Die Glücksbäckerei – Die magische Rettung - Kathryn Littlewood - E-Book

Die Glücksbäckerei – Die magische Rettung E-Book

Kathryn Littlewood

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Beschreibung

Der fulminante fünfte Band der zauberhaften Bestsellerserie – voller Humor, Herz und magischer Süßigkeiten! Rose und ihre Familie haben ein Geheimnis. In ihrer Glücksbäckerei backen sie mit Hilfe des alten Familienbackbuchs magische Kuchen, Törtchen und Plätzchen. Tante Lily ist entführt worden! Klar, dass sich Rose mit ihren Brüdern sowie Katz und Maus sofort auf den Weg macht, Lily zu befreien. Getarnt als Boygroup »No Direction« schaffen die Glücksbäcker es, sich in das von Graf Caruso beherrschte Fürstentum einzuschleusen, wo Lily bei Wasser und Pumpernickelmuffins im Kerker schmort. Doch bevor Meisterbäckerin Rose mit Hilfe von magischen Seht-mich-nicht-Knoten nicht nur Lily, sondern das komplette von Caruso unterdrückte Fürstentum befreien kann, müssen sie und ihre Brüder erst einmal vor ausverkauftem Hause einen »No Direction«-Auftritt meistern. Zum Glück gibt es Singwerkekse und eine echt geniale Show-Idee. Alle Bände über ›Die Glücksbäckerei‹: Band 1: Das magische Rezeptbuch Band 2: Die magische Prüfung Band 3: Die magische Verschwörung Band 4: Die magische Verwandlung Band 5: Die magische Rettung Band 6: Die magische Zeit Band 7: Das magische Fest Band 8: Die magische Schule Weitere Bände sind in Vorbereitung! Serie bei Antolin gelistet

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Kathryn Littlewood

Die Glücksbäckerei

Die magische Rettung

Aus dem Amerikanischen von Eva Riekert

Mit Vignetten von Eva Schöffmann-Davidov

FISCHER E-Books

 

Inhalt

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Epilog

Für Teddy und Michael, die zwei Meisterbäcker

Prolog

Die erste Plage: Zuckerschnee

Rosmarin Glyck fror erbärmlich.

Schlamm schmatzte zwischen ihren Zehen, und das eisige Wasser des Ryder River schwappte in kleinen Strudeln um ihre Taille. Es war noch dunkel so früh am Morgen, und der einzige Lichtstrahl kam vom Scheinwerfer eines Mopeds, das am Ufer parkte.

Nebel wirbelte an ihr vorbei wie ein vom Wind getriebener Schwarm weißer Vögel. Die Nebelschicht über dem Fluss war bekanntermaßen unberechenbar, daher hielt Rose die Luft an und wartete. Unter den linken Arm hatte sie ein blaues Einmachglas geklemmt. Mit der rechten Hand umklammerte sie den Deckel, bereit, ihn über das Glas zu stülpen.

Im idealen Moment – als die Nebelwirbel zusammenzufallen drohten – holte sie mit dem Gefäß aus. Der Nebel verfing sich in dem blauen Einmachglas, versuchte wieder zu entwischen, doch sie klappte schnell den Deckel darüber und schraubte ihn zu. Der Nebel im Glas formte sich zu einer kleinen Wolke.

»War das jetzt das Letzte?«, fragte Devin vom Ufer.

Rose hielt das Gefäß in den Lichtstrahl des Scheinwerfers. »Jep! Das ist wahrscheinlich mehr als genug. Aber man kann von einer Zutat nie genug in Reserve haben.«

»So spricht eine wahre Meisterbäckerin.« Devin Stetson stand unter dem Laubdach der dunklen Bäume bei seinem Moped. Seine schwarzen Shorts und der Saum seines T-Shirts mit dem Logo des Chores aus Calamity Falls waren völlig durchnässt. Er rückte die anderen drei Gläser, die sie schon mit Flussnebel gefüllt hatten, in dem Lenkerkorb am Moped zurecht und sicherte sie mit Spanngurten.

Selbst in dem trüben Licht sah Devin umwerfend aus. Seine blonden Haare, die bisher ziemlich lang gewesen waren, trug er jetzt über den Ohren kurzgeschoren, und nur auf dem Oberkopf waren sie noch etwas länger. Der neue Haarschnitt ließ ihn irgendwie älter und reifer aussehen. Dabei war er erst dreizehn, genau wie Rose, fühlte sich aber erwachsen genug, um Rose dabei zu unterstützen, eine italienische Festung zu stürmen und ihre entführte Tante zu retten.

Devin half Rose aus dem Wasser, und während sie sich abtrocknete, stellte er das letzte Glas in den Lenkerkorb. »Schon irgendwie abartig«, sagte er grübelnd. »Sollte sich dieser Nebel nicht als Wasser am Glas niederschlagen? Warum tut er das nicht …« Er fing Roses Blick auf und verstummte.

»Magie«, sagten sie beide gleichzeitig, und Rose musste lächeln.

Devin versuchte, sich die Haare aus den blauen Augen zu schütteln – dann fiel ihm ein, dass er ja keine Ponyfransen mehr hatte. »Muss mich immer noch an all das gewöhnen«, sagte er. »Es ist nicht wie bei mechanischen Sachen. Mechanik hat Regeln, die logisch sind.«

»Magie hat auch Regeln!« Rose stopfte das feuchte Handtuch in ihren Rucksack, schwang ihn sich auf den Rücken und schlüpfte in ihre Sandalen. Als sie sich hinter Devin auf den Mopedsitz fallen ließ, fügte sie hinzu: »Sie haben eine ganz andere Logik, aber ich könnte wetten, dass du in null Komma nichts dahinterkommst.«

»Schon möglich!« Devin reichte Rose den zweiten Helm, den sie extra für sie gekauft hatten. »Aber nur, weil du eine so tolle Lehrerin bist.«

Sie waren jetzt offiziell zusammen, aber das war noch eine so neue Sache, dass Roses Herz jedes Mal zu zerspringen drohte, wenn sie so nahe bei Devin war. Sie schlang die Arme um seine Taille, und sie fuhren zurück auf die verschlafenen Straßen von Calamity Falls. Ende August war es morgens schon angenehm warm, so dass Roses Sachen trockneten, noch ehe sie die Hauptstraße erreichten.

