ihr gar nicht recht, dass Vera sie so sah. Vera hatte ihre Mutter nur höchst selten einmal weinen sehen und betrachtete sie nun mit einer gewissen Neugier. Sie setzte sich neben sie aufs Bett und legte sanft die Arme um sie. Joan erzählte ihr, was passiert war, dass sie Griceys Stimme gehört hatte, und Vera sagte nicht, sie habe sie auch gehört, denn das hatte sie nicht. Sie hielt ihre Mutter einfach nur in den Armen und murmelte tröstliche Worte. Dann sagte sie, sie müssten wieder nach unten gehen, zur Feier, und damit hatte Joan nicht gerechnet, da Vera ihr vorher zu verstehen gegeben hatte, dass eine Feier das Letzte sei, was sie brauche, aber es war nun einmal die Totenfeier für ihren Vater. Und sie sagte zu ihrer Mutter, sie müssten sich wieder ins Getümmel stürzen. Oder, wie Gricey es ausgedrückt hätte – wie er eben gesagt hatte – : Reiß dich zusammen, Liebes. Das hier ist dein großer Auftritt.

Und sie gingen nach unten in die Küche, wo irgendein betagtes weibliches Wesen zu Joan sagte, sie wisse genau, wie sie sich fühle, weil auch sie ihren Mann verloren habe.

«Wann?», fragte Joan.

«Weihnachten vor siebzehn Jahren, meine Liebe.»

«So lange halte ich nie im Leben durch», sagte Joan. Und fragte die Frau, ob sie ihn immer noch vermisse.

«Ja, meine Liebe, ja, das tue ich.»

Und sie beugte sich ein Stück näher und fügte hinzu: «Ich habe ihm noch nicht gesagt, dass er gehen kann.»

Dann umklammerte sie Joans Ellbogen, nichts als Talkumpuder, Gekicher, Mottenkugeln und Gin, und sagte, sie sei noch nicht mit ihm fertig.

Mit ihm fertig?, dachte Joan. Für sie würde es auch kein Fertigwerden geben, nicht, bis auch sie tot war und sie beide, sie und Gricey, nur noch Lichtpunkte in den Köpfen derer waren, die sich an sie erinnerten. Ja, und mit jedem vergehenden Jahr würden sie schwächer leuchten, bis sie irgendwann so blass sein würden, dass es an Unsichtbarkeit grenzte, und verlöschten. Danach würde nichts mehr von ihnen übrig sein, dachte sie, nur Dunkelheit. Das bedeutet fertig, dachte sie.

Ja, es war Januar, der 17. Januar 1947. Bis dato der kälteste Tag des Jahres. Das wirst du nie vergessen, wie könntest du auch?

Gern weilt’ ich auf dieser Welt,

geh nun gerne wieder fort.

Später am Abend, als es anfing zu schneien, saß sie in der Wohnung in der Archibald Street, in der sie und Gricey fast dreißig Jahre gelebt hatten, am Küchentisch. Sie lag in Mile End, nur ein kleines Stück vom Friedhof und der St. Clement’s-Kirche entfernt. Joan hatte den Kopf in den Händen vergraben und ein flaues Gefühl im Magen. Kummer kommt in Wellen, das lernte sie allmählich, und in Stadien. Sie begann mit einer Auflistung all der Dinge, die geschehen waren, und es war schwer, keine Schuldzuweisungen vorzunehmen. Natürlich war es ihre Schuld, dessen war sie sich bewusst, sie hätte ihn retten müssen, obwohl er Gott weiß selbst in seinen besten Zeiten ein schwieriger Mensch gewesen war, und seit Neuestem hatte er Probleme gehabt, seinen Text zu behalten, und musste ihn jeden Morgen noch einmal durchgehen. Er hatte ein Engagement am Irving Theatre in St. Martin’s, wo er den Malvolio spielte, und ja, er hatte getrunken, er war wütend gewesen, und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass es nie passiert wäre, wäre er nicht so wütend auf Julius Glass gewesen, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was genau die beiden Männer zueinander gesagt hatten, außer, dass es wahrscheinlich um Vera ging, und nach allem, was sie über Julius wusste, wäre jeder wütend auf ihn gewesen und durch die Hintertür gestürmt und, ach je – arme Joan – die Treppe hinuntergestürzt …

