Die große Erschöpfung - Andreas Salcher - E-Book

Die große Erschöpfung E-Book

Andreas Salcher

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Die große Erschöpfung ist ein Phänomen unserer Zeit. Das spüren inzwischen auch viele, die sich bisher als immun dagegen empfunden haben und ihren Alltagesstress gut bewältigen konnten. Andreas Salcher entlarvt falsche Mythen, benennt Ursachen und zeigt anhand der faszinierenden Erkenntnisse des Sinnsuchers Viktor Frankl, des Glücksforschers Mihaly Csikszentmihalyi und des Benediktinermönchs David Steindl-Rast konkrete Zugänge zu den eigenen Quellen der Kraft.

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Seitenzahl: 220

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Andreas Salcher

Die große Erschöpfung

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Bastian Welzer

Satz: Isabella Starowicz

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

1   2   3   4   5   —   25   24   23   22

ISBN 978-3-99001-628-2

eISBN 978-3-99001-629-9

ANDREAS SALCHER

DIE GROSSE ERSCHÖPFUNG

UND DIE QUELLEN DER KRAFT

Gewidmet meinem Vater Rudolf,der geprägt war von Herzenswärme und Großzügigkeit

Lesehinweise

Um die Lesbarkeit des Buches zu erleichtern, wurde darauf verzichtet, neben der männlichen auch die weibliche Form anzuführen, die gedanklich selbstverständlich immer miteinzubeziehen ist.

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Buch ist in der Du-Form geschrieben. Ich habe mir die Entscheidung dazu nicht leicht gemacht. Der wesentliche Grund dafür sind viele Passagen, die per Sie distanziert und unpersönlich klingen würden. Daher bitte ich Sie, Ihnen für die Zeit, die Sie mit diesem Buch verbringen, das Du-Wort anbieten zu dürfen.

Das Thema »Erschöpfung« löst bei vielen Menschen oft tiefe Gefühle aus und ich werde an einigen Stellen ebenfalls Einblicke in mein Leben gewähren. Jede Ich-Formulierung in dem Buch ist daher eine persönliche Aussage von mir. Steht ein Ich-Zitat unter Anführungszeichen, dann bezieht es sich immer auf die in der Quelle angegebene Person.

Mir ist bewusst, dass es für manche eine eigenartige Situation ist, wenn ihnen ein Nicht-Nahestehender plötzlich das Du-Wort anbietet. Vielleicht stellst du dir eine Bergtour oder eine Expedition vor, bei der alle Teilnehmer zumindest für deren Dauer per Du sind.

Wenn wir uns in irgendeiner Form einmal begegnen sollten, dann werden wir spontan entscheiden, wie wir mit dem Du-Wort umgehen.

Andreas Salcher

INHALT

Die Diagnose: Mythen und Wahrheiten

Mythos: Die ständigen Krisen der äußeren Welt erschöpfen uns

Wahrheit: Die Krisen der äußeren Welt verschärfen die Folgen von falschen Entscheidungen und Selbsttäuschungen in unserer inneren Welt

Mythos: Erschöpfung kommt von Anstrengung

Wahrheit: Fremdbestimmung und Sinnverlust sind die tieferen Ursachen für Erschöpfung

Mythos: Eine gute Work-Life-Balance schützt vor Erschöpfung

Wahrheit: Wir haben nur ein ganzes Leben, das wir nicht zwanghaft mit der Stoppuhr in Arbeit und Freizeit trennen können

Mythos: Die Jungen sind eine verlorene Generation

Wahrheit: Die Jungen sind eine in ihren Lebenschancen völlig gespaltene Generation

Mythos: Unsere rasende Zeit erschöpft und ängstigt uns

Wahrheit: Den Typus des erschöpften und von Ängsten geplagten Menschen gibt es schon viel länger

Lernen von Extremen

Ein Schritt geht immer noch – ohne künstlichen Sauerstoff auf den Mount Everest

Warum Roald Amundsen als Erster den Südpol erreichte und Robert Scott scheiterte

Die Quellen der Kraft – was erfüllte von erschöpften Menschen unterscheidet

Der Sinnsucher Viktor Frankl – die Wahlfreiheit des Menschen in siebeneinhalb Prinzipien

Der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi – warum Anstrengung glücklich machen kann und nicht erschöpfen muss

Die Weisheit des Benediktinermönchs David Steindl-Rast – wie können wir für den aktuellen Zustand der Welt dankbar sein?

