Die Gräfin der Lüfte - Milena Agus - E-Book + Hörbuch

Die Gräfin der Lüfte Hörbuch

Milena Agus

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Beschreibung

»Nur wenige Bücher treffen so ins Herz wie dieses.« Elle Ihre Schwestern machen sich über sie lustig, weil sie mit ihrem weichen Herzen so weltfremd ist. Im Palazzo der verarmten Adelsfamilie in Cagliari haust die junge Gräfin in der unscheinbarsten Wohnung, und das Leben spielt ihr auch sonst nicht gut mit. Bis sie eines Tages ihren phantasievollen Nachbarn näher kennenlernt. Drei Schwestern sind auf der verzweifelten Suche nach dem Glück. Noemi, die Älteste, träumt davon, die veräußerten Teile des Familienpalastes zurückzukaufen. Maddalena sehnt sich mit ihrem Mann leidenschaftlich nach einem Kind. Die jüngste Schwester wird wegen ihrer Ungeschicktheit als »Gräfin mit Ricotta-Händen« verspottet und macht sich Sorgen wegen ihres fünfjährigen Sohnes, der ständig wegläuft und von anderen Kindern gemieden wird. Doch das Blatt wendet sich für sie, als sie eines Tages ihren frisch geschiedenen Nachbarn kennenlernt. Der einfallsreiche Fluglehrer hat die rettende Idee, wie ihr Sohn Anerkennung und die junge Gräfin das Glück finden können.

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Zeit:3 Std. 20 min

Sprecher:Marie Biermann

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                 Milena Agus

          Die Gräfin der Lüfte

                       Roman

                       Aus dem Italienischen

                       von Monika Köpfer

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel

La contessa di ricotta bei Edizioni nottetempo, Rom.

1. Auflage 2010

Copyright © 2010 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Copyright der Originalausgabe

© 2010 by nottetempo srl

Foto S. 127 © Marco Desogus

www.hoca.de

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-455-40267-4

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

»Alles ist voller Glühwürmchen«, sagt Vetter.

»Wenn man die Glühwürmchen aus der Nähe betrachtet«, sagt Pin, »sind auch sie bloß eklige rötliche Tiere.«

»Ja«, antwortet Vetter, »aber aus der Ferne gesehen sind sie schön.«

Und sie gehen weiter, der große Mann und das Kind, in der Nacht, mitten unter den Glühwürmchen, und halten einander an der Hand.

                                       Italo Calvino, Wo Spinnen ihre Nester bauen

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Dank

1

Die Familie der drei Schwestern war zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der König bei uns auf Sardinien Zuflucht suchte, zwar schon reich, aber noch nicht adelig. Man sagt, dass sie in den Adelsstand erhoben wurde, weil ein Vorfahr es verstand, den stets schlechtgelaunten König zu besänftigen, der immerzu auf dieses Räubernest von Sardinien schimpfte und türenknallend durch den Palast lief: Der Ahne stellte dem missmutigen Herrscher exquisites Tafelservice zur Verfügung, damit er wenigstens an einem würdig gedeckten Tisch speisen konnte.

Der ehemalige Adelspalast der Familie befindet sich im Castello, der historischen Altstadt von Cagliari, und wurde im 17. Jahrhundert erbaut. Er stand also schon zu der Zeit, als jener Ahne ihn zusammen mit dem Adelstitel vom König geschenkt bekam. Es ist ein Eckgebäude. Einst gehörte es ganz, mitsamt den drei Fassaden, der Familie der Gräfinnen. In den zwei Haupteingängen an den beiden Hauptstraßen des Viertels herrschte früher ein reges Kommen und Gehen von Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins, Bediensteten und auch Ärzten, denn die Mutter der Gräfinnen war herzkrank.

Von den drei Fassaden sind den adeligen Damen nur nochzwei geblieben: Die eine blickt auf die Gasse, die andere auf eine der Hauptstraßen. Über die ersten beiden Stockwerke ziehen sich jeweils zwei lange Mittelbalkone mit Balustraden aus stilisierten Gipsfiguren. Sie werden zu beiden Seiten von je einem kleineren Balkon flankiert. Über die Länge des dritten Stockwerks verläuft eine Reihe von Fenstern, die von Säulen gerahmt und von einem Giebeldreieck mit Engeln überbaut sind.