Eine Woche später ging es ihr nicht besser. Sondern schlechter. Zwischen ihnen hatte es eine Weile, also gut, seit Jahren, wenn sie ehrlich war, nicht zum Besten gestanden, aber das änderte nichts an ihren Gefühlen. Sie hatte dem Mann ihr Herz geschenkt, und wenn er sich von ihr entfernt hatte, dachte sie, dann weil Männer das nun einmal taten. Er kam immer noch jeden Abend zu ihr nach Hause. Inzwischen war sie überzeugt, dass er keineswegs gestorben war. Nein, er war lebendig begraben worden. Sie hatte zugelassen, dass sie ihn lebendig begruben. Tatsächlich hatte sie ihn einäschern lassen, aber natürlich konnte sie nicht klar denken. Wieder war es spät, wieder konnte sie nicht schlafen, und sie war in die Küche gegangen, um sich noch einen Schluck Gin zu holen. Sie waren zwei Hälften eines Ganzen, dachte sie, sie und Gricey, untrennbar. Oder nein, unzertrennlich, selbst wenn sie getrennt waren. Selbst wenn er wegen eines Engagements nicht in der Stadt war, waren sie im Geist unzertrennlich gewesen. Und waren es immer noch. Sie versuchte, sich nicht zu lange bei dieser Vorstellung aufzuhalten, aber gelegentlich machte sie sich derart vehement bemerkbar, dass sie gezwungen war, sich damit zu beschäftigen. Einmal war es passiert, als sie nach Hause radelte. Da durchbrach ein plötzlicher Schrei, der aus ihrer Kehle gellte, die Dunkelheit, und natürlich galt er Gricey, der tot war – zumindest wurde das behauptet –, der sie zurückgelassen hatte, und nun musste sie sich um alles kümmern, das Leben, das weiterging, die Probleme ihrer Tochter, alles. Sie hatten ihn eingeäschert, sie hatte angefangen zu trauern, und jetzt war sie zum ersten Mal, wie es schien, nicht nur mit seiner Abwesenheit konfrontiert und mit einer Stille, die einst von diesem unvergleichlichen Mann ausgefüllt worden war, zärtlich, witzig, treu auf seine Art – er war nun einmal Schauspieler, diesbezüglich gab sie sich keinen Illusionen hin –, und unglaublich loyal. Nahmen die Qualitäten, die sie jetzt, wo er tot war, in ihm entdeckte, denn kein Ende? Was spielte es für eine Rolle, dass er ihr gegenüber gelegentlich kurz angebunden war, dass er launisch war, dass er einmal warm, einmal kalt war – er war der Mann, mit dem sie siebenundzwanzig Jahre zusammengelebt hatte, und sie selbst war auch nicht gerade ein unproblematischer Mensch. Und es war nicht nur er selbst, den sie vermisste. Es war sein sicheres, klares Gespür dafür, was man zu Vera sagen musste, wie ernst man ihre Krisen nehmen musste; und vor allem, wie man das Mädchen wieder auf den Boden zurückholte, wenn sie anfing, die Wände hochzugehen, was in letzter Zeit häufiger vorzukommen schien, in dieser düsteren, freudlosen Zeit der Kälte, der Sehnsucht, des Verlusts …

Nein, Joans Problem bestand darin, dass er nicht da war, um ihr zu raten, und darüber war sie wütend, und es machte ihr Angst. Wann kam er denn nun nach Hause? Wann?

Sie war völlig erschöpft in der Wohnung angekommen, hatte die Katze gefüttert und sich einen gehörigen Schluck Gin eingeschenkt. Sie war in sein Zimmer gegangen, wo seine Kleider im Schrank hingen und er manchmal auch geschlafen hatte – oft, wenn sie ehrlich war –, und sie hatte am Fenster gestanden und auf die Straße hinabgeblickt. Laternenmasten, Zäune, Pflastersteine, die Friedhofsmauern ein Stück weiter, und es schneite wieder. Eine Weile saß sie auf seinem Bett. Sie trank ihr Glas aus und beschloss, sich noch eins zu gönnen. Wieso auch nicht? Auf dem Weg zurück in die Küche merkte sie, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie wollte einfach nur seine verdammte Stimme noch einmal hören.

Als sie am nächsten Morgen wach wurde, spürte sie die beiden großen Gins, die sie vor dem Schlafengehen getrunken hatte. Früher hatten sie und Gricey sich gelegentlich einen Cocktail genehmigt, waren manchmal in den Pub gegangen oder ins West End gefahren, wenn sie bei Kasse waren. Allein zu trinken war Joan immer erbärmlich vorgekommen, es hatte etwas so Verzweifeltes. Mit wem willst du reden? Mit dir selbst? In den ersten Tagen war sie versucht, sich jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, aber das würde nur in den Wahnsinn führen, oder, wenn nicht in den Wahnsinn, dann in eine Art zügellose Stumpfheit, die das Licht in ihren Augen und das Feuer in ihrem Hirn auslöschen würde, und was wäre dann? Dann würde sie auf keinen Fall mehr die Kostümschneiderei des Beaumont Theatre leiten, das wäre dann. Dabei war diese Arbeit ihr Lebensinhalt. Ohne sie konnte sie gleich ganz aufgeben.

Aber gestern Abend hatte sie eine Ausnahme gemacht, die sie jetzt bedauerte. Sie wusste genau, was passiert war. Es lag daran, dass sie in seinem Zimmer gewesen war, an seinem Schrank. Ein fataler Fehler.