Der Sinnsucher, der Glücksforscher und der Mönch – drei Werthaltungen als Schutzschild gegen die Krisen in einer veränderten Welt

Strategien gegen Erschöpfung – unsere Macht, Entscheidungen zu treffen

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Einleitung: Warum so viele Menschen erschöpft sind

Zu allen Zeiten gab es vom Leben ermattete Menschen. Etwas ist heute anders und viele wissen nicht, warum. Die große Erschöpfung breiter Bevölkerungsteile ist wohl ein Phänomen unserer Zeit. Es ist die Dauerschleife der Krise. Die äußeren Bedrohungen durch die Coronaviren, die Lahmlegung aller geschäftlichen und privaten Aktivitäten in den Lockdowns, der Krieg in der Ukraine, die Geldentwertung und die immer sichtbarer werdenden Auswirkungen der Klimakrise haben die tief in unserem Inneren verdrängten Ängste und Zweifel an die Oberfläche gespült.

Baumstämme zerbrechen nicht so leicht unter Druck. Menschen schon. Viele kämpfen mit sich selbst, manche leiden still, einige wenige begehen aus Verzweiflung sogar Selbstmord.

Im Wort »ausschöpfen« verbirgt sich das Wort »Erschöpfung«. Wenn wir unsere Kraftreserven völlig ausschöpfen, ohne dass es uns Freude bereitet und langfristig Sinn ergibt, dann sind unsere Quellen irgendwann leer. Selbst Menschen, die sich bisher als weitgehend immun gegen Krisen empfunden haben und ihren Alltagsstress gut bewältigen konnten, werden für Erschöpfung anfällig. Diesen Befund bestätigt der deutsche Sozial- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann: »Bei Menschen zwischen 17 und 27 Jahren haben sich psychische Belastungen wie Stress, Depression, Angststörungen und Leistungsabfälle schon nach der ersten Welle der Pandemie verdoppelt, teilweise sogar noch mehr erhöht. Für die gesamte Bevölkerung in Deutschland kann man sagen, dass sich der Anteil von Menschen, die vor der Pandemie keine psychischen Störungen hatte und jetzt davon betroffen ist, ebenfalls gesteigert hat. Menschen, die zuvor schon ihre Belastungsgrenzen erreicht haben, sind dann gekippt. Die Zusammenballung der zusätzlichen Krisen durch den Krieg und die Ängste vor Inflation und kalten Wohnungen hat das noch weiter verschärft.«1

Unmittelbar nach dem Angriff Putins auf die Ukraine gab es auf einmal erfolgreiche Unternehmerinnen, die Listen mit den Abflugzeiten nach Australien auf ihre Kühlschranktüren klebten. Die Autos von Familien parkten stets vollgetankt vor der Haustüre und abends studierten sie die genauen Einwanderungsbestimmungen von Kanada oder Neuseeland. Für diese Reaktionen gibt es offensichtliche Gründe. Die Massierung von zerstörerischen Kräften wie Verschuldung und Vertrauensverlust in die Währung, innenpolitische Polarisierungen, die wie in den USA selbst bürgerkriegsähnliche Zustände denkbar erscheinen lassen, durch Diktatoren ausgelöste Angriffskriege und der kalte Krieg zwischen dem aufstrebenden Imperium China und der stagnierenden Weltmacht USA sind deutliche Vorzeichen für eine Neuordnung der Welt.

Die Krisen der äußeren Welt verschärfen die Folgen von falschen Entscheidungen und Selbsttäuschungen in unserer inneren Welt.

Wir werden versuchen, den tiefer liegenden und vor allem den von uns selbst beeinflussbaren Ursachen für die Erschöpfung auf die Spur zu kommen und Auswege zu finden. Sind die Pandemie, der Klimawandel, Putins Überfall auf die Ukraine und die Geldentwertung des Euro tatsächlich völlig überraschende Ereignisse oder haben wir ihre Wahrscheinlichkeit nur bewusst ignoriert, weil das bequemer war? Für die Bereitschaft Wladimir Putins, gerne Panzer in fremde Länder zu schicken, gab es vom Krieg in Tschetschenien bis zur militärischen Besetzung der Krim eine Vielzahl an Beweisen. Haben wir ernsthaft geglaubt, dass der gewaltige Anstieg unserer Emissionen durch die Industrialisierung oder das ungebremste Wachstum der Weltbevölkerung von drei auf acht Milliarden innerhalb von sechzig Jahren ohne jede Auswirkung auf die Atmosphäre bleiben wird? Und um zu verstehen, dass die künstliche »Schöpfung« von Billionen von Euros durch die Europäische Zentralbank irgendwann zu einer ausufernden Inflation führen wird, brauchen wir nicht Volkswirtschaft studiert zu haben. Wir müssen nur auf unser Sparbuch oder auf den Kassenbon im Supermarkt schauen.