Wenn das Tor zu der prunkvollen Eingangshalle offen steht, halten die Passanten inne, um einen neugierigen Blick hineinzuwerfen oder gar einzutreten, angezogen von der Atmosphäre tiefer Versunkenheit und Stille, wie man sie sonst nur in Klöstern findet. Rings um das Innere der Säulenhalle reihen sich Nischen, in denen die Büsten der Vorfahren aufgestellt sind. Im hinteren Teil schwingen sich zwei weiße Marmortreppen mit Balustraden empor, die sich im mittleren Stockwerk zu einer Galerie vereinen. In deren Mitte öffnet sich ein Rundbogen, über den man das Treppenhaus erreicht.

Zu den beiden Seiten des Rundbogens befindet sich jeweils eine Tür. Die rechte gehört zur Wohnung Nummer eins, in der die »Contessa di Ricotta« wohnt, wie die jüngste der drei Schwestern genannt wird. Die linke gehört zur Wohnung Nummer zwei, die verkauft ist. Vom Treppenabsatz jenseits des Rundbogens aus führen die Stufen zu den restlichen Wohnungen. Das Tageslicht fällt durch die Buntfenster herein und erleuchtet das Treppenhaus wie in einem Kaleidoskop. Über die rechte Treppe erreicht man Wohnung Nummer drei, in der Maddalena und Salvatore wohnen, die mittlere der drei Schwestern und ihr Mann. Die linke Treppe führt zu Wohnung Nummer vier, die verkauft ist. Im zweiten Stock liegen die Wohnungen Nummer fünf und sechs, beide ebenfalls verkauft. Auch Wohnung Nummer sieben im dritten Stock gehört nicht mehr der Familie, und in Nummer acht wohnt Noemi, die älteste Schwester.

Maddalena und ihrem Mann Salvatore, die, wenn es nach ihnen ginge, längst eine zahlreiche Familie hätten, ist die Beletage vorbehalten. Abgesehen von den Fenstern zum Innenhof verfügt sie über einen Balkon oberhalb der Straße und zwei Fenster zur Gasse hin. Die Gasse mündet in einen der zahlreichen kleinen Plätze Cagliaris, auf denen sich das blendende Licht des Himmels und des Meeres einen Wettstreit liefern.

Doch der Großteil der Fenster in den Wohnungen der Gräfinnen schaut auf den großen Innenhof, über dem früher die weniger vornehmen Räume lagen.

Im Lauf der Jahre wurde der Adelspalast wegen des schleichenden wirtschaftlichen Niedergangs immer wieder aufgeteilt, sodass nur noch die Wohnungen Nummer eins, drei und acht in Familienhand verblieben sind. Noemis, der Erstgeborenen, größter Wunsch ist es, noch ehe sie alt und grau ist, alle Wohnungen zurückzukaufen.

Die Wohnung der Contessa di Ricotta, der jüngsten Schwester, im Zwischengeschoss war früher nicht bewohnt, sondern diente als Vorratstrakt. Sie ist dunkel und hässlich, andererseits bietet sie jedoch für den kleinen Sohn Carlino die nötige Sicherheit. Seit er gehen kann, entwischt er der Contessa, noch ehe sie dazu kommt, seine verschmierten Mundwinkel zu säubern, und läuft auf die Gassen hinaus. Mit der Mama auf den Fersen rennt Carlino immer schnurstracks zu einer Schar von Kindern, die überall auf den kleinen Plätzen spielen und ihn nie dabeihaben wollen. Wenn die Contessa ihn schließlich findet und sieht, wie die anderen ihn ausschließen, macht sie eine traurige Miene, nimmt ihn rasch bei der Hand und geht mit ihm nach Hause, den Kopf leicht schief gelegt.

Noemi, die Älteste, kann die Sache mit den anderen Kindern nicht verwinden. Sie glaubt, dass sie ihren Neffen schneiden, weil seine Brille wie eine Taucherbrille aussieht.

»Dafür werden sie mir büßen«, sagt sie.

Der Adelsname der drei Schwestern lautet in Wirklichkeit nicht »von Ricotta«. Die beiden älteren nennen die jüngere mit diesem Spitznamen, weil sie ungeschickt ist, »Ricotta-Hände« hat, wie es hierzulande heißt, und weil die Wirklichkeit ihrem weichen Herzen so zusetzt – auch das aus Ricotta, wie die Schwestern meinen.