»Wozu brauchst du den Nebel überhaupt?«, rief Devin durch das Knattern des Motors.

»Für Millionen Sachen«, erwiderte Rose. »Für die meisten Rezepte aus dem Backbuch braucht man Wasser, und am besten nimmt man Zauberwasser. Du weißt schon, Wasser aus einem Jungbrunnen oder die Tränen eines Clowns. Das zweitbeste Wasser ist jedoch das, was vergessen hat, dass es mal Wasser war, wie dieser Nebel hier. Der hat eine ganz andere Magie.«

»Jungbrunnenwasser?« Devin schnaubte. »Das soll es geben?«

Rose lehnte sich an seinen Rücken. »Genau weiß ich es auch nicht. Ist vielleicht nur ein Märchen.«

Statt zu antworten, hielt Devin mitten auf der Hauptstraße an. Alle Geschäfte – Borzinis Nussladen, das Blumengeschäft, das Französische Bistro an der Ecke – waren noch geschlossen. Die Schaufenster waren dunkel, die Rollgitter unten.

»Stimmt was nicht?«, fragte Rose.

Devin deutete auf etwas über der Spitze des kleinen Eiffelturm-Nachbaus auf dem Dach von Pierre Guillaumes Bistro. Rose kniff die Augen zusammen und folgte seinem Fingerzeig.

Ein kleiner weißer Fleck flatterte aus dem dunklen Himmel herab.

Eine Schneeflocke.

»Schnee?«, sagte Rose. »Im Sommer?«

Dann, während Rose und Devin weiter zusahen, flatterte noch eine Flocke herab und landete in dem Brunnen, der mitten auf dem Marktplatz stand. Dann rieselten weitere und immer mehr, bis schließlich ein ganzes Schneegestöber herunterkam. Es war, als ob Calamity Falls sich mitten in einer Schneekugel befand, die jemand heftig geschüttelt hatte.

Es gab nur ein Problem: Die Luft war warm.

»Wie kann das sein?«, fragte Devin und schlug nach den vorbeischwebenden Flocken. »Wir haben Ende August! Wie kann es da schneien?«

Und wieder sagten Rose und Devin gleichzeitig: »Magie.«

Rose legte den Kopf zurück und sperrte den Mund auf. Ein paar der weißen Flocken fielen ihr auf die Zunge und schmolzen. Sie schmeckten … warm und leicht klebrig.

Und süß.

»Das ist kein Schnee«, sagte Rose. »Das ist Puderzucker!« Sie prüfte, ob ihr Helm noch festsaß, und klammerte sich wieder an Devins Taille. »Fahr mich nach Hause – schnell! Hier geht was nicht mit rechten Dingen zu. Das gefällt mir gar nicht!«

»Halt dich fest.« Devin ließ den Motor aufheulen, und sie rasten die Straße entlang.

Ehe sie die Glücksbäckerei erreicht hatten, wurde aus dem Puderzuckerschauer ein regelrechter Schneesturm. Im Nu waren die Rasenflächen, Dächer und Bäume der Stadt wie mit weißen Tüchern verhüllt. Die Autos am Straßenrand sahen wie große Muffins mit Zuckerguss aus.

Schmutziger Zuckermatsch spritzte von den Mopedreifen hoch in die Luft, als Devin bremste und anhielt. Er sprang ab und rüttelte Rose am Arm; sie konnte ihn gerade noch als Umriss erkennen, wie er wild auf das Gebäude vor ihnen deutete.

Halb blind packten Rose und Devin die Gläser mit dem Nebel und wateten durch knietiefe Puderzuckerwehen auf die Tür der Glücksbäckerei zu. Oder besser gesagt, auf einen Teil der Tür. Denn der Zucker türmte sich fast bis an die Messingklinke hoch.

Devin kickte die weißen Massen weg, und die beiden stürzten unter heftigem Gebimmel durch die Tür. Rose, die einen Hustenanfall bekam, stieß die Tür mit einem Hüftschwung zu, dann stellte sie die Gläser und ihren Helm auf einen der Bistrotische des Café-Bereichs, um sich das süße Pulver aus dem Gesicht und den Haaren zu wischen.

»Das ist verrückt!«, stieß Devin hervor und legte seinen Helm neben den von Rose. Sie gab ihm ein Zeichen, still zu sein, und zeigte zur Treppe – die Bäckerei befand sich im Erdgeschoss des Wohnhauses der Familie Glyck, und alle schliefen noch. Devin deutete auf die Fenster und sagte leiser: »Zucker kann einen Motor kaputt machen. Und wenn Zucker nass wird, dann verklebt er alles.«

Rose sah ebenfalls aus dem großen Schaufenster in den schwachen Schein der verschleierten Straßenlaternen und auf die wachsenden Berge von Weiß. Man hätte das da draußen leicht für eine verwunschene Schneelandschaft halten können. Sie leckte sich über die Lippen und schmeckte Zucker.

»Du hast recht. Das Zeug mag ja vielleicht ganz lecker sein«, stimmte sie Devin zu, »aber es kann zu einem großen Problem werden. Und zu einer Gefahr.«

Devin ergriff alle vier Gläser mit Morgennebel und stieß die Schwingtüren in die Backstube auf. Rose folgte ihm.

»Und ich weiß auch, was – oder besser gesagt: wer – ebenfalls eine riesengroße Gefahr ist«, sagte Devin und stellte die Gläser auf dem ausladenden Küchenblock ab. »Dieser Graf-Caruso-Typ. Was immer da draußen gerade passiert – er hat seine Finger im Spiel.«

»Schon möglich«, sagte Rose. »Danke, Devin. Du warst mir echt eine große Hilfe beim Zusammensuchen der Zutaten. Jetzt habe ich alles, was ich für die Reise zur Rettung meiner Tante benötige.«

Devin verschränkte die Arme. »Ich kann dir eine noch viel größere Hilfe sein, wenn du mich mitnimmst nach Italien, Rose. Ich kann dich beschützen.«

Graf Caruso war ein niederträchtiger Mann mit einem verfaulten Zahn und einer noch viel fauligeren Gesinnung. In Washington D.C. war er an einer geheimen Mission zur Eroberung der Weltherrschaft beteiligt gewesen – doch dann hatte er sich von seinen Mitstreitern, der intriganten Internationalen Nudelholzgesellschaft, abgesetzt und versucht, selbst der Herrscher der Welt zu werden. Mit der Hilfe ihrer Familie und Devin hatte Rose Caruso Einhalt geboten – aber leider war bei der Aktion ihre Tante Lily entführt worden. Sie wurde jetzt von Graf Caruso im Turm einer Festung gefangen gehalten.

