Die göttliche Shakti - Ela Thole - E-Book

Die göttliche Shakti E-Book

Ela Thole

4,9

Beschreibung

INDIENS GÖTTINNEN DER KRAFT UND WEISHEIT Shakti kommt aus Indien und steht für ein mysteriöses und machtvolles Prinzip der indischen Tradition. Treten wir in Kontakt damit, befi nden wir uns sofort in einem uralten Bereich des Geheimnisvollen und Urweiblichen. Energie oder Kraft ist das eigentliche Wesen der Shakti. Sie ist nicht nur eine anbetungswürdige Gottheit oder ein philosophisches Konzept, sondern eine in der Gegenwart ganz konkret erfahrbare Kraft. Die Autorin nimmt die Leser anhand mythologischer Geschichten und Legenden über die Shakti mit in die faszinierende Vielfalt der indischen Götterwelt und gibt Einblicke, welchen Stellenwert die Shakti im Tantrismus und Integralen Yoga besitzt. Ela Thole, erfahrene Referentin für Yogaphilosophie und integrale Spiritualität, eröffnet in diesem Buch ganz neue Sichtweisen und bringt uns diese nahe: "Viele Menschen spüren bei diesen Legenden eine verborgene Saite im Inneren mitschwingen, deren lautloser Klang nach und nach das gesamte Wesen erfasst und in Resonanz versetzt".

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Ela Thole: Die göttliche Shakti

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck,

© Theseus in J. Kamphausen

Coesfeld,

www.mbedesign.de

Mediengruppe GmbH, Bielefeld 2015

Umschlagabbildung: Sarasvati

[email protected]

© Himalayan Academy / S. Rajam

www.weltinnenraum.de

Layout/Satz: KleiDesign, Bielefeld

Lektorat: Susanne Klein, Hamburg,

www.kleinebrise.net

1. Auflage 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Printausgabe: 978-3-89901-913-1ISBN E-Book: 978-3-89901-914-8

Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.Weitere Informationen hierzu finden Sie unterwww.weltinnenraum.de

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen undsonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabesowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Ela Thole

DIE GÖTTLICHESHAKTI

Die Kraft des Weiblichen im Yoga

Theseus Verlag

Om Anandamayi Chaitanyamayi Satyamayi ParameOm, Sie, die Seligkeit ist, Sie, die Bewusstsein ist,Sie, die Wahrheit ist, Sie, die das Höchste ist

Sri Aurobindo

Sie ist ewig und verkörpert als das Universum.Alles wird von Ihr durchdrungen.Und doch erscheint Sie in vielerlei Formen.Hört die Geschichte!

Devi Mahatmya

(Hinduistisches Werk zur Verehrungder Göttin, Ursprung ca. 6. Jahrhundert)

Ein Wort vorweg

EINE ANNÄHERUNG AN DIE SHAKTI

Was ist Shakti?