Die meisten Menschen ignorieren diese Fakten nicht deshalb, weil sie ihnen nicht bewusst sind, sondern weil es ihnen unmöglich ist, zu akzeptieren, dass der schlechtestmögliche Ausgang durchaus eintreten kann. Ist die Verdrängung von real existierenden Gefahren nicht sogar notwendig, um unser tägliches Leben in einer hochkomplexen Welt bewältigen zu können?

Werden diese äußeren Bedrohungen nun aber plötzlich für uns alle spürbar und summieren sich mit den Belastungen des täglichen Lebens, kann das eine Kettenreaktion auslösen. Diese beginnt mit ständiger Müdigkeit, setzt sich in Erschöpfung fort und lässt letztlich unsere Seele erkranken.

Im März 2022 erschien im Spiegel eine große Reportage über eine Mütterkurklinik in Bad Wurzach, in der vollkommen erschöpfte Frauen mit viel Zeit für Reflexion und Gesprächen therapiert werden. Viele Mütter konnten irgendwann einfach nicht mehr. Schuld daran wären veraltete Rollenbilder, aber auch eine Gesellschaft, die die gesamte Sorgearbeit von Frauen für selbstverständlich hält, wurde in dem Artikel argumentiert. Aussagen wie »Kinder zu haben ist auch ein Fulltime-Job« einer Hausfrau, »Welche Freizeit habe ich noch? Ich habe doch Kinder« einer Marketingassistentin oder »Es wird an mir nur rumgemeckert« von einer alleinerziehenden Intensivkrankenschwester berühren zutiefst. Das Müttergenesungswerk – das heißt wirklich so – betreibt 73 derartige Kurkliniken mit Platz für 50.000 Frauen. Der Bedarf wäre um ein Vielfaches höher. Die kurzfristigen Effekte derartiger Kuren sind allerdings größer als die langfristigen, denn an den äußeren Lebensumständen lässt sich meist wenig ändern.

Männer scheuen sich zwar eher davor, das Wort »Erschöpfung« in den Mund zu nehmen, sie leiden aber ebenfalls darunter. Frauen fühlen sich insgesamt deutlich gestresster als Männer, aber bei den Männern nimmt der Stress seit 2013 stärker zu als bei den Frauen.2 Dafür gibt es Ursachen. »Frauen achten viel selbstkritischer auf ihren körperlichen und psychischen Zustand, das schlägt sich dann auch in der höheren Bereitschaft nieder, sich Stress und Erschöpfung einzugestehen. Männer kostet es noch immer Überwindung, Belastung und vor allem Überforderung zuzugeben und sich Hilfe zu suchen. Das widerspricht ihrem archetypischen Rollenverständnis als Beschützer und Kämpfer. Diese Einstellung ändert sich aber erkennbar, vor allem bei jüngeren Männern, die sich nicht mehr als das starke Geschlecht sehen und sich daher leichter tun, Ängste und Schwächen zuzugeben«, meint Klaus Hurrelmann.3

Eines muss ich meiner Erschöpfung lassen: Kondition hat sie.

Erschöpfte tauchen die Kelle in den Brunnen mit ihren Energiereserven und sie finden kein Tröpfchen mehr vor. Arbeit, Familie, eine Flut an sonstigen Verpflichtungen und zusätzlich unerwartete Krisen werfen jeden Plan über den Haufen. Die To-do-Listen werden ständig länger statt kürzer. Wenn sie mit ihren Kindern spielen, quält sie der Gedanke an die unerfüllten Aufgaben im Job. Sie wachen jeden Tag mit dem Gefühl auf, allein in einem Bergwerk Steine abbauen zu müssen. Der Pionier der modernen Managementwissenschaft, Peter Drucker, hat gesagt: »Wann immer Sie einen hervorragenden Mitarbeiter gegen ein schlechtes System antreten lassen, wird immer das schlechte System gewinnen.« Das ist einer der Gründe, warum ursprünglich hoch motiviertes und engagiertes Pflegepersonal resigniert den Beruf wechselt. Idealistische Krankenschwestern und Pfleger, die Kranken und Schwachen helfen wollen, sehen sich auf einmal gezwungen, ihre Zeit immer mehr mit der Befriedigung einer bürokratischen Maschine zu verbringen und dafür ihre Patienten vernachlässigen zu müssen. Das lässt sich weder mit einmaligen Bonuszahlungen noch mit Phrasen wie »Unsere Helden des Alltags« lösen. Dazu kommen die Ängste vor Wohlstandverlust, kalten Wohnzimmern, leeren Benzintanks und dem bis vor Kurzem noch Undenkbaren – einem Krieg, der sich bis vor unsere Haustüren ausbreitet. Angst erschöpft.