Devin war in Washington D.C. wirklich eine große Hilfe gewesen. Aber sosehr er Rose auch beschützen wollte – es war doch immer sie gewesen, die ihn beschützt hatte.

Rose stellte ihren Rucksack in die Frühstücksecke der Backstube und seufzte. »Darüber haben wir doch schon geredet. Deine Eltern werden dich nicht mitfahren lassen, und ich bin nicht bereit, einen Beschwatz-mich-Bagel zu backen, damit sie es sich anders überlegen, egal, wir oft du mich darum bittest. Du weißt doch noch, was die Vergesslichkeitskrapfen mit Chip und Mrs Carlson angestellt haben, oder? Nach dieser Sache habe ich mir geschworen, solche Art von magischer Psychokontrolle nicht mehr anzuwenden.«

Rose streckte die Hand aus, um Devin die letzten Zuckerstäubchen von der Wange zu wischen. »Außerdem kennst du mich doch. Ich brauche nicht beschützt zu werden.«

Aus dem dunklen Laden vorne kam die unbekannte Stimme einer Frau. »Bist du dir da sicher?«

Instinktiv hielt Rose sich an Devin fest. Zusammen schlichen sie zurück durch die Schwingtür in den Café-Bereich. Dort entdeckten sie, dass zwei Frauen an einem der runden Bistrotische saßen. Rose war sicher, dass die beiden eben noch nicht dort gesessen hatten.

Beide Frauen waren in schmale, zugeknöpfte schwarze Mäntel und Lederhandschuhe gekleidet und trugen breitkrempige Hüte. Eine war groß und schlank wie ein Lollipop mit einem langen Stiel. Die andere war das Gegenteil: klein und rund wie ein Drops. Die Große lächelte, ohne dass das Lächeln ihre Augen erreichte. Die Kleinere machte ein Gesicht, als habe sie was Saures gegessen.

»Tut mir leid, aber die Bäckerei ist noch geschlossen«, sagte Rose, auch wenn sie das unheimliche Gefühl hatte, dass diese Frauen nicht zum Kuchenkaufen gekommen waren.

Die Finger der kleinen Frau bewegten sich, denn sie faltete konzentriert ein gelbes Stück Papier. Erfreut über ihren Erfolg hielt sie ihr kleines Werk hoch und sagte: »Eine Rose für Rose.« Vorsichtig legte sie die Origami-Blume auf den Tisch.

»Woher wissen Sie, wie sie heißt?«, fragte Devin und trat vor, wie um Rose zu beschützen.

»Jeder kennt Rosmarin Glyck«, krächzte die kleine Frau. »Sie ist weltberühmt! Vielleicht hat sie uns deshalb warten lassen – tz, tz!«

Die Dünnere der beiden schlug der anderen scherzhaft auf die Schulter. »Wundert euch nicht über meine eineiige Zwillingsschwester. Sie redet zu viel.« Sie stand auf und überragte Rose und Devin. »Ich bin Louann Leatherhead.«

»Und ich bin Suzanne Leatherhead«, sagte die Sitzende.

»Äh, eineiige Zwillinge?«, fragte Devin, und seine Blicke schossen zwischen den ganz und gar ungleichen Schwestern hin und her.

»Natürlich wollt ihr wissen, wie ihr uns auseinanderhalten könnt«, sagte Suzanne, zwischen deren Fingern jetzt eine kleine weiße Karte auftauchte. »Merkt euch einfach, ich, Suzanne, liebe die alte Kunst des Origami.« Rasch faltete sie die Ecken des Kärtchens um.

»Schluss mit den Papiertricks!« Louann riss ihrer Schwester die Papierrose weg und glättete das Kärtchen zwischen den Händen. »Es wäre mir eine ungeheure Freude, wenn du unsere Kontaktdaten annehmen würdest.« Sie streckte Rose die zerknitterte Karte hin, und Rose nahm sie entgegen.

»Wir sind Repräsentantinnen der Internationalen Nudelholzgesellschaft, und wir sind gekommen, um die Auslieferung deiner Tante Lily Le Fay zu fordern!«

Natürlich, diese verrückten Frauen mussten ja zur Nudelholzgesellschaft gehören. Ha, von Rose würden sie den Aufenthaltsort von Lily keinesfalls erfahren, egal, was sie androhten.

»Wir haben Lily nicht«, erwiderte Rose, »und wir wissen nicht, wo sie ist.«

»Wozu brauchen Sie Lily Le Fay denn überhaupt?«, fragte Devin. »Sie hat die Nudelholzgesellschaft doch ordentlich ausgetrickst, oder nicht?«

»Das geht ausschließlich uns etwas an«, knurrte Louann, »und nicht euch. Ihr müsst nur das eine wissen: Wir wollen sie zurückhaben – und zwar schnell.«

»Vor Halloween!«, warf Suzanne mit erhobenem Finger ein.

»Warum ausgerechnet vor Halloween?«, fragte Rose.  

Louann warf ihrer Schwester einen finsteren Blick zu und räusperte sich. »Das tut nichts zur Sache.«

Suzannes Doppelkinn wabbelte, als sie nickte. »Genau! Denkt auf keinen Fall, es hätte etwas damit zu tun, dass das die Zeit ist, in der die Kinder die meisten Süßigkeiten essen.«

»Sei still, Suzanne!« Lächelnd stellte sich Louann vor den Tisch und verdeckte ihre Schwester. »Wie ich sagte, Lily hat etwas, das der Nudelholzgesellschaft gehört, und das muss zurückgegeben werden.«

»Aber wir haben sie nicht!«, hielt Rose ihr entgegen.