Er und Sie − Licht und Kraft

Das Labyrinth der Namen

Warum die Shakti auch Göttliche Mutter genannt wird

Shakti und inneres Wachstum im Yoga

Shakti und der umgekehrte Weltenbaum

Ebenen und Aspekte der Shakti-Kraft

Die Shakti in der indischen Tradition

Die Kundalini-Shakti des Tantrismus

Die drei Polaritäten

Die Shakti im Integralen Yoga von Sri Aurobindo

Shakti – ein universelles Prinzip

VON DER SHAKTI UND IHREM GEMAHL

Die beiden Ehen von Shiva und Shakti

Mythologie: Die ekstatische Liebe von Shiva und Sati

Mythologie: Die asketische Liebe von Shiva und Parvati

Betrachtung: Der Knoten, der die Sterne aneinanderbindet

Shaktis Gemahl aus der Sicht der indischen Tradition

Mythologie: Die Yoni und der Feuerlingam

Betrachtung: Lingam-Yoni − Er und Sie in kosmischer Umarmung

Das Sri Chakra als universelles Symbol der Einheit

Mythologie: Lalita und die Wahl des Bräutigams

VOM HÖCHSTEN HERRN, DER HALB FRAU IST

Mythologie: Die Legende von Ardhanarishvara

Betrachtung: Yoga auf den Pfaden der Shakti-Kraft

Mythologie: Die Frau im Herzen

Betrachtung: Im Herzen zu sich selbst finden

VON DER SHAKTI ALS KRIEGERIN

Mythologie: Durgas Kampf gegen den Büffeldämon

Betrachtung: Yoga in den Konfliktfeldern des Lebens

Mythologie: Die Shakti und die Rettung der ungeborenen Welt

Betrachtung: Durch Zurückweisung den Weg offenhalten

Mythologie: Der hundertundachte Lotus

Betrachtung: Aufrichtigkeit auf dem spirituellen Weg

Du allein bist mein Weg – Zuflucht bei der Shakti-Kraft

VON DER SHAKTI ALS HERRIN DER TRANSFORMATION

Der transformative Aspekt der Shakti-Kraft

Kali − die dynamische Herrin der Zeit

Nataraja − der kosmische Tänzer

Mythologie: Die Geschichte vom Tanzwettbewerb

Betrachtung: Das Mysterium des Ursprungs

Kali und die tausend Tode zur Seligkeit

Kali und Krishna – das geheime Paar

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit

Die Mahavidhyas – Weisheitsgöttinnen der Shakti-Tradition

Chinnamasta und Dhumavati – Kalis Extreme

VON DER SHAKTI IN DEN GÖTTINNEN INDIENS

Sarasvati – die Verkörperung der Weisheit

Mythologie: Wie die Musik in der Welt erwachte

Mythologie: Wie die Göttin Sarasvati zur Erde kam

Betrachtung: Sich der Kraft des eigenen Wortes bewusst sein

Lakshmi – Die meergeborene Herrin der Fülle

Mythologie: Wie die Devas und Asuras den Ur-Ozean quirlten

Betrachtung: Die Herausforderung des inneren Aufbruchs

Die Erdgöttin und ihr Weg vom Chaos ins Licht

Parvati – die Göttin des Bewusstseins

Mythologie: Die jungfräuliche Göttin Kanyakumari

Mythologie: Die Geschichte der Minakshi von Madurai

Mythologische Flussgöttinnen – Indiens fließende Shaktis

DIE SHAKTI IN DER EVOLUTION DES BEWUSSTSEINS

Eine neue Dimension des Bewusstseins

Das Zusammenspiel von Involution und Evolution

Eine neue Geburt

Die Mutter im Integralen Yoga von Sri Aurobindo

Die drei Transformationsschritte zum Supramental

Das Muttersymbol des Integralen Yoga

Zum Ausklang ein Wort zum Weitermachen

Anmerkungen

Glossar der Sanskritbegriffe

Literatur und Quellennachweis

Über die Autorin

Ein Wort vorweg

Seit mehr als dreißig Jahren lebe ich in Auroville, einer 1968 gegründeten internationalen Gemeinschaft in Südindien, die mehr als 2500 Menschen aus über fünfzig Nationen umfasst. Im Rahmen der gemeinsamen Arbeit am Aufbau einer Stadt wollen wir das Ideal einer menschlichen Einheit „mitten im Leben“ verwirklichen. Spirituelle Grundlage ist der Integrale Yoga von Sri Aurobindo, ein zeitgemäßer Ansatz, in dem die Shakti eine entscheidende Funktion innehat.

Meine Beziehung zu dieser universellen Wirkkraft, die seit Urzeiten als weiblich angesehen wird, beschränkte sich in meinen ersten Auroville-Jahren ausschließlich auf den inneren Kontakt mit „der Mutter“, wie sie im Kontext des Integralen Yoga genannt wird. Mit dem Shakti-Prinzip des Hinduismus habe ich mich damals (noch) nicht beschäftigt. Ich lebte in diesem fantastischen, im Wachsen begriffenen Auroville wie auf einer Insel, zwar umgeben und gelegentlich berührt von der Hindu-Kultur, aber innerlich fokussiert auf das Fußfassen im Integralen Yoga und auf ein arbeitsreiches Brückenbilden zwischen Ideal und Wirklichkeit. So hat es mich zutiefst verwundert, als völlig unerwartet eine traditionelle Shakti-Kraft in mein Leben trat und mir eine Welt eröffnete, von deren Existenz ich bislang nicht die leiseste Ahnung hatte.

Sie begegnete mir zuerst in einem Traum. In einem dunklen Raum schwebte, wie von innen erleuchtet, ein bunt gestaltetes Standbild der Göttin Durga, das sie auf einem Tiger reitend und in einen roten Sari gekleidet darstellte. Genau so hatte ich sie einige Tage zuvor bei einer Andachtszeremonie in einem kleinen Straßentempel gesehen. Ihre vielen Arme bildeten einen Halbkreis um ihren Körper und ihr Gesicht. Ihre Hände trugen eine Vielzahl an Waffen, in denen ihr kriegerisches Wesen zum Ausdruck kam. Zur Intensität dieser Kampfbereitschaft bildete die Sanftheit und Güte ihrer Gesichtszüge einen überraschenden Kontrast. Ihre Stimme klang wie ein Bronzegong: „Du musst mich jetzt anschauen!“ Ich erinnere mich noch, dass ich ihr entschieden widersprach und naiverweise versuchte, sie von meiner Unfähigkeit zu überzeugen, indem ich ihr erklärte, dass mein Wissen über die Gottheiten Indiens nur bruchstückhaft und ich noch weit davon entfernt sei, sie auch nur annähernd zu verstehen. Doch sie schnitt mir energisch das Wort ab, und noch zweimal hörte ich ihre Stimme: „Du musst mich jetzt anschauen!“

Mit diesen Worten verschwand der dunkle Raum. Stattdessen befand ich mich auf einer weiten Ebene, die von hohem Gras bewachsen war, das sich im Licht einer goldenen Sonne unter einem heftigen Wind in Wellen bewegte. Dann fiel mein Blick erneut auf die Göttin Durga und ihr Reittier, die sich genau vor mir befanden. Doch waren sie nicht länger eine unbelebte Form, sondern bildeten eine durch und durch lebendige Einheit. Laut lachend warf die Göttin den Kopf zurück. Mit einem kraftvollen Satz sprang der Tiger vorwärts und trug sie in großen Sprüngen über die weite Landschaft. Wie festgewachsen saß die Shakti im Rausch der Bewegung auf dem edlen Tier, das sie mühelos zu lenken schien. Im Glanz ihrer Waffen brach sich das Licht der Sonne, und das Fell des Tigers leuchtete wie flüssiges Feuer. Auf eine körperlose Weise war ich Zuschauerin und Beteiligte zugleich, beobachtete die Dynamik des majestätischen Rittes und erfuhr mich gleichzeitig als Teil davon, getragen vom freien Atem einer unbändigen Macht und Intensität.

Erst später verstand ich, dass das innere Erlebnis das Tor zu einer neuen Welt geöffnet hatte. Denn danach kam das spirituelle Wissen Indiens zu mir. Ich habe es nicht gesucht, es kam einfach. Und es kam wie eine Flut. Shakti reihte sich an Shakti, Gottheit an Gottheit, Farbe an Farbe, Faden an Faden, und die einzelnen Stränge verwoben sich zu den universellen Weisheitslehren und mythologischen Sinnbildern der hinduistischen Spiritualität. In der Dunkelheit meiner Unwissenheit, dem schwarzen Raum meines Traumes, entfaltete sich ein lebendiges und ständig wachsendes Feuer, das der indischen Kultur wohlbekannt ist, da es in der Flamme gelebter Erfahrung ein reiches spirituelles Erbe durch die Jahrhunderte trägt.

