Ich bin für Dich da - Andreas Salcher - E-Book

Ich bin für Dich da E-Book

Andreas Salcher

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Beschreibung

Es sind unsere wahren Freunde, die dafür sorgen, dass wir länger, gesünder und zufriedener leben. Sie geben uns Halt, wenn alles andere zerbricht. Doch woran erkennen wir sie? Und was sind wir selbst bereit für sie zu tun? Die Mühlen des Alltags rauben uns viel von der Zeit, die Freundschaft bräuchte, um zu gedeihen. Freunde sind wertvolle Geschenke, mit denen wir achtsam umgehen müssen, damit wir sie nicht wieder verlieren. Dieses Buch versteht sich als Einladung das Verhältnis zu unseren Freunden zu reflektieren und dabei mehr über uns selbst zu erfahren. Andreas Salcher formuliert klare, zum Teil provozierende Gebote für bereichernde Freundschaften. Er zeigt konkrete Wege, wie wir den Zauber in alten Freundschaften wieder entdecken und neue Freunde finden können. Denn die "Kunst der Freundschaft" ist schönsten Aufgaben im Leben. Sie beginnt damit, sich selbst ein guter Freund zu sein. "Das mit Abstand beste Buch, das seit Erich Fromm und Dale Carnegie zum Thema Freundschaft und Liebe geschrieben wurde!" Klaus Altepost, Verleger von Autoren wie Markus Lanz und Hannes Jaenicke

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Andreas Salcher

Ich bin für Dich da

Die Kunst der Freundschaft

 

 

Leserhinweis:

Um die Lesbarkeit des Buches zu verbessern, wurde darauf verzichtet, neben der männlichen auch die weibliche Form anzuführen, die gedanklich selbstverständlich immer mit einzubeziehen ist. Für alle im Buch abgekürzt verwendeten Namen, die auf Wunsch der Betroffenen anonymisiert wurden, liegen dem Autor Gesprächsprotokolle vor. Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr.

 

 

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

 

Zitat hier aus: Khalil Gibran: Der Prophet. Aus dem Amerikanischen von Ingrid Fischer-Schreiber, Copyright der deutschsprachigen Übersetzung

© 2005, 2010 Diogenes Verlag AG Zürich

 

Zitat hier aus: Michael Ende: Momo

© 1973, 2013 Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart

 

© 2016 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,

eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

 

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN 978-3-7110-5174-5

 

Für einen Menschen, der mir wirklich wichtig ist.

Prolog: Meine Freunde

Prolog: Meine Freunde

In dem Augenblick, wenn ein Mensch seine erste schwere Niederlage erleidet, wird er ein anderer. Mit 26 Jahren konnte ich alle Ziele abhaken, die ich mir gesetzt hatte. Ich war jüngster Landtagsabgeordneter in Wien, Geschäftsführer einer Organisation mit 80 Mitarbeitern und glücklich verliebt. Vier Jahre später, mit 30, war alles weg. Meine Partei hatte sich bei der Wahl halbiert, ich verlor mein Mandat und damit fast zwei Drittel meines Einkommens. Meine Liebesbeziehung zerbrach genau zu diesem Zeitpunkt. Zwei attraktive Angebote aus der Privatwirtschaft zerschlugen sich und damit die beruflichen Perspektiven für mein Leben.

In den rasanten Jahren davor war ich ständig unter Menschen: jüngeren, die durch mich Karriere machen wollten, und älteren, die sich erhofften, ihre Position mit meiner Hilfe abzusichern. Viele davon hätte ich damals als Freunde bezeichnet. Dem gegenüber standen meine Konkurrenten, die mir offen oder verdeckt nach dem politischen Leben trachteten oder mich einfach nicht mochten. Damals konnte ich noch über den Witz »Wenn du in der Politik einen Freund willst, dann kaufe dir einen Hund« lachen.

An dem Tag, als ich meine Funktionen verlor, waren sie auf einmal fast alle weg, die Freunde wie die Feinde. Mein Kalender zeigte immer mehr »Null-Tage«. Das waren solche ohne einen einzigen Termin und ohne Nachricht auf der Mailbox. Immerhin hatte ich noch einen Job und arbeitete zusätzlich wieder als Wirtschaftstrainer. Aber an den Abenden und den Wochenenden tauchte auf einmal ein Gefühl auf, an das ich mich nur dunkel aus meiner Zeit als Einzelkind vor dem Eintritt in die Schule erinnern konnte: Einsamkeit. Ich hatte keine Freunde mehr.

