Die Gilde der Schwarzen Magier - Die Novizin - Trudi Canavan - E-Book

Die Gilde der Schwarzen Magier - Die Novizin E-Book

Trudi Canavan

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Beschreibung

Wer über magische Fähigkeiten verfügt, hat in Imardin die Macht. Rücksichtslos setzen sich die Mitglieder der Gilde der schwarzen Magier über die Armen und Gewöhnlichen hinweg. Keiner wagt es, sich zu wehren. Nur Sonea, das Bettlermädchen, begehrt auf ... und offenbart eine außergewöhnliche magische Begabung. Sonea wird als Novizin in die Gilde der Magier aufgenommen und gerät ins Zentrum einer schrecklichen Verschwörung …

Sonea hat sich entschieden, als Novizin in die Gilde der schwarzen Magier einzutreten, um mehr über ihre magischen Fähigkeiten zu lernen. Ein Privileg, das sonst nur Adeligen zuteil wird. In der Gilde wird sie schnell zur Außenseiterin, bis Akkarin, der Oberste Lord, eingreift. Ein zweischneidiges Schwert, denn Sonea kennt Akkarins verborgenstes Geheimnis. Ein Geheimnis, schwärzer als die Nacht.

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Seitenzahl: 779

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Inhaltsverzeichnis

WidmungERSTER TEIL
1. Die Aufnahmezeremonie2. Der erste Tag 3. Geschichten 4. Pflichten 5. Nützliche Fähigkeiten 6. Ein unerwarteter Vorschlag 7. Die Große Bibliothek 8. Wie er es beabsichtigt hatte 9. Zukunftspläne 10. Harte Arbeit zahlt sich aus 11. Ein unwillkommener Neuzugang 12. Anders als gedacht 13. Diebin! 14. Schlechte Neuigkeiten 15. Ein Überraschungsangriff 16. Die Regeln der Anklage 17. Ein kluger Gefährte 18. Freundschaft 19. Die Prüfungen beginnen
ZWEITER TEIL
20. Soneas Glück 21. Die Gräber der Weißen Tränen 22. Ausweichmanöver 23. Akkarins Versprechen 24. Eine Bitte 25. An den unmöglichsten Orten 26. Ein eifersüchtiger Rivale 27. Nützliche Informationen 28. Ein geheimer Plan 29. Eine Enthüllung 30. Eine beunruhigende Entdeckung 31. Eine ungeplante Begegnung 32. Ein kleiner Ausflug 33. Die Warnung des Hohen Lords 34. Wären die Dinge nur so einfach 35. Die Herausforderung 36. Der Kampf beginnt 37. Der Schützling des Hohen Lords
Epilog Glossar
Tiere Pflanzen/Nahrungsmittel Kleidung und Waffen Öffentliche Häuser Die Völker der Verbündeten Länder
Ein Dankeschön…Copyright

Dieses Buch widme ich Irene Canavan, meiner Mutter,die immer gesagt hat,mit harter Arbeit und Entschlossenheitkönne ich jedes Ziel erreichen.

ERSTER TEIL

1. Die Aufnahmezeremonie

In jedem Sommer klärte sich der Himmel über Kyralia für einige Wochen zu einem grellen Blau auf, und die Sonne brannte erbarmungslos auf das Land herab. In Imardin waren die Straßen staubig, die Masten der Schiffe im Hafen erschienen in der flirrenden Hitze regelrecht gekrümmt, und die Menschen zogen sich in ihre Häuser zurück, um sich Luft zuzufächeln, an Säften zu nippen oder – in den übleren Teilen der Hüttenviertel – krügeweise Bol zu trinken.

In der Magiergilde von Kyralia dagegen kündigten diese sengend heißen Tage das Näherrücken eines wichtigen Termins an. Die feierliche Vereidigung der im Sommerhalbjahr neu aufgenommenen Novizen stand kurz bevor.

Sonea schnitt eine Grimasse und zupfte am Kragen ihres Kleides. Sie hätte am liebsten eines der schlichten, aber gut geschnittenen Kleidungsstücke angezogen, die sie trug, seit sie in der Gilde lebte, aber Rothen hatte darauf bestanden, dass es für die Aufnahmezeremonie etwas Besonderes sein musste.

Rothen kicherte leise. »Keine Sorge, Sonea. Das hier ist bald vorbei, und dann wirst du Roben tragen – und die wirst du schnell leid werden, davon bin ich überzeugt.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, entgegnete Sonea gereizt.

Erheiterung blitzte in seinen Augen auf. »Ach nein? Du bist nicht mal ein ganz klein wenig nervös?«

»Es ist nicht wie die Anhörung im letzten Jahr. Das war irre.«

»Irre?« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du bist nervös, Sonea. Dieses Wort ist dir schon seit Wochen nicht mehr herausgerutscht.«

Sonea stieß einen leisen Seufzer der Verärgerung aus. Seit der Anhörung vor fünf Monaten, als Rothen zu ihrem Mentor bestimmt worden war, hatte er ihr die Dinge beigebracht, die alle Novizen vor ihrem Eintritt in die Universität lernen mussten. Sie konnte jetzt die meisten seiner Bücher ohne Hilfe lesen, und sie konnte, wie Rothen es ausdrückte, »halbwegs anständig schreiben«. Die Mathematik fiel ihr deutlich schwerer, aber dafür hatten die ungemein faszinierenden Geschichtsstunden sie reich entschädigt.

Während dieser Monate hatte Rothen sie verbessert, wann immer sie einen Ausdruck aus den Hüttenvierteln benutzte, und sie musste ihm immer wieder nachsprechen und die richtigen Ausdrücke wiederholen, bis sie sich wie eine Dame aus einem der mächtigen kyralischen Häuser anhörte. Er hatte sie davor gewarnt, dass die Novizen ihre Vergangenheit wohl kaum genauso gelassen hinnehmen würden, wie er es tat, und dass sie die Dinge nur verschlimmern würde, wenn sie bei jedem Wort, das sie sprach, die Aufmerksamkeit auf ihre Herkunft lenkte. Die gleichen Argumente hatte er benutzt, um sie dazu zu bringen, für die Aufnahmezeremonie ein Kleid anzuziehen, und obwohl sie wusste, dass er Recht hatte, fühlte sie sich deswegen nicht im Mindesten wohler.

Die kreisförmige Auffahrt vor der Universität war voller vornehmer Kutschen. Zu jeder gehörten mehrere livrierte Diener in den Farben des Hauses, für das sie arbeiteten. Als Sonea und Rothen den Vorplatz erreichten, verneigten sich die Diener vor dem Magier.

Beim Anblick der Kutschen krampfte sich Sonea der Magen zusammen. Sie hatte schon früher Wagen wie diese gesehen, aber niemals so viele auf einmal. Alle waren aus feinstem Holz gemacht, mit kunstvollen Mustern bemalt und auf Hochglanz poliert, und auf den Wagenschlägen prangten quadratische Wappen, die Insignien des Hauses, zu dem die Kutsche gehörte. Sie erkannte die Abzeichen von Paren, Arran, Dillan und Saril, einigen der einflussreichsten Häuser Imardins.

Die Söhne und Töchter dieser Häuser würden ihre Klassenkameraden sein.

Bei diesem Gedanken fühlte ihr Magen sich an, als wolle er sich von innen nach außen stülpen. Was würden sie von ihr halten, seit Jahrhunderten der ersten Kyralierin, die nicht aus einem der großen Häuser stammte? Schlimmstenfalls würden sie Fergun Recht geben, dem Magier, der im vergangenen Jahr ihre Aufnahme in die Gilde zu verhindern versucht hatte. Er war der Meinung gewesen, dass nur den Abkömmlingen der Häuser gestattet sein sollte, Magie zu erlernen – Fergun hatte Soneas Freund Cery eingekerkert, um sie dazu zu erpressen, ihn bei seinen hinterhältigen Plänen zu unterstützen. Diese Pläne hätten der Gilde beweisen sollen, dass es Kyraliern der unteren Klassen an Moral mangelte und dass man ihnen keinesfalls Magie anvertrauen durfte.

Aber Ferguns Verbrechen war entdeckt worden, und man hatte ihn zum Dienst auf eine entlegene Festung geschickt. In Soneas Augen war das keine besonders schwere Strafe, wenn man bedachte, dass Fergun gedroht hatte, ihren Freund zu töten, und sie fragte sich, ob eine solche Strafe andere davon abhalten würde, das Gleiche zu tun.