Die vorliegende Annäherung an die Welt der Shakti stellt keine wissenschaftliche Abhandlung dar und erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich habe nie Indologie studiert, sondern über dieses und andere Themen der hinduistischen Tradition direkt in und mit dem Land gelernt, sozusagen „inside India“, in Indien. (Wobei es sicher kein Zufall ist, dass die aurovillianische Reiseagentur, für die ich als Referentin und Reiseleiterin tätig bin, ebenfalls „Inside India“ heißt.) Ich betrachte dieses Buch als eine Gelegenheit, meinen Zugang zur Shakti mit anderen zu teilen − auf eine etwas andere Art, als dies in meinen Seminaren geschieht. Es soll einen ersten Überblick über mythologische, philosophische und spirituelle Aspekte ermöglichen und dazu anregen, einspürend und nachsinnend auf Entdeckungsreise zu gehen und die weibliche Kraft der indischen Spiritualität für den eigenen Yoga-Weg zu erforschen.

Ich habe zuerst gezögert, dieses Buch zu schreiben, weil die spirituellen Themen, in denen ich mich bewege, für mich ein lebendiges Geschehen sind, das sich immer wieder neu um einen immer gleichen Faden rankt und kaum in einer festen Gestalt zu fassen ist. In meiner Seminararbeit ist diese Flexibilität so essenziell wie die Luft zum Atmen. Ich brauche das tiefe In-den-Raum-Lauschen, die Antennen des Herzens, das Erspüren der Menschen, die mit mir sind; und aus dem, was sich im direkten Miteinander an inneren und äußeren Impulsen einstellt, gestalten sich die konkreten Inhalte. Als ich dann so allein in meiner Wohnung saß und diese Seiten in den Computer eingab, fehlte mir dieses situative Geschehen anfänglich sehr. Und so bewegte ich mich durch ein vollkommen neues Experiment, das zu einer anregenden Erfahrung wurde. Ich hoffe, dass das Resultat inspirierende Impulse geben und zu einem vertieften Einlassen auf die Shakti-Kraft beitragen kann. Von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen meiner Seminare und Südindienreisen bin ich oft nach einem Buch gefragt worden, in dem die Basisinformation zur Shakti „yogagerecht“ nachgelesen werden kann und auch einige der mythologischen Geschichten „schwarz auf weiß“ zu finden sind. Ihr seht: Der stete Tropfen hat den Stein gehöhlt, und hier ist es nun endlich: euer Buch zur göttlichen Shakti!

EINE ANNÄHERUNG AN DIE SHAKTI

Was ist Shakti?

Shakti kommt aus Indien. Wenn wir an dieses Land denken, haben wir gewöhnlich einen ganz unbestimmten Eindruck von etwas völlig Fremdartigem, und bestenfalls ziehen in unseren Gedanken exotische Bilder vorbei, die uns aufgrund von Fotos, Fernsehreportagen, Romanen oder Reiseberichten erreicht haben. Wir denken an prächtige Elefanten und Pfauen, Maharajapaläste und Tempel, Gottheiten und Rituale, Frauen in seidenen Saris, duftende Blumengirlanden, brennende Öllampen, Räucherwerk und vielleicht auch an breite Flüsse, in denen sich das Licht der aufgehenden Sonne spiegelt und an deren Ufern bunt gekleidete Pilgergruppen ihr Morgenbad nehmen und ihre Gebete verrichten. Diejenigen, die Indien schon bereist haben, denken zudem an unendlich weite Distanzen, an ermüdende Hitze, überfüllte Eisenbahnen und Busse, den würzigen Geruch der Basare, laute Tempelmusik, Bettler, Moskitos, brummende Ventilatoren und das ohrenbetäubende Prasseln heftiger Monsunregen.

Die Heimat der Shakti ist ein Ort voller Kontraste und Extreme, der uns auf den ersten Blick mit vielen Widersprüchen überrascht und uns mit Erlebnissen konfrontiert, die unter die Haut gehen. Es ist ein Land, in dem unser Selbst- und Weltbild nicht immer auf Widerhall trifft und unsere persönlichen Grenzen oft überschritten werden, weil wir uns in einem Umfeld bewegen, das anderen Gesetzen gehorcht. Hier laufen die Jahrhunderte noch parallel. Der Ochsenkarren konkurriert mit dem Lastwagen, und die strohgedeckte Lehmhütte schmiegt sich direkt an den voll klimatisierten Glaspalast eines multinationalen Konzerns. Hier sind Familienverbände noch wichtig; hier ist der Wille der Eltern Gesetz und Privatsphäre ein Fremdwort.

Ohne deshalb im Entferntesten rückständig zu wirken, ist Indien auch das Land einer facettenreichen, alten Tradition, die als Hinduismus bekannt ist. Selbst inmitten der vibrierenden Betriebsamkeit einer unaufhaltsam ins Hightechzeitalter drängenden Entwicklung lässt sich diese Tatsache nirgendwo übersehen. An Eingangstüren und Tempelmauern, in den Geschäften und auf den Basaren, an Möbeln, Lastwagen und Auto-Rikshas, in den Andachtsecken der Häuser und selbst auf den Stirnen der Menschen finden sich Hinweise auf die Einbindung des menschlichen Lebens in eine übergeordnete Dimension. Sie beginnt schon vor der Geburt, endet erst nach dem Tod und erfolgt in der Regel über den religiösen Ritus. Viele Jahrtausende hindurch haben hier aber auch Menschen gelebt, die diese Anbindung als gelebte spirituelle Erfahrung zum Ausdruck bringen. Indien wird deshalb auch „Rishi Bhumi“ genannt, das Land der Weisen. Wie kein anderes Land symbolisiert es den Ruf des Unbekannten und die Sehnsucht des Menschen nach ewiger Wahrheit. Sogar Prinzen haben hier ihre königlichen Paläste und privilegierten Lebensumstände verlassen, um sich auf die Suche nach dem wahrhaft Wesentlichen zu begeben. Hier ist vieles anders, als es auf den ersten Blick erscheint. Und selbst das Gewöhnliche ist berührt von der anziehenden Macht des Unsichtbaren und Rätselhaften, zu der auch die Faszination der Shakti gehört.