Was unterscheidet aber Menschen, die sich völlig erschöpft fühlen, von jenen, die unglaubliche Belastungen noch immer meistern, jeden Morgen aufstehen und sich auf den neuen Tag freuen? Warum balancieren manche Mütter mit einem Kind, die finanziell abgesichert in einer funktionierenden Partnerschaft leben, ständig am Rande des Zusammenbruchs, während alleinerziehende Mütter mit drei Kindern und einem anstrengenden Job ihr Leben bewältigen? Wieso schaffen es viele Selbstständige und Unternehmer, deren Umsätze völlig eingebrochen sind, zuversichtlich neue Strategien und Ideen zu entwickeln, während Menschen, die de facto unkündbare Jobs haben, gänzlich von Zukunftsängsten blockiert sind? Ist die viel beschworene Work-Life-Balance wirklich die Lösung? Warum leiden manche junge Menschen unter den vielen Wahlmöglichkeiten für ihr Leben, während andere sich resigniert als Teil einer verlorenen Generation empfinden? Gibt es nicht auch positive Seiten der Erschöpfung? Man denke an das überwältigende Gefühl nach einem Gipfelsieg oder an den »kleinen Tod« beim Orgasmus.

Um die Suche nach Antworten auf diese Fragen geht es in diesem Buch. Es versteht sich als Einladung zu einem Dialog, den du jederzeit unterbrechen kannst, indem du Seiten oder ganze Kapitel überspringst, bis du auf einen Satz stößt, der deinen Verstand oder deinen Bauch für einen Moment von »nicht betroffen« auf »betroffen« wechseln lässt. Dann wird es spannend – auch für Männer.

Wie die große Erschöpfung mittelalte und junge Männer trifft

Die Erschöpfung schleicht sich unausweichlich als ungebetener Gast in das Leben mittelalter Männer4, auch wenn sie das so lange wie möglich ignorieren wollen. Sie werden früher oder später mit einer generell sinkenden Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten konfrontiert: Ihnen passieren ärgerliche Ungeschicklichkeiten bei einfachen Tätigkeiten. Rücken- oder Knieprobleme verleiden das geliebte Tennis- oder Golfspielen. Die Gespräche im Freundeskreis drehen sich eher um die Empfehlung guter Ärzte als um Tipps für coole Bars. Karriereträume müssen der Realität geopfert werden, stattdessen hängen sie in der beruflichen Stagnationsfalle. Zwar gefallen ihnen noch immer die gleichen attraktiven jungen Frauen, doch die Blicke, die sie diesen zuwerfen, werden desinteressiert oder gar mitleidig beantwortet. Beim Sex geht es nicht mehr so oft und so lange, wie sie wollen, oft gar nicht mehr. Die Symptome mögen unterschiedlich sein, aber irgendwann setzt sich die Erkenntnis durch, dass viele vertraute Dinge nicht besser, sondern schlechter werden, dass es eher ums Aufgeben statt um die Steigerung geht.

Manche finden Trost in gutem Essen, schönen Reisen und den Autos und Uhren, die sie sich leisten können. Die wahren Freunde für mittelalte Männer sind besonders in Krisenzeiten jedoch andere: Gelassenheit, Zufriedenheit und die Bereitschaft, großzügig an andere Menschen zurückzugeben, was man sich im Leben angeeignet hat. Wer rechtzeitig das große Ganze des Lebens sieht, das über unser Streben nach individuellem Lebensglück hinausgeht, der kann damit dem Kernproblem des mittleren Erwachsenenlebens begegnen: der Stagnation durch Selbstbezogenheit. Diesen Weg zu wählen, ist eine Entscheidung.