»Dann musst du sie finden«, sagte Louann mit drohendem Ton. »Und zwar schnell. Denn bis ihr sie gefunden habt, wird die Nudelholzgesellschaft eure putzige kleine Stadt mit sieben süßen Plagen strafen.«

Devin trat ans Fenster und sah hinaus. Inzwischen reichte der Puderzucker bis zur Hälfte der Fenster. »Sind Plagen nicht so was wie Heuschreckenschwärme und grausame Krankheiten?«

»In unserem Fall nicht.« Louann rückte ihren Hut zurecht. »Dieses Zuckergestöber ist erst der Anfang. Jede Woche wird Calamity Falls von einer neuen Plage heimgesucht – bis ihr uns Lily Le Fay bringt. Ich an eurer Stelle würde schnell handeln. Was als Nächstes kommt, wollt ihr lieber gar nicht wissen.« Sie eilte auf die Tür zu und zischte: »Komm schon, Suzanne!«

Die gedrungene Suzanne sprang auf und watschelte ihrer Schwester entengleich hinterher.

Ehe sie den Türknopf drehte, wandte sich Louann noch mal um und blickte zu Rose und Devin zurück. »Ach ja, Rose, noch etwas. Du solltest den Eltern dieses Jungen auf jeden Fall diesen Beschwatz-mich-Bagel verabreichen. Was ist schon gegen ein bisschen magische Psychokontrolle einzuwenden, wenn sie dir hilft, die Aufgabe zu erledigen?«

Und dann, mit dem Gebimmel der Türglocke und einem Wirbel Zucker, der vom Wind hereingeweht wurde, verschwanden die beiden Frauen in die weiße Dunkelheit nach draußen.

Devin stand am Fenster und beobachtete, wie sie hinter dem Schleier des fallenden Zuckers verblassten. »Was machen wir jetzt?«, fragte er.

Rose musterte die Visitenkarte der Leatherhead-Schwestern, zerknüllte sie und warf sie in den Papierkorb. Dann ging sie um die Kuchenvitrine herum, tippte auf eine Taste der Kasse und ließ mit einem Pling! die Geldschublade herausschnellen. Unter dem Fach mit den Münzen und Scheinen fand sie, wonach sie suchte: ebenfalls eine Visitenkarte, die inzwischen zur Sicherheit laminiert war und auf der Kathy Keegan stand.

Sie hielt die Karte hoch, damit Devin sie sehen konnte, und sagte: »Wir rufen Hilfe.«

Kapitel 1

Willkommen in San Caruso – bleibt weg!

»Häppchen?«

Roses Ururururgroßvater Balthasar warf einen Blick auf das Tablett mit Köstlichkeiten, das der Steward des Privatjets ihm hinhielt. »Nichts dagegen, Jimmy. Sag dem Koch, er soll ruhig weiter auftischen.«

Ein Tag nachdem das unerwartete Zuckergestöber Calamity Falls eingehüllt hatte, befanden sich Rose, ihr Ururururgroßvater, ihre Brüder und Devin zehntausend Meter über dem Atlantik in einem Privatjet, der Kathy Keegan, der Chefin des Keegan Konzerns, höchstpersönlich gehörte.

Rose hatte die berühmte Meisterbäckerin im Frühsommer kennengelernt, nachdem sie Kathy und ihren Backwarenkonzern vor den hinterhältigen Plänen der Internationalen Nudelholzgesellschaft gerettet hatte. Kathy hatte versprochen, Rose zu helfen, wann immer es nötig sein sollte – und nun hatte sich herausgestellt, dass die Telefonnummer einer Multimillionärin eine größere Hilfe war, als Rose sich jemals hätte vorstellen können.

Draußen vor den Fenstern des Fliegers sahen sie flauschige Wolken, und tief unter ihnen lag der Ozean, aber das waren die einzigen Anzeichen, dass sie nicht einfach in einer schicken, aber gemütlichen Villa saßen. »Dieses Flugzeug ist unglaublich«, sagte Rose zu Balthasar, der sich geräuschvoll über ein zurechtgeschnitztes Möhrenstückchen hermachte.

»Man sollte immer mit einem Privatjet fliegen, Rosie«, erwiderte er. Obwohl er sonst ganz bescheiden war, hatte sich Großvater Balthasar ziemlich daran gewöhnt, stilvoll durch die Welt zu reisen, und er lehnte sich in die weichen Kissen zurück und seufzte. Er war 127 Jahre alt, wenn er auch keinen Tag älter als 73 aussah. Deswegen wollte er auch nur Großvater genannt werden und verbat sich das »Urururur«.

»Jetzt zeig mal, was du auf den Hüften hast, Rosie.«

»Was?«, sagte Rose.

»Deine Hüfttasche.« Balthasar deutete auf die quietschgrüne Nylontasche mit Reißverschluss, die auf Roses Schoß lag und zurzeit leer war.

»Die gehört Mom«, sagte Rose entschuldigend. »Ich würde nie mit ’ner Hüfttasche rumlaufen – die sind doch total uncool.«

»Uncool oder nicht, du wirst ja wohl nicht ständig den Kasten mitschleppen wollen.« Im Gang stand aufgeklappt Roses buttergelbe Kiste mit Kuriositäten – der Behälter, in dem sie all ihre Zauberzutaten verstaut hatte. Er war so groß wie Rose selbst. Balthasar fuhr fort: »Du musst also von den wirkungsvollsten Zutaten aus deinem Arsenal ein paar Prisen mitnehmen. Das hier zum Beispiel.«

Balthasar zog ein Reagenzglas aus der Kiste, das aussah, als sei es mit zerstoßenen Federn gefüllt. »Ah. Wind unter den Flügeln.« Er nahm den Korken ab und füllte etwas davon in ein fingerhutgroßes Tütchen, das Rose dann in ihrer Hüfttasche verstaute.