Shakti ist ein mysteriöses und machtvolles Zauberwort der indischen Tradition. Wir hören es und befinden uns, getragen von seiner magischen Klangschwingung, sofort in einem uralten Bereich des Geheimnisvollen und Urweiblichen. Rot ist hier die dominierende Farbe, die uns im inneren Erleben an tief verborgene Räume heranführt, in denen sich mystische Bilder und schlangenumspielte Symbole erahnen lassen. Vage Erinnerungen an archaische Göttinnen mögen aufsteigen und das Empfinden von strömender Kraft − viel Kraft. Denn Energie oder Kraft ist das eigentliche Wesen der Shakti, ihr ureigenstes Sein.

Auch für unser menschliches Dasein ist Shakti ein Wort von essenzieller Bedeutung. Alles in uns ist abhängig von ihrer machtvollen Dynamik, an der sich die Flamme unseres Lebens wieder und wieder entzündet, einer Kraft, die uns in die Existenz bringt und unseren konkreten Lebensausdruck möglich macht. Das gilt für jede kleinste und noch so unscheinbare Regung in unseren Körperzellen genauso wie für die Wahrnehmung unserer tiefsten Gefühle, die Umsetzung unseres kühnsten Verlangens und die Entfaltung unserer größten Lebensaufgaben. In Abhängigkeit von dieser bewegten und bewegenden Energie, die uns auf allen Ebenen unserer vielschichtigen Existenz in unseren Lebensäußerungen unterstützt, geht es uns nicht anders als dem Hindu-Gott Shiva, von dem gesagt wird, dass er ohne sie nicht mehr als ein Leichnam sei. Diese Shakti-Kraft, ohne die wir keinen Finger rühren und keinen Gedanken fassen können, geht weit über unseren individuellen Radius hinaus und bettet uns in viel größere Dimensionen und Zusammenhänge ein – besteht doch unser gesamter Kosmos aus nichts anderem als Energie.

Diese atemberaubende Erkenntnis, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts unser Weltbild grundlegend veränderte, löst heute in der modernen Physik die Grenze zwischen Energie und Materie mehr und mehr auf. Es handelt sich um eine bahnbrechende Prämisse, die in vielen Bereichen zu neuen Ansätzen und Fragestellungen ermutigt hat: Ist es möglich, dass sich die mannigfaltigen Phänomene der Welt auf die Existenz einer einzigen Energie zurückführen lassen? Dass auch die Materie nur eine Ausdrucksform ihrer hochdynamischen Bewegung ist? Und ihre scheinbare Festigkeit nichts anderes als Illusion? Was ist es, woraus diese wirbelnde Weltenmasse an Energie besteht? Woher kommt sie eigentlich? Was ist sie in ihrer innersten Essenz? Was liegt ihr zugrunde?

Im spirituellen Leben Indiens werden all diese Fragen, mit denen sich heute zum Beispiel quantenphysikalische Ansätze beschäftigen, schon seit Jahrtausenden beleuchtet, und verschiedene Richtungen der hinduistischen Philosophie haben schon lange Antworten darauf gefunden − allerdings nicht im Rahmen naturwissenschaftlich abgesicherter Forschungsmethoden und Erklärungsmodelle, sondern durch Erkenntnisprozesse, die auf innerer Erfahrung beruhen. Ihre Ansätze finden einen Ausdruck in den frühen Schriften des Veda und Vedanta und in einer Gruppe von jüngeren Texten, die als Tantras bezeichnet werden. Ihnen zufolge lassen sich Ursprung, Mannigfaltigkeit, Beschaffenheit, Erhaltung, Wandel und Auflösung der Schöpfung auf ein übergeordnetes Bewusstseinsprinzip zurückführen, das im Vedanta das „Absolute Brahman“ und in den Tantras „Shakti“ genannt wird. Wir können uns diese beiden Begriffe vorstellen, wie die zwei Seiten einer Münze.

Das Sanskritwort Shakti bedeutet „Energie“ oder „Macht“ und bezeichnet das Absolute Brahman in seinem Kraftaspekt. Es ist ein machtvoller Begriff, dem mit tiefer Ehrfurcht begegnet wird, da er als Klangkörper einer unermesslichen mütterlichen Urkraft gilt, jener gewaltigen Energie, die alle universellen Erscheinungen konzipiert, hervorbringt, bewegt, belebt und am Ende eines Daseinszyklus wieder hinwegrafft. Die „substanzlose Brahman-Substanz“, in welcher und mit welcher all dies geschieht, ist zugleich ihr Bauplatz, ihr Baumaterial und der Bauherr, in dessen Namen sie tätig ist. Wir können uns diesem Brahman, das durch Worte nicht erfassbar ist, nur über annähernde Begriffe wie das Absolute, das Selbst, jenes Eine, das Unbeschreibliche, die höchste Wahrheit, die absolute Wirklichkeit, das Göttliche, Gott oder Sat-Chit-Ananda annähern. Das eigentliche Erkennen geschieht über den Weg der direkten Erfahrung. Vergleichbar etwa mit einer reifen Frucht, deren Geschmack wir – auch wenn er uns schon mit treffenden Worten beschrieben wurde – erst wirklich kennen, wenn wir selber hineingebissen haben. Brahman ist reines, allumfassendes, essenzielles, in-sich-ruhendes, uneingeschränktes, immerwährendes Bewusstsein, das in keiner Weise vergleichbar ist mit unserem Mentalbewusstsein.

