Die Glücksbäckerei: Das magische Rezeptbuch / Die magische Prüfung / Die magische Verschwörung - Kathryn Littlewood - E-Book

Die Glücksbäckerei: Das magische Rezeptbuch / Die magische Prüfung / Die magische Verschwörung E-Book

Kathryn Littlewood

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Beschreibung

Nur für kurze Zeit: Die ersten drei Bände der Erfolgsserie »Die Glücksbäckerei« jetzt als Sammelband! »Das magische Rezeptbuch«: Rose und ihre Familie haben ein Geheimnis. Es ist das alte Familienbackbuch, in dem magische Rezepte gesammelt sind. Roses Eltern hüten das Buch wie ihren Augapfel, keines der Kinder darf auch nur einen Blick hineinwerfen. Doch dann müssen die beiden Zuckerbäckereltern verreisen. Ob Rose und ihre Geschwister der Versuchung widerstehen können? »Die magische Prüfung«: Rose hat nur eines im Sinn: das magische Rezeptbuch zurückzuerobern, das ihre Tante Lily auf skrupellose Weise gestohlen hat. Zusammen mit der ganzen Familie Glyck und einem sprechenden Kater reist Rose nach Paris, um dort in einem atemlosen Zauberbackwettkampf gegen Tante Lily anzutreten. Wird sie die magische Prüfung meistern? »Die magische Verschwörung«: Rose wird entführt! Der mysteriöse Mr Butter ist Inhaber eines Bäckereikonzern s und will die Bevölkerung mit Zaubergebäck manipulieren und so die Weltherrschaft übernehmen. Und ausgerechnet die junge Glücksbäckerei muss ihm dabei helfen. Kann Rose sich befreien und die Welt retten – mit Kuchen? »Die Glücksbäckerei« – die Bestsellerserie voller Magie, Herz und süßen Überraschungen!

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Seitenzahl: 895

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Kathryn Littlewood

Die Glücksbäckerei: Das magische Rezeptbuch / Die magische Prüfung / Die magische Verschwörung

Sammelband

Aus dem Amerikanischen von Eva Riekert

Mit Vignetten von Eva Schöffmann-Davidov

FISCHER E-Books

Inhalt

Buch 1 - Die Glücksbäckerei - Das magische Rezeptbuch[Widmung]PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18DanksagungBuch 2 - Die Glücksbäckerei - Die magische PrüfungWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18DanksagungBuch 3 - Die Glücksbäckerei - Die magische VerschwörungWidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18EpilogDanksagung

Für Ted

 

 

Prolog

Eine Prise Zauberei

Rosmarin Glyck wurde zehn in dem Sommer, in dem sie zum ersten Mal beobachtete, wie ihre Mutter einen Blitz in einen Teig rührte. Erst jetzt dämmerte ihr, dass ihre Eltern in ihrer Bäckerei nach Zauberrezepten backten. Plötzlich lag das klar auf der Hand.

Es war der Monat, in dem der Jüngste der Calhouns, der sechsjährige Kenny, am Bahnhof in einen unverschlossenen Schaltraum geraten war, den falschen Knopf berührt hatte und fast an einem elektrischen Schlag gestorben wäre. Doch der Stromstoß hatte ihn nicht mausetot gemacht, sondern nur bewirkt, dass Kennys Haare zu Berge standen und er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

Als Rosmarins Mutter Polly hörte, dass der Nachbarsjunge Kenny im Koma lag, schloss sie die Bäckerei und sagte: »Es gibt Wichtigeres als Kekse«, und dann machte sie sich in der Küche an die Arbeit. Nicht einmal essen oder schlafen wollte sie. Nächte vergingen, und sie arbeitete durch. Roses Vater Albert passte auf Roses Geschwister auf, während Rose bettelte, ihrer Mutter in der Küche helfen zu dürfen. Doch stattdessen wurde Rose einkaufen geschickt – in die Stadt, um mehr Mehl oder dunkle Schokolade oder Vanilleschoten zu holen.

Endlich, ganz spät am Sonntagabend, während das schlimmste Gewitter des Sommers auf Calamity Falls einpeitschte – mit Donnerschlägen, Blitzen und Regengüssen, deren Prasseln sich anhörte, als würden Hände voll Kiesel aufs Dach geworfen –, verkündete Polly: »Es ist an der Zeit.«

»Wir können die Kinder nicht allein lassen«, sagte Albert. »Nicht bei so einem Gewitter.«

Polly nickte knapp. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als sie alle mitzunehmen.« Sie drehte sich um und rief nach oben: »Ausflug für alle!«

Rose bekam vor Aufregung einen Schluckauf, als ihr Vater sie und ihre Brüder und die kleine Schwester in den Familienvan packte, zusammen mit einem großen Einmachglas aus trübem, bläulichem Glas.

Der Van schaukelte und kam fast von der Straße ab, so stürmte und regnete es, doch Albert biss die Zähne zusammen und steuerte unverdrossen auf die kahle Anhöhe des Bald Man’s Peak zu.

Er parkte. »Willst du es wirklich tun?«, fragte er seine Frau.

Sie löste die Klammer am Deckel des Einmachglases. »Kenny ist zu jung. Ich muss es zumindest versuchen.« Und damit stieß sie die Tür auf und stürzte in den Regen hinaus.

Rose sah zu, wie ihre Mutter durch den brüllenden Sturm den Hang hinaufstolperte, bis nach ganz oben auf die kahle Bergspitze. Dann nahm sie den Deckel ab und hielt das Glas über ihren Kopf.

In dem Moment passierte es.

Rose blieb fast das Herz stehen, als der Blitz den Himmel in zwei Hälften teilte und direkt in das Glas fuhr. Die gesamte Anhöhe wurde erleuchtet, und Roses Mutter loderte hell auf, als sei sie aus gleißendem Licht.

»Mama!«, schrie Rose und riss am Türgriff, doch Albert hielt sie zurück.

»Das reicht noch nicht«, sagte er. Es folgte noch ein Blitzschlag und noch einer …

Hinterher wusste Rose nicht, ob sie von dem Licht geblendet oder von ihren Tränen blind geworden war.

»Mama!«, wimmerte sie.

Und dann öffnete sich die Wagentür wieder, und ihre Mutter glitt ins Auto. Sie war völlig durchnässt und roch wie ein verkohlter Toaster, doch ansonsten sah sie unverletzt aus. Rose starrte in das Glas und sah darin Hunderte von knisternden, bläulichen Lichtadern zucken.

»Nichts wie nach Hause, und zwar dalli«, sagte Polly. »Das ist die Zutat, die noch gefehlt hat.«

 

Daheim wurden die Kinder zu Bett geschickt, doch Rose blieb heimlich auf und sah zu, wie ihre Mutter zur Tat schritt.

Polly stand über eine metallene Rührschüssel gebeugt, die mit einem glatten weißen Teig gefüllt war. Vorsichtig hielt sie das Einmachglas über die Schüssel und nahm den Deckel ab. Kleine Blitze aus blauem Licht fielen zuckend wie Schlangen in den Teig und ließen die Masse grün aufleuchten.

Polly rührte den Teig mit einem Löffel um und flüsterte: »Electro Correcto.« Dann goss sie ihn in eine Kastenform und schob diese in den Ofen. Sie schloss die Tür. Ohne sich umzusehen, sagte sie: »Du solltest längst im Bett sein, Rosmarin Glyck.«

 

In dieser Nacht schlief Rose nicht gut. In ihren Träumen blitzte es, und ihre Mutter glühte grell und ermahnte sie mit erhobenem Zeigefinger, ins Bett zu gehen.

Am Morgen stürzte ihre Mutter den Kuchen auf einen Teller, träufelte mit einem Spritzbeutel etwas weißen Zuckerguss darüber und rief Albert zu: »Gehen wir!« Sie spießte Rose fast mit ihrem Finger auf: »Du auch.«

Dann fuhren Rose, Polly und Albert in das Krankenhaus, in dem Kenny lag.

Rose fand, dass er rein äußerlich gar nicht so krank aussah – ein bisschen stiller als gewöhnlich, etwas zu bläulich, um richtig gesund zu wirken. Aber er war an einschüchternd aussehende Maschinen angeschlossen, und sein Puls war nur ein schwaches Piepsen in dem kleinen Krankenzimmer.

Kennys Mutter blickte auf, sah Mrs Glyck und brach in Tränen aus. »Für Kuchen ist es zu spät, Polly!«, sagte sie, doch Roses Mutter steckte dem Jungen behutsam ein paar Krümel zwischen die Lippen.

Eine Weile passierte gar nichts.

Und dann ein ganz schwaches Schlucken.

Polly steckte ihm ein größeres Stück in den Mund. Diesmal bewegte sich seine Zunge, und er schluckte schon deutlicher. Dann schob sie einen ganzen Bissen in seinen Mund, und er bewegte ganz natürlich die Kiefer. Er kaute und schluckte und sagte, ehe er überhaupt die Augen aufschlug: »Gibt’s auch ein bisschen Milch?«

 

Nach diesem Ereignis wusste Rose, dass die Gerüchte stimmten. Die Backwaren aus ihrer Glücksbäckerei waren tatsächlich verzaubert. Und obwohl ihre Mutter und ihr Vater in einer gewöhnlichen Kleinstadt lebten, einen langweiligen Familienvan besaßen und manchmal mit peinlichen Gürteltaschen gesehen wurden, waren sie in ihrer Küche Zauberer.

Und natürlich formte sich in Roses Kopf sofort die große Frage: Werde ich auch einmal eine Glücksbäckerin?

Kapitel 1

Calamity Falls

Zwei Jahre vergingen, in denen Rose ganz schön viele größere und kleinere Katastrophen in Calamity Falls miterlebte – und beobachten konnte, wie ihre Eltern sie alle stillschweigend behoben.