Sie hoffte, dass einige der Novizen wie Rothen waren, den es nicht im Mindesten interessierte, dass sie früher einmal in den Hüttenvierteln gelebt und gearbeitet hatte. Einige der anderen in der Gilde vertretenen Rassen könnten vielleicht ebenfalls geneigt sein, ein Mädchen aus den unteren Schichten zu akzeptieren. Die Vindo waren ein freundliches Volk; Sonea hatte in den Hüttenvierteln mehrere von ihnen, die nach Imardin gereist waren, um in den Weinbergen und den Obstgärten zu arbeiten, kennen gelernt. Die Lan, so hatte man ihr erzählt, teilten ihr Volk nicht in höhere und niedere Klassen ein. Sie lebten in Stämmen und wiesen Männern und Frauen ihren Rang aufgrund von Prüfungen zu, die ihre Tapferkeit, ihre Schläue und Klugheit testeten – allerdings hatte Sonea nicht die geringste Ahnung, welche Stellung dieses System ihr in dieser Gesellschaft eingetragen hätte.

Als sie jetzt zu Rothen aufblickte, dachte sie an all die Dinge, die er für sie getan hatte, und Zuneigung und Dankbarkeit erfüllten sie. Früher einmal wäre sie entsetzt darüber gewesen, ausgerechnet von einem Magier so abhängig zu sein. Damals hatte sie die Gilde gehasst, und sie hatte ihre Kräfte zum ersten Mal unbeabsichtigt eingesetzt, indem sie im Zorn einen Stein nach einem Magier warf. Als die Gilde dann nach ihr suchte, war sie überzeugt gewesen, dass man sie töten wollte. In ihrer Angst hatte sie es sogar gewagt, die Hilfe der Diebe in Anspruch zu nehmen, obwohl die Diebe für solche Gefälligkeiten stets einen hohen Preis forderten.

Als ihre Kräfte unkontrollierbar geworden waren, überzeugten die Magier die Diebe davon, dass es klüger sei, Sonea ihrer Obhut zu überlassen. Rothen war derjenige gewesen, der sie gefangen und später unterrichtet hatte. Er hatte ihr bewiesen, dass die Magier – nun, die meisten von ihnen – keine grausamen, selbstsüchtigen Ungeheuer waren, wie die Bewohner der Hüttenviertel es glaubten.

Zu beiden Seiten der weit geöffneten Universitätstore standen jeweils zwei Wachposten. Ihre Anwesenheit war eine Formalität, die nur dann beachtet wurde, wenn die Gilde wichtige Besucher erwartete. Als Rothen Sonea zur Eingangshalle führte, verbeugten sich die Männer steif.

Obwohl sie die Halle schon mehrmals gesehen hatte, erfüllte der Raum sie immer noch mit Staunen. Tausend unvorstellbar dünne Fasern einer glasartigen Substanz sprossen aus dem Fußboden und trugen die Treppen, die sich in anmutigen Spiralen zu den höheren Stockwerken hinaufwanden. Zierliche Fäden aus weißem Marmor woben sich zwischen Geländer und Treppen wie Zweige einer rankenden Pflanze. Sie wirkten viel zu zart, um das Gewicht eines Mannes tragen zu können – wahrscheinlich könnten sie das auch nicht, wäre das Material nicht durch Magie verstärkt worden.

Auf dem Weg vorbei an der Treppe gingen sie durch einen kurzen Korridor. Dahinter kamen die grob behauenen, grauen Mauern der Gildehalle in Sicht, eines uralten Gebäudes, das von einem gewaltigen Raum, der großen Halle, geschützt und umschlossen wurde. Vor den Türen der Gildehalle standen mehrere Personen, und bei ihrem Anblick wurde Soneas Mund trocken. Männer und Frauen drehten sich um, um festzustellen, wer da näher kam, und als sie Rothen sahen, leuchteten ihre Augen vor Interesse auf. Die Magier unter ihnen nickten höflich, die anderen verneigten sich.

Rothen führte Sonea in die große Halle und zu der kleinen Gruppe, die sich dort versammelt hatte. Sonea bemerkte, dass alle außer den Magiern trotz der sommerlichen Wärme üppige Gewänder trugen. Die Frauen waren in raffinierte Kleider gehüllt, die Männer trugen Langmäntel, auf deren Ärmel die Insignien ihrer Häuser eingestickt waren. Als sie genauer hinsah, stockte ihr der Atem. Auf jedem Saum waren winzige rote, grüne und blaue Steine aufgenäht. In die Knöpfe der Langmäntel waren riesige Juwelen eingelassen. Außerdem trugen die Anwesenden Ketten und Armbänder aus kostbaren Metallen, und an ihren behandschuhten Händen blitzten Edelsteine.

Als sie den Mantel eines der Männer eine Weile betrachtet hatte, ging ihr der Gedanke durch den Kopf, wie leicht es für einen gut ausgebildeten Dieb wäre, den Herrn seiner Knöpfe zu berauben. Zu diesem Zweck gab es in den Hüttenvierteln spezielle kleine Klingen, die die Form von Ösen hatten. Es bedurfte lediglich eines »versehentlichen« Zusammenstoßes, einer Entschuldigung und eines hastigen Rückzugs. Der Mann bemerkte wahrscheinlich erst zu Hause, dass er bestohlen worden war. Und was den Armreif dieser Frau betraf…

Sonea schüttelte den Kopf. Wie soll ich mich mit diesen Leuten anfreunden, wenn ich gleichzeitig nur daran denken kann, wie einfach es wäre, sie auszurauben? Dennoch konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie war als Taschendiebin genauso geschickt gewesen wie all ihre Kindheitsfreunde – nur Cery hatte sich vielleicht noch besser darauf verstanden als sie selbst –, und obwohl ihre Tante Jonna Sonea schließlich davon überzeugt hatte, dass Diebstahl Unrecht sei, hatte Sonea die Tricks dieses Gewerbes keineswegs vergessen.

Jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen, betrachtete die jüngeren unter den Fremden und sah, wie mehrere von ihnen hastig den Blick abwandten. Erheitert überlegte sie, was sie wohl vorzufinden erwartet hatten. Ein scheues Bettlermädchen? Eine Arbeiterin, die von jahrelanger Plackerei gebeugt war? Eine bemalte Hure?

Da keiner ihrer zukünftigen Studienkollegen ihr in die Augen sehen wollte, konnte sie die anderen ihrerseits ungehindert beobachten. Nur zwei der Familien wiesen das typisch kyralisch schwarze Haar und die helle Haut auf. Eine der unverkennbar kyralischen Mütter trug grüne Heilerroben. Die andere hielt ein dünnes Mädchen an der Hand, das träumerisch zu der glitzernden Glasdecke der Halle aufblickte.

Drei weitere Familien standen etwas dichter beisammen, und ihre gedrungene Gestalt und das rötliche Haar wiesen sie als Mitglieder der elynischen Rasse aus. Sie unterhielten sich angeregt miteinander, und gelegentlich hallte ein Lachen durch den Raum.

Zwei dunkelhäutige Lonmar standen schweigend nebeneinander. Schwere goldene Talismane der Mahga-Religion hingen über den purpurfarbenen Alchemistenroben des Vaters, und sowohl Vater als auch Sohn hatten sich den Schädel glatt rasiert. Am entgegengesetzten Ende der Gruppe wartender Familien standen zwei weitere Lonmar. Die Haut des Sohnes war von einem helleren Braun, was vermuten ließ, dass seine Mutter einem anderen Volk angehörte. Der Vater trug ebenfalls Roben, aber seine waren rot wie die eines Kriegers, und er hatte weder Schmuck noch Talismane angelegt.

In der Nähe des Korridors entdeckte Sonea eine Familie aus Vin. Obwohl der Vater teure Gewänder trug, warf er immer wieder verstohlene Blicke zu den anderen hinüber, als fühle er sich in ihrer Gesellschaft nicht wohl. Sein Sohn war ein stämmiger Junge, dessen braune Haut in ein ungesundes Gelb spielte.

Als die Mutter dem Jungen eine Hand auf die Schulter legte, musste Sonea an ihre Tante Jonna und ihren Onkel Ranel denken, und eine mittlerweile vertraut gewordene Enttäuschung erfüllte sie. Obwohl Jonna und Ranel ihre einzigen Verwandten waren und sie nach dem Tod ihrer Mutter und dem Verschwinden ihres Vaters großgezogen hatten, machte ihnen die Gilde zu große Angst, als dass sie Sonea dort besucht hätten. Als sie sie gebeten hatte, zu der Aufnahmezeremonie zu kommen, hatten sie mit der Erklärung abgelehnt, dass sie ihren neugeborenen Sohn niemand anderem überlassen könnten und dass es nicht schicklich wäre, ein weinendes Baby zu einem so wichtigen Anlass mitzubringen.

Im Korridor erklangen Schritte, und Sonea drehte sich um; drei weitere elegant gekleidete Kyralier traten ein. Der Junge warf einen hochmütigen Blick in die Runde. Einen Moment lang verharrte sein Blick bei Rothen, um dann zu Sonea weiterzuwandern.