Solange wir noch nicht tiefer in unser Bewusstsein, also zum Geschmack der Frucht, vorgedrungen sind, scheint die mentale Ebene gleichbedeutend mit dem Bewusstsein zu sein. Erst wenn wir im Prozess des inneren Wachstums mehr und mehr von uns und der Welt „erschmeckt“ haben, können wir unterschiedliche Arten, Abstufungen und Ausprägungen von Bewusstsein wahrnehmen. Brahman ist als höchste Bewusstseinsstufe unsere ultimative Wirklichkeit, die sich in der Erfahrung spirituell hochentwickelter Menschen als unvergängliches Sein (Sat) offenbart, das gleichzeitig Maximal-Bewusstsein (Chit) und höchstmögliche Freude oder Seligkeit (Ananda) ist, woraus sich die oft verwendete Umschreibung Sat-Chit-Ananda ableitet. Es ist der Bewusstseinsaspekt dieser höchsten Wirklichkeit, dem die Shakti als Wirkkraft zur Seite steht, denn er äußert sich in zwei unterschiedlichen Ausprägungen: als absolutes, selbstseiendes und selbstleuchtendes Bewusstsein (Chit) und als die Macht dieses absoluten, selbstseienden Bewusstseins (Chit-Shakti). Mit anderen Worten: Das Absolute Bewusstsein ist auch Absolute Macht. Und diese Absolute Macht ist die Shakti.

Er und Sie – Licht und Kraft

Obwohl Brahman frei von Dualitäten und unpersönlich oder, treffender gesagt, überpersönlich ist, wird es in Bezug auf die kosmische Realität oft als männlich personifiziert. Denn die Chit-Shakti manifestiert in der Schöpfung das kosmische Selbst, den göttlichen Mann oder Ishvara, und seine Selbstmacht, die göttliche Shakti, als duales Prinzip. Ishvara ist „der Lenker aller Energien, der Bewusste in allem Bewussten und Unbewussten, der Bewohner aller Seelen und Gemüter, Herzen und Körper“1. Er besitzt innerhalb der manifestierten Welt eine ursächliche, lenkende und herrschende Funktion, kann aber ohne seinen weiblichen Gegenpol keine Bildekräfte aktivieren. Dieser verkörpert die kreative Aufgabe und ist seine allmächtige Ausdrucksund Schöpfungskraft. Das ist plausibel, wenn man bedenkt, dass ein Kind – hier die gesamte Weltenschöpfung – zwar vom Mann gezeugt, aber im Körper der Frau ausgeformt und von ihr geboren wird. Im Weiblichen nehmen die Dinge auf geheimnisvolle Art Gestalt an, lange bevor sie sich den Sinnen und der Wahrnehmung offenbaren. In der Frau liegt die Kraft der Hervorbringung, und im indischen Denken spielt Sie als dynamisches Bewusstsein den aktiven Part – was Menschen aus dem westlichen Kulturkreis, die daran gewöhnt sind, im Weiblichen eher das passive und empfangende Element zu sehen, oft verwundert.

Ishvara und Shakti sind zwei komplementäre Zustandsformen des höchsten Bewusstseins und bilden eine männlich-weibliche Polarität, in der die gesamte Welt begründet liegt. Shakti steht also nie allein, sondern ist immer in Kommunikation mit ihrem männlichen Gegenpol, in etwa so, wie das Licht des Feuers und seine verzehrende Kraft stets beieinander sind und nicht voneinander getrennt werden können. Auf diese Art wird das höchste Bewusstsein als göttliches Paar erfasst, als der große Er und die große Sie der indischen Tradition, welche beide in den spirituellen Wegen Indiens eine bedeutende Rolle spielen. Die ältesten Hinweise auf das Konzept dieser göttlichen Teamarbeit finden sich bereits in den vedischen Hymnen und den Upanishaden. Der traditionelle Höhepunkt dieser philosophischen Sichtweise und ihrer praxisbezogenen Umsetzung wurde im tantrischen Zeitalter erreicht.

Zur Erläuterung der kosmischen Funktionen von Ihm und Ihr eignet sich ein einfacher Vergleich. Wenn wir zum Beispiel eine Fahrradtour unternehmen wollen, muss unser Bewusstsein zu diesem Zweck einige notwendige Potenziale bereitstellen. So muss es die Fähigkeit des Fahrradfahrens in sich tragen. Darüber hinaus sollten wir wissen, welche Regeln im Straßenverkehr zu beachten sind und wie die gewählte Route verläuft. Diese Fähigkeiten ruhen jederzeit in uns, egal ob wir sie gerade benötigen oder nicht. Sie sind ein Teil von uns, wenn wir essen, schlafen, arbeiten, mit Freunden plaudern, uns die Zähne putzen oder unser Kind zu Bett bringen. Dieses immer und überall anwesende Bewusstseins-Potenzial entspricht dem großen Er der indischen Tradition. Ohne Ihn ereignet sich nichts, aber alleine kann er in der Welt nichts zustande bringen. Erst wenn wir uns tatsächlich auf das Fahrrad setzen, kraftvoll in die Pedale treten, unser Wissen über die Verkehrsregeln unterwegs zur Anwendung bringen und an den richtigen Kreuzungen die richtigen Abzweigungen nehmen, wird Er zur Anwendung gebracht. Unsere Körperkraft, die die Umsetzung unseres Potenzials in dynamischer Weise vornimmt und uns auf dem Rad von A nach B bringt, entspricht der großen Sie der indischen Tradition. Durch ihre Energie bekommt jedes Vorhaben einen konkreten Ausdruck, aber alleine kann auch sie nichts bewirken, denn ohne sein Potenzial würde sich ihre Bewegung sofort in einem heillosen Chaos erschöpfen.