Als Mr Rook anfing, in den Gärten von Nachbarn zu schlafwandeln, machte ihm Polly einen Schwung Tiefschlaf-Snickerdoodles. Dazu hatte sie eine ihrer riesigen Rührschüsseln mit Mehl, braunem Zucker, Eiern, Zimt und dem Gähnen eines Wiesels gefüllt, das Albert mühevoll eingefangen hatte. Mr Rook aß die Plätzchen und schlafwandelte nie wieder.

Als der dicke Mr Wadsworth in einem Brunnenschacht stecken blieb und die Feuerwehr ihn nicht herausziehen konnte, fing Albert den Schweif einer Wolke in einem der bläulichen Einmachgläser ein, und Polly backte daraus Weiße Wolkenmakronen.

»Ich glaube zwar kaum, dass in dieser Situation süßes Gebäck angebracht ist, Mrs Glyck!«, rief Mr Wadsworth, als sie eine Schachtel der Plätzchen hinunterließen, »aber die Dinger sind ja so lecker!« Er verschlang zwei Dutzend davon. Danach war es für ihn kein Problem mehr, aus dem Brunnen zu klettern – er schwebte praktisch empor.

Und als Mrs Rizzle, die ältliche Opernsängerin, plötzlich zu heiser war, um die Generalprobe zu dem Musical Oklahoma! im Theater von Calamity Falls durchzustehen, machte Polly Singsang-Ingwer-Cookies. Dazu musste Rose auf dem Markt Ingwerknollen holen, und Albert musste das Lied einer Nachtigall einfangen – natürlich nachts.

In Deutschland.

Albert hatte gewöhnlich nichts gegen solche gewagten Abenteuer einzuwenden – abgesehen von dem einen Mal, als ein Bienenstich benötigt wurde … Gewöhnlich brachte er jedes Mal noch zusätzliche Dinge mit, und diese Zutaten wurden sorgfältig etikettiert, in den bläulichen Einmachgläsern verstaut und in einer geheimen Kammer in der Glücksbäckerei versteckt. Hier würde sie niemals jemand finden – es sei denn, derjenige wusste genau, wonach er suchen musste.

Rose hatte die Aufgabe, die weniger gefährlichen Zutaten zu holen – Eier, Mehl, Milch, Nüsse. Die einzigen Notfälle, für die Rose zuständig war, wurden von ihrer kleinen dreijährigen Schwester verursacht.

 

Am Morgen des dreizehnten Juli erwachte Rose von dem Scheppern der Metallschüsseln, die auf dem gefliesten Küchenboden landeten. Das Getöse hallte so heftig durchs Haus, dass sich einem normalen Menschen die Nackenhaare gesträubt hätten. Rose verdrehte nur die Augen.

»Rose!«, rief ihre Mutter. »Kannst du nach unten in die Küche kommen?«

Rose schleppte sich aus dem Bett und stolperte noch im Nachthemd die Holztreppe hinunter.

Die Küche der Familie Glyck war zufällig gleichzeitig auch die Backstube der Glücksbäckerei, die Roses Eltern in dem sonnigen Vorderzimmer betrieben, das auf eine belebte Straße von Calamity Falls hinausging. Wo bei anderen Familien ein Sofa und der Fernseher standen, hatte Familie Glyck eine Ladentheke für all die Backwaren mit einer Kasse darauf – sowie einige Bistrotische und -stühle für die Kundschaft.

Polly Glyck stand in der Küche mitten in einem Chaos aus umgekippten Rührschüsseln, kleinen Mehlhügeln, einem umgefallenen Sack Zucker und den leuchtend gelben Dottern von zwölf aufgeschlagenen Eiern. Weißes Kuchenmehl wirbelte durch die Luft wie ein Schneegestöber.

Roses kleine Schwester Nella Glyck saß mitten auf dem Fußboden, ihre Polaroidkamera um den Hals, die Wangen mit rohem Ei beschmiert. Sie grinste vergnügt und machte ein Foto von dem Durcheinander.

»Pimpinella Glyck«, sagte Polly zu der Kleinen. »Du kommst durch die Küche gerannt und schmeißt einfach alle Zutaten für die Mohnmuffins um, die ich backen wollte. Du weißt doch, dass die Leute auf unsere Mohnmuffins warten. Und jetzt bekommen sie keine.«

Nella verzog kurz verlegen das Gesicht, dann grinste sie breit und rannte aus der Küche. Sie war noch zu klein, um sich länger als eine Minute wegen irgendetwas zu schämen.

Polly rang die Hände und lachte. »Sie hat Glück, dass sie so niedlich ist.«

Rose blickte sich bestürzt in dem Durcheinander um. »Soll ich beim Aufwischen helfen?«

»Nein, dabei soll mir dein Vater helfen. Aber«, sagte sie vorsichtig und reichte Rose eine Liste, die sie auf die Rückseite eines Umschlags gekritzelt hatte, »du könntest in die Stadt fahren und diese Zutaten besorgen.« Sie warf noch mal einen Blick auf die Schweinerei auf dem Boden. »Es ist ziemlich dringend.«

»Klar, Mom«, sagte Rose und fügte sich seufzend in ihr Schicksal, mal wieder den Laufburschen für die Familie spielen zu müssen.

»Ach!«, rief Polly. »Das hätte ich fast vergessen.« Sie nestelte die Silberkette von ihrem Hals und reichte sie Rose. An der Kette baumelte etwas, das Rose immer für einen gewöhnlichen Anhänger gehalten hatte. Bei genauerem Hinsehen war es jedoch ein silberner Schlüssel in Form eines winzigen Schneebesens oder Quirls.

»Geh zum Schlüsseldienst und lass einen Nachschlüssel davon machen. Wir werden ihn brauchen. Das ist sehr, sehr wichtig, Rosmarin.«

Rose untersuchte den Schlüssel. Er war wunderschön und feingliedrig – wie eine Spinne, die die Beine aneinandergelegt hatte. Rose wusste, dass ihre Mutter den Schlüssel ständig trug wie einen Talisman, hatte jedoch immer angenommen, dass dieser Anhänger einfach nur eines der außergewöhnlichen Schmuckstücke war, die ihre Mutter liebte, wie zum Beispiel die Schmetterlingsbrosche mit einer Flügelspanne von fünfzehn Zentimetern oder die Anstecknadel, die wie ein Hut aussah.

»Und wenn du fertig bist, kannst du dir bei Stetson einen Donut holen. Wenn ich auch nicht verstehe, was du an den Dingern findest. Sie taugen nichts.«

Im Grunde verabscheute Rose Stetsons Donuts. Sie waren zu trocken und zu krümelig und schmeckten ein bisschen nach Hustensaft – aber was konnte man schon erwarten von Donuts, die es in einem Laden mit dem Namen Stetsons Donuts und Automobilwerkstatt gab? Und dennoch – ein Besuch dort bedeutete, fünfundsiebzig Cent in die ausgestreckte Hand von Devin Stetson drücken zu dürfen.

Devin Stetson, der wie sie zwölf Jahre alt war, wenn er auch viel älter wirkte, der bei den Tenören des Gemeindechores in Calamity Falls sang, der sandfarbene Haare hatte, die ihm in die Augen fielen, und der einen gerissenen Keilriemen reparieren konnte.

Jedes Mal, wenn er auf dem Schulkorridor an ihr vorbeikam, suchte sie einen Grund, um auf ihre Schuhe zu starren. Um die Wahrheit zu sagen, das Einzige, das sie im richtigen Leben jemals zu ihm gesagt hatte, war: Danke für den Donut. Aber in ihrer Phantasie waren sie schon auf seinem Moped am Fluss entlanggebraust, hatten mitten auf einer Wiese gepicknickt, sich gegenseitig Gedichte vorgelesen, sich vom langen Gras die Gesichter kitzeln lassen, und sie hatten sich im Herbst unter einer Straßenlaterne geküsst. Vielleicht konnte sie ja heute eines der Dinge, die sie im richtigen Leben mit Devin Stetson unbedingt machen wollte, auf ihrer Liste abhaken. Oder auch nicht. Was sollte er schließlich mit einer Bäckerin?

Rose machte kehrt, um zum Anziehen hinaufzugehen.

»Ach, und noch was!«, rief Polly schon wieder hinter ihr her. »Nimm deinen kleinen Bruder mit.«

Rose blickte an dem Chaos auf dem Küchenboden vorbei durch die Hintertür in den Garten, wo ihr jüngerer Bruder, Basil Glyck, wie wild auf dem riesigen Trampolin herumhüpfte und dabei vor Begeisterung laute Schreie ausstieß. Er war noch im Schlafanzug.

Rose stöhnte. Die Einkäufe vorne im Korb ihres Fahrrads zu befördern war schwer genug, aber Basil von Laden zu Laden zu schleppen machte die ganze Unternehmung noch zehnmal schwieriger.

1. Borzinis Nussladen: 1 Pfund Mohnsamen

Rose und Basil lehnten ihre Fahrräder an die Stuckfassade von Borzinis Nussladen und traten ein. Borzinis Nussladen war nicht zu übersehen. Es war der einzige Laden in Calamity Falls, der wie eine Erdnuss aussah.

Basil marschierte schnurstracks zu einer Tonne mit Mr Borzinis feinsten importierten äthiopischen Macadamianüssen, schob die Arme hinein und warf Dutzende von Nüssen in die Luft. Rose starrte ihren Bruder böse an, der wie ein aufgeregter Jongleur umhersprang und versuchte, die Nüsse mit dem Mund aufzufangen, ehe sie dann doch auf den Boden fielen.