Noemi und Maddalena erzählen, dass sie sie als kleines Mädchen immer geschimpft haben, weil man nie mit ihr rechnen konnte, wenn es im Haus etwas zu tun gab, ständig war sie wieder bei irgendwelchen armen Leuten in der Nachbarschaft. Wenn es zum Beispiel regnete, ging die Contessa in die überschwemmten Keller des Castello, in denen die Armen wohnten, um eimerweise Wasser herauszuschleppen. Wenn hingegen Trockenheit herrschte, brachte sie den Bedürftigen von zu Hause eine Tonne, damit sie sich einen Wasservorrat anlegen konnten, denn die Familie der Gräfinnen hatte ja einen Wassertank.

In Noemis Augen stiftete sie mit ihren zwei linken Händen in den Elendsquartieren noch mehr Unordnung und ging den armen Teufeln damit auf die Nerven. Doch wenn die Contessa nach Hause kam, strahlte sie immer über beide Ohren, glücklich, wieder jemandem geholfen zu haben. Zierlich, wie sie war, wurde sie von der Öffnung der hohen, dunklen Tür zum Speisezimmer gleichsam verschluckt, während sie mit verschränkten Armen dastand, unschlüssig, ob sie hereinkommen sollte oder nicht. Es sah so aus, als hätte sie sich am liebsten entschuldigt, weil sie mal wieder gut zu anderen gewesen war, und überhaupt, weil sie auf der Welt war.

Auch hütete die Contessa damals unentgeltlich die Kinder von Müttern, die arbeiten gingen. Und wenn sie ihr dann nicht einmal dankten oder ihr gar die kalte Schulter zeigten, fragte sie sich: »Habe ich etwas falsch gemacht?«, statt einzusehen, dass sie einfach viel zu gutmütig war. Doch sie dachte, dass ihr alles misslang, weil sie nicht gut genug war, und wenn Noemi sie so sah, bekam sie größte Lust, sie an die Wand zu klatschen, diese dumme kleine Schwester. Hier im Castello lachen viele über sie, zumindest eckt sie mit ihrer Art an. Das Seltsame ist, dass gerade die, die ihr raten, sich mehr Respekt zu verschaffen, es ihr gegenüber am meisten daran fehlen lassen. Allen voran Noemi, die Älteste, die lautstark den Ton angibt.

Der Nachbar wohnt schon seit langem hier, jenseits der Innenhofmauer, und keine der drei Schwestern hatte sich je Gedanken über ihn gemacht. Erst als es der Contessa wieder einmal richtig schlechtging, wurde die Idee geboren.

Nur gut, dass Maddalena, die Zweitälteste, zu Hause war, als die Contessa vor der Haustür stand und es ihr nicht gelang, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, und sie deshalb Sturm klingelte. Maddalena kam angelaufen, legte den Arm um die jüngere Schwester und führte sie ins Haus. Während sie die Treppe hinaufgingen, erzählte die Contessa schluchzend, dass sie soeben auf der Straße den Mann getroffen habe, mit dem sie in der vorigen Nacht im Bett gewesen sei. Er habe mit dem Handy telefoniert und sie nur mit einer knappen Handbewegung gegrüßt, um sich dann rasch wieder auf sein Gespräch zu konzentrieren und einfach weiterzugehen.

»Er hat dich nicht verdient. Wer einen nicht gernhat, hat einen nicht verdient«, versuchte Maddalena sie zu trösten.

»Aber mich mag ja sowieso keiner.«

»Das heißt, dass niemand dich verdient.«

»Das würde ja bedeuten, dass ich allen anderen Menschen auf der Welt überlegen wäre, wenn mich niemand verdient hat. Und das ist ja wohl nicht möglich, oder?«

»Lass uns zu mir gehen, dann mache ich dir was Warmes zu trinken.«

»Du kannst immer nur banales Zeug von dir geben. Ich will nichts Warmes trinken, und essen werde ich auch nichts mehr. Ich will sterben. Ihr könnt alle immer nur banales Zeug daherreden, das könnt ihr.«

An diesem Nachmittag traf Maddalena, nachdem sie den kleinen Sohn der Contessa aus dem Kindergarten abgeholt hatte, vor dem Eingang den Nachbarn, der gerade mit seiner Vespa angefahren kam. Als er sie sah, bremste er abrupt und nahm den Helm ab.

»Ihre Innenfassade zerfällt allmählich«, sagte er zu ihr. »Der Putz bröckelt, und von den Fenstergiebeln purzeln diese traurigen Frauengesichter herunter.«

»Das sind keine Frauen, sondern Engel«, berichtigte ihn Maddalena.