In ihrem kosmischen Wirken ist die Shakti die entscheidende Schnittstelle zwischen Sein und Werden, Transzendenz und Immanenz, Bewusstsein und Welt, ewiger Einheit und unendlicher Vielfalt. Auf immer eins mit dem Höchsten besteht ihre dynamische Funktion darin, Ihn in den Formen einer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit zu manifestieren und gleichzeitig als Seine ausführende und gestaltgebende Natur tätig zu sein und das in jedem von uns und in allem, was in der Schöpfung existiert. In der wechselseitigen Bezogenheit von Seinem Licht und Ihrer Manifestationskraft findet auch die innere Entwicklung im Yoga statt.

Das Labyrinth der Namen

Als die enorme kreative Energie, die in ihrer gewaltigen Bewegung alle kosmischen Erscheinungen zur Entfaltung bringt, verkörpert die Shakti die intensive Freude, die im Herzen des Daseins wohnt, das erhellende Licht der Weisheit und eine machtvolle Kraft der Transformation. Sie wird Maya, Prakriti, Ishvari und Kundalini genannt und äußert sich als Wille, Wissen und Tat. In den Göttinnen des hinduistischen Kulturkreises wird sie in zahlreichen Formen als erhabene Muttergottheit und Herrin des Universums verehrt. Parvati, Durga, Lakshmi, Kali, Ganga und Sarasvati sind nur einige ihrer vielen Namen. Jeder einzelne ihrer Aspekte umfasst wiederum eine ganze Welt an Benennungen. Oft wird in sogenannten Sahasranama-Stotras2 eine Anrufung von tausend Shakti-Namen rezitiert. Eine solch überwältigende Namensfülle kann leicht verwirren. Doch ist das dahinterstehende Prinzip im Grunde recht einfach. Es gibt für jede Shakti nur einen Hauptnamen, der sich in weitere Bezeichnungen unterteilt. So wird etwa Parvati, die anmutige Göttin des Bewusstseins, auch Uma, Gauri, Annapurna, Meenakshi, Kanyakumari, Kameshvari, Bhavani oder Ambika genannt. Warum das so ist, können wir uns an einem Beispiel verdeutlichen. Wir alle besitzen einen Namen, den wir wie eine Art „Sammelbezeichnung“ für alle Aspekte unseres Wesens gebrauchen. Gleichzeitig sind wir aber auch differenzierte und facettenreiche Menschen, die in sich viele Regungen und Interessen tragen und in vielen Tätigkeiten engagiert sind. Wir mögen Partnerin, Mutter, Kollegin, Tochter oder Enkelin sein. Wir genießen es vielleicht, mit unserem Hund spazieren zu gehen, für unsere Kinder zu kochen, mit Freunden auszugehen oder mit einem guten Buch gemütlich auf dem Sofa zu liegen. Wir haben einen anspruchsvollen Beruf und sind auf vielerlei Art kompetent. Wir sind ausgeglichen, freundlich und verständnisvoll. Aber es kommt auch vor, dass wir aus der Haut fahren, unsere Fassung verlieren und entschieden unseren Standpunkt vertreten. Wenn wir jeden dieser Aspekte mit einem eigenen Namen belegen, wenden wir das Prinzip der Shakti-Namen auf unsere Person an. Sämtliche Benennungen beziehen sich dann auf unsere Person, auch wenn nicht jeder, der uns kennt, mit all diesen Facetten vertraut ist. In ähnlicher Weise begegnen wir auch der Shakti meist nur in einigen ihrer vielen Gesichter, mit denen wir aufgrund unserer Persönlichkeitsstruktur und unseres inneren Entwicklungsstandes in einem direkteren Bezug stehen.

Warum die Shakti auch Göttliche Mutter genannt wird

In Indien wird oft betont, dass der männliche Aspekt des Höchsten, obwohl er ebenfalls in der Welt anwesend ist, sich in seinem Bewusstsein eher im Überkosmischen befindet und deshalb nur schwer zu erreichen ist. Die Shakti dagegen ist näher am Menschen und deshalb leichter zugänglich, was in den spirituellen Wegen, die ihr zugewandt sind, einen innigen Kontakt mit ihr ermöglicht. Westliche Menschen sind oft etwas verblüfft, wenn sie hören, dass sie auch als Mutter bezeichnet wird. Für die hinduistische Kultur hat der Mutteraspekt jedoch eine große Bedeutung, und ihr zufolge kann der Mensch zum göttlichen Bewusstsein in einer Vielzahl von Beziehungen stehen. Die Haltung des Kindes, das sich von seiner Mutter in völligem Vertrauen auf ihre liebende und nährende Kraft in allen Belangen des Daseins leiten und umsorgen lässt, gilt als eine der innigsten und effektivsten Bindungen. Den inneren Weg als Kind der Göttlichen Mutter zu leben, ist allerdings etwas vollkommen anderes, als das Kind eines menschlichen Wesens zu sein. Es bedeutet, dass die göttliche Shakti das Leben nicht nur begleitet, sondern auch die Verantwortung für den inneren Wachstumsprozess übernimmt.

Der anerkannte Veda-Kenner David Frawley hat die Beziehung zur Göttlichen Mutter als die tiefste Beziehung hervorgehoben, die wir mit den Göttlichen haben können. Es gibt, so sagt er, keine engere menschliche Beziehung als die zwischen Mutter und Kind. Deshalb spiegelt sie am besten unsere tiefe Beziehung zum Höchsten wider. Aber auch in einem globalen Kontext empfindet er den Kontakt zur Göttlichen Mutter als absolut zeitgemäß:

„In unserer modernen Welt, in der wir die Gleichberechtigung der Geschlechter anerkennen, können wir nicht länger den weiblichen Aspekt des Göttlichen zurückweisen. Die Ablehnung der weiblichen Seite des Göttlichen – die liebevolle Freundlichkeit, Toleranz und Fürsorge ist – und das Anpreisen eines strengen und allein männlichen Gott-Vaters-im-Himmel hat zu religiösen Feindseligkeiten und heiligen Kriegen geführt, die die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren tief verletzt haben.