Ja, wir wissen. Lächerlich. Überaus unklug. Reiß dich zusammen, Liebes, wie rührselig willst du auf deine alten Tage denn noch werden? Sie hatte Vera nichts davon erzählt, sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, was sie dazu sagen würde. Sie hatte sich vorgenommen, seine Sachen wegzugeben, aber inzwischen waren fast zwei Wochen vergangen, und sie waren immer noch da, seine Anzüge, Hemden, Schuhe, seine Unterwäsche, alles. Er hatte so viel besessen, trotz der Sparmaßnahmen und der Rationierungen, auch von Stoffen. Was so absolut destruktiv war, war die Tatsache, dass sie immer noch einen schwachen Abglanz des Mannes heraufbeschwören konnte, wenn sie die Nase an einen Kragen oder einen Ärmel presste, und das brachte sie jedes Mal völlig aus der Fassung. Dieses Haaröl – wieso derart fast nicht wahrnehmbare Spuren eines abgestandenen Dufts das Wesen eines Mannes heraufbeschwören konnten, dessen irdische Überreste augenscheinlich auf ein kleines Häufchen Asche reduziert worden und in ein Gefäß gekippt worden waren, das sie unter ihrem Bett verwahrte, das ging über ihre Begriffe. Aber es brauchte nur einen großen Gin, manchmal zwei, und sie machte es wieder, oh ja, und oh, sie riss sie heraus, sie legte sie bereit, als sei sie sein Kammerdiener oder seine Garderobiere, breitete sie auf dem Bett aus, während sie ihn im Geist die ganze Zeit dabei bewunderte, wie er mit ihr zusammen das Haus verließ, oder auch, wie er aus ebendiesem Zimmer kam und sie fragte, wie er aussah. Denn er war eitel, der gute alte Gricey, er liebte messerscharfe Bügelfalten und klare Linien, natürlich war er nur ein einfacher Junge aus Tottenham, aber es gefiel ihm, sich wie ein Gentleman zu geben – ein echter Theatermann eben –, und in der nächsten Sekunde warf sie sich auf das Bett und krallte sich in den Stoff und vergrub die Nase in Kragen und Manschetten, in Achselhöhlen und Schritt …

Komisch, nicht?, sagten wir, dass es so oft die starken Frauen sind, die sich an diese komplizierten Männer wegwerfen, die es im Grunde genommen nicht wert sind.

Sie saß im Mantel am Küchentisch und schnitt eine halbe Banane in dünne Scheiben (es kam nicht oft vor, dass es einem gelang, eine Banane zu ergattern) und trank ihren Tee. Die andere Hälfte würde sie später essen. Ein grauer, windiger Tag, jetzt schon sehr kalt. In fünf Minuten würde sie rübergehen und die Sachen wieder auf die Bügel hängen, das Zimmer aufräumen. So wie wenn man am Morgen danach den Schauplatz einer Orgie betritt. Die ersten Anzeichen der Dämmerung am Himmel, wenn das Gelage zu Ende ist und die Zecher nach Hause gegangen sind. Verderbtheit, dachte sie. Ausschweifung. Vera und Julius wollten, dass sie zu einer Art Gedenkvorstellung ins Irving mitkam, für Gricey, sich sein Was ihr wollt noch einmal ansah. Nein, das würde sie nicht tun. Sie war dem nicht gewachsen. Aber sie musste zur Arbeit. Wir sehen sie jetzt so, wie wir sie in jenem Winter oft sahen, ganz in Schwarz, Mantel, Handschuhe, Hut, Strümpfe, auf ihrem hohen schwarzen Damenfahrrad von Raleigh mit dem am Lenker befestigten Korb und der silbernen Klingel und dem Reflektor am hinteren Schutzblech, dessen untere Hälfte weiß war. Sie fuhr in würdevoller Haltung, den Rücken sehr gerade, die Augen auf die Straße vor sich gerichtet. Mile End, Whitechapel, Aldgate, dann die City, Holborn bis Shaftesbury Avenue, dann im Leerlauf runter zum Piccadilly Circus, ein kleiner Schlenker um die Ecke zum Beaumont. Ihre Handzeichen waren von makelloser Präzision, die Sittsamkeit ihres Abstiegs eine Augenweide.

«Morgen, Mrs Grice», murmelten ein oder zwei müde Stimmen, als sie die Werkstatt betrat, wo die Dampfbügeleisen zischten und die Nähmaschinen surrten. Sirr-Pause-Sirr-Pause machten sie. Tap-tap-tap-tap. Die Fenster waren beschlagen, gingen aber sowieso nur auf eine Wand hinaus, hier im Souterrain, dem untersten Teil des Gebäudes. Unsere Dämmerwelt, sagte sie dazu. Wieso war es hier drin immer so düster? Sie hatte hellere Glühbirnen verlangt, aber nein, selbst das Licht war in dieser dunklen neuen Welt rationiert, und manchmal hatten sie so gut wie gar keins, kein Wunder, dass alle blind wurden, über ihre Singer gebeugt, Augen, Hände, Schultern am Ende des Tages völlig hinüber.

«Morgen, meine Damen. Esther, ist Miss Convilles Mieder schon fertig?»

Sie bereiteten eine neue Inszenierung vor. Haus Herzenstod von George Bernard Shaw. Jede Menge Mieder und Roben, Stahlstäbchen und Pferdehaar, kniffliges Zeug. Tweedanzüge, eine Handelsmarineuniform, ein Mann in voller arabischer Montur. Und die Perücken! Aber sie leitete eine gute Werkstatt, die beste in ganz London, sagten manche.

«Fast, Mrs Grice.»

«Beeil dich, Liebes. Ich brauche dich für die Hosen. Eunice?»

«Ja, Mrs Grice?»

«Ist das da auf dem Boden etwa ein Stoffrest?»

«Ups, tut mir leid, Mrs Grice.»

«Die reinste Todesfalle. Wie schnell bist du darauf ausgerutscht und hast dir den Schädel eingeschlagen und – Vorhang.»

«Ja, Mrs Grice.»