Er sah Sonea direkt in die Augen, und ein freundliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Überrascht erwiderte sie sein Lächeln, aber im nächsten Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck zu einem höhnischen Grinsen.

Sonea konnte ihn nur entsetzt anstarren. Der Junge wandte sich mit geringschätziger Miene ab, aber nicht so schnell, dass Sonea nicht Gelegenheit gehabt hätte, die selbstgefällige Befriedigung in seinen Zügen zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen und beobachtete ihn, während er sich den nächsten Neuankömmlingen zuwandte.

Anscheinend kannte er den anderen kyralischen Jungen bereits, denn die beiden zwinkerten einander freundschaftlich zu. Den Mädchen wurde ein strahlendes Lächeln zuteil; die magere kleine Kyralierin reagierte zwar mit offenkundiger Verachtung, aber ihr Blick ruhte noch auf dem Jungen, lange nachdem er sich abgewandt hatte. Die Übrigen bekamen ein höfliches Nicken.

Dann unterbrach ein lautes, metallisches Klirren das gesellschaftliche Spiel. Alle Köpfe drehten sich zur Gildehalle. Ein langes, angespanntes Schweigen folgte, dann wehte aufgeregtes Flüstern durch den Raum, während die riesigen Türen langsam aufschwangen. Durch den immer breiteren Spalt ergoss sich ein vertrautes, goldenes Leuchten aus der Halle. Das Licht kam von Tausenden winziger magischer Kugeln, die ein oder zwei Meter unter der Decke schwebten. Der warme Geruch von Holz und Bohnerwachs schlug ihnen einladend entgegen.

Ein Raunen ging durch die Menge, und Sonea stellte fest, dass die meisten der Besucher voller Staunen in die Halle blickten. Sie lächelte, als ihr klar wurde, dass die anderen Novizen und sogar einige der Erwachsenen die Gildehalle wohl noch nie zuvor gesehen hatten. Nur die Magier und jene unter den Eltern, die bereits den Aufnahmezeremonien für ältere Kinder beigewohnt hatten, waren schon einmal dort gewesen. Und sie, Sonea.

Bei der Erinnerung an ihren früheren Besuch wurde sie schlagartig ernst. Damals hatte der Hohe Lord Cery in die Gildehalle gebracht und damit Ferguns schändlichen Plänen ein Ende gemacht. Auch für Cery hatte sich an jenem Tag ein Traum erfüllt. Ihr Freund hatte sich selbst das Versprechen gegeben, zumindest einmal in seinem Leben alle großen Gebäude der Stadt zu besuchen. Die Tatsache, dass er ein niedrig geborenes Straßenkind war, hatte die Erfüllung dieses Traums zu einer noch größeren Herausforderung für ihn gemacht.

Aber Cery war nicht länger der abenteuerlustige Knabe, mit dem sie als Kind so gern zusammen gewesen war, oder der stets zu Schabernack aufgelegte Junge, der ihr geholfen hatte, sich so lange vor der Gilde zu verstecken. Wann immer sie ihn sah, wenn er sie in der Gilde besuchte oder sie ihm in den Hüttenvierteln begegnet war, wirkte er älter und weniger unbeschwert. Wenn sie fragte, was er tat oder ob er noch für die Diebe arbeitete, lächelte er nur listig und wechselte das Thema.

Er schien jedoch zufrieden zu sein. Und falls er für die Diebe arbeitete, war es vielleicht besser, dass sie nichts von seinen Plänen wusste.

Ein in Roben gekleideter Mann durchmaß mit langen Schritten den Raum, um in die Tür der Gildehalle zu treten. Sonea erkannte Lord Osen, den Assistenten des Administrators. Er hob die Hand und räusperte sich.

»Die Gilde heißt euch alle willkommen«, sagte er. »Die Aufnahmezeremonie wird jetzt beginnen. Die neuen Schüler der Universität möchten bitte eine Reihe bilden. Sie werden zuerst eintreten; die Eltern werden ihnen folgen und ihre Plätze auf den unteren Stuhlreihen einnehmen.«

Als die anderen Jungen und Mädchen nach vorn eilten, spürte Sonea den leichten Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und blickte zu Rothen auf.

»Keine Angst. Es wird im Nu vorbei sein«, beruhigte er sie. Sie antwortete ihm mit einem Grinsen. »Ich habe keine Angst, Rothen.«

»Ha!« Er gab ihr einen sanften Stoß. »Dann geh. Lass sie nicht warten.«

Vor den Türen hatte sich eine kleine Gruppe Menschen versammelt. Lord Osens Lippen wurden zu einer schmalen Linie. »Bildet eine Reihe, bitte.«

Während die neuen Schüler gehorchten, sah Lord Osen zu Sonea hinüber. Ein schnelles Lächeln umspielte seine Lippen, und Sonea nickte ihm zu. Dann stellte sie sich hinter den letzten Jungen in die Reihe. Gleich darauf erregte ein Zischen zu ihrer Linken ihre Aufmerksamkeit.

»Wenigstens kennt sie ihren Platz«, murmelte jemand. Sonea drehte leicht den Kopf und sah zwei Kyralierinnen in ihrer Nähe stehen.

»Das ist das Mädchen aus den Hüttenvierteln, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte die erste Frau. »Ich habe Bina gesagt, sie soll sich von ihr fern halten. Ich möchte nicht, dass meine süße kleine Tochter sich irgendwelche abscheulichen Unarten angewöhnt  – oder Krankheiten zuzieht.«

Die Antwort der zweiten Frau konnte Sonea nicht mehr hören, da sie inzwischen weitergegangen war. Sie presste sich eine Hand auf die Brust, überrascht darüber, dass ihr Herz so heftig hämmerte. Gewöhn dich daran, sagte sie sich, solche Dinge wirst du noch häufiger zu hören bekommen. Sie widerstand dem Drang, sich nach Rothen umzudrehen, drückte die Schultern durch und folgte den anderen Jungen und Mädchen durch den langen Gang in die Mitte der Halle.

Als sie die großen Türen durchschritten hatten, umfingen sie die hohen Wände der Gildehalle. Die Plätze zu beiden Seiten des Raumes waren nicht einmal zur Hälfte besetzt, obwohl fast alle Magier, die in der Gilde und in der Stadt lebten, zugegen waren. Als Sonea sich nach links wandte, begegnete sie dem kalten Blick eines älteren Magiers. Sein gefurchtes Gesicht verriet Missbilligung, und seine Augen schienen sich in ihre brennen zu wollen.

Soneas Gesicht wurde heiß, und sie blickte wieder zu Boden. Verärgert stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. Wollte sie sich durch die Missbilligung eines alten Mannes so sehr aus der Ruhe bringen lassen? Sie bemühte sich nach Kräften, eine ruhige, selbstbeherrschte Miene aufzusetzen, und ließ den Blick langsam über die Reihen der Gesichter wandern …

… und wäre um ein Haar gestolpert, da ihre Knie plötzlich alle Kraft verloren hatten. Es schien, als sehe jeder Magier in der Halle sie an. Sie schluckte, dann richtete sie den Blick auf den Rücken des vor ihr stehenden Jungen.

Als die neuen Schüler das Ende des Ganges erreichten, schickte Osen den ersten auf die linke Seite, dann den zweiten auf die rechte und fuhr in diesem Muster fort, bis sie eine Reihe quer durch die Halle bildeten. Sonea fand sich in der Mitte der Reihe wieder, direkt gegenüber von Lord Osen. Er beobachtete schweigend das Treiben hinter ihr. Sie konnte ein Schlurfen hören und das Klirren von Schmuck und vermutete, dass die Eltern jetzt in die Stuhlreihen hinter ihnen traten. Als wieder Ruhe eingekehrt war, drehte sich Osen um und verbeugte sich vor den Höheren Magiern, die in den übereinander angeordneten Stuhlreihen an der Stirnseite der Gildehalle saßen.

»Die neuen Schüler des Sommersemesters der Universität.«

»Ich finde es in diesem Jahr viel interessanter, weil jemand dabei ist, den ich kenne«, bemerkte Dannyl, als Rothen seinen Platz einnahm.

Rothen musterte seinen Gefährten. »Aber im vergangenen Jahr war doch dein Neffe unter den Novizen.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich kenne den Jungen kaum. Aber Sonea kenne ich.«

Erfreut wandte sich Rothen wieder der Zeremonie zu. Obwohl Dannyl sehr charmant sein konnte, wenn er wollte, war er kein Mensch, der schnell Freundschaften schloss. Daran war größtenteils ein Zwischenfall schuld, der sich ereignet hatte, als Dannyl selbst noch Novize gewesen war. Man hatte ihm damals »unziemliches« Interesse an einem älteren Jungen vorgeworfen, und er hatte die Verleumdungen der Novizen und Magier gleichermaßen ertragen müssen. Man hatte ihn gemieden und verhöhnt, und das war Rothens Meinung nach der Grund, warum Dannyl bis heute kaum einem Menschen traute, geschweige denn sich mit ihnen befreundete.