Welche Religion hat je auf aggressive Art den Glauben an die Göttliche Mutter vorangetrieben? Welche Form von religiösem Fundamentalismus oder Exklusivität wurde jemals im Namen der Göttin betrieben? Wer kann Menschen im Namen eines Gottes töten, der ‚Mutter‘ heißt? Welche Mutter kann es je zulassen, dass ihre Kinder verletzt oder getötet werden, ganz gleich, wie tief sie auch gesunken sein mögen? Welche Mutter kann ihre Kinder als Sünder verdammen? Wer kann sagen: ‚Glaube an die Göttliche Mutter oder du verlierst dein Leben und fährst zur Hölle?‘ Es überrascht nicht, dass der Hinduismus − die größte Religion der Welt, die die Göttin verehrt − selten religiöse Feindseligkeiten gefördert und niemals solche Vorstellungen wie die einer ewigen Verdammnis hervorgebracht hat.

Das Weibliche ist die formhafte Seite des Göttlichen. Die Frau repräsentiert die Verkörperung des Göttlichen. Ihre Verehrung verlangt die Schaffung angemessener Formen, in denen ihr Respekt erwiesen werden kann. Wir müssen noch einmal Ebenbilder der Göttlichen Mutter kreieren, um ihrer heilenden Gnade, die für den Weltfrieden von essenzieller Bedeutung ist, das Herabsteigen zu ermöglichen. Ohne die Anerkennung der Formen der Göttlichen Mutter müssen unsere Religionen einseitig bleiben und zu diversen Exzessen im menschlichen Verhalten führen.“3

Der Mutteraspekt der Shakti besitzt eine weitreichende Bedeutung, denn sie ist als Mutter nicht nur die große Göttin, sondern auch der Ursprung sämtlicher Gottheiten und des gesamten Universums. Die hinduistische Tradition kennt eine unglaubliche Fülle an unterschiedlichen Mutter-Aspekten. Ein herausragendes Merkmal ist die Tatsache, dass die Göttliche Mutter nicht nur in Formen Verehrung findet, die der menschlichen Psyche durch ihre anmutige Gestalt und ansprechende Güte entgegenkommen, sondern auch in Aspekten, die dem Archetypus einer lieblichen Madonna völlig entgegenstehen. Die indische Kultur hat damit der Erkenntnis Rechnung getragen, dass alle Dynamik in der Welt – auch jene, die den Menschen beunruhigt oder ängstigt – ein Ausdruck der Shakti-Energie ist. Das betrifft in der Gestalt der schwarzen Göttin Kali auch den alles verschlingenden Fluss der Zeit, der – da er die Auflösung oder Ent-Werdung aller Formen bewirkt – auch auf die eigene Endlichkeit verweist. Es ist berührend, wie viel Liebe und aufrichtige Hingabe gerade dieser dunklen Seite der Shakti-Kraft entgegengebracht wird. Sorgt sie in ihrem hohen Mitgefühl doch auch dafür, dass die Widerstände des Ego und die Schattenseiten der menschlichen Natur vergehen, die den Menschen von der Erfahrung des Höchsten trennen.

Shakti und inneres Wachstum im Yoga

„Sie ist Jungfrau im Sitz des Muladhara, die unvergleichliche Gebieterin, die Höchste Mutter. Sie nahm mich beiseite, sie trennte mich von meinen Unvollkommenheiten, sie hat mein Herz geliebt und drang dort in mich ein.“

Tirumular, Vers 1106 4

Mit Shakti befinden wir uns in einem Grenzland des inneren Erwachens, denn trotz aller gedanklichen Annäherungen ist die Shakti kein mentales oder rein philosophisches Konzept. Sie repräsentiert immer eine hochgradig intensive, spirituelle Wirkkraft, deren multidimensionale Energie im Prozess des inneren Wachsens gegenwärtig und spürbar ist – als eine Präsenz, die das eigene Dasein erfüllen, verändern und zur Blüte bringen kann. Wie jede Entwicklung von ihrer kreativen Dynamik abhängig ist, wird auch der persönliche Yoga-Weg von ihrer Energie wirksam begleitet. Allerdings muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass Yoga im indischen Verständnis keineswegs nur mit Hatha-Yoga gleichgesetzt wird, der im Westen populär gewordenen Form des Yoga, die den Fokus verstärkt auf Körperübungen (Asanas), Atemlenkung (Pranayama) und Meditation setzt. Im ursprünglichen Sinne bezeichnet der Begriff „Yoga“ den Prozess der Einswerdung mit dem höchsten Bewusstsein. Zu diesem Zweck hat die hinduistische Tradition einen Wegweiser mit vielen Schildern bereitgestellt und eine Fülle an unterschiedlichen Zugängen und Methoden entwickelt, zu denen Jnana-Yoga, Bhakti-Yoga und Karma-Yoga genauso zählen wie Raja-Yoga, Hatha-Yoga, Kundalini-Yoga, Laya-Yoga und viele andere. Indien hat damit seit jeher der Tatsache Rechnung getragen, dass der Mensch ein komplexes, multidimensionales Wesen von großer Einzigartigkeit ist, und deshalb auch über verschiedene Ebenen seiner selbst in die Praxis eintauchen kann. Im Jnana-Yoga geschieht dies über die mentale Ebene und im Bhakti-Yoga über die emotionale. Im Raja-Yoga steht die psychologische Ebene im Vordergrund und im Hatha-Yoga die körperliche. Was jeder einzelne dieser Wege benötigt, ist eine korrespondierende Kraft oder spirituelle Dynamik, die ihn entfaltet. Erkenntniswege beruhen auf der Kraft der Weisheit, Herzenswege auf der Kraft der Liebe und ein Yoga, der mitten im Leben steht und keinen Rückzug von der Welt sucht, auf der Kraft des Handelns. All diese Aspekte sind ebenfalls ein Teil der Shakti-Energie.