»Das ist nicht nur gut für Windige Windbeutel«, sagte Balthasar. »Es passt auch gut in Soßen.« Balthasar stellte das Reagenzglas in Roses Kiste zurück, dann zog er ein weiteres heraus, in dem eine silbrige Flüssigkeit glitzerte. »Sylphentränen. Sylphen sind Luftgeister, sehr hilfreich … Die Tränen nehmen wir mit.«

Rose versuchte zu helfen, während Balthasar ihr die Zutaten zusammenstellte, doch die Hüfttasche auf ihrem Schoß erinnerte sie an ihre Mutter und daran, dass ihre Eltern nicht mit im Flugzeug saßen. Stattdessen waren sie zu Hause und versuchten, ihre Heimatstadt zu retten. Kathy Keegan hatte ihnen zwar eine Flotte von Schneepflügen und Kipplastern geschickt, um den Zucker, der ganz Calamity Falls bedeckte und verklebte, zusammenzufegen und abzutransportieren, außerdem einen Trupp von zwanzig Hilfskräften, die mit Schläuchen und Schrubbern bewaffnet anpackten und halfen. Aber Rose hatte dennoch das Gefühl, dass sie eigentlich dort gebraucht wurde und nicht hier sein sollte, zehntausend Meter über der Erde bei dieser aussichtslosen Mission, ihre verschwundene Tante zu suchen.

Das hatte sie auch Kathy Keegan gegenüber geäußert, als sie sie um Hilfe angerufen hatte.

»Du musst an dich glauben, Rose«, war Kathy Keegans Antwort gewesen. »Du hast so viel erreicht, obwohl du doch noch so jung bist! Denk daran, eine Meisterbäckerin ist nichts ohne ihr Team. Deshalb der Zusatz ›Meister‹: Du bist jetzt das Vorbild für andere – in der Backstube und im Leben. Wenn du denen vertraust, die dir helfen, dann vertrauen sie im Gegenzug dir.«

Kathy Keegans weise Worte hatten ihr geholfen, aber nach jeder Meile, mit der sie San Caruso näher kamen, wurde Rose innerlich nervöser. »Wenn Mom und Dad doch nur hätten mitkommen können«, sagte sie, während sie sich in dem Sofa umdrehte, um wieder hinaus zu den Wolken zu blicken.

»Die Leute in der Stadt brauchen sie«, antwortete Balthasar, »vor allem, weil weitere Plagen dieser Art angekündigt sind.«

»Und sie müssen zu Hause bleiben und Nella beschützen, ich weiß.« Am meisten fehlte Rose ihre kleine vierjährige Schwester. »Wenigstens hast du es rechtzeitig geschafft, aus Mexiko zu kommen, um uns zu helfen, Großvater. Ich glaube nicht, dass ich es allein schaffen würde.« Rose schnallte sich die inzwischen gefüllte Hüfttasche um und zog ihr T-Shirt darüber, um sie zu bedecken. »Das fühlt sich komisch an.«

»Sieht auch komisch aus«, pflichtete Balthasar ihr bei.

Jemand prustete los. Rose sah ihren zehnjährigen Bruder Basil am Eingang zum Speiseraum des Jets stehen. Seine Wangen waren beinahe so rot wie seine Haare. »Rose, dein Bauch sieht fast so rund aus wie der von Großvater!«

»Keine Scherze über meinen Bauch«, grummelte Balthasar und tätschelte sich den Wanst.

Hinter Basil tauchte Roses älterer Bruder Tymo auf. Mit sechzehn war er der älteste der Glyck-Kinder und von Natur aus cool. Er hatte sich für die Europareise einen neuen Haarschnitt zugelegt und seine Haare jetzt mit Gel auf der Kopfmitte zu einem Kamm hochgebürstet. Rose fand, dass er wie ein Delphin mit einer feuerroten Rückenflosse aussah.

Tymo drängte sich an Basil vorbei und ließ sich gegenüber von Rose und Großvater auf ein Sofa fallen. »So sollte das Leben immer aussehen, was? Privatjets, Gourmetspeisen und mittendrin ich, frisch getrennt von all meinen amerikanischen Freundinnen und bereit, in Italien die wahre passione zu finden – das ist der italienische Ausdruck für pasión, was Spanisch ist und Leidenschaft heißt.« Tymo setze sich eine Sonnenbrille auf. »Hört auf mich! Ich bin quasi schon ein internationaler Superstar!«

»Träum weiter, Bruderherz!«, krähte Basil und ließ sich in einen Sessel fallen.

»Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren«, fing Rose an, doch da tauchte Devins blonder Kopf unter der Tür auf, und sie vergaß, was sie hatte sagen wollen.

»Hey, der Steward sagt, dass der Flieger demnächst landet.« Devin lächelte, als er sich hinsetzte und Rose den Arm um die Schulter legte. »Ich bin froh, dass du mich nun doch hast mitkommen lassen. Ich bin noch nie geflogen.«

»Ich bin froh, dass deine Eltern ja gesagt haben«, erwiderte Rose und ließ zu, dass er sie an sich zog. »Und zwar sogar ganz ohne die Anwendung von Magie.«

Basil griff sich an den Hals. »Kotz«, sagte er. »Kotz, kotz, kotz.«

»Basil hat recht, ihr zwei.« Balthasar erhob sich stöhnend und öffnete die Gepäckablage über den Sitzen, um in seinem Handgepäck zu kramen. »Schluss jetzt mit der Schmuserei. Ihr seid zu jung dafür, und wir haben Arbeit vor uns.«

»Wie sieht denn nun unser Plan aus, hermana?«, wollte Tymo von Rose wissen.

Rose zögerte. Sie hatte viele Ideen, wie Tante Lily gerettet werden konnte, aber eigentlich noch keinen konkreten Plan. Erst mal wollte sie Lily einfach so schnell wie möglich finden.

Alle starrten Rose erwartungsvoll an, und sie löste sich verlegen von Devin. Klar, sie hatte ja schon öfters das Kommando übernommen, aber immer wieder auch so viele Fehler gemacht – so dumme Fehler, die eine richtige Meisterbäckerin nie machen würde. Wenn man es genau nahm, war es ein reiner Glücksfall gewesen, dass sie in Washington D.C. über Graf Caruso triumphiert hatten. Und wieder wünschte Rose ihre Eltern herbei, aber zumindest war Großvater Balthasar bei ihr.