Rothen war schon seit Jahren Dannyls einziger enger Freund. Als Lehrer hatte Rothen ihn für einen der vielversprechenderen Novizen in seinen Klassen gehalten. Als er hatte mit ansehen müssen, wie das böse Gerücht und der Skandal Dannyls Studium sehr in Mitleidenschaft zogen, hatte er beschlossen, sich des Jungen als Mentor anzunehmen. Mit ein wenig Ermutigung und viel Geduld war es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit von Dannyls schnellem Verstand von Tratsch und gehässigen Streichen wieder auf Magie und Gelehrsamkeit zu lenken.

Einige Magier hatten bezweifelt, dass es Rothen gelingen würde, Dannyl wieder »auf den richtigen Weg« zu bringen. Rothen lächelte. Nicht nur das war ihm gelungen, sondern Dannyl war soeben auch zum zweiten Botschafter der Gilde in Elyne ernannt worden. Jetzt blickte Rothen wieder zu Sonea hinunter und fragte sich, ob auch sie ihm eines Tages Grund geben würde, so selbstzufrieden zu sein.

Dannyl beugte sich vor. »Verglichen mit Sonea sind die anderen die reinsten Kinder, nicht wahr?«

Rothen betrachtete die übrigen Jungen und Mädchen und zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau, wie alt sie sind, aber der Altersdurchschnitt für neue Schüler liegt bei fünfzehn Jahren. Sonea ist fast siebzehn. Zwei Jahre dürften keinen großen Unterschied machen.«

»Da bin ich anderer Meinung«, murmelte Dannyl, »aber ich hoffe, dass der Altersunterschied ihr zum Vorteil gereichen wird.«

Unter ihnen ging Lord Osen nun langsam an der Reihe der neuen Schüler vorbei und verkündete Namen und Titel eines jeden von ihnen.

»Alend aus der Familie Genard.« Osen machte zwei weitere Schritte. »Kano aus der Familie Temo, Schiffsbauerngilde.« Noch ein Schritt. »Sonea.«

Osen hielt kurz inne, dann ging er weiter. Als er den nächsten Namen ausrief, stieg in Rothen Mitgefühl für Sonea auf. Der Mangel an einem großartigen Titel oder dem Namen eines Hauses hatte sie öffentlich zur Außenseiterin gemacht. Das ließ sich jedoch nicht ändern.

»Regin aus der Familie Winar, Haus Paren«, beendete Osen seine Erklärungen, als er den letzten Jungen erreichte.

»Das ist Garrels Neffe, nicht wahr?«, fragte Dannyl.

»Ja.«

»Wie ich hörte, wollten seine Eltern ihn im letzten Wintersemester erst drei Monate nach Unterrichtsbeginn anmelden.«

»Das ist seltsam. Warum nicht rechtzeitig?« »Keine Ahnung.« Dannyl hob die Schultern. »Den Teil der Geschichte habe ich nicht mitbekommen.«

»Hast du wieder spioniert?«

»Ich spioniere nicht, Rothen. Ich höre zu.«

Rothen schüttelte den Kopf. Er mochte Dannyl den Novizen vielleicht an rachsüchtigen Streichen gehindert haben, aber zumindest bisher war es ihm nicht gelungen, Dannyl dem Magier sein Interesse an Klatsch und Tratsch auszutreiben. »Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn du fortgehst. Wer wird mich dann über all die kleinen Intrigen der Gilde auf dem Laufenden halten?«

»Du wirst einfach besser aufpassen müssen«, entgegnete Dannyl.

»Ich habe mich schon gefragt, ob die Höheren Magier dich vielleicht deshalb wegschicken, um dich daran zu hindern, so viel zu ›hören‹.«

Dannyl lächelte. »Ah, ganz im Gegenteil. Ihrer Meinung nach kann man am besten herausfinden, was in Kyralia vorgeht, indem man einige Tage damit verbringt, sich den Klatsch und Tratsch in Elyne anzuhören.«

Laute Schritte lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Halle. Der Rektor der Universität, Jerrik, hatte sich von seinem Platz unter den Höheren Magiern erhoben und ging die Treppe hinunter. In der Mitte des Raums blieb er stehen und ließ den Blick über die Reihe der neuen Schüler wandern, wobei sein Gesicht den gewohnt säuerlichen, missbilligenden Ausdruck zeigte.

»Heute wird ein jeder von euch den ersten Schritt tun, um ein Magier der Gilde von Kyralia zu werden«, begann er mit strenger Stimme. »Als Novize wird man von euch verlangen, den Regeln der Universität Folge zu leisten. Gemäß der Verträge, die die Verbündeten Länder binden, finden diese Regeln die Billigung aller Herrscher, und von allen Magiern wird erwartet, dass sie sie durchsetzen. Selbst wenn ihr keinen Abschluss bei uns macht, werdet ihr dennoch an die Regeln gebunden sein.« Er hielt inne und sah die neu eingeschriebenen Studenten eindringlich an. »Um der Gilde beizutreten, müsst ihr ein Gelübde ablegen, und dieses Gelübde besteht aus vier Teilen.

Zuerst müsst ihr geloben, niemals einem anderen Mann oder einer anderen Frau Schaden zuzufügen, es sei denn zur Verteidigung der Verbündeten Länder. Dieser Schwur schließt Menschen jeder Klasse, jeden Ranges und jeden Alters ein, ganz gleich, ob es unbescholtene Bürger oder überführte Verbrecher sind. Alle Fehden, in die eure Familien verstrickt sein mögen, seien sie persönlicher oder politischer Natur, enden für euch hier und heute.

Zweitens müsst ihr geloben, den Regeln der Gilde zu gehorchen. Wenn euch diese Regeln nicht bereits bekannt sind, besteht eure erste Aufgabe darin, sie zu lernen. Unwissenheit ist keine Entschuldigung.

Drittens müsst ihr geloben, den Befehlen eines jeden Magiers zu gehorchen, es sei denn, diese Befehle würden von euch verlangen, ein Gesetz zu brechen. Diesen Punkt handhaben wir relativ großzügig. Ihr braucht nichts zu tun, was ihr für moralisch falsch haltet oder im Widerspruch zu eurer Religion oder euren Traditionen steht. Aber maßt euch nicht an, selbst zu entscheiden, wann und in welchem Maße wir diese Großzügigkeit zeigen sollten. In einer strittigen Situation kommt mit dem Problem zu mir, und ich werde sofort für eine Lösung sorgen.

Und zu guter Letzt müsst ihr geloben, dass ihr niemals Magie benutzen werdet, wenn ein Magier euch nicht dazu auffordert. Diese Regel dient eurem eigenen Schutz. Führt keinerlei Magie ohne Anleitung aus, es sei denn, euer Lehrer oder Mentor hätte euch die Erlaubnis dazu gegeben.«

Jerrik hielt inne, und Schweigen senkte sich über den Raum. Der Rektor zog seine ausdrucksvollen Augenbrauen in die Höhe und straffte die Schultern.

»Wie die Tradition es will, darf ein Magier der Gilde den Antrag stellen, zum Mentor eines Novizen bestimmt zu werden, um seine oder ihre Ausbildung in der Universität zu begleiten.« Er drehte sich zu den Sitzreihen hinter ihm um. »Hoher Lord Akkarin, wünscht Ihr, zum Mentor eines dieser neuen Schüler bestimmt zu werden?«

»Nein«, erklang eine kühle, dunkle Stimme.

Während Jerrik nun dieselbe Frage den anderen Höheren Magiern stellte, sah Rothen zu dem schwarz gewandeten Anführer hinauf. Wie die meisten Kyralier war Akkarin groß und schlank, und sein kantiges Gesicht wurde durch die altmodische Manier, das Haar lang zu tragen und im Nacken zusammenzubinden, noch betont.

Wie immer war Akkarins Miene reserviert, während er dem Verfahren folgte. Er hatte noch nie Interesse daran gezeigt, die Ausbildung eines Novizen zu begleiten, und die meisten Familien hatten die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Sohn vielleicht auf solche Weise von dem Führer der Gilde ausgezeichnet werden könnte.

Obwohl noch jung für einen Hohen Lord, strahlte Akkarin etwas aus, das selbst den konservativsten und einflussreichsten Magiern Respekt abnötigte. Er war begabt, kenntnisreich und intelligent, aber es war seine magische Stärke, die ihm die Ehrfurcht so vieler Menschen eintrug. Seine Kräfte waren bekanntermaßen so groß, dass manch einer vermutete, er allein sei stärker als der Rest der Gilde zusammen.