Plötzlich nahm Carlino ihm den Sturzhelm aus den Händen, setzte ihn sich auf und lief weg. Die Tante wollte ihm nachrennen, doch der Nachbar holte den Kleinen mit seiner Vespa ein und sagte ihm, er solle hinter ihm aufsteigen.

»Halt dich gut an mir fest, denn wir wenden jetzt.« Maddalena wartete am Haustor, während der Nachbar mit dem Jungen die Via La Marmora rauf- und runterbrauste und die Via dei Genovesi und die Via Santa Croce entlangfuhr. Dann ging es unter dem Torre dell’Elefante hindurch in die Via Università, als Nächstes zur Terrapieno hinauf bis zum Torre di San Pancrazio und schließlich wieder das Castello hinunter bis vor das Haus.

»Den Helm schenke ich dir«, sagte der Nachbar beim Abschied zu Carlino, »aber nur wenn du mir versprichst, dass du ihn beim Spielen im Garten aufsetzt. Immer. Abgemacht? Also, schlag ein!« Und er reichte Carlino die Hand.

Der Junge stürmte mit dem Helm nach drinnen. »Wenigstens ist der Kleine dann vor herabfallenden Teilen geschützt. Es ist übrigens nicht damit zu spaßen – wie leicht fällt einem ein Gesimsbrocken oder gar ein Fenster auf den Kopf! Sie sollten die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Von meiner Wohnung aus sehe ich ja, in welchem Zustand Ihre Innenfassade ist.«

»Danke. Wirklich. Sie haben leider recht, wir wissen es. Aber wir haben uns daran gewöhnt und hoffen einfach, dass nichts passiert, bis wir die Mittel haben, um die Fassade restaurieren zu lassen.«

Der Nachbar startete wieder seine Vespa und fuhr davon.

Maddalena stürzte zur Contessa, die noch immer zusammengerollt in einer Ecke ihrer Wohnung lag.

»Ich glaube, ich habe gerade einen Mann gefunden, der dich verdient.«

Doch die Contessa hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, weil sie nichts davon hören wollte.

»Er ist ein guter Mensch. So wie du, obwohl du ohnehin der beste Mensch bist, den ich kenne. Und er hat dich verdient.«

»Wer soll das sein?«

»Dieser Herr, der auf der anderen Seite der Mauer wohnt.

Wir sind ihm schon ein paarmal begegnet. Er hat eben mit Carlino eine Runde auf der Vespa gedreht und ihm einen Sturzhelm geschenkt, den er sich aufsetzen soll, wenn er im Garten spielt. Er macht sich Sorgen um uns. Wegen der Fassade, die allmählich zerfällt. Ich habe übrigens keinen Ehering an seiner Hand gesehen. Bei den wenigen Gelegenheiten, da wir uns begegnet sind, ist mir der Ring aufgefallen, denn er war groß und glänzte. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, erinnere ich mich, dass ich in letzter Zeit keine Geigenmusik mehr aus seinem Fenster gehört habe, nur Radio und Fernseher, die offensichtlich immer laufen. Und auch diese schöne Frau habe ich seit längerem nicht mehr gesehen, die manchmal die Blumen gegossen und den Garten umgegraben hat, und jetzt ist er voller Unkraut ...«

»Diese Frau ist wirklich wunderschön.«

»Du hast mich nicht zu Ende reden lassen. Wann lernst du endlich, einem nicht ständig ins Wort zu fallen? Ja, ja, die Frau sah ganz gut aus, aber erstens ist sie nicht mehr da, und zweitens ist ihre Schönheit ... wie soll ich es ausdrücken ... na ja, banal, und drittens war sie eine dumme Gans. Und er will jetzt nichts mehr von ihr wissen. Warum sonst hätte er sich den Ring vom Finger gezogen und den Garten von Unkraut überwuchern lassen? Weil er nämlich die Blumen hasst, die sie so gehegt hat.«

Seit diesem Moment hört die Contessa di Ricotta nicht mehr auf, an den Nachbarn zu denken. Sie ist so glücklich, weil sie glaubt, die Vorsehung habe ihr diesen Mann gesandt, noch dazu einen, der nur wenige Schritte von ihr entfernt wohnt. Seither versucht sie, sich irgendwelche Tricks auszudenken, um diese Grenzlinie zwischen den beiden Innenhöfen zu überwinden. Vielleicht könnte man in dem Beet, das sie an der Mauer gegraben hat, irgendwelche Wunderblumen pflanzen, die von einer Minute auf die andere erblühen und sich über die Mauer hinweg verbreiten würden, sodass sie immer hinübergehen und sie gießen könnte.