Für das innere Wachstum kommt der Shakti in verschiedenen Richtungen eine zentrale Rolle zu, die einen intensiveren und kontinuierlichen Kontakt mit ihrer Kraft erfordert. Es ist dann die Shakti-Kraft selbst, die den Yoga leitet und entfaltet, und die Aufgabe des Praktizierenden5 besteht darin, sich ihrem Wirken anzuvertrauen. Um im eigenen Wesen die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen sie in das Bewusstsein einwirken kann, ist zunächst eine konzentrierte, vorbereitende Sadhana (spirituelle Disziplin) notwendig, in der über das persönliche Bemühen innere Ausrichtung, Läuterung, Überantwortung und Rezeptivität „aufgebaut“ werden.

Die spirituelle Präsenz der Shakti variiert im Yoga mit der Persönlichkeit des Yoga-Übenden, der Art der inneren Ausrichtung und den speziellen Anforderungen des gewählten Pfades, auf dem bestimmte Kräfte wirken müssen, um zu bestimmten Erfahrungen zu führen. Shakti-Kraft wird die Yoga-Übenden nicht nur stufenweise auf einer ansteigenden Bahn voranbringen, sondern unterwegs auch nähren, stärken und schützen. Schon die vedischen Hymnen betonen, dass die innere Entwicklung nicht nur ein einfaches Vorwärtskommen und Emporsteigen ist, sondern ein fordernder Prozess, der viel Kraft und Ausdauer benötigt und vom Kampf gegen Widerstände und Schwierigkeiten geprägt ist. In diesem Zusammenhang gewinnt auf einem auf die Shakti bezogenen Yoga-Pfad auch der kämpferische Aspekt an Bedeutung, der eine Wirkkraft darstellt, die – wenn erforderlich – ein starkes heroisches Element in die spirituelle Reise einbringen kann.

Shakti und der umgekehrte Weltenbaum

„Im unverwandelbaren, namenlosen Ursprung sah man auftauchen wie aus unergründlichen Ozeanen die Spur von den Ideen, die die Welt erschufen, und in die schwarze Erde der Verzückung der Natur gesät den Samen von des Geistes blindem und gewaltigem Begehren, aus dem empfangen ward der Baum des Kosmos, der seine Wunderarme ausstreckt durch den Traum von Weltraum. So nahmen ungeheure Wirklichkeiten eine Form an ...“

Sri Aurobindo6

Im Prinzip ist alle Kraft Shakti-Kraft. Alles kommt durch sie in die Manifestation, alle Dinge, Wesen und Energien im Universum und alles, was wir in unserem Dasein sind und erfahren. Alle Erscheinungen, die zu unserer Welterfahrung gehören, alles, was uns berührt, alle Gedanken, Gefühle, Instinkte, Handlungen, Impulse und Träume. Alles, was unseren Weg erleuchtet und was uns in Dunkelheit hält, alles, was wir lieben und hassen, was uns angenehm und unangenehm ist, was uns anzieht und abstößt, jede Schönheit und jede Hässlichkeit und alle Gegensätze der Welt, auch das Gute und Wohlwollende und selbst das Böse und Übelgesinnte. Denn Shakti ist eine göttliche Kraft auf allen Ebenen der universellen Existenz und umfasst in ihrem Wirken das gesamte Spektrum der Schöpfung – womit diese prinzipiell göttlich ist, auch wenn sie in vielen Aspekten dem Auge unserer Wahrnehmung anders erscheinen mag. Doch obgleich alles das höchste Bewusstsein in sich trägt, offenbart nur weniges in der Welt einen Schimmer der innewohnenden Vollkommenheit. Ob wir das gesamte Weltenspektrum oder unser persönliches Lebensumfeld betrachten: Kraft erscheint auf unserer Ebene der Weltenerfahrung selten als bewusste Kraft, und auch ihre Manifestationen sind in der alltäglichen Realität weit davon entfernt, im höchsten Sinne bewusst zu sein. Shakti ist damit ein äußerst komplexes und fluides Geschehen, das sowohl Licht als auch Dunkelheit hervorbringen kann, Bewusstheit oder Unbewusstheit. Im Spiel der Welt existieren gewaltige Unterschiede, denn im Schöpfungsprozess transformieren sich die eine All-Kraft und das eine All-Bewusstsein, das Sie in ihren Begegnungen transportiert, in ein zunehmendes Unbewusstsein herab. Gleichzeitig wirkt das Prinzip einer ständigen Unterscheidung, Vervielfältigung und Vereinzelung, über das eine Vielfalt an Formen und Energien ausgearbeitet wird.

Vielen Kulturen ist in diesem Zusammenhang das Sinnbild des mythologischen Weltenbaumes bekannt (siehe Abb. 1 im Bildteil). Indem er seine Kraft aus verborgenen Wurzeln bezieht und aus unzähligen, einander durchdringenden und übereinanderliegenden Welten besteht, stellt er auf anschauliche Art ein uraltes Abbild der kosmischen Ordnung dar. In der indischen Tradition wird dieses eingängige Symbol in der Katha-Upanishad und der Bhagavadgita in der Form eines umgekehrten Weltenbaumes zum Ausdruck gebracht. Wir können an diesem Bild die weltenentfaltende Funktion der Göttlichen Mutter etwas genauer betrachten.