Aber dank Sonea war Rothen einer von nur zwei Magiern, die den wahren Grund für die ungeheure Stärke des Hohen Lords kannten.

Bevor die Diebe Sonea an die Gilde ausgeliefert hatten, hatten Sonea und ihr Freund Cery, der Dieb, einmal spätnachts das Gelände der Gilde erkundet. Sie waren in der Hoffnung hergekommen, dass Sonea vielleicht lernen könnte, ihre Kräfte zu beherrschen, wenn sie Magier bei ihrer Arbeit beobachtete. Stattdessen hatte sie mit angesehen, wie der Hohe Lord ein seltsames Ritual vollzog. Sie hatte damals nicht verstanden, was sie gesehen hatte, aber dann unterzog Administrator Lorlen sie während der Anhörung zur Bestimmung ihres Mentors einer Wahrheitslesung, um Ferguns Verbrechen zu bestätigen. Der Hohe Lord Akkarin, Anführer der Gilde, praktizierte schwarze Magie.

Gewöhnliche Magier wussten nichts über schwarze Magie, nur dass sie verboten war. Die Höheren Magier wussten nur gerade genug, um schwarze Magier erkennen zu können. Allein das Wissen, wie man schwarze Magie benutzte, war schon ein Verbrechen. Aus Soneas Gedankenöffnung Lorlen gegenüber wusste Rothen jetzt, dass schwarze Magie einen Magier befähigte, sich zu größerer Macht zu verhelfen, indem er aus anderen Menschen Kraft abzog. Wenn alle Kraft verbraucht war, starb das Opfer.

Rothen konnte nicht ermessen, was es für Lorlen bedeutet hatte herauszufinden, dass sein bester Freund schwarze Magie nicht nur erlernt hatte, sondern sie auch benutzte. Das musste ein furchtbarer Schock für ihn gewesen sein. Andererseits hatte Lorlen gleichzeitig begriffen, dass er Akkarin nicht bloßstellen konnte, ohne die Gilde und die ganze Stadt in Gefahr zu bringen. Wenn Akkarin gegen sie kämpfen wollte, konnte er einen solchen Kampf mühelos gewinnen, und mit jedem Opfer, das er tötete, würde er noch stärker werden. Daher mussten Lorlen, Sonea und Rothen ihr Wissen für den Augenblick geheim halten. Wie schwer musste es Lorlen fallen, überlegte Rothen, Freundschaft zu heucheln, nachdem er nun wusste, wozu Akkarin fähig war?

Trotz dieses Wissens hatte Sonea sich einverstanden erklärt, der Gilde beizutreten. Rothen war zuerst sehr erstaunt über ihre Entscheidung gewesen, bis sie ihm ihre Gründe dargelegt hatte: Wenn sie ging und man vorher ihre Kräfte blockierte – wie es das Gesetz für Magier verlangte, die der Gilde nicht beitreten wollten –, wäre sie mit ihrem starken magischen Potenzial für den Hohen Lord eine verlockende Kraftquelle gewesen. Rothen schauderte. In der Gilde würde man es zumindest bemerken, wenn sie unter seltsamen Umständen starb.

Dennoch war es eine mutige Entscheidung gewesen, da sie wusste, was im Herzen der Gilde lauerte. Als Rothen sie jetzt betrachtete, wie sie da zwischen den Söhnen und Töchtern einiger der reichsten Familien in den Verbündeten Ländern stand, empfand er sowohl Stolz als auch Zuneigung. In den vergangenen sechs Monaten war sie für ihn eher eine Tochter geworden als eine Schülerin.

»Hat einer der Magier den Wunsch, zum Mentor eines dieser Schüler bestimmt zu werden?«

Rothen schrak auf, als ihm klar wurde, dass es jetzt für ihn an der Zeit war zu sprechen. Er öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, formulierte ein anderer die rituellen Worte.

»Ich habe eine Wahl getroffen, Rektor.«

Die Stimme kam von der anderen Seite der Halle. Alle Schüler drehten sich um, um festzustellen, wer da von seinem Platz aufgestanden war.

»Lord Yarrin«, erwiderte Jerrik. »Welchen Schüler habt Ihr Euch erwählt?«

»Gennyl aus der Familie Randa, dem Haus Saril und dem Größeren Clan von Alaraya.«

Ein leises Raunen ging durch die Reihen der Magier. Rothen sah, dass der Vater des Jungen, Lord Tayk, sich auf seinem Stuhl vorgebeugt hatte.

Jerrik wartete, bis wieder Ruhe einkehrte, dann wandte er sich erwartungsvoll zu Rothen um.

»Hat noch einer der Magier den Wunsch, zum Mentor eines dieser Schüler bestimmt zu werden?«

Rothen erhob sich. »Ich habe eine Wahl getroffen, Rektor.«

Sonea blickte auf, und ihre Lippen verkrampften sich, als sie versuchte, nicht zu lächeln.

»Lord Rothen«, erwiderte Jerrik, »welchen Schüler habt Ihr Euch erwählt?«

»Ich habe den Wunsch, zum Mentor Soneas bestimmt zu werden.«

Kein Gemurmel folgte seiner Ankündigung, und Jerrik nickte lediglich zustimmend. Rothen kehrte zu seinem Platz zurück.

»Das war’s«, flüsterte Dannyl. »Jetzt wirst du da nicht mehr rauskommen. Sie hat dich für die nächsten fünf Jahre wirklich und wahrhaftig um den Finger gewickelt.«

»Pst«, zischte Rothen.

»Hat noch einer der Magier den Wunsch, zum Mentor eines der Schüler bestimmt zu werden?«, wiederholte Jerrik seine Frage.

»Ich habe eine Wahl getroffen, Rektor.«

Die Stimme war links von Rothen erklungen, und man hörte das Knarren von Stühlen, während die Leute sich auf ihren Plätzen umdrehten. Ein aufgeregtes Raunen lief durch die Halle, als Lord Garrel sich erhob.

»Lord Garrel.« Jerriks Stimme klang überrascht. »Welchen Schüler habt Ihr Euch erwählt?«

»Regin aus der Familie Winar und dem Haus Paren.«

Die übrigen Anwesenden stießen wie aus einem Mund einen verständnisvollen Seufzer aus. Rothen sah, dass der Junge am Ende der Reihe zufrieden grinste. Erst als Jerrik die Arme hob, kehrte langsam wieder Ruhe ein.

»Ich würde dir raten, auf diese beiden Novizen und ihre Mentoren ein Auge zu haben«, murmelte Dannyl. »Normalerweise wählt niemand im ersten Jahr einen Novizen aus. Wahrscheinlich tun sie es nur, um zu verhindern, dass Sonea einen höheren Status bekleidet als ihre Klassenkameraden.«

»Oder ich habe eine Mode geschaffen«, überlegte Rothen laut. »Und Garrel könnte das Potenzial seines Neffen bereits kennen. Das würde auch erklären, warum Regins Familie den Wunsch hatte, ihn vorzeitig auf die Universität zu schicken.«

»Hat sonst noch jemand den Wunsch, zum Mentor eines dieser Schüler bestimmt zu werden?«, rief Jerrik. Stille folgte, und er ließ die Arme sinken. »Würden bitte alle Magier vortreten, die die persönliche Verantwortung für einen der Schüler übernehmen wollen?«

Rothen erhob sich und ging langsam auf die Treppe zu. Kurz darauf stand er zusammen mit Lord Garrel und Lord Yarrin neben Rektor Jerrik. Ein junger Novize, der vor Aufregung darüber, eine Rolle bei der Zeremonie zu spielen, heftig errötet war, kam mit einem Bündel braunroter Gewänder herbei. Jeder der Magier wählte eines der Bündel aus.

»Würde Gennyl bitte vortreten«, befahl Jerrik.

Einer der Jungen aus Lonmar folgte seiner Aufforderung und verneigte sich. Mit weit aufgerissenen Augen stand er vor Lord Jerrik, und seine Stimme zitterte, als er das Novizengelübde sprach. Lord Yarrin reichte dem Jungen seine Roben, und Mentor und Novize traten beiseite. Lord Jerrik wandte sich wieder den neuen Schülern zu.

»Würde jetzt Sonea bitte vortreten.«

Sonea ging mit steifen Schritten auf Jerrik zu. Obwohl ihr Gesicht bleich war, verneigte sie sich voller Anmut und legte dann klar und deutlich das Gelübde ab. Rothen trat neben sie und übergab ihr ihre Roben.