Mit seinen neun Jahren sah Basil bereits aus, als würde er auf die Bühne eines Comedyclubs gehören. Ein lockiger Wust rotblonder Haare stand wild um seinen Kopf, und seine rundlichen, sommersprossigen Wangen nahmen fast das ganze Gesicht ein. Seine rötlichen Brauen über den Augen gaben ihm den Anschein, als sei er ständig in Aufregung.

»Basil, warum machst du das?«, fragte Rose.

»Ich hab gesehen, wie Tymo das mal mit Popcorn gemacht hat. Er hat fast alle Pops mit dem Mund aufgefangen.«

Tymo war ihr großer Bruder, der Älteste der Glyck-Kinder, und er hatte ein Gesicht, bei dessen Anblick alle dahinschmolzen. Sein welliges Haar war rot und seine durchdringenden Augen grau wie die eines sibirischen Huskys. Er war fünfzehn und betrieb jede nur mögliche Sportart, und wenn er auch nicht überall der Größte war, so war er doch immer der Bestaussehende. Er war ganz genau der Junge, der eine Handvoll Popcorn in die Luft warf und mit dem Mund auffing, ohne dass auch nur ein Krümel danebenging. Das Einzige, was er nicht konnte, war, sich dazu aufzuraffen, in der Bäckerei zu helfen. Aber das machte seinen Eltern nicht viel aus. Tymos Gesicht war wie eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, die Jahr für Jahr besser funktionierte.

Mr Borzini, der ebenfalls wie eine Erdnuss aussah, kam aus dem Hinterzimmer geschlurft. »Hallöchen, Rosie!«, sagte er grinsend. Dann sah er die Macadamianüsse auf dem Boden, und sein Grinsen erstarb. »Hallo, Basil.«

»Wir brauchen ein Pfund Mohnsamen«, sagte Rose mit einem Lächeln.

»Prrrronto!« Basil rollte das R wie ein Italiener und küsste seine Fingerspitzen. Mr Borzinis unwilliger Ausdruck schmolz dahin, und er lachte.

Prustend reichte er Rose den Mohn. »Du hast vielleicht einen ulkigen Bruder, Rosie!«

Rose grinste gezwungen und wünschte sich insgeheim, dass jemand sie auch einmal für so ulkig halten würde wie Basil. Sie war zurückhaltend sarkastisch, aber das war ja nicht das Gleiche. Sie war auch nicht so umwerfend gutaussehend wie Tymo. Und sie war zu alt, um so niedlich zu sein wie Nella. Sie konnte gut backen, was vor allem bedeutete, dass sie sorgfältig war und gut rechnen konnte. Aber niemand sah sie jemals mit einem Lächeln an und sagte: Wow! Du bist ja so sorgfältig und kannst so gut rechnen, Rose!

Daher hielt sich Rose allenfalls für gewöhnlich, sie war eben wie jemand, der stumm durch den Hintergrund eines Filmsets lief. Na ja.

Rose dankte Mr Borzini und legte das Jutesäckchen mit Mohn in den Metallkorb vorne an ihrem Fahrrad. Dann zerrte sie ihren Bruder nach draußen, und die beiden fuhren los.

»Ich versteh gar nicht, warum ausgerechnet wir das ganze Zeug holen müssen«, grummelte Basil, während sie bergauf radelten. »Wenn Nella die Sachen umgeschmissen hat, dann sollte sie doch einkaufen gehen.«

»Basil. Sie ist drei.«

»Ich verstehe nicht, warum wir überhaupt in der blöden Bäckerei arbeiten müssen. Wenn unsere Eltern das nicht alleine schaffen, hätten sie gar nicht erst damit anfangen sollen.«

»Du weißt, dass sie nicht anders können. Backen liegt ihnen im Blut«, erwiderte Rose unter Keuchen. »Außerdem würde diese Stadt ohne sie vor die Hunde gehen. Alle brauchen unsere Kuchen und Törtchen und Muffins, zum Überleben sozusagen. Wir betreiben einen Dienst an der Öffentlichkeit.«

Wenn sie auch oft die Augen verdrehte, liebte Rose es insgeheim, zu helfen. Sie liebte es, ihre Mutter vor Erleichterung aufatmen zu hören, wenn sie mit den ganzen Zutaten zurückkam. Sie liebte es, wie ihr Vater sie drückte, wenn sie einen schön sandigen Mürbeteig hinbekommen hatte. Sie liebte es, die Kunden vor Zufriedenheit seufzen zu hören, nachdem sie den ersten Bissen eines blätterigen Schokoladencroissants genommen hatten. Und sie liebte es, dass die Zutaten – einige davon ganz normal, andere nicht so normal – die Leute nicht nur glücklich machten, sondern manchmal noch viel mehr für sie taten.

»Also, ich will den Gesetzestext über die Bestimmungen zur Kinderarbeit in Calamity Falls haben. Ich bin nämlich ziemlich sicher, dass es gegen das Gesetz ist, was sie mit uns machen.«

Rose wurde langsamer und hielt sich die Nase zu, als Basil an ihr vorbeiradelte. »Wie du zu müffeln ist auch gegen das Gesetz.«

Basil schnaubte empört. »Ich müffel doch nicht!«, sagte er, aber dann hob er einen Arm hoch und überprüfte mit der Nase seine Achselhöhle. »Na gut, vielleicht ein bisschen.«

2. Florence, die Floristin: 1 Dutzend Mohnblumen

Rose und Basil fanden Florence, die Floristin, schlafend in einem Sessel in der Zimmerecke. Jeder in Calamity Falls stellte Mutmaßungen über ihr wahres Alter an, aber die übereinstimmende Meinung war, dass sie unmöglich jünger als neunzig sein konnte.

Ihr Laden sah eher wie ein Wohnzimmer als wie ein Blumenladen aus – gelbes Sonnenlicht strömte durch die Fensterläden auf ein kleines Sofa, eine dicke getigerte Katze lag ausgestreckt neben dem staubigen Kamin. Eine Reihe von Vasen in der Nähe des Fensters war mit allen nur vorstellbaren Blumen gefüllt, und von der Decke hing ein Dutzend Körbe, aus denen alle möglichen grünen Kletterpflanzen quollen.

Rose strich sich einige Ranken Efeu aus dem Gesicht und räusperte sich.

Florence schlug die Augen auf. »Wer ist da?«

»Rosmarin Glyck«, sagte Rose.

»Aha«, brummte Florence, als sei sie verärgert über die Kundschaft. »Was … kann … ich … für dich tun?«, fragte sie. Sie erhob sich schnaufend und schlurfte zu den Vasen unter dem Fenster.

»Ein Dutzend Mohnblumen, bitte«, sagte Rose.

Mit einem Stöhnen bückte sich Florence, um die seidenpapierartigen roten Blumen herauszuziehen. Als ihr Blick jedoch Basil streifte, wurde sie munterer. »Bist du das, Tymo? Du siehst irgendwie … kleiner aus.«

Basil lachte, es schmeichelte ihm, dass man ihn für seinen älteren Bruder gehalten hatte. »Nein, nein«, sagte er. »Ich bin Basil. Jeder sagt, dass Tymo und ich uns ähnlich sehen.«

Florence verfiel wieder in ihren brummigen Ton. »Den Mädchenschwarm werde ich sehr vermissen, wenn er aufs College kommt.«

Ständig machten sich alle Gedanken darüber, was Roses ach-so-gut-aussehender Bruder machen würde, wenn er mal alt genug war, um Calamity Falls zu verlassen. So, wie es ihm vorbestimmt schien, den Ort zu verlassen, so schien es Roses Schicksal zu sein, dazubleiben. Wenn sie in Calamity Falls blieb, würde sie dann wohl so enden wie Florence, die Floristin? Mit nichts Besserem zu tun, als tagsüber in einem Sessel zu dösen und darauf zu warten, dass etwas Außergewöhnliches und Aufregendes passierte – und doch gleichzeitig zu wissen, dass so etwas nie eintreten würde?

Aber fortzugehen würde bedeuten, die Bäckerei zu verlassen. Und dann würde sie niemals herausfinden, wo ihre Mutter all die blauen Zaubergläser versteckte. Nie würde sie lernen, wie man etwas Nordwind in einen Zuckerguss mischte, der das steinerne Herz einer lieblosen Person schmelzen ließ. Sie würde nie wissen, wie sie Froschaugen, flüssiges Magma und Backpulver dosieren musste – um Knochenbrüche auf der Stelle zu heilen, wovon ihre Mutter ihr erzählt hatte.

»Und was ist mit dir, Rosmarin?«, fragte Florence, während sie die Mohnblumen in Packpapier wickelte. »Läuft was Interessantes? Was mit Jungs?«

»Ich bin zu beschäftigt damit, auf Basil aufzupassen«, sagte Rose ein wenig zu betont.

Es stimmte, sie hatte keine Zeit, um sich mit Jungen zu verabreden, aber selbst wenn ihre Zeit nicht so knapp gewesen wäre, dann hätte sie es wahrscheinlich auch nicht gemacht. Ein Date kam ihr so abartig und ein bisschen unappetitlich vor wie Sushi. Was sie sich vorstellen konnte, war, mit Devin Stetson oben auf dem Sparrow Hill zu stehen und auf die Stadt hinunterzublicken, während ihnen der Herbstwind durch die Haare fuhr und die Blätter rascheln ließ. Aber das war ja kein richtiges Date.

Immerhin war er der Grund, warum sie heute Morgen geduscht, sich die Kletten aus den schulterlangen schwarzen Haaren gekämmt und ihre Lieblingsjeans angezogen hatte, dazu eine blaue Bluse mit der richtigen Menge Rüschen (sehr wenig!). Sie wusste, dass sie nicht hässlich war, aber umwerfend war sie auch nicht. Rose war sich sicher: Wenn sie überhaupt etwas Besonderes besaß, dann versteckte es sich irgendwo in ihrem Inneren und war ihr nicht anzusehen.