Sie räusperte sich. »Äh … so weit habe ich irgendwie noch gar nicht gedacht.«

»Dann müssen wir improvisieren!«, rief Großvater Balthasar aus. »Wenn unser Flugzeug gelandet ist, finden wir einen Weg, uns in die Stadt San Caruso zu schmuggeln, Tante Lily aufzuspüren und sie rauszuhauen.« Er schüttelte den Kopf. »Egal wie oft du behauptest, dass sie ein neues Leben begonnen hat, ich glaube weiter, dass sie eine intrigante Person ist.«

»Vertrau mir«, sagte Rose. »Tante Lily hat sich geändert. Ganz und gar. Wirst du schon sehen.«

Balthasar grunzte, dann zog er eine Babytrage aus dem Gepäckfach. Er schnallte sie sich um und rief: »Asparagus! Schluss mit dem Dösen! Wir landen gleich!«

Die fehlenden Mitglieder ihres Rettungsteams kamen aus dem Speiseraum herübergetapst. Eines davon war ein grauer Kater. Er hatte die Größe einer Bowlingkugel und gefaltete Ohren, die wie kleine pelzige Tortellini aussahen. Das andere Teammitglied war eine kleine graue Maus, die mit ständig zuckendem Näschen neben dem Kater her hüpfte.

Der Kater, der zwar mit vollem Namen Asparagus hieß, den die Kinder aber nur Gus nannten, schlug verärgert mit dem Schwanz, als er die Babytrage sah. »Das ist ja so unwürdig«, grummelte er mit der Stimme eines snobistischen Engländers. »Muss ich wirklich wie ein Kleinkind herumgetragen werden?«

Die Maus, Jacques, sah zu Gus auf und fragte mit schwerem französischem Akzent: »Würden Sie lieber zu Fuß gehen, Monsieur?«

Gus überlegte, während seine Schnurrhaare zuckten. »Lieber nicht. Ich klettere hinein.«

Beide Tiere hatten einmal Gouda-Geplauder-Gebäck verzehrt und konnten daher sprechen. Da im Leben niemand auf die Idee kam, dass ein Tier spionieren konnte, waren die beiden im Kampf gegen die Nudelholzgesellschaft zu unverzichtbaren Verbündeten geworden.

Während alle die Sicherheitsgurte anlegten und man sich für die Landung in Italien bereitmachte, sah Rose sich um und verstand in der Tat, warum alle – Kathy Keegan eingeschlossen – so zuversichtlich waren, auch wenn das auf sie selbst nicht zutraf. Die Familie Glyck und ihre Freunde hatten bereits mehrere Male die Welt gerettet. Rose war zwar immer noch besorgt darüber, dass ausgerechnet sie das Kommando hatte, aber mit Devin an ihrer Seite und mit Tymo, Basil, Großvater Balthasar, Gus und Jacques zur Unterstützung durfte sie sich vielleicht doch erlauben, ein bisschen zuversichtlicher zu sein.

Erst mal wenigstens.

 

Der Flughafen vor den Toren von San Caruso war winzig – er bestand aus kaum mehr als einem Wartebereich an einem Kontroll-Tower und einem langen Rollfeld.

»Das hier ist Villagio Triste«, wandte Balthasar sich an Rose, während Devin, Tymo und Basil zur Gepäckausgabe gingen. Jacques steckte sicher in Roses Blusentasche und schnarchte leise. »Man kann nicht direkt nach San Caruso fliegen. Wir müssen also an den Grenzposten vorbei und dann über die Brücke.«

»Der Flughafen sieht ja ziemlich verlassen aus«, sagte Rose und sah sich um. Ein oder zwei Geschäftsleute trieben sich rum, sonst war alles leer.

Abgesehen von den No-Direction-Plakaten.

Auf dem Weg zum Ausgang konnten Rose und Balthasar praktisch nicht umhin, die vier riesigen Transparente zu bemerken, die von dem Glasdach über ihnen herabhingen. Jedes Plakat zeigte einen der Boygroup-Mitglieder in einer Nahaufnahme; alle blickten sexy in die Kamera. Da war Zip, der große sensible Typ mit den langen Wimpern und dem geschwungenen Mund. Hunter, der auf Künstler machte mit seiner wilden, bunt gesträhnten Frisur und dem vielsagenden Lächeln. Trevor, der Grüblerische mit dem rätselhaften Blick und den rabenschwarzen Haaren. Und Arnold, der Durchschnittstyp mit seinem schiefen Grinsen und den zu kleinen Augen.

Rose erkannte sie sofort – alle Mädchen aus ihrer Klasse liebten No Direction so sehr, dass viele beim Ansehen der YouTube-Videos Tränen in den Augen hatten.

Und dann glitten die Glastüren auf und sie waren draußen. Ein Schwall salziger Meerluft schlug Rose entgegen.

»Da ist es, Rosie«, sagte Balthasar und deutete geradeaus. »San Caruso.«

Die Kopfsteinpflasterstraße voller Fußgänger und Sportwagen endete an einer schroffen Klippe mit Blick auf das türkisfarbene Mittelmeer, und aus dem Meer erhob sich eine weiße Felseninsel mit moosgrünen Bäumen. Auf der Insel befand sich wahrscheinlich auch eine kleine Stadt, aber jeglicher Blick auf sie wurde von hohen weißen Steinmauern verdeckt, die die Insel umgaben.

Aus dem Mittelpunkt der Insel erhob sich ein hoher Fels, der mit roten Blumen bewachsen war, und auf dessen Gipfel ein phantastisches Märchenschloss stand. Auch dieses Schloss war aus weißen Steinen, obwohl es ein bisschen schmuddelig wirkte, als ob es lange nicht mehr renoviert worden war. Die Schlosstürme liefen in spitze Rundtürmchen aus, deren kegelförmige Dächer vom gleichen Blau waren wie das Meer.

Die Straße vom Flughafen ging an der Küste entlang bis zu einer Brücke, die über das Wasser zu dem Tor führte, das der Eingang zu der Insel sein musste.

»Falls mich meine Erinnerung nicht täuscht, war die Mauer um die Insel noch nicht da, als ich das letzte Mal diese Gegend besuchte«, sagte Balthasar.