»Hiermit erwähle ich dich, Sonea, zu meinem Schützling. Deinem Studium wird meine besondere Aufmerksamkeit und Sorge gelten, bis du deinen Abschluss an der Universität gemacht hast.«

»Ich werde Euren Anweisungen gehorchen, Lord Rothen.«

»Möget ihr beide aus dieser Vereinbarung Gewinn ziehen«, vollendete Jerrik die rituelle Formel.

Als sie beiseite traten, um sich neben Lord Yarrin und Gennyl zu stellen, rief Jerrik den immer noch lächelnden Jungen vom Ende der Reihe auf.

»Würde Regin bitte vortreten.«

Der Junge ging selbstbewusst auf Jerrik zu, aber er verneigte sich zu hastig und nicht tief genug. Als der Ritus wiederholt wurde, blickte Rothen auf Sonea hinab und fragte sich, was sie wohl denken mochte. Sie war jetzt ein Mitglied der Gilde, und das war keine Kleinigkeit.

Sie sah den Jungen zu ihrer Rechten an, wie Rothen bemerkte. Gennyl stand mit durchgedrückten Schultern und gerötetem Gesicht neben seinem Mentor. Er platzt fast vor Stolz, ging es Rothen durch den Kopf. Einen Mentor zu haben und noch dazu in diesem frühen Stadium, bewies, dass ein Schüler außerordentlich talentiert war.

Nur wenige würden das jedoch von Sonea denken. Die meisten Magier, argwöhnte Rothen, würden annehmen, dass er Sonea nur deshalb zu seinem Schützling auserkoren hatte, damit niemand seine Rolle bei ihrer Auffindung vergaß. Man würde ihm nicht glauben, wenn er von der Stärke und dem Talent Soneas sprach. Aber sie würden es eines Tages selbst herausfinden, und diese Tatsache gab ihm eine gewisse Befriedigung.

Nachdem Regin und Lord Garrel die rituellen Worte gesprochen hatten, stellten sie sich links neben Rothen. Der Junge sah immer wieder mit berechnender Miene zu Sonea hinüber. Sie dagegen bemerkte es nicht, oder sie ignorierte ihn. Stattdessen verfolgte sie aufmerksam das Geschehen, als Jerrik nun die übrigen neuen Schüler zu sich rief, damit sie das Gelübde ablegten. Sie nahmen ihre Roben in Empfang, dann stellten sie sich neben die Mentoren und ihre Novizen.

Als die letzten der neuen Schüler in die Reihe getreten waren, wandte Lord Jerrik sich ihnen allen zu.

»Ihr seid jetzt Novizen der Magiergilde«, erklärte er. »Mögen die kommenden Jahre für euch alle von Nutzen sein.«

Die Novizen verneigten sich. Lord Jerrik nickte kurz und trat beiseite.

»Auch ich möchte unsere neuen Novizen willkommen heißen und ihnen viele erfolgreiche Jahre wünschen.« Sonea zuckte zusammen, als Lorlens Stimme hinter ihr erklang. »Hiermit erkläre ich die Aufnahmezeremonie für beendet.«

Sofort erfüllte lautes Stimmengewirr die Gildehalle. Die in Roben gewandeten Männer und Frauen erhoben sich hastig und eilten die Treppe hinunter. Als den Novizen klar wurde, dass die Formalitäten vorüber waren, zerstreuten sie sich in alle Richtungen. Einige liefen zu ihren Eltern, andere betrachteten das Bündel in ihren Händen oder beobachteten das Treiben um sie herum. Am anderen Ende der Gildehalle öffneten sich langsam die großen Türen.

Sonea drehte sich zu Rothen um. »Das war es also. Ich bin jetzt Novizin.«

Er lächelte. »Bist du froh, dass es vorbei ist?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe das Gefühl, als hätte es gerade erst angefangen.« Sie blickte über seine Schulter. »Da kommt Euer Schatten.«

Rothen wandte sich um und stellte fest, dass Dannyl auf ihn zukam.

»Willkommen in der Gilde, Sonea.«

»Ich danke Euch, Botschafter Dannyl«, erwiderte Sonea mit einer Verbeugung.

Dannyl lachte. »Noch nicht, Sonea. Noch nicht.«

Plötzlich spürte Rothen, dass noch jemand zu ihrer kleinen Gruppe gestoßen war. Der Rektor der Universität stand neben ihm.

»Lord Rothen«, sagte Jerrik und bedachte Sonea mit einem müden Lächeln, als diese sich verneigte.

»Ja?«, erwiderte Rothen. »Wird Sonea jetzt in das Novizenquartier umziehen? Über diese Frage habe ich bisher noch gar nicht nachgedacht.«

Rothen schüttelte den Kopf. »Sie wird bei mir bleiben. Ich habe in meinen Wohnräumen mehr als genug Platz für sie.«

Jerrik hob die Augenbrauen. »Ich verstehe. Dann werde ich Lord Ahrind davon in Kenntnis setzen. Und jetzt entschuldigt mich bitte.«

Rothen sah dem alten Mann nach, während dieser auf einen dünnen, hohlwangigen Magier zuging. Als Jerrik zu sprechen begann, runzelte Lord Ahrind die Stirn und blickte kurz zu Sonea hinüber.

»Wie geht es jetzt weiter?«, wollte Sonea wissen.

Rothen deutete mit dem Kopf auf das Bündel in ihren Händen. »Wir finden heraus, ob diese Roben dir passen.« Er sah Dannyl an. »Und ich finde, eine kleine Feier wäre jetzt angebracht. Kommst du mit?«

Dannyl lächelte. »Das würde ich mir niemals entgehen lassen.«

2. Der erste Tag

Die Sonne schien Dannyl warm auf den Rücken, als er in die Kutsche stieg. Er nahm ein klein wenig Magie zu Hilfe, um den ersten seiner Koffer auf das Dach zu heben. Als das zweite Gepäckstück neben dem ersten zu liegen kam, stieß er einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.

»Ich werde es wahrscheinlich noch bereuen, dass ich so viel mitgenommen habe«, murmelte er. »Trotzdem fallen mir immer noch lauter Dinge ein, die einzupacken ich leider vergessen habe.«

»Du wirst in Capia gewiss alles kaufen können, was du brauchst«, erklärte Rothen. »Lorlen hat dir ja ein großzügiges Gehalt gewährt.«

»Ja, das war eine angenehme Überraschung.« Dannyl grinste. »Vielleicht hast du Recht, was seine Gründe betrifft, mich fortzuschicken.«

Rothen zog eine Augenbraue in die Höhe. »Er muss wissen, dass es nicht genügen wird, dich außer Landes zu schicken, um zu verhindern, dass du dich in Schwierigkeiten bringst.«

»Ah, aber wie wird es mir fehlen, wenn ich dich nicht mehr aus all deinen Schwierigkeiten retten kann, mein Freund.« Als der Fahrer die Kutschentür öffnete, drehte sich Dannyl noch einmal zu dem älteren Magier um. »Kommst du mit zum Hafen?«

Rothen schüttelte den Kopf. »In einer knappen Stunde beginnt der Unterricht.«

»Sowohl für dich als auch für Sonea.« Dannyl nickte. »Dann wird es jetzt also Zeit, Lebewohl zu sagen.«

Einen Moment lang sahen die beiden Männer einander ernst an, dann legte Rothen Dannyl eine Hand auf die Schulter und lächelte. »Pass auf dich auf. Und versuch, nicht über Bord zu fallen.«

Dannyl kicherte und reichte Rothen die Hand. »Pass du auch auf dich auf, alter Freund. Und lass nicht zu, dass deine neue Novizin dich allzu sehr erschöpft. Ich werde in ungefähr einem Jahr zurück sein, um deine Fortschritte zu begutachten.«

»Alter Freund, wahrhaftig!« Rothen schob Dannyl auf die Kutsche zu. Nachdem Dannyl eingestiegen war, warf er noch einmal einen nachdenklichen Blick auf seinen Freund.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich dich einmal zu so ruhmreichen Taten würde aufbrechen sehen, Dannyl. Du wirktest hier immer so zufrieden, und seit deinem Abschluss hast du kaum je einmal einen Fuß auf das Gelände jenseits der Tore gesetzt.«

Dannyl zuckte die Achseln. »Ich schätze, ich habe lediglich auf den richtigen Grund gewartet.«

Rothen lachte auf. »Lügner. Du bist schlicht und einfach träge. Ich hoffe, der erste Botschafter weiß das, sonst steht ihm eine unangenehme Überraschung bevor.«

»Er wird schon schnell genug dahinterkommen.« Dannyl grinste.