Wenn fast der gesamte Freundeskreis aus dem engen beruflichen Umfeld stammt, dann löst sich jener sofort auf, sobald dieses Band durchschnitten wird. Hat man alle menschlichen Beziehungen vor allem dem Kriterium der Nützlichkeit unterworfen, ohne böse Absicht – einfach aus Gedankenlosigkeit –, so sollte man sich nicht wundern, wie schnell man allein dasteht, sofern man selbst niemandem mehr nützlich ist. Dann fällt man auf die wenigen Menschen zurück, die verblieben sind. Das sind oft Menschen, denen man vielleicht bis dahin nicht viel Aufmerksamkeit und vor allem Zeit geschenkt hat. Hat man jedoch Glück, sind sie auf einmal da.

Bei mir war es Florian. Wir kannten uns oberflächlich durch gemeinsame Seminare, später schlug er den Weg des Journalisten und ich jenen der Politik ein und wir verloren uns aus den Augen. Eines Tages trafen wir uns zufällig auf der Straße, plauderten kurz und er fragte mich, ob ich denn nicht am Abend Zeit für ein Treffen mit seinen Freunden hätte. Noch wenige Wochen davor hätte ich freundlich abgelehnt, erstens, weil ich verplant gewesen wäre, und zweitens, weil ich überhaupt keine Notwendigkeit gesehen hätte, mich mit wildfremden Menschen zu treffen. Da ich jetzt wie fast immer keine Pläne hatte, sagte ich zu. Der Abend war gemütlich, ich verstand mich mit der Gastgeberin, die mich ab sofort regelmäßig einlud, und innerhalb kürzester Zeit erschloss sich mir ein völlig neuer Kreis von Menschen, der sich schnell ausweitete. Mit André fand ich in dieser Gruppe einen meiner besten Freunde, mit dem mich bis heute ein im Jahr 1995 gemeinsam überlebter Flugzeugabsturz verbindet. Seit damals machen wir jedes Jahr eine »Überlebensreise«, um unseren zweiten Geburtstag zu feiern. Das hat eine andere Qualität als ein gelegentlicher Städtetrip. Die Frage am Beginn jedes Jahres lautet nicht: »Machen wir heuer eine Reise?«, sondern nur: »Wohin fahren wir dieses Jahr?« Unabhängig davon, ob einer von uns beiden gerade verheiratet, in einer Beziehung oder Single war, fand unsere Reise statt – im Jahr 2015 zum 20. Mal.

Die wichtigsten Lektionen im Leben lernt man immer dann, wenn es einem nicht gut geht, wenn man eine Krise erlebt, wenn etwas zerbricht. Das sagt sich ganz leicht und ich kann es ehrlich gesagt nicht mehr hören. Der einzige Grund, warum ich es trotzdem wage, das an dieser Stelle zu schreiben, ist, dass es leider stimmt. Wir wollen es nur nicht wahrhaben, wenn wir selbst gerade im Loch sind und nicht aufhören können, weiter zu graben. Umso wichtiger sind die Wahrheiten, auf die wir dann stoßen. Bei mir war es ein einfacher Glaubenssatz: Nie wieder würde ich berufliche Freunde mit wahren Freunden verwechseln, nie wieder würde ich es verabsäumen, tiefe Freundschaften zu pflegen, auch wenn ich beruflich ausgelastet und privat glücklich war. Nie wieder würde ich wahre Freunde verlieren, ohne es zu merken.

Vorsätze, die mit »nie wieder« beginnen, sind wie wunderschöne Schuhe, in denen man nicht gehen kann. Es sei denn, das »nie wieder« wird zum Teil des eigenen Wertesystems, das sich wie in einem Flugzeug immer dann mit einem Alarmsignal meldet, sobald man Gefahr läuft, vom Kurs abzukommen. Das kann hilfreich sein, um die vielen Prüfungen im Alltag zu bestehen. Für mich heißt das zum Beispiel, Freunde so schnell wie möglich zurückzurufen, sie gelegentlich mit einem Geschenk ohne Anlass zu überraschen, mich von mir aus zu melden, wenn ich lange nichts gehört habe, ihre Bitten um Unterstützung selbst dann mit maximalem Einsatz zu erfüllen zu versuchen, wenn ich gerade null Zeit habe oder das zumindest glaube. Diese hohen Ansprüche kann man nur für einen begrenzten Kreis von Menschen erfüllen, für seinen Partner, seine engen Familienmitglieder und seine wahren Freunde.