»Hormonelles Burn-out« ist für den Urologen und Leiter eines Zentrums für Männergesundheit, Markus Margreiter, keine offizielle Bezeichnung für eine Krankheit, aber ein Krankheitsbild, das er gerade in Zeiten der Krisen immer öfter sieht: »Das sind junge Männer, die gerade massive und nachhaltige Änderungen in ihrem Hormonhaushalt haben, ohne offensichtliche ursächliche Erkrankung. Männer in ihren Zwanzigern und Dreißigern, die untertags hart arbeiten, viel Stress ausgesetzt sind, schlecht essen, keine Ruhepausen einlegen, keine Energie tanken und nachts kaum schlafen, weil sie Existenzängste und Zukunftssorgen quälen. Eine Überlastung, die ihrem Körper annähernd alles abverlangt.«5 Das halten sie eine Zeit lang aus, dann schlägt der Körper zurück. Der Testosteronwert sinkt bedenklich ab und die gesamte Hormonebene verschiebt sich.

Das typische Persönlichkeitsmuster ist geprägt von extremer Wettbewerbshaltung im Beruf wie im Privatleben. Männer, die ständig über ihrer Belastungsgrenze leben, verfügen nicht über zu wenig von einem Hormon, sie verbrauchen nur insgesamt zu viel davon.

Dieser Typus leidet weniger an Erschöpfung, sondern an Selbsttäuschung. Er erwartet, dass er die Praxis verlässt, ein Medikament nimmt und alles läuft sofort wieder wie zuvor. Gesundheit funktioniert aber nicht unter Druck. Markus Margreiter unterstützt diese Patienten, die sehr stark im Außen leben, dabei, in sich hineinzuhorchen, ihrem Körper und Geist Ruhe zu verschaffen. Das Wechselspiel aus Anstrengung auf Topniveau und Loslassen ist der Gesundheit viel zuträglicher als permanente Höchstleistung auf allen Gebieten. Wenn sich die Patienten auf diesen Weg einlassen, dann kommen sie Monate nach der Verhaltensänderung in die Praxis und erzählen, wie sie wieder Freude an der Familie, an der Sexualität und am Leben insgesamt gefunden haben.

Den Zugang zu den Quellen unserer Kraft finden

Eines vorweg: Ich glaube nicht an die »Universal Theory of Everything«, die unsere komplizierte Welt widerspruchsfrei erklärt und rezepthaft auf Handlungsanleitungen reduziert. Die fünf Regeln gegen Erschöpfung, die für jeden in jeder Lebenssituation passen, gibt es nicht.

Stattdessen greife ich im letzten Kapitel »Quellen der Kraft – was erfüllte von erschöpften Menschen unterscheidet« auf die Lebenserfahrung und Weisheit von drei bedeutenden Lehrern aus der Wissenschaft und Spiritualität zu.

Viktor Frankls Lehre hilft uns, auch in schwierigsten Situationen Freiräume zu erkennen.

Der Benediktinermönch David Steindl-Rast zeigt uns die vielen Chancen auf, dankbar für unser Leben zu sein. Er scheut sich nicht, Antworten auf die schwierigste Frage zu suchen: Wie können wir für den aktuellen Zustand der Welt dankbar sein?

Der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi weist uns den Weg, wie wir mit dem richtigen Maß an Anstrengung Glück statt Erschöpfung erfahren können.

Was ist neu daran? Diese Erkenntnisse werden nicht isoliert, sondern gesamthaft als Lösungsmöglichkeiten für die äußeren und inneren Folgen von Erschöpfung zusammengeführt. Es ist verblüffend, wie viele Gemeinsamkeiten sich in den Lehren dieser drei so unterschiedlichen Persönlichkeiten finden. Es handelt sich um universelle Botschaften, die uns allen helfen können, ein zufriedeneres, sinnvolleres und letztlich glückliches Leben zu führen.

Du wirst aber feststellen, dass sich bestimmte Vorschläge, wissenschaftliche Thesen und spirituelle Weisheiten in diesem Buch widersprechen. Manche fühlen sich dadurch irritiert. Das ist großartig. Denn Neues zu erkennen, beginnt oft mit Irritation. Irritation ist die staunende Überraschung. Irritierbarkeit im Sinne von Überraschungsfähigkeit ist ein Synonym für Lebendigkeit. Lebendigkeit ist der Gegenpol zur Erschöpfung. Irritierte halten einen kurzen Moment inne.