»Das wird er gewiss.« Rothen trat mit einem Lächeln von der Kutsche weg. »Und jetzt fort mit dir.«

Dannyl nickte. »Auf Wiedersehen.« Er klopfte auf das Dach der Kutsche. Der Wagen setzte sich ruckartig in Bewegung, und Dannyl rutschte auf der Sitzbank zur gegenüberliegenden Seite der Kutsche und zog die Vorhänge vor dem Fenster beiseite. Er konnte Rothen, der ihm nachsah, noch erkennen, bevor die Kutsche abbog, um die Tore der Gilde zu passieren.

Mit einem Seufzer lehnte er sich auf der gepolsterten Bank zurück. Obwohl er froh darüber war, dass seine Reise endlich begann, wusste er, dass er seine Freunde und die vertraute Umgebung vermissen würde. Rothen hatte Sonea und das alte Ehepaar, Yaldin und Ezrille, zur Gesellschaft, aber Dannyl würde nur Fremde um sich haben.

Obwohl er sich auf seine neue Position freute, erschreckten ihn seine neuen Pflichten ein wenig. Seit der Jagd auf Sonea jedoch, während der er die Diebe aufgespürt und mit ihnen verhandelt hatte, war ihm sein leichtes und größtenteils einsames Gelehrtenleben in der Gilde zunehmend langweilig erschienen.

Diese Langeweile war ihm selbst gar nicht recht bewusst gewesen, bis Rothen ihm erzählt hatte, dass man ihn für den Posten des zweiten Botschafters in Betracht zog. Als Dannyl schließlich in das Büro des Administrators gerufen worden war, hatte er den Namen und die Position eines jeden Mannes und einer jeden Frau am elynischen Hof gekannt und – zu Lorlens Überraschung – darüber hinaus zahlreiche Skandalgeschichten.

Nachdem sie eine Weile durch den Inneren Ring gefahren waren, erreichte die Kutsche die Straße, die an der Palastmauer entlangführte. Da die prächtigen Türme des Palastes durch die Ringmauer weitgehend verdeckt wurden, rutschte Dannyl wieder zum anderen Ende der Bank, um die kunstvoll gestalteten Häuser der Reichen und Mächtigen zu bewundern. An einer Straßenecke wurde gerade eine neue Villa erbaut. Er konnte sich noch gut an das verfallene alte Haus erinnern, das früher einmal dort gestanden hatte, ein Relikt aus der Zeit der noch nicht mit Hilfe von Magie geschaffenen Architektur. Die Anwendung von Magie auf Stein und Metall hatte die Magier in die Lage gesetzt, fantastische Gebäude zu errichten, die den normalen Gesetzen der Baustatik trotzten. Bevor die Kutsche weiterrollte, erkannte Dannyl zwei Magier neben dem teilweise fertig gestellten, neuen Haus. Einer von ihnen hielt einen großen Plan in Händen.

Die Kutsche fuhr nach einer abermaligen Wegbiegung an weiteren prächtigen Häusern vorbei, verlangsamte dann ihr Tempo und rollte durch die Inneren Ringtore ins Westviertel. Die Wachen blickten kaum auf, als die Kutsche passierte; das auf die Seite des Wagens gemalte Symbol der Gilde genügte ihnen vollkommen, um dem Gefährt keine weitere Beachtung zu schenken. Die Straße zog sich geradlinig durch das Westviertel, gesäumt von großen, eleganten Häusern, die von schlichterer Bauart waren als die Gebäude im Inneren Ring. Die meisten dieser Häuser gehörten Kaufleuten oder Handwerkern, die diesen Teil der Stadt wegen seiner Nähe zum Hafen und zum Markt bevorzugten.

Als die Kutsche das westliche Stadttor passiert hatte, änderte sich das Bild noch einmal. Es ging nun vorbei an einem Labyrinth aus Verkaufsbuden und Marktständen, an denen sich Menschen aller Rassen und Klassen drängten. Marktverkäufer priesen ihre Waren an und übertönten mühelos den steten Lärm der Stimmen, Pfiffe, Glocken und des Gebrülls der Tiere. Obwohl die Straße nach wie vor recht breit war, beanspruchten Händler, Käufer, Straßenkünstler und Bettler doch zu beiden Seiten einiges an Platz, so dass Kutschen sich nur mit Mühe einen Weg bahnen konnten.

Eine verwirrende Vielzahl von Gerüchen hing in der Luft, bald süß vom Duft zerdrückter Früchte, bald unangenehm faulig vom Gestank verrotteten Gemüses. Kurze Zeit später konnte Dannyl den salzigen Geruch des Meeres wahrnehmen und den würzigen Duft des Flussschlicks, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Kutsche bog um eine Ecke, und der Hafen kam in Sicht.

Ein Wald aus Masten und Seilen tat sich vor ihm auf. Zu beiden Seiten der Straße strömten unzählige Menschen vorbei. Muskulöse Träger und Matrosen schleppten Kisten, Körbe und Säcke auf dem Rücken. Karren jedweder Größe, gezogen von allen möglichen Tieren, schoben sich an der Kutsche vorbei. Man hörte jetzt nicht mehr das Geschrei der Verkäufer, sondern laut ausgerufene Befehle an Schiffsbesatzungen und Schauerleute und natürlich das unentwegte Brüllen des Viehs.

Die Kutsche setzte ihren Weg weiter fort, vorbei an immer größeren Schiffen, bis Dannyl eine Reihe robust gebauter Kaufmannsschiffe erreichte, die an einer langen Pier lagen. Dort verlangsamte der Wagen sein Tempo und blieb schließlich stehen.

Der Wagenschlag wurde geöffnet, und der Fahrer verneigte sich respektvoll vor Dannyl. »Wir sind am Ziel, Lord.«

Dannyl schob sich über die Sitzbank und stieg aus. Ganz in der Nähe stand ein Mann mit weißem Haar, dessen Gesicht ebenso braun gebrannt war wie seine nackten Arme. Hinter ihm warteten mehrere kräftig gebaute jüngere Männer.

»Ihr seid Lord Dannyl?«, fragte der Mann und verneigte sich steif.

»Ja. Und Ihr seid … ?«

»Piermeister«, sagte er und deutete dann auf die Kutsche. »Das sind Eure?«

Dannyl vermutete, dass er die Schiffskoffer meinte. »Ja.«

»Wir holen sie herunter.«

»Nein, die Mühe kann ich Euch ersparen.« Dannyl drehte sich um und konzentrierte sich auf seine Magie. Während die Koffer langsam zu Boden schwebten, traten zwei junge Männer vor, um die Gepäckstücke aufzufangen. Offensichtlich waren sie daran gewöhnt, Magie zu solchen Zwecken benutzt zu sehen. Schließlich machten sie sich auf den Weg die Pier hinunter, und die restlichen Männer folgten ihnen.

»Euer Schiff ist das sechste in der Reihe, Lord«, sagte der Piermeister, als die Kutsche wieder davonfuhr.

Dannyl nickte. »Vielen Dank.«

Auf der hölzernen Pier klangen seine Schritte seltsam hohl. Er folgte den Trägern um einen großen Stapel Kisten herum, die gerade verladen wurden. Am nächsten Schiff lag etwas auf dem Holzboden der Pier, das aussah wie gut eingepackte Teppiche. Überall wimmelte es nur so von Männern: Sie liefen mit ihrer Fracht auf den Schultern die Planken hinauf und hinunter, lümmelten sich an Deck und spielten mit Spielsteinen um ihr Glück oder stolzierten umher, um anderen Befehle zuzubrüllen.

Inmitten dieses Getriebes entgingen Dannyl aber auch die leiseren Geräusche des Hafens nicht: das konstante Knarren der Bretter und Seile, das Klatschen von Wasser gegen Schiffsrümpfe und Pier. Ihm fielen auch kleine Einzelheiten ins Auge: Zeichnungen auf Masten und Segeln, sorgfältig auf die Schiffsrümpfe und Kajütentüren gemalte Namen, das Wasser, das aus einem Loch in der Flanke eines Schiffs quoll. Letzteres stimmte ihn nachdenklich. Wasser sollte eigentlich außerhalb eines Bootes bleiben, nicht wahr?

Als sie das sechste Schiff erreichten, stapften die Träger eine schmale Leitplanke hinauf. Dannyl bemerkte, dass zwei Männer ihn von dem Schiff aus beobachteten. Vorsichtig folgte er den Trägern über die Laufplanke, bis er sich davon überzeugt hatte, dass das Brett zwar biegsam, aber stabil war, und sein Schritt wurde mutiger. Als er schließlich auf Deck stand, begrüßten ihn die beiden Männer mit einer Verbeugung.

Sie sahen einander bemerkenswert ähnlich. Ihre braune Haut und der kleine Wuchs waren typische Merkmale der Vindo. Beide trugen robuste, verblichene Kleidung. Einer von ihnen jedoch hatte sich ein wenig höher aufgerichtet als der andere, und er war es, der nun zu sprechen begann.