Wer sind meine Freunde? Den letzten Test habe ich vor fünf Jahren an meinem 50. Geburtstag gemacht. Dort war ich gezwungen, jene zwölf auszuwählen, die mit mir an einem Tisch sitzen würden. So lautete die Vorgabe meines Freundes Ernst, der der Gastgeber war. Ein zweiter Tisch würde zwei Kategorien von Freunden schaffen.

Zwölf ist eine gute Zahl, um mehr über sich und seine Freunde zu lernen. Um nicht missverstanden zu werden, natürlich hatte ich keine zwölf engen Freunde. Aber mit diesem Trick, alle an einen Tisch zu setzen, zwang Ernst mich, genau über alle Menschen nachzudenken, die mir aus unterschiedlichen Gründen wichtig waren. Die ersten zehn Namen flossen mir ohne langes Nachdenken aus der Feder. Als ich merkte, dass ich mich dem Ende der Liste näherte, eröffnete ich eine zweite Spalte. Auch diese wurde immer länger, jeder war mir aus anderen Gründen lieb und wertvoll, doch es blieben nur mehr zwei Namen für die zwölf Einzuladenden.

Nun von meinen Freunden zu den Ihren. Wen zählen Sie zu Ihren Freunden? Wenn Sie sich auf dieses Gedankenspiel mit den zwölf Freunden einlassen, dann werden auch Sie irgendwann ins Stocken geraten. Die meisten Menschen haben zwei bis vier engste Freunde oder glauben das zumindest. Doch darüber hinaus gibt es meist einen weiteren Kreis. Dazu können alle Ihnen wichtigen Menschen wie Ihr Partner und Familienmitglieder genauso zählen wie solche, zu denen Sie eine intensivere Beziehung wünschen würden. Versuchen Sie es einfach einmal mit zwölf, dieser biblischen Zahl des Letzten Abendmahls. Sie werden schnell merken, dass sich Fragen auftun:

Sollen Sie dem Freund, den Sie seit Ihrer Jugend kennen, aber nur mehr selten sehen, den Vorzug vor jenem geben, der Ihnen in kürzester Zeit sehr vertraut geworden ist, dessen Freundschaft aber noch nie einer Belastungsprobe unterzogen wurde?

Sollen Sie es wagen, jemanden einzuladen, der aufgrund seiner Bedeutung Ihre Runde adeln würde und die noch lose Beziehung festigen könnte, oder überwiegt die Angst, sich eine verwunderte Absage einzuholen?

Denken Sie darüber nach, mit Ihrer Auswahl einen Versuch der Versöhnung mit einem Ihnen wichtigen, aber verlorenen Freund zu wagen?

Welche Familienmitglieder zählen Sie wirklich zu Ihren Freunden oder trennen Sie streng zwischen Freunden und Familie?

Lassen Sie sich bei der Auswahl von Ihrem Partner beeinflussen oder wollen Sie diese Entscheidung allein treffen? Und umgekehrt, wie antworten Sie einem Menschen, den Sie unbedingt dabei haben wollen, der aber nur mit seinem Partner kommen will oder kann?

Irgendwann wird die Liste mit den zwölf Namen fertig sein. Wie und warum Sie sich gerade für diese entschieden haben, sagt wohl mindestens so viel über Sie wie über die von Ihnen ausgewählten Menschen aus.

Heute sind mehr als fünf Jahre vergangen seit dem einzigartigen Fest zu meinem 50. Geburtstag. Einzigartig deshalb, weil es nie wieder mit diesen Menschen wiederholbar ist. Mein Freund Ernst, der Gastgeber, ist vor mehr als zwei Jahren an Krebs gestorben. Müsste ich mich heute wieder auf zwölf Menschen beschränken, bliebe der Kreis ziemlich unverändert. Zerbrochen ist keine der Freundschaften, zwei sind lockerer, die meisten sogar enger geworden. Von Günter habe ich gelernt, wie sehr ein Geschenk eine Freundschaft vertiefen kann. Er hat mir eines der wertvollsten Geschenke zu meinem 50. Geburtstag gemacht. Gemeinsam mit seiner Frau Manuela überreichte er mir einen handschriftlichen Kalender mit einer Überraschung für jeden Monat. Das begann im Jänner täglich mit einer persönlichen Geschichte, einem besonderen Zitat oder einem weisen Spruch als liebevoller Geste der Aufmerksamkeit und fand im Dezember seinen Abschluss mit vier CDs mit ihrer Lieblingsmusik aus allen Erdteilen, die sie bereist hatten. Dazwischen gab es Karten für »Ariadne auf Naxos« in der Wiener Staatsoper, eine Jahreskarte des Kunsthistorischen Museums, einen privaten Abend mit einem von mir ausgewählten Dichter oder Philosophen, die Erfüllung eines persönlichen Wunsches, den Besuch des schrägsten Kellertheaters der Stadt. Jeder Monat des Kalenders war mit viel Liebe und Aufwand gestaltet. Günter und ich haben die regelmäßigen Gelegenheiten, uns zu treffen, genossen und nach diesem Jahr beschlossen, einmal im Monat einen Tag gemeinsam wandern zu gehen.