Aus der Trage auf seiner Brust sagte Gus: »Und die furchteinflößenden Grenzposten wohl auch nicht.«

Rose hielt gegen die helle Morgensonne schützend die Hand über die Augen und konnte ungenau einen Wachmann erkennen, der dort stand, wo die Straße auf die Brücke führte.

Sie hörte ein Flügelschlagen und erschrak, als etwas auf ihrer Schulter landete und sie ins Ohr pickte. Es war ein grauer Vogel mit einem Bauch so gelb wie die Sonne, und Rose erkannte ihn sofort. Sie hob die Hand, und er landete sachte auf ihrem Finger.

Der Vogel zwitscherte und neigte den Kopf von Seite zu Seite.

»Das ist genau so ein Singvogel wie der, den uns Tante Lily geschickt hat«, sagte Rose. »Glaubst du, dass er uns den ganzen Weg von Calamity Falls gefolgt ist?«

»Das können wir nur auf eine Art rausfinden!« Balthasar trat an einen Zeitungskiosk und verhandelte mit dem Mann hinter der Theke, dann kam er mit einer Plastiktüte halbzerkrümelter Ingwerkekse zurück. Greatcake stand auf dem Päckchen.

»Igitt, Großvater«, sagte Rose. »Hättest du keine bessere Sorte wählen können?«

»Sei still.« Während Balthasar in den Taschen der Babytrage herumkramte, sagte er: »Wir brauchen den kleinen Reisetiegel aus deiner Hüfttasche. Und die Tinktur mit Soprano-Spucke.«

Sie setzten sich auf eine Steinbank, und Rose reichte ihm den Tiegel, ein Gefäß von der Größe einer Teetasse ohne Henkel. Balthasar schüttete den Inhalt mehrerer kleiner Tüten mit Gewürzen hinein – Zimt und Muskat und Paprika, wie Rose den Düften nach annahm – und gab dann eine ganze Phiole Soprano-Spucke dazu. Als die Flüssigkeit auf die Gewürzmischung traf, explodierte sie zu einer kleinen regenbogenfarbenen Wolke. Dabei war ein Geräusch wie ein melodisches Seufzen zu hören.

»Singende Ingwerkekse?«, fragte Rose, als ihr Großvater die Gewürz-Spucke-Mischung in die Tüte mit den krümeligen Keksen kippte. »Damit die innere Stimme des Singvogels ertönt?«

Balthasar nickte und schüttelte die Tüte, bis alle Kekse gleichmäßig mit der Zauberglasur überzogen waren. »Fabrikplätzchen für die Zubereitung der Singwerkekse zu nehmen ist zwar nicht perfekt, aber muss nun halt genügen.«

Der Singvogel wartete geduldig auf Roses Finger, bis die Mischung fertig war.

Dann steckte Rose eine Hand in die Tüte, brach ein kleines Stück von einem Singwerkeks ab und hielt es ihm hin. Der Singvogel pickte dreimal bis der Krümel verschwunden war, dann fing er an, ein verzweifeltes Lied zu singen:

»Nein, nein, nein, nein, neiiin, 

rein, rein, rein, rein, reiiin, 

Nicht rein! Nicht rein! 

Geht nicht! Geht nicht! 

Neiiiin!« 

Die gelbe Brust des Singvogels hob sich aufseufzend, als er das Lied beendete und Rose erwartungsvoll ansah.

Gus brach in seiner Trage in entnervtes Geheul aus: »Was will uns dieses armselige Piepsen, das offenbar ein Lied sein sollte, sagen? Vögel sind ja dermaßen nutzlose Wesen!«

»Er hat sein Bestes versucht.« Rose streichelte den weichen Kopf des Vogels mit dem Finger. »Rein, rein, rein, rein? Vielleicht drängt er uns, uns zu beeilen! Vielleicht ist Lily in größerer Gefahr als zuvor!«

»Oder vielleicht funktioniert es auch deshalb nicht, weil diese Kekse mehr als staubtrocken sind«, sagte Balthasar.

Der Vogel zwitscherte noch einmal, dann flog er von Roses Finger hoch in den Himmel und auf das ferne Inselschloss zu.

»Du solltest den Rest aufbewahren«, sagte Großvater Balthasar und stopfte die restlichen Singwerkekse in Roses geöffnete Hüfttasche. »Bloß keine verzauberten Lebensmittel umkommen lassen.«

Die automatischen Türen hinter ihnen glitten mit leisem Zischen auf, und Devin, Tymo und Basil schoben einen Wagen durch, der bis obenhin voll war mit ihrem Gepäck und Roses Kuriositätenkiste. Jacques hüpfte auf den größten Koffer und wickelte den Schwanz schützend um sich.

Devin stieß einen lauten Pfiff aus. »Das ist also San Caruso, was? Sieht aus wie …«

»Wie ein Themenpark!«, sagte Basil und sprang neben Rose auf die Bank. »Seid ihr sicher, dass es sich wirklich um die gefährliche Festung des Schurken handelt und nicht um Eurodisney?«

»Absolut«, sagte Balthasar und erhob sich. »Hoffen wir mal, dass die Warteschlangen am Eingang nicht so lang sind wie bei einem Disneypark.«

 

Es war kein einziges Taxi zu finden, das bereit war, sie nach San Caruso hineinzubringen – nicht mal bis an den Anfang der Brücke, die über das Wasser zum Stadttor führte.

»Automobile dürfen nicht nach San Caruso hineinfahren, signore«, ließ ein Fahrer Balthasar wissen. »Und auch keine Fahrräder, weder mit zwei, drei oder auch nur mit einem Rad! Nur ganz winzig kleine Muffins dürfen rein, und in einem Muffin kann man ja nicht fahren.«

Nachdem ihnen der fünfzehnte Fahrer eine abschlägige Antwort erteilt hatte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die ganze Strecke bis zur Brücke zu laufen.

Aber je mehr sie sich der bewachten Schranke näherten, wuchsen Roses Befürchtungen. Aufgeregt wirkende Menschen stritten mit den Wachleuten vorne an der Schranke und forderten, eingelassen zu werden. Im Hintergrund standen bedrückt wirkende Anwohner in grauen Klamotten mit ebenso grauen Gesichtern. Sie schienen nicht in eine so lichtdurchströmte, fröhliche Gegend wie die italienische Küste zu passen. Eher sahen sie aus, als wären sie auf dem Weg ins Gefängnis.