Joan verfügte über ein kleines Kabuff, von dem aus sie alles im Blick hatte. Wenn sie sich morgens an ihrem Schreibtisch niederließ, nahm sie die Brille aus dem Etui, um sich erst einmal das Budget und was nicht alles anzusehen. Aber heute setzt sie die Brille fast sofort wieder ab und blickt stattdessen auf den geschäftigen Raum. Sie nimmt die arbeitenden Frauen kaum wahr, die Berge von Musselin, die Regale, die von Ösen und Nadeln und Knöpfen und Reißverschlüssen überquellen, die Dampfpressen, den langen Tisch, an dem die Stoffe zugeschnitten werden. Und da ist Esther, die alberne junge Esther, Stecknadeln im Mund, während sie ein Stück dünne schwarze Seide auf einem Tisch glattstreicht und an einer Seite zum Saum umschlägt, den sie geschickt feststeckt. Oh, und Joan sieht sich selbst vor all den vielen Jahren im Watford Palace, als sie in Esthers Alter war und für eine Gewandmeisterin arbeitete, die nicht weniger anspruchsvoll war, als sie es jetzt ist, und während sie säumte und nähte, war sie in Gedanken ganz woanders, so wie Esther jetzt, ja, denn an jenem Abend, jenem lange vergangenen Abend, traf sie sich mit Charlie Grice, der die Hauptrolle in der Aufführung des Tourneetheaters spielte, das gerade in die Stadt gekommen war, und er hatte sie nach der Vorstellung auf einen Drink eingeladen.

Ja, und später, im Fundus für die Männerkostüme, zwischen den Militäruniformen, an der Wand, im Dunkel, den durchdringenden Geruch von schalem Schweiß und altem Wollserge in der Nase, er immer noch mit der Schminke im Gesicht, war sie in seinen Armen, ein Bein um seine Hüfte geschlungen, klammerte sich fest an ihn, küsste ihn mit geöffneten Lippen und Zunge, krallte die Finger in seine dicken, welligen, kastanienbraunen Haare, die von Pomade verklebt waren, und sie keuchten und ächzten, strebten laut einer perfekteren Verbindung entgegen …

Großer Gott, damals war es gut, am Leben zu sein, und der Himmel – wie ging der Spruch noch mal? Der Himmel ein schneller Fick im Männerfundus.

«Wo sollen die hier hin, Missus?»

Ein junger Mann in Hemdsärmeln und Hosenträgern stand mit einem Packen Hosen in den Armen in der Tür. Die älteren Frauen im Raum beachteten ihn nicht weiter, aber die Mädchen linsten zu ihm hinüber und tauschten Blicke, und er gab sich alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.

«Sind das meine Hosen? Hängen Sie sie da drüben hin, Jimmy. Esther, würdest du sie bitte sortieren, und wenn du damit fertig bist, könnt ihr mit den Anproben anfangen, du und Eunice. Mangan kommt um zwölf, und dann der Captain. Danke, Jimmy, Sie können jetzt gehen.»

«Ja, Mrs Grice.»

«Jimmy. Sie können jetzt gehen.»

Jimmy ging. Etwas später, als die Mädchen die Hosen zurechtlegten, die aus dem Fundus geholt worden waren, war Joan mit den Gedanken wieder woanders. Aber dieses Mal dachte sie nicht an heiße Nächte mit Gricey in Watford, sondern an jene letzte Unterredung mit Julius, und was wohl zwischen den beiden Männern gesagt worden war, bevor Gricey die Treppe zum Garten hinunterstürzte. Sie konnte nicht gut mit Unklarheit und Ungewissheit umgehen, unsere Joan. Sie gab sich nie mit den vagen Umrissen einer Sache zufrieden. Und das war insofern von Belang, als sie darauf bestanden hatte, dass er hinging, um mit dem verdammten Julius zu reden.

Tatsächlich war sie ein paar Tage zuvor dort gewesen und hatte mit Vera in der Küche Tee getrunken, als er hereinkam.

«Ah, Joan, Joan», hatte er gesagt und seine Handschuhe ausgezogen und dann die Nickelbrille abgenommen, um sie zu putzen. «Wie geht es dir, meine Liebe?»

«Einigermaßen», antwortete Joan.

Natürlich kein Lächeln. Nur Gricey bekam je ihr Lächeln zu sehen. Wie immer genierte sie sich wegen ihrer Zähne. Aber wie ruhig er war, dachte sie, wie gefasst, wie geradezu majestätisch, als er sich an den Küchentisch setzte, mit diesen schwerlidrigen Augen und den langen, gelblichen Händen, als sei er ein Nobelmetzger für die bessere Gesellschaft oder der Sohn eines solchen. Metzger waren zu dieser Zeit in London wichtige Persönlichkeiten, kein Wunder, angesichts der ganzen Rationierungen. Und hier war ein Mann, der einem an der Hintertür ein schönes Filet zustecken könnte, sofern man ihn richtig behandelte, dachte sie. Stattdessen hatte er einen, wie er sagte, ganz netten Weißwein unter der Spüle hervorgezaubert und den beiden Frauen ein Glas angeboten. Wo er den wohl herhatte? Unter der Hand ergattert. Auf dem Schwarzmarkt. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und einen beigen Wildlederslipper von einem seidenbestrumpften Fuß baumeln lassen. Das Hosenbein war höher hinaufgeklettert als die Socke und hatte einen haarlosen weißen Unterschenkel enthüllt. Vera hatte ihrer Mutter einmal erzählt, Julius habe drei Brustwarzen, er hatte sie ihr an dem Abend nach der Premiere von Ibsens Nora gezeigt. Joan war noch etwas aufgefallen, was an diesem grässlichen Mann, den ihre Tochter geheiratet hatte, seltsam war. Manchmal, am späten Nachmittag in diesem Winter, wenn der Tag allmählich zur Neige ging, schien sich ein blasser Schimmer Sonnenlicht um seinen hellblonden Kopf zu sammeln und wirkte wie eine Art Heiligenschein. Wie eine Krone aus Licht.