Natürlich sind seit meinem 50. Geburtstag neue Menschen in mein Leben getreten. Diese Tatsache verlangt von mir die Entscheidung, wem von ihnen ich einen wichtigen Platz einräumen will. Ehrlicherweise müsste ich dafür die Kontaktzeit mit anderen reduzieren. Gerade in menschlichen Beziehungen ist keine Entscheidung auch eine Entscheidung – nicht immer die beste. Zusätzlich zu meinen drei besten Freunden würde ich heute das Prädikat »Freund« 23 Mal an einen erweiterten Kreis vergeben. Diese Zahl mag Ihnen hoch erscheinen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ich ein Einzelkind bin, bisher nie verheiratet war und keine Kinder habe, daher haben Freunde für mich einen besonders hohen Stellenwert. Doch ich glaube, nicht nur für mich, deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.

Freundschaft ist kein leerer Wahn. In Gegenwart von Freunden erscheinen Probleme kleiner – und Berge buchstäblich flacher: In Experimenten schätzen Menschen die Steigung eines Hügels tatsächlich geringer ein, wenn ein Freund neben ihnen steht. Je länger sie ihn kennen, desto stärker ist der Effekt. Oft reicht sogar der Gedanke an ihn, damit der Berg schrumpft. »Wir verbuchen unsere Freunde als potenzielle Unterstützung«, sagt Psychologieprofessor Jaap Denissen von der Humboldt-Universität zu Berlin. »Wer solche Ressourcen hat, stuft ein Problem als weniger bedrohlich ein.«[1] Der englische Philosoph Francis Bacon brauchte im Jahr 1625 keine Studien, sondern nur einen einzigen Satz, um die Macht der Freundschaft auszudrücken: »Sie verdoppelt die Freude und halbiert das Leid.« Gerade in Zeiten der Verunsicherung und Vereinzelung zählt Freundschaft zu den unmittelbarsten Werten. Geht es uns schlecht, schämen wir uns und wollen uns zurückziehen, damit uns andere nicht in diesem Zustand sehen, sind es vertraute Freunde, die uns davor bewahren, allein zu leiden. Freunde sind Verbündete, die für uns da sind, wenn wir sie brauchen – im besten Fall, ohne dass wir sie darum bitten müssen.

Freundschaft ist etwas zutiefst Intimes. Ich würde es nicht wagen, hier die Liste meiner Freunde zu veröffentlichen, wissend, dass einige enttäuscht darüber wären, sich nicht darin wiederzufinden, und andere überrascht, wie wichtig sie mir sind. Folgende Eigenschaften zeichnen jene Menschen aus, die ich zu meinem Freundeskreis zähle:

Sie sind positive Menschen, die Energie geben und nicht rauben, ich freue mich, sie zu treffen und genieße die Zeit mit ihnen.

Wir vertrauen einander zu hundert Prozent. Sie geben mir ehrliches, auch kritisches Feedback direkt ins Gesicht und reden hinter meinem Rücken gut über mich.

Sie waren in schwierigen Situationen meines Lebens für mich da.

Ganz wichtig ist, dass wir uns über die Erfolge des anderen freuen können, ohne Neid zu empfinden.