»Stop. Look. Go.« nennt der Benediktinermönch David Steindl-Rast dieses Prinzip des Innehaltens. Ursprünglich hat man mit diesem Merksatz Kindern beigebracht, wie sie sicher über eine Straße gehen sollen. Doch wir können ihn auf viele Herausforderungen unseres Lebens anwenden. Gerade wenn wir uns total erschöpft fühlen, sollten wir stehen bleiben, durchatmen, uns Zeit nehmen und schauen, wofür wir gerade dankbar sein können – gesunde Kinder, bunte Blumen, klares Wasser, den hellblauen Himmel, einen Spaziergang im Wald –, und uns daran erfreuen. Das »Go« ist dann die Freude, weiterzugehen. Das funktioniert nicht für jeden. Wenn wir schon tief im Loch sitzen, können wir natürlich nicht weitergehen. Wir können jedoch einen Augenblick damit aufhören, weiterzugraben. Jean Piaget hat das so formuliert: »Intelligenz ist das, was man einsetzt, wenn man nicht weiß, was man tun soll.«

Es ist nicht immer die Vielzahl von Aufgaben, die Menschen so erschöpft.

Sondern es ist der Verlust an Orientierung, sobald das Wertegerüst, das sie sich im Laufe der Jahre zurechtgezimmert haben, ins Wanken gerät.

Spiritualität und Intelligenz, Intuition und Verstand sind wichtige Energiequellen unseres Lebens. Nutzen wir sie miteinander, dann zeigen sie uns immer Wege und Auswege, manchmal auch Umwege, wie es weitergehen kann. Lassen wir sie aufeinanderprallen, dann blockieren sie uns.

Eine Erklärung für die fortschreitende Entfremdung zwischen dem Menschen und der Welt sieht der deutsche Soziologe Hartmut Rosa in der Illusion der totalen Planbarkeit: »Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen.«6 Daher wird bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, einer Pandemie oder der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen stets nach »Verantwortlichen« gesucht. Jemand muss doch die Schutzmaßnahmen vernachlässigt und die Warnzeichen übersehen haben.

Was tun?

Als selbstreflektierte Menschen erkennen, dass es unvermeidbare Unglücke und Krisen sowohl im eigenen Leben wie auch in der Welt gibt. Es ist nicht möglich, diese durch administrative Maßnahmen abzuschaffen, um uns Menschen vor allen Rückschlägen zu bewahren. Der Preis, den wir für die Illusion zahlen, die Welt durch noch mehr Regeln und Gesetze total verfügbar zu gestalten, macht uns blind für die Realität des Lebens. Es wird immer ungerechtfertigte Kündigungen, Enttäuschungen durch geliebte Menschen oder bösartige Krankheiten im Leben geben, genauso wie in der Welt Kriege, Pandemien und Wirtschaftskrisen plötzlich ausbrechen können. Das meiste davon können wir nach einiger Zeit bewältigen, wirklich gefährlich ist alles, was den Kern unserer Persönlichkeit trifft. Wer nur wenige Verhaltensmuster hat, wird schwer in unterschiedlichen Lebenssituationen auf die richtigen Kompetenzen zurückgreifen können, die er benötigt.

Gefühle von Überlastung, Erschöpfung, Orientierungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Zerrissenheit, Bedeutungslosigkeit oder Einsamkeit verengen die Sicht auf unser Leben. Sie können einzeln oder in Kombination auftreten. Wir leiden dann unter Kurzsichtigkeit. Wir sehen nicht mehr, wer wir sein könnten. Daher benötigen wir einen klaren Blick, um unsere Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, statt der Ohnmacht Macht über uns zu geben oder wütend Schuldige zu suchen.

Drei Fragen können helfen, Orientierung im Leben zu finden.

Tust du das, was du tust, aus Leidenschaft? Mit »tun« kann der Beruf, die Erziehung von Kindern, das ehrenamtliche Engagement für eine gute Sache oder eine erfüllende Freizeitbeschäftigung gemeint sein. Oft landen Menschen bei der Frage: Arbeite ich, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten? Diese einfache Frage klingt vielversprechend, ist aber gefährlich falsch.

Wie hoch ist der Qualitätsanspruch an dein Tun? Strebst du dort, wo es dir wichtig und möglich ist, Meisterschaft an oder reihst du dich ein in die Kultur der Mittelmäßigkeit? Erfüllung im Tun ist immer mit Anstrengung verbunden, wie der Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi herausgefunden hat. Entscheidend ist, das richtige Maß zu finden. Überforderung führt genauso wie Unterforderung zum Verlust an der Freude am eigenen Tun und somit zum Sinnverlust.