In der Angelegenheit schien ihr ihre Mutter zuzustimmen. Du bist nicht wie andere Mädchen, hatte sie einmal gesagt. Du kannst so gut rechnen!

Während sie mit Basil den Laden verließ, den Mohnstrauß in der Hand, überlegte Rose, warum sie nicht beides sein konnte – ein Mädchen, das gut rechnen konnte, und eines, das hübsch war.

3. Pappelmarkt: 2 Pfund saure Äpfel

Sie traten wild in die Pedale und waren im Nu über die Gleise und auf dem Pappelmarkt, der am frühen Vormittag so gut besucht war, dass die Gassen zwischen den Obst- und Gemüseständen verstopft schienen wie der Highway bei Ferienbeginn.

»Ich brauche Äpfel!«, rief Rose und wedelte mit einer Hand in der Luft herum.

»Gasse drei!«, schrie ein Mann hinter einem Tisch, auf dem sich so hoch Pfirsiche stapelten, dass man ihn kaum sah.

Basil hielt den Verkehrsstrom auf, indem er zwei birnenförmige Kürbisse griff und sie wie Hanteln hochhielt.

»Warum machst du das?«, fragte Rose, während sie die Äpfel einkaufte.

»Damit ich Muckis krieg – wie Tymo«, keuchte er und lief rot an wie eine Tomate. »Tymo und ich werden Profisportler. Auf keinen Fall bleib ich hier und backe für den Rest meines Lebens Kuchen.«

Rose riss die Kürbisse aus Basils ausgestreckten Armen und legte sie zurück. »Aber wir helfen doch anderen Menschen«, flüsterte sie ihm zu. »Wir sind Zauberer, gute Zauberbäcker.«

»Wenn wir Zauberer sind, wo sind dann unsere Zauberstäbe und Eulen und Zauberhüte? Und wo ist unser Erzfeind?«, fragte Basil. »Sieh’s ein, Schwesterherz – wir sind stinknormale Bäcker. Während du hier feststeckst und Kuchen bäckst, werden wir in Frankreich oder sonst irgendwo ein Paar Sportschuhe nach dem anderen durchlaufen.«

Basil radelte weiter und ließ Rose mit den Äpfeln allein. Ihre Arme zitterten unter dem Gewicht.

4. Mr Klines Schlüsseldienst: Du weißt schon, was

In einem rostigen Wellblechschuppen am Rand der Stadt reichte Rose Mr Kline den zarten quirlartigen Schlüssel. Mr Kline betrachtete ihn durch eine Brille mit Gläsern so dick wie Flaschenböden.

Der Schlüsselladen war fensterlos, und alles darin war mit einer feinen grauen Staubschicht überzogen, als sei Mr Kline gerade von einem langen Urlaub zurückgekommen. Rose atmete durch den Mund ein. Die Luft schmeckte nach Metall.

»Dafür brauche ich eine halbe Stunde«, sagte Mr Kline. »Vielleicht möchtest du später noch mal wiederkommen?«

Basil stieß ein übertrieben lautes Stöhnen aus, aber Rose war glücklich. Zufällig lag Klines Laden am Fuß von Sparrow Hill, und Stetsons Geschäft lag oben auf dem Hügel.

»Komm, Brüderchen«, sagte sie. »Wir machen einen Spaziergang den Hang hinauf.«

»Auf keinen Fall!«, sagte Basil. »Das ist viel zu steil, und es ist viel zu heiß. Ich geh mal zum Süßigkeitenladen und schau, ob sie Jellybeans in einer neuen Geschmacksrichtung haben.«

»Ach, komm schon«, sagte Rose und packte ihn an der Schulter. »Das macht doch Spaß. Wir gehen zum Aussichtspunkt und gucken, ob wir unser Haus finden. Und ich kauf dir einen Donut.«

»Na gut. Aber«, sagte er und hob einen Finger hoch über den Kopf, »nur wenn ich den Donut selbst aussuchen darf!«

5. Stetsons Donuts und Automobilwerkstatt

Rose war ganz außer Atem, als sie oben auf dem Berg angekommen waren. Stetsons war eine langweilige Betonbaracke, vor der lauter alte Autoteile herumlagen. In alte am Boden liegende Reifen waren Stiefmütterchen gepflanzt, und ein Donut-Schild hing an einem alten Kotflügel über der Tür.

Rose zitterte und strich sich das schwarze Haar, das jetzt vor Schweiß klebte, aus der Stirn. Sie gehörte zu den Mädchen, die keine Angst vor Spinnen, Mountainbikes oder davor haben, sich die Finger am heißen Backofen zu verbrennen – mit allen drei Sachen hatte sie schon reichlich Erfahrung gemacht. Aber in den Raum zu treten, in dem ein Junge war, den sie mochte? Das machte ihr richtig Angst.

Gerade, als sie so viel Mut zusammengekratzt hatte, um die Einfahrt entlangzugehen und den Laden zu betreten, sauste Devin Stetson auf seinem Moped vorbei. Seine blonden Fransen flatterten im Wind, und er fuhr zügig bergab. Anscheinend hatte ihm sein Vater den Vormittag freigegeben.

Roses Magen revoltierte. Das war so ein Gefühl, als ob man auf einer Schaukel höher schaukelt, als man sollte, und der Magen hinterherflattert und einem im Bauch herumflippt wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Sie sah ihm nach und hätte schwören können, dass er sich kurz nach ihr umgesehen hatte.

Basil war schon beim Aussichtspunkt und kletterte aufs Geländer. »Wow. Rose, schau mal!«

Rose löste sich aus ihrer Erstarrung und lief zu ihm, um zu sehen, was er meinte: Eine Karawane von Polizeiautos schlängelte sich durch die Hauptstraße der Stadt. Von hier oben sah Calamity Falls wie ein gemaltes Bild aus und die Autos wie eine blaue Giftschlange, die sich mitten hindurchringelte.

»Wo fahren die hin?«, fragte Basil. Er war auf einmal ganz untypisch still.

»Mannomann«, sagte Rose und spähte nach unten. »Ich glaube, sie fahren zur Bäckerei.«

Kapitel 2

Ein echter Hammer

»Vielleicht ist Tymo festgenommen worden«, sagte Rose. Sie und Basil warfen ihre Räder in den Hof der Bäckerei und rannten zur Hintertür. Drei Streifenwagen bildeten ein Bollwerk vor dem Haus, und ein weißer Geländewagen mit getönten Scheiben – Basil erkannte sofort, dass es ein Hummer war – kauerte wie ein dicker Pitbull-Terrier in der Einfahrt.

Durch das heruntergelassene Fahrerfenster des Hummer konnten Rose und Basil einen Mann in einer adretten Polizeiuniform und mit einer Sonnenbrille sehen. Er sprach in ein Walkie-Talkie. »Sie sind noch drin«, sagte er. »Ich kenne sie – mit leeren Händen kommen sie nicht raus.«

Rose stieg auf ein Mäuerchen und spähte durch die geöffneten Fensterläden in eines der Küchenfenster. Ihre Eltern standen auf einer Seite des großen hölzernen Hackblocks, den Polly wie einen Einkaufswagen hin und her schob. Eine Frau in einem strengen dunkelblauen Hosenanzug stand auf der anderen Seite des Blocks. Polly und Albert sahen sich nervös an, und Polly hatte die Hand auf das alte Backbuch der Familie Glyck gelegt, das zugeklappt auf dem Hackblock lag. Wenn der Wälzer aufgeschlagen war, sah das Buch wie ein großer weißer Vogel mit ausgebreiteten Flügeln aus; geschlossen wirkte es unscheinbar wie ein kleiner brauner Brotlaib.

Jetzt ist es so weit, dachte Rose. Jemand will das Buch entwenden.

Jeden Dienstagabend gingen Albert und Polly in die Doppelvorstellung ins Kino von Calamity Falls und engagierten die Nachbarin Mrs Carlson, damit sie auf die Kinder aufpasste. Im Gehen sagte Albert jedes Mal: Lassen Sie keinen herein! Es ist womöglich jemand von der Regierung, der unsere Rezepte stehlen will!

Die Kinder lachten immer, aber Rose wusste, dass ihr Vater nicht wirklich einen Scherz machte. Sie hatte schon mal in das Buch gespäht und Seiten entdeckt, auf denen mittelalterliche Zeichnungen von Gewitterstürmen, Feuersbrünsten, Dornenhecken und blutenden Menschen waren – Rezepte, die man nicht gerne in die Hände von jemandem geraten lassen wollte, der sie womöglich ausprobierte.

Basil kletterte neben sie auf die kleine Mauer, konnte aber nichts sehen. »Was ist da drin los?«, fragte er. 

»Sie holen das Backbuch«, sagte Rose. Nur mit Mühe brachte sie die Worte an dem Klumpen vorbei, der ihr im Hals steckte. Sie sah den seltsamen gusseisernen Backofen, der wie ein Bienenkorb an der einen Küchenwand stand, sie sah die Reihe schimmernder Kirschholzschränke an der anderen Wand, sie sah das Gewirr von Gestellen und Metallhaken, die mitten in der Küche wie ein Wust von der Decke hingen und an denen Spachtel und Rührlöffel jeglicher Größe baumelten. Sie sah die riesige silberne Küchenmaschine in der hinteren Ecke, deren Rührschüssel so groß war, dass Nella hineinklettern konnte (was sie manchmal auch tat), und deren Teigquirl die Größe eines Ruderbootpaddels hatte. Sie blickte auf alles, was ihre Eltern sich aufgebaut hatten, und unterdrückte ein Schluchzen.