Noemi, die große Schwester, kann das Beet der Contessa nicht ertragen und nennt es das »Beet der Ungerechtigkeit«, weil sie statt dieses elenden schmalen Bandes eigentlich ein viel größeres Beet haben müssten. Tatsache ist, dass man sich vor langer Zeit, als der Palazzo aufgeteilt wurde, verrechnet hatte, als es darum ging, eine Mauer zwischen dem ihnen verbliebenen Innenhof und dem verkauften zu errichten. Als Noemi, um sich Klarheit zu verschaffen, bei der Gemeindeverwaltung und beim Katasteramt Nachforschungen anstellte und den Kaufvertrag studierte, stieß sie auf den Fehler, der den Vorfahren unterlaufen war. Daraufhin ging sie zum Besitzer des anderen Teils, um den irrtümlich abgetretenen Streifen zurückzufordern, doch der Mann wollte freilich nichts davon wissen. Also strengte sie einen Prozess gegen ihn an, und dieser Prozess zieht sich noch immer hin.

Der Nachbar weiß von alldem nichts, denn er wohnt nur zur Miete, aber wenn er es wüsste, hätte er bestimmt nichts dagegen, den Gräfinnen den ihnen zustehenden Streifen abzutreten, scheint er doch so gar nichts für den Garten übrigzuhaben, den er von Gestrüpp zuwachsen lässt.

Noemi, die das Beet der Contessa an der Mauer nicht erträgt, hat es mit Scherben eingefriedet, um es besser vom »richtigen« Garten abzugrenzen, dem Teil, um den nicht gestritten wird und den sie hegt und pflegt. Dort gibt es einen von Rosen gesäumten Goldfischteich, eine Laube mit Steintischchen und Zitronenbäumen, einen Mispel- und einen Agavenbaum sowie Hortensien.

Die Wohnung des Nachbarn liegt geradewegs an der Ecke zwischen der Gasse und der anderen Hauptstraße. Früher gehörte sie einmal zum Palast der Gräfinnen, dessen Gebäudeteile um den Innenhof herum errichtet worden waren. Er wohnt im Erdgeschoss, und seine Wohnung erreicht man durch einen separaten Eingang. Von der Straße aus geht man durch einen dunklen Bogengang, an dessen Ende eines der Palasttore liegt. Man gelangt in den Innenhof und steigt dann die kleine Treppe empor, auf der Töpfe mit inzwischen vertrockneten Blumen stehen und an deren oberem Ende sich die Glastür zur Wohnung des Nachbarn befindet.

Da das Tor immer offen ist, könnte jedermann hineingelangen, doch keine der Schwestern wäre bislang auch nur im Traum auf die Idee gekommen, fanden sie den Nachbarn mit seiner abweisenden Art doch reichlich unsympathisch.

Sobald die Contessa und Maddalena um die Ecke biegen, gehen sie schneller und werfen eilige Blicke durch den Torgang, beide rot im Gesicht, als wären sie in geheimer Mission unterwegs. Manchmal schleppen sie auch Noemi mit, die nicht nur das leidige Blumenbeet, sondern auch den Nachbarn nicht ausstehen kann, weil er das zu Unrecht erworbene Stückchen Land brachliegen lässt, wo sie es doch so gern mit frischer Blumenerde füllen und Setzlinge darin pflanzen würde.

Diese Idee wiederum begeistert die Contessa – ein Garten, der auf wundersame Weise vor den Augen des Nachbarn erblüht. Doch Noemi sagt das mit dem Garten nur so. Sie würde nicht im Leben daran denken, jemandem eine schöne Überraschung zu bereiten, schon gar nicht einem, der es nicht verdient hat.

2

Maddalena und Salvatore haben keine Kinder. Dabei wünschen sie sich im Leben nichts so sehr wie Kinder. Stattdessen haben sie eine getigerte Katze, die ganz klein ist und Míccriu heißt. Sie behandeln den Kater wie ein Kind, auch wenn Míccriu nicht dafür geschaffen ist, einen Menschen abzugeben, ja früher vielleicht glücklicher war, als er statt eines Weidenkorbs und seiner Schüssel und unzähliger Bälle und künstlicher Vögel nur die Streifen auf seinem Fell besaß.