Aber es war ein blutiger Heiligenschein, dachte Joan, als der letzte Sonnenstrahl durch das Küchenfenster des Hauses in Pimlico fiel, wo sie zu dritt Weißwein tranken und sich unterhielten, als sei nicht das Geringste passiert, als hätte sich nichts geändert. Gricey war einfach – woanders. Später, als Joan sich verabschiedete, erinnerte Vera sie daran, dass sie sich Griceys Stück noch einmal ansehen wollte. Joan reagierte zurückhaltend, um es gelinde auszudrücken, aber Vera wollte, dass sie dabei war. Und was Vera wollte, das bekam sie im Allgemeinen auch.

«Esther, pass gefälligst auf, was du machst, ich bitte dich.»

«Ja, Mrs Grice.»

Joan stand in der Tür ihres Büros, das Gesicht kreideweiß, die Augen wie glühende Kohlen, rot gerändert.

«Keine Ahnung, wo sie Mädchen wie euch heutzutage auftreiben. Wo haben sie dich aufgetrieben, Esther?»

«Ich wüsste es wirklich nicht, Mrs Grice.»

«Du weißt nicht gerade viel, was, Kind?»

Esther wurde puterrot, das arme Ding, und starrte auf ihre Finger, während sie die dünne Seide unter die auf- und abhüpfende Nadel schob. Joan ging zurück an ihren Schreibtisch und dachte, wie soll ich bloß herausbekommen, was der Mistkerl gesagt hat? Der arme Gricey – voller Wut zu sterben. Was ist denn das für eine Art zu gehen? Sie würde hinfahren, um ihn noch einmal zu sehen, diesen Julius Glass, sie würde es ihm zeigen.

2

Es war ein schlimmes Jahr, nein, ein furchtbares, auch wenn es kaum drei Wochen alt war. Immer noch gab es nicht genug zu essen, und letzten Sommer, also im Sommer 1946, dem Jahr der großen Demonstration, war Brot rationiert worden, dabei war der Krieg längst vorbei! Glorreiche Sieger, das ja – aber pleite. Moralisch überlegen, aber wirtschaftlich am Boden. Erschöpft. Ach, England. Smog, Ruinen, eintönige Kleidung, schlechtes Essen, Bombentrichter und Ratten. Arbeit gab es, oh ja – beim Abriss von Häusern. Jemand, irgendein Schriftsteller, an dessen Namen wir uns nie erinnern können, hatte gesagt, England bestehe aus Kohlen und sei umgeben von Fischen. Wieso also froren und hungerten wir? Ganz zu schweigen davon, dass der Strom ständig abgeschaltet wurde und wir öfter im Dunkeln saßen als während der deutschen Luftangriffe auf London, aber immerhin rochen die Straßen nicht mehr nach Gas, wie nach einer Bombe, wenn das Gas aus den zerstörten Leitungen strömte. Und immerhin gab es die verdammten Bomben nicht mehr. Aber waren wir nach allem, oh, nach den endlosen Opfern und dem ganzen Rest – waren wir die Faschisten los?

Waren wir nicht. Oh nein. Die Schwarzhemden, die im Krieg unter Verfügung 18b – Sympathien für den Feind – interniert worden waren, liefen wieder frei herum. Joan sah sie auf dem Nachhauseweg und war froh, dass ihre Eltern tot waren und das alles nicht mehr erleben mussten. Sie marschierten in Dreierreihen durchs East End, hielten öffentliche Versammlungen ab, beschmierten die Mauern mit Hakenkreuzen und versprühten Hass, als wären sie nie weg gewesen, als hätte es nie einen Krieg gegeben, den sie verloren hatten. Natürlich gab es Ärger. Es gab Schlägereien, Menschen wurden verletzt, was niemanden überraschte. Sie waren aktive Faschisten, die ihre Zeitschriften vor U-Bahn-Stationen verkauften, und natürlich war es im East End am schlimmsten, denn hier lebten die Juden, zu denen auch Joan gehörte. Ihr Vater, ein Schneider, war Ende des letzten Jahrhunderts aus Osteuropa nach London gekommen und hatte sich in Stepney niedergelassen und dort eine Familie gegründet. Armut, Enge, Gewalt und politischer Dissens, dafür war Stepney bekannt, und für die Juden. Und dort hielten die Faschisten ihre Versammlungen ab. Im ganzen East End brüllten Männer auf Podien in ihre Megafone und verlangten die Vertreibung derer, die sie jetzt «fremdländisch» nennen mussten. Verkündeten, Hitler sei nicht weit genug gegangen, habe die Sache nicht zu Ende gebracht. Nicht zu fassen, oder? Im Jahr 1946. Am vorigen Sonntag hatte Joan noch einmal ihre ganze Entschlossenheit zusammengenommen und sich auf den Weg zu Julius gemacht, aber er war mit Gustl Herzfeld unterwegs, Tante Gustl, wie manche von uns sie nannten, weiß der Himmel wieso. Julius’ Haus war schmal, mit spitzen Giebeln und Bäumen davor, spätviktorianisch, aus gelbem, vom Kohlenruß verfärbten Londoner Backstein. Es lag nur ein paar Schritte von der Sutherland Terrace entfernt, oder was davon übrig war, an der Ecke eines kurzen Blocks von zu Wohnraum umgebauten ehemaligen Remisen, Lupus Mews, nicht weit vom Betriebsgelände der Victoria Station entfernt. Aber Vera war zu Hause, und als sie in der Küche saßen, erkundigte sich Joan, wie es ihr gehe, und da erzählte Vera ihr, sie sei auf den Dachboden gezogen.