Rose stellte sich vor, wie ihre Eltern eingesperrt in einer schmutzigen Zelle saßen, ihre Brüder auf der Straße betteln gingen und wie das Land von einer Meute herrschsüchtiger Bäcker regiert wurde, die Muffins und Törtchen als Massenvernichtungswaffen benutzten.

»Ich lege ihnen das Handwerk«, brummte Basil und rannte zur Hintertür. Er stieß sie auf und rief: »Meine Eltern haben nichts getan!«

Albert und Polly fuhren herum und versuchten, ihn zum Schweigen zu bringen, aber es war zu spät. Die Frau in dem dunkelblauen Hosenanzug blickte zur Hintertür und winkte Basil und Rose herein.

»Mein Name ist Janice Hammer, genannt Der Hammer«, sagte sie. »Ich bin Bürgermeisterin von Humbleton.« Sie lächelte bemüht. Rose dämmerte es, dass Janice Hammer, auch wenn sie sich nicht gerade an Freundlichkeit übertraf, wohl kaum gekommen war, um das Buch zu stehlen.

»Warum ist die Polizei draußen?«, fragte Rose.

»Das sind Autos, die ich nur wie Streifenwagen habe anmalen lassen, damit sie einschüchternd wirken, wenn ich mit ihnen unterwegs bin. Die Männer darin sind meine Kollegen aus dem Stadtrat von Humbleton. Einer ist Florist, einer Rechtsanwalt und der dritte ist Klempner, der immer dann einspringt, wenn er ausnahmsweise mal nicht verstopfte Klos reparieren muss.« 

»Ist es nicht gegen das Gesetz, sich als Polizist zu verkleiden?«, fragte Basil frech.

Bürgermeisterin Hammer durchbohrte ihn mit ihrem Blick. »Ich bin gekommen, um eure Eltern um Hilfe gegen die Sommergrippe zu bitten, die in Humbleton grassiert. Eine so schlimme Grippewelle habe ich noch nie erlebt – die reinste Epidemie. Mülltonnen quellen über vor Taschentüchern. Ärzte haben keinen Hustensaft mehr. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt ist in Panik nach Florida in sein Ferienhaus abgehauen. Feigling.«

Albert und Polly lachten unsicher.

»Kurz und gut, ich wusste mir nicht zu helfen. Doch dann sind uns die Mandelcroissants von euren Eltern eingefallen – die Leute schwören, dass davon Fieberattacken und Laufnasen einfach verschwinden. Daher bin ich gekommen, um vierzig Dutzend zu bestellen.«

Bürgermeisterin Hammer wandte sich wieder an Albert und Polly. »Ich weiß, das kommt sehr kurzfristig, aber mir bleibt keine andere Wahl.«

Polly rang verzweifelt die Hände. »Wir – wir würden sehr gerne helfen«, stammelte sie, »aber diese Backstube ist nicht darauf ausgerichtet, vierzig Dutzend Croissants zu machen. Wir sind doch nur eine Familienbäckerei.«

»Dann kommen Sie nach Humbleton!«, rief Bürgermeisterin Hammer schnell. »In der Rathausküche kann man für eine ganze Armee kochen und backen. Machen Sie ihre Mandelcroissants dort. Und dann backen Sie noch Kürbis-Käsekuchen.«

»Kürbis-Käsekuchen?« Albert runzelte fragend die Stirn.

Bürgermeisterin Hammer griff in ihre schwarze Ledermappe und zog einen vergilbten Zeitungsausschnitt aus dem Calamity-Falls-Anzeiger hervor. Die Schlagzeile lautete: Zehnjähriger an Schweinegrippe erkrankter Junge isst Kürbis-Käsekuchen aus der Glücksbäckerei in Calamity Falls. Wundersame Heilung.

Albert wischte sich die Hand an der Schürze ab. »Ha! Schön wär’s! Aber die Geschichte war von vorne bis hinten erfunden. Der Junge hatte sich krank gestellt, damit er die Schule schwänzen konnte.«

Roses Eltern gaben – außer gegenüber ihren Kindern – niemals zu, dass bei den Backwaren von den Glycks Magie im Spiel war. Wenn sich das mit der Zauberei herumspricht, sagte Polly immer, dann will jeder etwas haben, und unsere kleine Bäckerei ist nicht mehr unsere kleine Bäckerei. Sie wird zu einer Riesenfabrik. Alles wäre dahin.

Wenn jemand die bisweilen wundersame Wirkung von Plätzchen, Kuchen und Törtchen bemerkte, dann taten Albert und Polly das damit ab, dass es sich eben um die ganz normalen guten Ergebnisse eines sorgfältig ausgeführten perfekten Rezepts handelte.

Rose konnte sich allerdings noch daran erinnern, wie damals jener Käsekuchen gebacken worden war. Sie hatte von der Treppe aus zugesehen und beobachtet, wie ihre Eltern eines Abends nach Ladenschluss die Zutaten aus einigen Einmachgläsern zusammengerührt hatten, wie ein lila Dunst aus der Schüssel aufgestiegen und ihrer Mutter um den Kopf gewallt war, wie der Teig gezischt und geknallt hatte und pinkfarbene und grüne und quietschgelbe Funken hatte stieben lassen.

Was hätte sie nicht alles gegeben, um so backen zu können! Es war eine Arbeit, die einen zu etwas Besonderem machte, auch wenn alles heimlich bleiben musste.

Bürgermeisterin Hammer klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Es ist mir einerlei, ob der Käsekuchen wirklich gesund macht oder nicht – die Leute lieben ihn, sie fühlen sich besser, wenn sie ihn gegessen haben, und das ist es, was zählt.«

Polly legte den Schmelz eines Schokoladenküchleins in ihre Stimme. »Tja … wie lange brauchen Sie uns denn wohl?«

»Nicht länger als eine Woche«, sagte die Bürgermeisterin.

Albert schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Bürgermeisterin Hammer. Unsere Bäckerei gibt es seit fünfundzwanzig Jahren, und wir haben nie länger als einen Tag geschlossen gehabt. Eine ganze Woche können wir auf keinen Fall weg.«

Bürgermeisterin Hammer nickte einem ihrer Bodyguards zu, der ein ledergebundenes Scheckheft hervorzog. Sie kritzelte ein paar Zahlen hinein und zeigte Albert und Polly den Scheck. Die beiden sahen sich geschockt an, als habe gerade jemand ein Kaninchen aus dem Hut gezogen – und zwar ein sehr kostbares, diamantenbesetztes Kaninchen.

»So viele Nullen!«, stieß Albert atemlos hervor.

Polly sah die Bürgermeisterin Hammer mit Unbehagen an. »Wir machen es …«

»Wie wunderbar!«, sagte Bürgermeisterin Hammer und reichte Polly den Scheck.

Polly zeriss ihn in Fetzen. »Sie haben mich nicht ausreden lassen. Wir machen es – umsonst.«

Rose lächelte. Ihre Eltern hätten die reichsten Leute der Welt werden können – Unternehmertypen in Designeranzügen, die Champagner tranken und in teuren Autos saßen, so wie die Bürgermeisterin Hammer, doch sie wollten lieber in ihrer einfachen Wohnung über der engen Küche ihrer kleinen Bäckerei bleiben.

Bürgermeisterin Hammer lehnte sich über den Hackblock und zog Albert und Polly an ihre Brust. »Wir nehmen Sie mit, sobald Sie fertig sind«, sagte sie. »Ich warte draußen im Hammer-Hummer.«

 

Rose klopfte an die Tür von Tymos und Basils Zimmer. Auf einem handgeschriebenen Schild stand: Besuchszeiten 15 bis 16 Uhr

»Tymo!«, rief Rose. »Mom und Dad verreisen! Bitte kommt nach unten.«

Es war erst elf Uhr am Vormittag, und Tymo kam selten vor dem Nachmittag aus seiner Höhle. Rose öffnete die Tür einen Spalt. Tymo hatte ein Laken aufgehängt, um seine von Basils Zimmerecke abzuteilen – Tymos Teil war natürlich hinter dem Laken –, aber am Rand des Lakens vorbei konnte Rose eine weiße Socke sehen, die vom Fuß ihres Bruders hing.

Sie zog das Laken zur Seite und stieß seinen breiten nackten Rücken an. »Tymo.«

Tymo stöhnte. »Hoffentlich hast du einen guten Grund dafür, dass du hier hereinplatzt«, sagte er, »du hast mich nämlich mitten aus einem Basketball-Traum aufgeweckt.«

»Mom und Dad verreisen für eine Woche. Und wir sollen uns so lange um die Bäckerei kümmern!«

Während sie diese Worte laut aussprach, sah sich Rose schon in der blau-weiß karierten Schürze ihrer Mutter durch die Küche tanzen, in dem alten Backbuch der Familie Glyck blättern, Mehl sieben, Schokolade schmelzen und die Tränen von jungen Mädchen mit gebrochenem Herzen daruntermischen oder den letzten Atemzug eines wackeren Mannes oder eine Portion des kalkigen, bitteren Pulvers, das aus den Ascheresten der Lagerfeuer vom letzten Sommer stammte oder – wer weiß schon, was sonst noch? Dann würde sie die Kurbel drehen, um den geheimen Blitzableiter zu aktivieren, der den großen Backofen bisweilen mit Strom versorgte, und SCHWUPP!, schon würde sie zaubern. Rose murrte zwar manchmal, wenn ihre Eltern sie dazu verdonnerten, in der Bäckerei zu helfen, aber nur, weil während Roses Anwesenheit nicht richtig gezaubert wurde.

Wenn sie erst richtig zaubern würde, Zauberei mit den blauen Einmachgläsern, wäre die Arbeit ein Kinderspiel, glaubte sie.