Balthasar und die anderen stellten sich am Ende der langen Schlange von Leuten an, die auf Einlass warteten, direkt hinter einem Pferdefuhrwerk, das mit Tierfellen beladen war. Die Schlange kam nur zentimeterweise voran.

Jacques sprang vom Gepäckwagen auf Roses Schulter. Er zupfte sie am Haar und flüsterte ihr ins Ohr: »Mademoiselle Glyck, lassen Sie mich vorauslaufen und – wie sagt man doch – ausspähen.«

»Gute Idee«, erwiderte Rose und setzte ihn auf das staubige Kopfsteinpflaster, »aber sei vorsichtig.«

Jacques salutierte mit seiner kleinen Pfote und huschte davon.

Großvater Balthasar befühlte die Felle auf dem Fuhrwerk vor ihnen. »Yak-Felle. Auf einem Pferdefuhrwerk! Wo sind wir denn? Etwa im Mittelalter?«

Die Pferde des Fuhrwerks wieherten, und die Karre rumpelte ein Stück voran. Rose spähte an der Karre vorbei und sah, wie ein paar wichtig aussehende Menschen erbost in eine schwarze Limousine mit französischen Flaggen an den Antennen stiegen und davonfuhren.

»Von wegen Mittelalter, Großvater«, sagte Basil und stieß Tymo augenzwinkernd an. »Bei uns gibt es pferdelose Karossen schon mindestens, seit du fünfundvierzig Jahre alt warst!«

»Wenn du keine besseren Witze hinkriegst«, sagte Balthasar und verschränkte die Arme, »wirst du es niemals zu einem Comedian bringen.«

»Komm schon!«, sagte Basil. »Das war doch gar nicht schlecht, oder, Tymo? Pferdelose Karossen? Das allein ist doch witzig genug!«

»Was ist eine pferdelose Karosse?«, fragte Tymo, der sein Spiegelbild auf dem Display seines Handys betrachtete.

»Ein altmodischer Ausdruck für Auto«, sagte Balthasar. »Dein Bruder will damit andeuten, dass ich uralt bin.«

»Wie alt ist euer Großvater denn eigentlich?«, flüsterte Devin Rose zu.

Ehe sie antworten konnte, kam Jacques unter den Rädern des Fuhrwerks hervorgesaust und sprang auf das Gepäck. Atemlos stieß er hervor: »Non! Verstecken Sie sich! Sofort!«

»Was? Warum?«, fragte Tymo.

Jacques fuchtelte wild mit den Pfoten herum. »Die Wachen, sie haben Plakate!«

»Komm schon, Kumpel, es sind doch überall Plakate aufgehängt«, sagte Devin und deutete über die Straße. Weitere No-Direction-Plakate hingen an den Ladenfronten. Allerdings sah es aus, als ob jemand auf diese Plakate mit roter Farbe geschrieben hatte: Kommt bitte!

Basil deutete hin. »Ich wette, die hat diese Tochter von Graf Caruso aufgehängt. Sie liebt No Direction. Sie hat in ihren Textnachrichten von nichts anderem geschrieben. Damals, als wir verlobt waren, kurz vor der Hochzeit.«

Jacques Schwanz knallte hin und her wie eine Peitsche. »Non, auf den Plakaten, die ich meine, sind Sie und Mademoiselle Rosmarin und Tymo und sogar Gus! Sie hängen in den Wachhäuschen, damit nur die Brückenwachen sie sehen können.«

»Unser Ruhm ist uns vielleicht vorausgeeilt«, sagte Tymo. »Rose und ich sind ja schließlich wirklich ziemlich berühmt.«

Die Maus schüttelte den Kopf. »Non, nicht berühmt, eher berüchtigt. Auf den Plakaten steht in großen Buchstaben GESUCHT: TOT ODER LEBENDIG.«

Rose schüttelte ungläubig den Kopf. »Graf Caruso geht anscheinend auf Nummer Sicher. Er tut alles dafür, dass wir nicht reinkommen und Tante Lily befreien.«

Basil lehnte sich an den Handgriff des Gepäckwagens. »So leicht wie wir dachten, wird es also nicht. Ich fand unsere Vorgehensweise ohnehin total langweilig.«

»Eine neue Idee muss her!«, sagte Devin. Er lächelte Rose zu. »Was meinst du, Boss? Diesmal was richtig Riskantes und Hinterlistiges?«

»Dein Freund ist ja ganz schön krass drauf, hermana«, sagte Tymo und steckte sein Handy weg. »Aber du hast doch sicher einen Plan, stimmt’s?«

Rose spürte, wie der Angstschweiß ihr die Stirn bedeckte. Einen Plan?

Doch dann fiel ihr Blick noch mal auf die Plakate mit No Direction. Nachdenklich betrachtete sie die Fotos, dann ihre Brüder und Devin. Und tatsächlich, ein riskanter, hinterlistiger Plan formte sich in ihr – genau das, was sie brauchten, um Tante Lily zu retten.

»Wir bekommen vielleicht keinen Einlass nach San Caruso«, sagte sie, »aber wisst ihr, wer garantiert einreisen darf?«

Devin begriff sofort, was sie meinte. »Eine weltberühmte Boygroup!«

Gus lachte höhnisch aus der Babytrage. »Wie soll das denn gehen? Die Band besteht doch aus vier Jungs und wir sind drei Jungs, ein Mädchen, ein ziemlich älterer Herr, eine Maus und ich, ein unverkennbar edler schottischer Faltohrkater.«

Tymo grinste. »Nach abuelo oder einer Maus sucht ja auch niemand, die sind also kein Problem«, sagte er. »Außerdem haben alle meine Exfreundinnen gesagt, dass ich genauso süß bin wie Zip. Vielleicht sogar noch süßer.«

Rose sah in die faltigen Äuglein ihres Großvaters. »Denkst du dasselbe wie ich?«

Großvater Balthasar nahm sich eine Handvoll Felle von dem Fuhrwerk: »Genau. Aber wir müssen uns beeilen.«

Kapitel 2

Das Mädchen mit den Yak-Haaren