Und dann ist da noch die Frage nach dem Sinn in deinem Tun. Macht das, was du tust, Sinn für dich selbst, Sinn für andere und Sinn für die Welt? Arbeit ist nicht die Strafe Gottes, sondern etwas, das unserem Leben Sinn geben kann, hat uns Viktor Frankl gelehrt. Allerdings nur dann, wenn wir unsere Arbeit nicht völlig fremdbestimmt und sinnbefreit leisten müssen.

Antworten auf diese drei Fragen können wir alle nur für uns selbst finden.

Dieses Buch basiert auf Gesprächen mit vielen sehr unterschiedlichen Menschen über ihre Erfahrungen mit Erschöpfung. Der Extrembergsteiger Peter Habeler ist davon überzeugt, dass viel von dem, was er auf den Bergen gelernt hat, ident mit dem ist, was wir im normalen Leben anwenden können. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wiener Straßenreinigung werden erzählen, wie man auch beim täglichen Schleppen und Ausleeren von Mülltonnen Augenblicke der Freude erleben kann, etwa wenn Menschen in der Pandemie ihnen von Balkonen zugejubelt haben. Wenn sie nach einer Silvesternacht die völlig vermüllte Wiener Innenstadt in wenigen Stunden so aussehen lassen wie am Tag davor, dann wissen sie, dass sie gebraucht werden und worin der Sinn ihrer Arbeit besteht. Psychotherapeuten und Ärzte werden uns einen Blick in das Seelenleben ihrer Klienten erlauben und erläutern, was wir von ihren Strategien gegen die individuellen Erschöpfungsmuster lernen können.

Die gute Nachricht

Wir brauchen weder unser Leben radikal umstellen – das gelingt nur den wenigsten – noch versuchen, die ganze Welt zu retten. Damit können wir nur scheitern. Interessieren wir uns stattdessen für unser Umfeld. Das beginnt mit dem Mut, andere um Hilfe zu bitten und ungefragt Hilfe anzubieten. Vielleicht hast du schon vom »Benjamin-Franklin-Effekt« gehört. Dieser besagt: Wenn wir jemanden erfolgreich bitten, uns einen Gefallen zu tun, werden wir ihm dadurch sympathischer. Wir müssen nicht alles alleine bewältigen.

Mehr als Gedanken kann ein Buch nicht inspirieren. Das ist aber durchaus sehr viel. Ich darf dir versprechen, dass du »deine« Sätze finden wirst, die dich überraschen und anregen werden. Die Beispiele werden dir zeigen, dass wir nicht immer die Macht haben, die großen Dinge in der Welt zu ändern, aber sehr wohl die Chance, die kleinen durch unsere Entscheidungen zu korrigieren. George Bernard Shaw hat dazu gesagt: »Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das, was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie diese nicht finden können, schaffen sie sie selbst.«

Wir gehen auf zwei Beinen durch das Leben. Unser Bewegungsablauf besteht im Wechsel zwischen Stand- und Spielbein. Das Standbein bleibt mit dem Boden verbunden, während das Spielbein den Boden verlässt, im Kniegelenk leicht einknickt und das Bein hebt, um den Schritt zu vollführen. Stellen wir uns vor, das Standbein steht für die materiellen, sichtbaren Dinge im Leben und das Spielbein für die Seele, das Unsichtbare, das Spirituelle. Wenn wir das Spielbein verkümmern lassen, weil wir versuchen, immer nur auf dem Standbein durch das Leben zu hüpfen, dann brechen wir bald erschöpft zusammen. Wenn wir immer wieder wider besseres Wissen das Falsche tun, dann erkrankt irgendwann unsere Seele. Gar nichts zu tun, ist fast immer das Falsche. Jeder auch noch so kleine Versuch, eine Chance zu ergreifen, kann zu einem erstaunlichen Erlebnis werden.

Wenn wir etwas für uns und unsere Gemeinschaft tun, fühlen wir uns besser. Darum geht es in diesen bewegten Zeiten.

Beipackzettel: Vor Gebrauch des Buches bitte lesen.

In diesem Buch wird der Versuch unternommen, einige tiefer liegende Gründe für die grassierende Erschöpfung breiter Bevölkerungsschichten zu untersuchen und mögliche Auswege anzubieten. Dazu ist vorweg eine Klarstellung notwendig:

Erschöpfung oder chronische Müdigkeit können eindeutige medizinische Ursachen haben.

Schwere Depressionen, Burn-out, Krebserkrankungen, Hormonstörungen, Long Covid und viele andere Erkrankungen können zu Müdigkeit und chronischer Erschöpfung führen.