»Im Ernst?« Tymo schoss blitzartig hoch. »Ist ja super!«

»Finde ich auch«, sagte Rose. »Wir dürfen richtig backen!«

Tymo lachte abfällig. »Falsch, mi hermana.« Tymo hatte sich angewöhnt, Spanisch zu reden, wann immer er konnte, um auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem er endlich ein Profi-Skateboarder in Barcelona sein würde. »Du kannst endlich richtig backen. Ich kann mich auf die faule Haut legen.«

 

Unten schloss Albert alle Fensterläden der Küche, während Polly eine Kerze anzündete. Rose fühlte sich, als sollte sie gleich in eine Geheimorganisation eingeführt werden. Gespannt stand sie bereit und wartete auf die Anweisungen ihrer Eltern. Tymo hing schlaff über dem rollenden Hackblock, das Kinn auf die Hände gestützt, und gähnte gelangweilt.

»Wir lassen euch nicht gerne allein«, sagte Polly, »aber die Menschen in unserem Nachbardorf brauchen uns. Wir haben Chip gebeten, die Woche über ganztags zu kommen, aber er kann nicht das Backen übernehmen und gleichzeitig den Verkauf machen, deshalb brauchen wir euch, damit ihr mehr als sonst einspringt.«

Rose bebte vor Aufregung, als Albert das alte Familienbackbuch zur Hand nahm.

»Das Wichtigste zuerst«, sagte er, öffnete die Stahltür des Kühlraumes und trug das Buch hinein.

Rose und Tymo folgten ihrem Vater durch einen schmalen Gang, in dem vom Boden bis zur Decke Kartons mit ganz normalen Dingen lagerten wie Milch, Butter, Eier, Schokoladenchips, Pekannüsse und dergleichen. Eine schwache Birne leuchtete von der Decke.

Am Ende des Ganges hing ein verschossener grüner Wandteppich.

Rose hatte ihn schon oft gesehen, wenn sie nach einem Besuch auf der Geflügelfarm die Eierkartons ablud, und er hatte sie immer fasziniert. Er war dick wie ein Perserteppich und über und über mit feinen Bildern bestickt: ein Mann, der Teig knetete; eine Frau, die das Feuer in einem Herd schürte; ein Kind in einem Nachthemd, das einen kleinen Kuchen aß; ein alter Mann, der mit einem Netz Glühwürmchen fing; ein Mädchen, das Puderzucker über Zuckerguss schneien ließ.

Polly legte Rose die Hand auf die Schulter. »Schätzchen, hast du den Schlüssel dabei, den ich dich bat nachmachen zu lassen?«

Rose klopfte sich auf die Brusttasche und holte zwei silberne Schlüssel hervor – den angelaufenen, den ihr ihre Mutter morgens gegeben hatte, und den blitzenden, den Mr Kline neu angefertigt hatte. Sie reichte beide ihrem Vater, der den alten Schlüssel einsteckte. Dann zog er den Wandteppich zur Seite. Dahinter tauchte eine niedrige Tür aus verblichenen Holzdielen mit gusseisernen Beschlägen auf, eine Tür, wie man sie gemacht hatte, als die Menschen noch kleiner waren. Albert schob den filigran gearbeiteten Bart des glänzenden, neuen Schneebesen-Schlüssels in das sternförmige Schloss und drehte ihn nach links.

Knarrend ging die Tür auf. Albert zog an einer alten Messingkette, und über ihnen ging eine staubige Glühbirne an.

Rose stand mit offenem Mund da.

Hinter der Tür lag ein kleiner holzgetäfelter Raum, so groß wie ein Wandschrank. Er war vollgestopft mit mittelalterlichen Schätzen: das Bild eines dünnen Mannes mit Schnurrbart, der einen langen brombeerfarbenen Rock trug. Auf dem Rahmen stand in alter englischer Schrift, die kaum zu entziffern war: Hieronymus Glyck, der erste Glücksbäcker. Da war der Kupferstich einer Frau in einer Schürze, die einem König an einer langen Tafel eine dampfend heiße Pastete servierte: Artemisia Glyck, Bäckerin, geehrt von Karl II. Das vergilbte Foto eines Mannes und einer Frau, die händchenhaltend vor der Bäckerei standen, daneben ein Zeitungsausschnitt von 1847: Bäckersleute Glyck aus der Lower East Side versorgen Einwanderer.

Aneinandergedrängt betrachteten Rose, Tymo und ihre Eltern die alten Kunstwerke im schwachen Licht der Glühbirne. »Eure Mutter und ich nennen diesen Raum die Bibliothek, auch wenn nur ein einziges Buch darin ist. Das Buch ist jedoch wichtiger als alle Bücher in allen Bibliotheken des Landes zusammen. Also ist das eine Bibliothek.«

Selbst Tymo war beeindruckt. »Ich wette, du bist froh, dass du ein Glyck geworden bist, oder, Dad?«

Albert nickte. Als er Polly heiratete, hatte er ihren Namen angenommen anstatt umgekehrt. »Wer möchte schon unbedingt einen Namen wie Albert Hogswaddle behalten«, sagte er, »wenn man der Glycks-Albert werden kann?«

Albert legte das alte Backbuch auf ein staubiges Podest in der Mitte der kleinen Kammer, und sie drängten sich in dem engen Raum dicht darum. »Das Buch bleibt hier. Keiner schlägt es auf, keiner nimmt es heraus. Rose, ich gebe dir den Schlüssel für den Raum.« Er fädelte ihn auf eine Schnur, die er zusammenknotete, und gab ihn Rose. Rose fragte sich flüchtig, woher ihre Mutter wohl gewusst hatte, dass sie so bald schon einen Zweitschlüssel brauchten. Doch dann zuckte sie die Schultern: Ihre Mutter wusste einfach dies und das. Es machte einen Teil ihrer Zauberkräfte aus.

Rose nahm den Schlüssel aus der ausgestreckten Hand ihres Vaters und hängte ihn sich um den Hals. Sie loderte vor Aufregung.

»Aber du darfst diese Tür auf keinen Fall öffnen, es sei denn, es brennt«, sagte Albert, und sein sonst so freundliches Gesicht war plötzlich ernst. »Wenn ein Feuer ausbricht, musst du versuchen, das Buch zu retten. Ich sage es noch mal: Öffnet diese Tür nicht. Ihr dürft nicht zaubern!«

Die ganze freudige Erregung verpuffte mit einem Mal, und Rose fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft gelassen wurde. Nicht zaubern? Warum?

 

»Zack-zack, Leute!«, rief Bürgermeisterin Hammer aus dem Inneren des Hummer. »Die Grippe breitet sich weiter aus, während wir hier quatschen!«

Albert schnaufte und keuchte im Hintergrund. Er schleppte sechs Lederkoffer vom Haus in die Einfahrt und lud sie in den Hummer. Einer war voller Kleider, in den anderen fünf befanden sich Gläser mit Madagaskar-Zimt und getrockneten Elfenflügeln, besondere schwarze Zuckersorten aus einem Wald in Kroatien und die eingefangenen Sprüche, geflüstert von Ärzten –, dazu noch Dutzende von alltäglichen oder geheimnisumwitterten Dingen.

Polly sammelte Rose und ihre Geschwister in der Einfahrt um sich. »Rose und Tymo, ihr helft Chip in der Küche.«

Tymo stöhnte. »Warum muss ich helfen? Das ist doch Roses Bereich!«

Polly tätschelte Tymo teilnahmsvoll die hübsche Wange. »Ich weiß, dass du das schaffst, Thymian.« Dann sah sie Basil an. »Basilikum, du bleibst bei deiner Schwester Rose. Ich meine, du hilfst ihr.«

»Na klar! Ich bin ein ausgezeichneter Helfer«, sagte Basil und zwinkerte Rose und dann den anderen verschmitzt zu.

Rose verdrehte die Augen. Unter Helfen verstand Basil gewöhnlich, herumzujammern und sich darin zu üben, das Alphabet zu rülpsen.

Albert hatte die Koffer endlich eingeladen. »Mrs Carlson kommt heute Nachmittag und bleibt die ganze Woche, um auf Nella achtzugeben. Seid lieb zu ihr und folgt ihr bitte.«

»Aber sie schreit immer so, und ihr schottischer Dialekt tut meinen Ohren weh!«, sagte Basil. »Und sie schläft dauernd ein, wenn sie in der Sonne sitzt oder fernsieht. Und sie riecht komisch.«

»Ein bisschen respektvoller, Freundchen«, sagte Albert. »Auch wenn du zugegebenermaßen nicht ganz unrecht hast … Rose, habe bitte auch ein Auge auf Nella, falls Mrs Carlson einschläft.«

Polly bemühte sich um ein Lächeln, auch wenn ihr zwei dicke Tränen über die Wangen rollten. »Wir haben euch alle sehr, sehr lieb!«, sagte sie.

»Halt!«, schrie Nella. »Ein Foto!«

Polly lachte. »Von mir aus. Bürgermeisterin Hammer, würde es Ihnen etwas ausmachen, noch ein Familienfoto aufzunehmen?«

Bürgermeisterin Hammer seufzte vernehmlich, was bedeutete, dass es ihr sehr wohl etwas ausmachte, aber immerhin riss sie Nella die Polaroidkamera aus der ausgestreckten Hand, richtete sie auf Familie Glyck und knipste.

Dann sprangen Polly und Albert auf die Rücksitze und zogen die Tür hinter sich zu. Der Hummer rumpelte die Straße entlang, die falschen Streifenwagen folgten dicht dahinter.

Rose drehte sich zu Tymo um. Sie wollte etwas sagen wie: Ist doch toll, dass wir diese Woche mal etwas zusammen machen. Doch Tymo lief schon die Einfahrt entlang in Richtung Straße.