«Nein!»

«Doch!»

Sie saßen in der Küche, wo es natürlich am wärmsten war, und tranken Tee. Wie so viele Londoner Häuser in der Nähe von Bombeneinschlagsstellen, ließ auch dieses sich nicht sauber halten, denn Ruß und Dreck drangen durch die Schornsteine, und die Farben der Teppiche leuchteten nicht mehr, das Messing glänzte nicht mehr, und es war dunkel, weil so viele Fenster kaputte Scheiben hatten und mit Brettern vernagelt waren. Und es zog. Joan behielt ihren Mantel an, aber Vera schien die Kälte nicht zu spüren. Sie trug einen schwarzen Pullover, der ihren Busen schön zur Geltung brachte, und mit ihrer milchweißen Haut und den langen, schwarzen, glänzenden Haaren, die sie normalerweise hochsteckte, entwickelte sie sich wirklich zu einer bezaubernden jungen Frau, jeden Tag mehr, dachte ihre Mutter, wenn nur die dunklen Augenringe nicht wären. Dazu hatte sie schöne Zähne, anders als gewisse andere Leute. Und doch war sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, eigentlich ein bisschen früh, dachte Joan, sagte es aber natürlich nicht. Vera nickte, kläglich, amüsiert. Es gab oben ein Badezimmer mit Wanne und Toilette, was brauchte man mehr?

«Einen richtigen Ehemann, das brauchst du», sagte Joan.

Vera betrachtete ihre Teetasse und sagte mit leiser Stimme, Julius sei der Meinung, sie habe vielleicht einen Rückfall. «Glaubst du das auch?»

«Nein, Liebes, du hast deinen Vater verloren, das ist alles. Und du brauchst Arbeit. Hast du was in Aussicht?»

«Es wird nicht viel angeboten, Mum.»

«Da habe ich aber etwas anderes gehört.»

Sie war übernervös, das gab Vera selbst zu. Vor ein paar Jahren war da dieser Anflug von Hysterie gewesen, aber dann war es ihr eine ganze Weile gut gegangen, bis sie ihren Vater verlor. Joan hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass alles ihre Schuld war, denn als Julius sie angerufen und gesagt hatte, Gricey habe einen Herzanfall erlitten und sei im Krankenwagen unterwegs ins Edward VII, hatte sie gesagt, sie wolle Vera nicht dort haben, sie könne sich nicht gleichzeitig um Gricey und um sie kümmern. Und als Vera nach Hause kam und er ihr sagte, ihr Vater sei mit einem Herzanfall ins Edward VII eingeliefert worden, wollte sie natürlich sofort zu ihm. Und da hatte Julius die Haustür versperrt und sie angefleht, nicht hinzufahren. Und sie hatte versucht, aus dem Fenster zu klettern, und er hatte sie zurückgehalten, und da hatte sie die Beherrschung verloren und ein Glas nach ihm geworfen und seinen Kopf nur um Zentimeter verfehlt. Joan dachte, ich hätte ihr beibringen müssen, besser zu zielen.

Julius mache sich immer noch Sorgen um sie, sagte Vera nun, den Blick auf ihre Hände gerichtet, die sie jetzt umdrehte, um ihre scharlachrot lackierten Nägel zu begutachten. Joan sagte nichts, aber oh, mein talentiertes Mädchen, dachte sie, oben auf dem Dachboden? Was hätte Gricey wohl dazu gesagt? Also bot sie ihr das leere Zimmer in der Wohnung an, das ihrem Vater gehört hatte. Sie hatte das Gefühl, es zu müssen.

«Ich kann nicht», sagte Vera.

«Wieso nicht, Liebes?»

«Ich kann einfach nicht. Es ist Daddys Zimmer. Und überhaupt –»

«Überhaupt was?»

«Überhaupt will ich hierbleiben.»

Mehr sagte sie nicht. Was sollte ihre Mutter davon halten? Wahrscheinlich wollte sie in Julius’ Nähe bleiben, weil sie ihn liebte. Aber sah sie das alles denn nicht als Demütigung?

«Mum, du musst das verstehen. Er ist mein Mann!»

«Ja», sagte Joan. «Vermutlich ist er das.»

«Jedenfalls will ich auf dem Dachboden schlafen.»

Genau wie dein Dad, dachte Joan. Der schlief auch lieber allein. Im Grunde genommen war sie erleichtert. Es ist besser so, dachte sie, denn wenn Gricey nach Hause kam, wollte sie allein in der Wohnung sein.