Wer sich daher über einen längeren Zeitraum niedergeschlagen und energielos fühlt, keine Lebensfreude empfindet und feststellt, dass das eventuell auch noch mit körperlichen Symptomen verbunden ist, sollte mit seinem Hausarzt darüber reden, der Empfehlungen für qualifizierte Fachärzte oder Therapeuten geben kann.

1 Interview von Andreas Salcher mit Klaus Hurrelmann am 12. September 2022.

2 TK-Stressstudie 2021.

3 Interview von Andreas Salcher mit Klaus Hurrelmann am 12. September 2022.

4 Der Begriff »mittelalte Männer« wurde dem gleichnamigen, großartigen Roman von Richard Russo entlehnt.

5 Markus Margreiter: Mann 2020. S. 135. 2019. edition a.

6 Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren). 2018. Residenz.

Die Diagnose: Mythen und Wahrheiten

Mythos: Die ständigen Krisen der äußeren Welt erschöpfen uns.

Wahrheit: Die Krisen der äußeren Welt verschärfen die Folgen von falschen Entscheidungen und Selbsttäuschungen in unserer inneren Welt.

Die große Erschöpfung hat viele Gesichter. Unser Planet ist erschöpft von der gnadenlosen Ausbeutung und Zerstörung seiner Schätze. Unsere Welt ist erschöpft von der ständigen Unsicherheit. Unsere Gesellschaft ist erschöpft von der Politik. Unsere Kinder sind erschöpft vom Bildungssystem. Die Ärzte und das Pflegepersonal sind erschöpft von den nie enden wollenden Wellen der Pandemie. Die Lehrer sind erschöpft vom permanenten Wechsel zwischen Präsenzunterricht und Homeschooling. Die Frauen sind erschöpft von den unerfüllbaren Erwartungen an sie. Die Männer sind erschöpft, weil sie nicht zugeben dürfen, am Ende ihrer Kräfte zu sein. Mitarbeiter sind erschöpft von den stundenlangen virtuellen Zoom-Meetings. Die einen reagieren darauf mit dem Willen, etwas zu ändern, die anderen sagen: »Ich halte das alles nicht mehr aus.«

Die Journalistin Caroline fuhr mit letzter Kraft ins Spital, weil sie Herzrasen, wie vor einem Infarkt, hatte. Dort wurde ein 17-fach erhöhter Cortisol-Wert festgestellt. Es bestand der Verdacht auf einen Nebennierentumor. In Wahrheit war ihre Lebenssituation für ihr gefährlich hohes Stressniveau verantwortlich. Drei kleine Kinder, mehrere Jobs, um die Familie und einen Mann zu erhalten, der völlig ausließ, weil er sich beruflich als Künstler neu erfinden wollte. »Ich habe nur mehr wie ein Autopilot funktioniert, war todunglücklich, völlig fertig und habe manchmal, bevor ich ins Büro gekommen bin, im Auto bitterlich geweint, weil das kurzfristig entlastend war. Dann ging es weiter. Ich bin quasi über meine eigene Leiche gestiegen.« Es gab durchaus Gespräche und Vereinbarungen mit ihrem Mann, was sich in ihrer Beziehung ändern musste. Sie zeigte nur viel zu lange Verständnis dafür, dass fast nichts davon umgesetzt wurde, sondern sie verschob ihre innere Deadline immer wieder – bis es einfach nicht mehr ging. Es war der erste Satz, den ihr Mann in der Mediation sagte, der ihr half, die Entscheidung für die Scheidung zu treffen: »Das Hauptproblem ist, dass meine Frau nicht belastbar ist.« Caroline antwortete darauf: »Ich will die Scheidung.« Damit war die Mediation nach zwei Sätzen beendet. Sie hat für sich erkannt: Zwischen Selbstfürsorge und Egoismus liegen Welten.

Das Beispiel von Caroline steht für das Muster vieler Menschen. Erst als zu ihrer hohen Grundbelastung und ihrer Ehekrise zusätzlich die äußeren Bedrohungen kamen, hielt sie das irgendwann nicht mehr aus. Die Kumulation der Krisen ist daher meist nur der Auslöser, aber eben nicht die tiefere Ursache für die Erschöpfung, die Menschen quer durch alle Schichten lähmt. Diesen Ursachen auf die Spur zu kommen, ist das Thema dieses Kapitels.

Der getäuschte Mensch und die harte Wahrheit

»Die Einbildung tröstet die Menschen über das, was sie nicht sein können. Der Humor tröstet sie darüber hinweg, was sie wirklich sind.«

Albert Camus