»Meine Ferien fangen offiziell« – sagte er und drückte auf einen Knopf an seiner Uhr – »jetzt an!«

Das war’s dann wohl. Rose seufzte. Wie hatte sie nur glauben können, Tymo würde ihr in der Bäckerei helfen. Für ihre Brüder war sie Luft, selbst jetzt.

Basil sprang schon wieder auf dem Trampolin herum.  

Nella zog Rose an der Bluse. »Rosie-Posie! Ein Notfall!«, kreischte sie.

»Was denn, Nella?«

»Eine Schnecke! Ich bin auf eine Nacktschnecke getreten!« Nella hob den Fuß hoch und gab den Blick auf eine zermatschte Tierleiche frei.

Rose löste die Klettbänder an Nellas Turnschuhen, die einmal weiß gewesen waren, inzwischen aber die Farbe einer Pfütze angenommen hatten, und streifte die Sohle am Gras ab, bis die tote Schnecke abfiel.

Nella starrte das Ding mit ihren großen schwarzen Augen an. Alle sagten immer, dass Nella wie eine Mini-Ausgabe von Rose aussah – schwarze Haare, schwarzer Pony, schwarze Augen, winzige Nase – alles gleich, nur niedlicher eben. Rose wusste aber, dass in ihrem Gesicht etwas fehlte, was Nella hatte, und das lag nicht am Alter.

»Sollen wir sie beerdigen?«, fragte Nella.

»Die Schnecke?«, fragte Rose.

Nella nickte feierlich und gab Rose das Polaroidfoto in die Hand: Polly und Albert lächelten breit, die Arme um den hübschen Tymo, den überdrehten Basil und die süße Nella gelegt, Rose stand etwas abseits, aber man konnte nicht sehen, dass es Rose war, denn nur ihre Schulter war auf dem Foto.

Rose reichte Nella das Foto zurück und schlurfte einer neuen Woche mit der alten undankbaren Routine entgegen.

Kapitel 3

Eine geheimnisvolle Fremde

Die Aussicht, Chip helfen zu müssen, war viel schrecklicher für Rose als eine Nacktschnecke.

Chip, der Pollys Küchenhilfe gewesen war, solange Rose zurückdenken konnte, war bereits in der Backstube und starrte durch das Küchenfenster, vorbei an der Schnecke und vorbei an der Schaukel und an den Hecken, auch vorbei an Calamity Falls. Er war kahlgeschoren und gebräunt und sah aus, als sei er direkt einem Foto-Shooting für das Titelbild eines Bodybuilding-Magazins entsprungen.

Das Einzige, über das sich Rose jemals mit Chip unterhalten hatte, waren die silbernen Namensschildchen und Abzeichen, die er an einer Kette um den Hals trug. 

»Warst du in der Armee, Chip?«, hatte sie gefragt.

»Marine«, hatte er gegrunzt.

»Und warum arbeitest du dann als Bäckereigehilfe?«, hatte sie gefragt.

Er beugte sich runter, so dass sein Gesicht auf einer Höhe mit ihrem war. Er atmete geräuschvoll und starrte sie an. »Ich backe eben gerne«, hatte er geflüstert.

Rose stellte sich vor, wie die Woche, die vor ihr lag, wohl aussehen würde: Sie würde neben Chips muskelbepacktem Body stehen und backen – mit Hilfe der Rezepte aus dem megalangweiligen Betty-Crocker-Rezeptbuch, das Albert und Polly Chip gegeben hatten, ehe sie gingen.

»Hier, Chip – halte dich an diese Rezepte.«

Er hatte geschnaubt. »Was ist mit Ihrem speziellen Familienbackbuch?«

»Das hier kann man besser lesen«, hatte Polly gesagt und ihm das Taschenbuch in die Hand gedrückt. Auf dem Umschlag war ein stinknormales Kirschtörtchen abgebildet.

Rose war am Boden zerstört. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Eltern ihr nicht erlaubten, das Zauberbackbuch zu benutzen, solange sie fort waren.

Das war ja so ungerecht! Schließlich hatte sie der Bäckerei ihr ganzes Leben gewidmet! Schließlich war sie es, die morgens früh aufstand, um ihren Eltern bei den Vorbereitungen für den Tag zu helfen, während andere Kinder in ihrem Alter noch schliefen. Schließlich war sie es, die nach der Schule schnurstracks nach Hause lief, weil sie gebraucht wurde, um am Nachmittag beim Putzen der Backstube zu helfen. Und Rose machte das alles, ohne zu meckern, in der Hoffnung, dass sie eines Tages auch eine Glücksbäckerin werden würde. Und nun verboten ihre Eltern ihr die einzige Sache, die sie von Herzen gern tun wollte: etwas Magisches zu backen.

Außerdem blieb es an Rose hängen, sich um ihre kleine Schwester zu kümmern, weil die anderen keine Lust dazu hatten. Rose sah hinunter auf Nella, die mit den Händen ein Loch grub, worin sie die tote Schnecke beerdigen wollte.

»Ich bin nicht in Stimmung für eine Beerdigung«, sagte Rose. »Ich schubs dich auf der Schaukel an. Komm.«

Nella ließ die Schnecke Schnecke sein und lief zur Schaukel hinüber, einer Holzkonstruktion, die Albert vor einem Jahr aufgestellt hatte. Das Holz war feucht und grün bemoost, und die rostigen Ketten quietschten, als Rose ihre kleine Schwester immer wieder anstieß.

»Fester!« Nella versuchte, so viel Schwung wie möglich zu bekommen, und schlenkerte mit ihren knubbeligen Knien. »Höher, Rose, höher!«

Nella trug ihr schmutziges rot-weiß gestreiftes T-Shirt und ihr rot-weiß gestreiftes Stirnband, dasselbe, das sie jeden Tag trug und sich einfach nicht ausreden ließ. Wenn das Zeug dann total verdreckt war von Matsch- und Saftflecken und ausgelaufenen Filzstiften, dann klaute Rose es nachts, wenn Nella schlief, aus ihrem Zimmer und stopfte es in die Waschmaschine.

Habe ich mir nicht das Recht verdient, es mit ein bisschen Magie zu versuchen?, dachte Rose. Wann zahlen sich die ganzen Botengänge und das Babysitten endlich für mich aus?

Eine Minute später hörte Rose das leise Brummen eines Motorrads. Das Geräusch kam näher. Roses Herz pochte in ihrer Brust wie ein wütender Ochsenfrosch, der in einer Schachtel gefangen war. Sie kannte nur eine Person in der Stadt, die ein Motorrad fuhr (oder zumindest ein Moped), und der Name dieser Person war Devin Stetson.

Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie sich ein paar Floskeln überlegte, die sie sagen konnte, falls er vor ihrer Einfahrt anhielt und in den Garten geschlendert kam.

Hi. Wie geht’s? Ich heiße Rose. Haben wir uns schon kennengelernt? Was willst du in unserem Garten?

Er würde sagen, dass er die Karawane von Streifenwagen gesehen und sich Sorgen um sie gemacht hätte. Dann würde er sagen, dass er zum Pappelmarkt müsse, weil sein Vater anfangen wolle, Heidelbeerdonuts zu machen, aber er wisse gar nicht, wo der Markt sei. 

Ich weiß, wo er ist, würde sie sagen. Ich kann dir den Weg zeigen.

Dann würde sie hinter ihm auf das Moped steigen, und ihre Knie würden seine dunkelblauen Jeans streifen. Sie würde das Kinn während der ganzen Fahrt auf seine Schulter legen, und sein blondes Haar würde im Wind ihre Haut peitschen. Selbst wenn sie über einen große Stein fahren und sie in einem Graben landen würden und sie sich womöglich beide Beine bräche, hätte sich die Fahrt gelohnt.

Doch Rose war nicht wie die anderen Mädchen in ihrem Alter. Rose war verantwortungsbewusst.

Das wilde Brummen des Motorrads wurde etwas langsamer, als es in die Einfahrt einbog. Aber das war nicht Devin Stetsons rostiges rotes Moped – das war ein glänzendes schwarzes Ungeheuer mit einem Kopf wie der eines Stieres, mit einem silbernen Sattel und spitzen silbernen Hörnern als Lenker. Eine Gestalt, die ganz in schwarzes, enganliegendes Leder gehüllt war, sprang vom Sattel und lehnte sich an das Motorrad.

Roses Puls raste. Es waren heute schon zu viele unheimliche Personen in ihrer Einfahrt erschienen.

Sie drehte sich um. Schaute Chip immer noch aus dem Küchenfenster? Chip würde es mit dieser Person aufnehmen können, wenn es hart auf hart kam, egal, wer sie war – aber er war nicht zu sehen.

Rose trat vor Nella, um sie abzuschirmen.

Die Gestalt nahm den schwarzen Helm mit den Händen, die in Handschuhen mit silbernen Zacken steckten, ab: Zum Vorschein kam eine junge Frau – die größte und beeindruckendste Frau, die Rose je gesehen hatte, außer in Filmen. Sie hatte dichte, schwarze Augenbrauen, eine lange römische Nase und kurze, schwarze Haare, die ganz dicht an der Kopfhaut wie zu einem schicken Käppchen geschnitten waren. Ihre vollen Lippen waren rot geschminkt, und ihre kräftigen, weißen Zähne blitzten in der Sonne. Sie war der Frauentyp, der eigentlich in ein Modemagazin gehörte – der Frauentyp, der Rose heimlich einmal werden wollte.