»Willkommen auf der Fin-da, Lord. Ich bin Kapitän Numo.«

»Ich dank Euch, Kapitän. Ich bin Lord Dannyl.«

Der Kapitän deutete auf die Schrankkoffer, die einige Schritte entfernt auf Deck standen und neben denen die Träger noch warteten. »In Eurer Kajüte kein Platz für Kisten, Lord. Wir Euer Gepäck unten verstauen. Wenn Ihr brauchen etwas, fragen meine Bruder Jano.«

Dannyl nickte. »Ich verstehe. Ich habe einen Beutel in meinem Gepäck, den ich an mich nehmen werde, dann können die Koffer fortgeschafft werden.«

Der Kapitän nickte knapp. »Jano zeigen Euer Zimmer. Wir bald aufbrechen.«

Als der Kapitän sich abgewandt hatte, berührte Dannyl den Deckel des kleineren Schrankkoffers. Das Schloss öffnete sich mit einem leisen Klicken. Er nahm einen Lederbeutel mit den Dingen heraus, die er für die Reise benötigen würde, dann schloss er den Deckel wieder und sah zu den Trägern auf.

»Das ist alles, was ich brauche – hoffe ich jedenfalls.«

Die Männer bückten sich und trugen die Koffer fort. Dannyl drehte sich erwartungsvoll zu Jano um. Der Mann nickte und bedeutete ihm zu folgen.

Sie traten durch eine schmale Tür und stiegen dann eine kurze Treppe zu einem relativ großen Raum hinunter. Die Decke war so niedrig, dass selbst Jano den Kopf einziehen musste, um sich nicht an den Balken zu stoßen. Zwischen verschiedenen Haken an der Decke hingen grob gewebte Laken. Dies, so vermutete Dannyl, waren die Hängebetten, von denen er Reisende hatte erzählen hören.

Jano führte ihn in einen engen Korridor, und nach wenigen weiteren Schritten öffnete er eine Tür. Dannyl starrte voller Entsetzen in eine winzige Kabine. Der ganze Raum wurde von einem niedrigen Bett ausgefüllt, das gerade so breit war wie seine Schultern. Am einen Ende befand sich ein kleiner, in die Wand eingelassener Schrank, und am anderen Ende lagen, säuberlich zusammengefaltet, Decken aus Weberwolle, die von sichtlich guter Qualität waren.

»Klein, yai?«

Dannyl blickte zu Jano hinüber und stellte fest, dass der Mann breit grinste. Er lächelte schief, wohl wissend, dass er sein Entsetzen vor dem anderen Mann nicht hatte verhehlen können.

»Ja«, stimmte Dannyl ihm zu. »Klein.«

»Kapitän haben Kajüte doppelt so groß. Wenn wir große Schiff besitzen, wir auch bekommen große Kajüte. Yai?

Dannyl nickte. »Klingt gerecht.« Er ließ seinen Beutel auf das Bett fallen, dann drehte er sich um, so dass er Platz nehmen konnte. Seine Beine ragten in den Gang hinaus. »Danke. Sonst brauche ich nichts.«

Jano klopfte an die gegenüberliegende Tür. »Meine Kajüte. Wir Kameraden, yai? Du singen?«

Bevor Dannyl sich auf eine Antwort besinnen konnte, ertönte irgendwo über ihnen eine Glocke, und Jano blickte auf. »Muss gehen. Wir ablegen.« Er drehte sich um, hielt aber noch einmal inne. »Du hier bleiben. Damit nicht im Weg stehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte er davon.

Dannyl sah sich in der winzigen Kabine um, die für die nächsten beiden Wochen sein Quartier sein würde, und kicherte. Jetzt begriff er, warum so viele Magier Seereisen hassten.

Sonea war mutlos in der Tür des Klassenzimmers stehen geblieben.

Sie hatte Rothens Wohnung zeitig verlassen, um möglichst vor den anderen Novizen im Klassenzimmer zu sein und ihrer Nervosität Herr zu werden, bevor sie den anderen gegenübertreten musste. Aber es waren schon mehrere Plätze besetzt. Während sie noch zögerte, wandten sich bereits Köpfe zu ihr herum, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Hilflos sah sie den Magier an, der vorn im Klassenzimmer saß.

Er war jünger, als sie erwartet hatte, wahrscheinlich noch keine dreißig. Eine kantige Nase verlieh seinem Gesicht einen geringschätzigen Ausdruck. Als sie sich verneigte, sah er auf und ließ den Blick von ihrem Gesicht bis hinunter zu ihren neuen Stiefeln und wieder hinauf zu ihrem Gesicht wandern. Solchermaßen zufrieden gestellt, wandte er sich wieder einem Stapel Papiere zu und machte einen kleinen Haken auf seiner Liste.

»Such dir einen Platz, Sonea«, sagte er abschätzig. Im Raum standen in Reih und Glied zwölf Tische und Bänke aufgereiht. Sechs Novizen, die alle auf der Kante ihrer Stühle hockten, beobachteten sie dabei, wie sie ihre Wahl traf.

Setz dich nicht zu weit weg von den anderen, sagte sie sich. Sie sollen nicht glauben, dass du unfreundlich bist – oder Angst vor ihnen hast. In der Mitte des Raums gab es noch einige Plätze, aber dort wollte sie nicht gern sitzen. An der Wand gegenüber war noch ein Platz frei, neben dem – eine Reihe weiter – bereits drei andere Novizen saßen. Das würde gehen.

Sie war sich der Blicke, die ihr folgten, vollauf bewusst, als sie zu dem Stuhl hinüberging. Nachdem sie sich hingesetzt hatte, zwang sie sich, ihre Mitschüler anzusehen.

Sofort fanden die Novizen etwas anderes, das sie interessierte. Sonea stieß einen erleichterten Seufzer aus. Sie hatte eigentlich mit höhnischen Bemerkungen gerechnet. Vielleicht würde nur der Junge, den sie gestern kennen gelernt hatte – Regin –, ihr mit offener Feindseligkeit begegnen. Einer nach dem anderen erschienen die Novizen in der Tür des Klassenzimmers, verbeugten sich vor dem Lehrer und wählten einen Platz. Das schüchterne kyralische Mädchen entschied sich hastig für den ersten Stuhl, an dem sie vorbeikam. Ein anderer Novize vergaß beinahe, sich vor dem Magier zu verneigen, bevor er den Platz vor Sonea für sich beanspruchte. Er entdeckte sie erst, als er den Stuhl bereits erreicht hatte, und starrte sie entgeistert an, bevor er sich widerstrebend hinsetzte.

Der letzte Novize, der zum Unterricht erschien, war der unfreundliche Junge, Regin. Er blickte sich mit schmalen Augen im Raum um und nahm dann mit Bedacht in der Mitte der Gruppe Platz.

Ein ferner Gong erklang, und der Magier erhob sich. Mehrere Novizen, einschließlich Soneas, zuckten bei der Bewegung sichtlich zusammen. Bevor ihr Lehrer jedoch etwas sagen konnte, erschien ein vertrautes Gesicht in der Tür.

»Sind alle da, Lord Elben?«

»Ja, Rektor Jerrik«, erwiderte der Lehrer.

Der Rektor der Universität schob die Daumen in die braune Schärpe um seine Taille und musterte die Klasse.

»Willkommen in der Gilde«, sagte er, und seine Stimme klang eher streng als freundlich. »Und herzlichen Glückwunsch. Ich gratuliere euch nicht deshalb, weil ein jeder von euch das Glück hatte, mit der seltenen und viel beneideten Gabe der Magie geboren worden zu sein. Ich gratuliere euch, weil ihr an der Universität der Magiergilde Aufnahme gefunden habt. Einige von euch kommen aus weit entfernten Ländern und werden für viele Jahre nicht nach Hause zurückkehren können. Andere wiederum werden sich vielleicht dafür entscheiden, den größten Teil ihres Lebens hier zu verbringen. Aber für die nächsten fünf Jahre wird keiner von euch die Universität verlassen können. Und warum nicht? Damit ihr Magier werdet. Was also ist ein Magier?« Er lächelte grimmig. »Es gibt vieles, was einen Magier ausmacht. Einiges davon besitzt ihr bereits, anderes werdet ihr entwickeln, wieder anderes werdet ihr erlernen. Manches davon ist wichtiger als anderes.« Er brach ab und ließ den Blick über die Klasse wandern. »Was ist das Wichtigste, das ein Magier braucht?«

ENDE DER LESEPROBE

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »The Novice. The Black Magician Trilogy Book Two« bei Voyager/HarperCollins Australia.

6. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

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Umschlagillustration: Steve Stone represented by Artist Partners Ltd., London Redaktion: Alexander Groß V. B. · Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-02322-5

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