Als sie ihren Tee ausgetrunken hatten, zeigte Vera ihrer Mutter den Dachboden. Spät nachts konnte man die Züge hören, sagte sie, das Scheppern und Klappern, wenn die Eisenbahner die Waggons auseinanderkuppelten. Intimität konnte erdrückend sein, dachte Joan, wenn eine Frau eigentlich Distanz von ihrem Mann brauchte, vor allem einem Mann wie dem verfluchten Julius Glass. Bei ihr und Gricey hatte es nie Intimitätsprobleme gegeben, dachte sie dann, egal, wie ihre Schlaf-Arrangements aussahen. Nein, nichts dergleichen.

Aber oben in diesem hohen, schmalen, hässlichen gelben Haus am Ende einer düsteren Reihe ehemaliger Remisen, auf einem Dachboden, da, dachte sie, will meine Tochter jetzt leben? Es gab dort oben ein altes Badezimmer, mit einer uralten Toilette mit Holzsitz, einer ohrenbetäubend lauten Spülung, die das ganze Haus aufwecken würde – arme Tante Gustl –, und einer Wanne mit Klauenfüßen und einem Abfluss, um den das Porzellan rundherum ockerbraun verfärbt war. Da wusch sie jetzt ihre Unterwäsche. Das Wasser kam rostig und im besten Fall lauwarm aus dem Hahn, denn der Boiler befand sich unten im Keller, ein weiter Weg, und überhaupt, wer hatte dieser Tage schon die Kohlen für ein schönes heißes Bad? Es war eine kleine Wanne, und Vera war groß. Sie sagte zu ihrer Mutter, es sei, als steige man in einen Kindersarg.

«Sag doch so was nicht, Liebes.»

Der letzte Sarg, den Joan gesehen hatte, war natürlich der von Gricey. Vera legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm und sagte: «Sei nicht albern, Mum.»

«Und wo sind deine Kleider?»

«Hier.»

Zwischen den Balken gab es eine Tür, und als Joan sie öffnete, lag dahinter nur Dunkelheit. Vera schaltete das Licht ein, eine einzige trübe Birne, die an einem Dachbalken hing und nicht viel bewirkte. Das hier war der eigentliche Dachboden, ein schmaler Raum mit schrägem Dach, der die ganze Länge des Hauses einnahm. Joan ging mit eingezogenem Kopf hinein und schnupperte. Im Halbdunkel sah sie übereinandergestapelte Truhen und Koffer mit Schiffsaufklebern, und Spinnweben, die in dem bisschen Winterlicht glitzerten, das durch die Dachluken fiel, und überall Staub. Weiter hinten lehnten Bilder auf Keilrahmen, mit einem darübergeworfenen Laken. Sicher Gustls Bilder, größtenteils Selbstporträts. Der Dachboden war nicht isoliert und die Luft war kalt. Außerdem roch es ein bisschen; irgendwo musste eine tote Ratte liegen. An Nägeln in den Sparren zwischen den Balken raschelten Veras Kleider auf ihren hölzernen Kleiderbügeln leise vor sich hin. Joan war entsetzt. Hatte sie denn gar nichts gelernt?

«Was ist mit den Motten? Und der Feuchtigkeit? Sie werden schimmeln, bevor du dich’s versiehst. Und die Sonne, sie wird die Kleider im Nullkommanichts ausbleichen. Ach Vera, du kannst sie nicht auf diese Weise ruinieren.»

«Es gibt dieser Tage nicht viel Sonne, Mum.»

«Ich muss dir ein paar Schutzhüllen aus Musselin besorgen. Ach je.»

Sie war ehrlich bekümmert. Aber der springende Punkt war, dass Vera im Haus ihres Mannes bleiben wollte, obwohl sie es offenbar vorzog, wie eine Dienstmagd auf dem Dachboden zu leben und ihre gesamte Garderobe aufs Spiel zu setzen. Und er ließ es zu. Er muss sie für verrückt halten, folgerte Joan, deshalb hat er sie nach oben ziehen lassen, da bringt man verrückt gewordene Frauen unter. Aber oh, nein, nicht verrückt, bitte, gütiger Himmel, sie darf nicht verrückt sein, dachte sie, die arme Vera …

Aber sie war definitiv verwirrt, das ja, innerlich zerrissen, unsicher, wer sie war, wenn sie nicht auf einer Bühne stand, und natürlich war es zu dieser Krise gekommen, als ihr Vater im Sterben lag und Julius sie daran hinderte, ins Krankenhaus zu fahren. Und das, dachte Joan, ist einzig und allein meine Schuld, verflucht selbstsüchtige Person, die ich nun einmal bin.

3

Als sie nach Hause kam, gönnte sie sich keinen Drink, ging aber auch nicht ins Bett. Stattdessen setzte sie sich an eine Arbeit, die sie schon seit Wochen zu Ende bringen wollte. Sie wollte einen von Griceys Mänteln für sich umändern. Sie hatte ihn im ersten Kriegsjahr praktisch für nichts auf dem Markt in der Ridley Street gekauft. Gricey hatte er perfekt gepasst, aber für sie war er zu groß. Die Länge stimmte, aber die Schultern waren zu breit und er war insgesamt zu weit für sie. Gricey würde ihr durch diesen Mantel nahe sein, dieses Gefühl hatte sie, und sie konnte ihn im Futter riechen. Aber sie wollte den Mantel so tragen, als sei es ihr eigener, damit niemand ahnte, wie nah er ihr in Wirklichkeit war.