»Ahhhh!«, rief die Frau aus. »Frische Luft! Eine Kleinstadt! Ich liebe Kleinstädte!« Sie ließ ein kehliges Lachen zum Himmel aufsteigen. Dann öffnete sie die Metallschnallen ihrer schwarzen Lederjacke, streifte sie ab und warf sie auf ihr Motorrad. Darunter trug sie eine gerüschte blaue Bluse, ähnlich wie die, die Rose trug.

»Du musst Rosmarin sein!«, sagte die Frau und kam auf die Schaukel zugeschlendert. Sie deutete auf ihre Bluse. »Sieh uns nur an! Wie Zwillinge!«

Als die Frau in der schwarzen Lederkluft nah genug herangekommen war, flüchtete Nella in die Küche. Rose blieb zurück und umklammerte die rostigen Metallketten der Schaukel.

»Schau nicht so verängstigt, Liebes! Ich bin deine Tante Lily!«

Diese Frau, wer immer sie auch sein mochte, lachte von einem Ohr zum anderen und entblößte all ihre schimmernden perfekten weißen Zähne. Konnte Rose tatsächlich verwandt sein mit jemandem, der so … schön war? Die Frau sah eher wie ein Model aus als wie eine Tante.

Rose kramte in Gedanken nach dem Bild der Familie Glyck, das sie in der dritten Klasse einmal für ein Ahnenforschungsprojekt entworfen hatte – es war ein querformatiges, sehr breites Poster aus Tonkarton, auf den sie die Namen von sich und ihren Geschwistern gemalt hatte. Pimpinella, Basilikum, Rosmarin, Thymian und darüber die Namen ihrer Eltern: Albert Hogswaddle, Polly Glyck. Ihre Tanten und Onkel: väterlicherseits waren da Tante Alice, Tante Janine und der wunderliche Onkel Lewis. Mütterlicherseits: niemand. Es gab keine Lily. Der Name kam ihr zwar bekannt vor, doch Rose konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang sie ihn schon einmal gehört hatte.

»Ist deine Mutter da?«, fragte Lily. »Ach, ich hoffe, dass ich nicht ungelegen komme! Die gute alte Polly Glyck hat mir so gefehlt!«

Rose antwortete zurückhaltend. »Meine Mutter hat mir nie erzählt, dass sie eine jüngere Schwester hat.«

Lily lachte wieder und warf dabei den Kopf zurück. »Natürlich nicht!«

Rose musste wohl verblüfft dreingeblickt haben. »Ich bin nicht deine richtige Tante, Liebes«, sagte Lily. »Der Urururgroßvater deiner Mutter, Filbert Glyck, hatte einen Bruder namens Albatross. Der war mein Urururgroßvater, daher sind wir so was wie … Cousinen um fünf Ecken! Aber Tante Lily klingt doch einfach so nett, findest du nicht?«

Rose stellte sich den Stammbaum ihrer Familie erneut vor und versuchte sich zu erinnern, ob es da irgendwelche Albatrosse oder Filberts gab, doch der Stammbaum verwandelte sich in ihrem Kopf in ein verschlungenes, undurchdringliches Dickicht.

»Kurz und gut, wie ich gehört habe, hat meine liebe Polly ein Baby bekommen! Und eine Bäckerei eröffnet!«

»Vier Babys«, sagte Rose und hielt die Hand schützend gegen die blendende Sonne vor die Augen.

»Tja! Da komme ich wohl ein bisschen zu spät!«

Lily schlenderte zu ihrem Motorrad zurück und fing an, sich die Handschuhe, Finger um Finger, auszuziehen. »Du musst wissen, dass ich ebenfalls Bäckerin bin! Man hat sogar ein Rezeptbuch von mir veröffentlicht – na gut, ich habe es im Eigenverlag herausgebracht. Aber das spielt ja keine Rolle! Ich habe sogar ein paar Monate lang eine eigene Radiosendung gehabt, Lilys Kochlöffel! Sicher hast du davon gehört!«

Rose hatte noch nie etwas von einer Radiosendung namens Lilys Kochlöffel gehört, doch plötzlich fiel ihr ein, wo sie den Namen Lily schon mal gehört hatte. Es lag einige Jahre zurück. Eines Abends nach dem Essen half Rose ihrem Vater beim Abräumen des Tisches, als Polly einen Anruf entgegennahm. Es war die Art von Telefongespräch, bei dem Polly nicht viel redete, sondern sich nur stumm an die Anrichte lehnte und die Telefonschnur immer wieder um den Finger wickelte.

Als sie auflegte, starrten Rose und Albert sie erwartungsvoll an.

»Das war Lily«, sagte Polly. Albert riss die Augen auf. »Sie hat uns ausfindig gemacht. Sie will uns besuchen.«

Albert zuckte zusammen. »Du hast doch nein gesagt, oder?«

»Natürlich«, sagte Polly und ging nach oben.

Rose kam wieder in die Gegenwart zurück, ging zu Lily hinüber und tippte ihr auf die Schulter. »Wenn ich es recht überlege, habe ich doch schon von dir gehört. Meine Mutter hat vor einiger Zeit mit dir telefoniert. Sie wollte nicht, dass du zu Besuch kommst«, sagte sie mit heftig klopfendem Herzen. »Warum wollte sie nicht, dass du uns besuchst?«

Lily zog die Brauen hoch. »Vor langer Zeit hatte mein Urururgroßvater Albatross einen schlimmen Streit mit deinem Ururururgroßvater Filbert. Deshalb will Polly nichts mehr mit mir zu tun haben, was sooo schade ist. Ich bin also hergekommen, um das alte Kriegsbeil zu begraben!«

»Du meinst … um eingerissene Brücken wieder aufzubauen?«, sagte Rose.

»Genau!« Lily lächelte. »Hör mal, Süße, ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich bin eine Art Cousine von dir! Oder Tante! Kommt aufs Gleiche raus! Ich habe das Familienmuttermal, um es zu beweisen!«

Lily drehte sich um, zog hinten am Rücken die Bluse nach unten und enthüllte ihr Schulterblatt, das so elegant wie ein Engelsflügel war. Rose sah genau hin und entdeckte das seltsame Muttermal, ein Klecks mit einem langen dunklen Griff nach unten, der in einem Haken endete.

Rose hatte genau so eines am Bein. Nella hatte eines am Hals. Polly hatte eines am Arm. Tymo und Basil hatten jeder eines auf dem Bauch. Sie hatten es alle.

»Siehst du, Süße?«

Basil kam aus der Küche gerannt, um sich den schwarzen Stier anzusehen, der in ihrer Einfahrt gelandet war. Er sah das Muttermal auf Lilys Schulter und rief: »Du hast den Kochlöffel!«

Lily fuhr herum und versuchte, den schweren Basil mit den Armen aufzufangen und hochzuheben, doch dann überlegte sie es sich anders und setzte ihn schnell wieder ab. »Du musst auch ein kleiner Glyck sein!«

Basil kicherte und wand sich. »Basilikum, genannt Basil. Und wer bist du?«

Lily legte ihm einen Finger auf die Nase und rieb hin und her. »Ich bin deine Tante Lily!«, sagte sie und machte einen schwungvollen Knicks. »Und ich möchte in den Schoß der Familie zurückkehren!«

Kapitel 4

Tante Lily legt los

»Meine Mutter ist nicht da«, sagte Rose und zupfte an ihrer Bluse herum.

Tante Lily ging zu ihrem Motorrad und schnallte einen kleinen Handkoffer aus Tweed los, außerdem eine kleinere Reisetasche, die wie ein dickes Holzscheit aussah und aus scharlachrotem Knautschsamt war, der ständig die Farbe wechselte, je nachdem, aus welcher Richtung man hinsah.

»Das sieht ja so aus, als ob ich genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen bin, Rose!«, sagte Lily. »Es gibt doch keine bessere Möglichkeit, meine gute Absicht zu beweisen, als in der Abwesenheit von Polly und Albert ihren Kindern zu helfen.«

Rose fand, dass die Geschichte bestenfalls etwas verdächtig klang. Sie betete, dass ihre Eltern unvermutet wieder auftauchen würden, weil sie ihre Unterwäsche vergessen hätten oder irgendetwas.

Aber es tauchte niemand auf.

»Vielleicht solltest du lieber noch mal kommen, wenn meine Eltern wieder da sind.«

Lily machte ein Gesicht wie ein zu Unrecht gescholtener Hund. »Ich dachte, ich könnte mit anpacken. In der Bäckerei.« Mit spitzen Fingern hob sie ihren Koffer und die Reisetasche auf und schnallte beides wieder auf das Motorrad. »Aber ich merke schon, du willst lieber, dass ich wieder gehe.«

»Neeeeiiiin!«, kreischte Basil. »Rose, was tust du da? Du kannst doch ein Familienmitglied nicht wegschicken! Sie hat doch den Kochlöffel!«

Rose blickte zu der glamourösen Starbäckerin, die ihr anbot, eine Woche lang zu helfen. Dann sah sie zu Basil, ihrem einzigen Küchenjungen, der genau diesen Augenblick gewählt hatte, um sich in der Nase zu bohren. Allein würde die Arbeit für sie und Chip in dieser Woche zu viel werden, und sie hatte das Gefühl, dass Tymo und Basil und Nella nicht gewillt waren, Aufgaben zu übernehmen. Abgesehen davon, diese Frau hatte etwas an sich, das es Rose schwermachte, den Blick von ihr zu wenden – auch wenn sie durchaus ein bisschen zwielichtig erschien.

»Warte!«, rief sie Lily nach. »Also … wir könnten tatsächlich Hilfe brauchen.«

»Jipppieee!«, rief Lily. »Ich weiß schon genau, was wir uns heute zum Abendessen machen!«

Was wir uns heute zum Abendessen machen.

Rose musste einfach überglücklich feststellen: Tante Lily hatte wir gesagt.