Arme Joan. Denn während sie auftrennte und nähte und Fäden abbiss, hob sie den Blick und fragte sich, ob er ihr böse war, weil sie zugelassen hatte, dass das alles geschah. Dass er tot war. Der Gedanke quälte sie. Doch was hätte sie tun können? Sie war nicht dabei gewesen! Aber sie zerbrach sich oft den Kopf darüber, dachte sich endlose Rekonstruktionen der Ereignisse aus, die hinführten zu – was? – der Tragödie, wenn es denn eine war, weil sie allmählich glaubte, dass es etwas anderes war, denn Tragödie, die Vorstellung von Tragödie, so wie sie sie verstand, entbehrte das Element des Handelns – Tragödien ereigneten sich, sie wurden einem nicht angetan, oder? – außer vom Schicksal, oder der Vorsehung –, und es war Handeln, was sie jetzt in dem sich langsam klärenden Ablauf des Ganzen zu entdecken glaubte.

Sie erinnerte sich an einen Tag im Dezember, erst vor wenigen Wochen, und es war bereits sehr kalt gewesen. Über Archangelsk lag ein Hochdruckgebiet, das sich über Skandinavien näherte – so hörten wir es im Radio – und auf England zusteuerte und sibirische Kaltluft mit sich brachte. Die Londoner konnten über kaum etwas anderes reden. Tatsächlich konnten wir über vieles andere reden, aber wir fingen immer mit dem Wetter an – um das Eis zu brechen. So ging der Witz, der im Umlauf war. Denn das war in diesem Winter alles, was wir taten – das Eis brechen. Oder wir rutschten darauf aus, brachen uns Arme oder Beine, erduldeten die Stromausfälle, die langsamen Straßenbahnen, die minderwertigen Kohlen und den Ostwind, der einen Monat lang ununterbrochen wütete. Das schlimmste Wetter seit Menschengedenken.

Joan dachte zurück an das hochgewachsene, elegante Paar, der Mann in den Sechzigern, in einem schwarzen Mantel mit Lederbesatz an Ärmeln und Aufschlägen und Pelz am Kragen, die Frau ein paar Jahre jünger und zurückhaltender gekleidet – es waren natürlich sie beide, Mr und Mrs Charlie Grice, die an einem kalten grauen Samstagnachmittag die Charing Cross Road entlanggingen. Wie attraktiv, wie schick sie waren! Als sie in die Strand einbogen, murmelte Joan, fast wie zu sich selbst – das passiert bei lange verheirateten Paaren, sie sagen ohne Einleitung, was ihnen gerade durch den Kopf geht, in der Annahme, dass der andere ihrem Gedankengang gefolgt ist –, dass Vera möglicherweise wieder Probleme mit den Nerven habe.

«Ja», sagte Gricey.

Auch er war in Gedanken weit weg gewesen. Joan wandte sich ihm zu, als sei sie gerade erst aus ihrer eigenen Träumerei über ihre Tochter erwacht.

«Findest du?»

«Ich mache mir Sorgen um sie.»

«Du machst dir immer Sorgen um sie.»

«Dieses Mal ist es anders.»

«Ich wäre froh, du würdest etwas sagen.»

So wollte sie sich daran erinnern. Aber sie wusste, dass sie das nicht gesagt hatte, dass ihr Ton weit barscher gewesen war, denn sie konnte sehr scharfzüngig sein. «Um Himmels willen, Gricey, was ist mit dir los? Sag es ihm gefälligst! Oder muss ich es tun?»

Sie waren schweigend weitergegangen. Jetzt dachte sie, wenn ich ihm doch nur sagen könnte, dass ich nie die Absicht hatte, so unfreundlich zu sein. Sie hatte sich bei ihm eingehakt. Es war etwas, was sie seit Jahren äußerten, dass sie sich Sorgen um Vera machten, aber dieses Mal war es anders, weil so viel mehr auf dem Spiel stand, weil sie sich so gut machte. Sie lag ihr natürlich im Blut, die Schauspielerei, aber wo kam dieses Blut her? Von ihnen, von dem, was sie ihr mitgegeben hatten, der Tatsache, dass sie ihr ganzes Leben unter Schauspielern verbracht hatte, in Theatern, zwischen Kostümen. Und Gricey hatte sie ermutigt, sie beide hatten das getan. Dazu kam natürlich, dass sie auch mit gutem Geschmack geimpft worden war, ohne den gar nichts geht.

Wie die Gedanken wandern. Das Nachdenken über Vera führte sie zu Julius Glass, und sie erinnerte sich an den Abend von Veras Premiere in Ibsens Nora oder Ein Puppenheim. Die Rezensionen waren wirklich hervorragend. Die Beste ihrer Generation, hatte es in einer geheißen. Eine strahlende Bühnenpräsenz. Danach hatte es eine Weile den Anschein, als gäbe es nichts, was sie nicht könnte. Sie spielte die Nina in Tschechows Die Möwe. Die Leute waren während des Krieges geradezu ausgehungert nach Theater, nun, es hob die Moral. In den Theatern gingen nur ein paar Wochen lang die Lichter aus, und zwar ganz am Anfang, als die Luftangriffe begannen. Im Herbst 1940. Dann waren sie wieder da, erste Vorstellung mittags, die zweite um fünf, damit die Leute nach Hause gehen konnten, bevor es dunkel wurde und die Bomber kamen. Das ganze Publikum in Uniform. Wenn ein Schauspieler den Inspizienten fragte: «Wie sieht’s draußen aus?», lautete die Antwort: Khaki. Ein Meer aus Khaki.