Was verbindet mich mit meinen Freunden? Ich kenne fast alle seit mindestens zehn Jahren, die meisten mehr als 20 Jahre. Am längsten währt meine Freundschaft mit Thomas. Als damals 16-Jähriger gewann er an seiner Schule als Siegespreis für einen Rednerwettbewerb ein Rhetorikseminar, dessen Trainer ich war. Aus dieser ersten Begegnung entstand eine lose Freundschaft, die fester wurde, als er mich Jahre später damit beauftragte, Präsentationstechnikseminare für die Mitarbeiter einer großen Werbeagentur in Osteuropa zu machen, deren Chef er war. Obwohl lange Zeit mein wichtigster Kunde, hat er mich das nie merken lassen und über meine Schwächen hinweggesehen, zumindest so lange wie möglich. Ich entwickelte das ursprünglich sehr populäre Seminarkonzept zwar ständig weiter, aber irgendwann begann sich bei mir eine Unachtsamkeit gegenüber den Teilnehmern einzuschleichen, die sich darüber beschwerten. Zartfühlend brachte mir Thomas das bei. Ich nahm mir das Feedback zu Herzen, ließ die Teilnehmer Theater spielen und Kontakt mit der ländlichen Bevölkerung von Payerbach suchen. Aber die legendären Zeiten, als Teilnehmer erzählten, das Seminar hätte ihr Leben verändert, kamen nicht mehr wieder.

Unsere Freundschaft überstand Thomas’ Ausscheiden aus der Werbeagentur und aus einer ursprünglichen Nutzenfreundschaft entwickelte sich eine wahre Freundschaft. Mit Thomas kann ich stundenlang lachen, vor allem über Geschichten, die ich ihm selbst vor zwei Wochen erzählt habe und die er dann mit großer Begeisterung als eigene wiedergibt. Wenn man ihn darauf aufmerksam macht, motiviert ihn das nur zusätzlich, dieselbe Geschichte jahrelang immer wieder in großen Runden zu verbreiten. Ich freue mich immer, Thomas zu treffen und wenn, dann bin nur ich ihm manchmal auf die Nerven gegangen. Gute Freunde dürfen das. Sollte ich jemals unschuldig im Ausland festgenommen werden und dürfte nur ein Telefonat machen, so würde ich, ohne zu zögern, Thomas anrufen. »Okay, ich kümmere mich darum«, würde er antworten und alle Hebel in Bewegung setzen, um mich herauszuholen. Das nenne ich Verlässlichkeit.

Die meisten meiner Freunde sind in fixen Beziehungen und haben Kinder. Vier meiner Freunde sind noch immer mit derselben Frau verheiratet, alle anderen sind geschieden oder wiederverheiratet. In meinem kleinen persönlichen Kosmos halten Freundschaften offenbar länger als Ehen.

Der Begriff Freundschaft ist mindestens so überladen wie Liebe. Persönlich tendiere ich sowohl bei Freunden als auch in der Liebe zur Idealisierung, erhoffe mir das, was mir fehlt, in Freunden und in der Liebespartnerin zu finden. Das ist natürlich eine Illusion, die einer genaueren Betrachtung nicht standhält. Die Illusionen, die man sich über menschliche Beziehungen machen kann, sind grenzenlos. Daher werden in diesem Buch zehn Gebote wahrer Freundschaft aufgestellt.

Gebote sind in Stein gemeißelt. Das reale Leben ist aus Fleisch und Blut. Deswegen verstoßen Menschen immer wieder gegen Gebote. Die zehn Gebote in diesem Buch sind nicht von Gott gegeben, sondern von menschlichen Erfahrungen geprägt. Sie sollen helfen, darüber nachzudenken, ob wir unsere Freundschaften nicht mit unerfüllbaren Erwartungen belasten. Bei zwei Geboten war ich mir ursprünglich sicher, dass sie für mich keine Geltung hätten, bis ich nach genauerer Prüfung draufgekommen bin, dass sie mich mehr betreffen, als mir lieb ist. Dabei ist mir bewusst geworden, dass es der Schatten meiner eigenen Persönlichkeit ist, der meine Freundschaften am gefährlichsten bedroht.

Dieses Buch versteht sich als Einladung an Sie, das Verhältnis zu Ihren Freunden zu reflektieren und dabei mehr über sich selbst zu erfahren. Dazu ist es notwendig, sich auch mit den dunklen Seiten der Freundschaft auseinanderzusetzen, statt diese nur zu idealisieren. Eine im März dieses Jahres publizierte Studie der Universität von Tel Aviv und des Massachusetts Institute of Technology (MIT) sollte uns zu denken geben. Sie deckt einen blinden Fleck auf, den es offenbar in vielen Freundschaften gibt. Nur 50 Prozent jener Menschen, die man selbst zu seinen Freunden zählt, sehen das umgekehrt so. Das würde bedeuten, dass jeder zweite unserer Freunde unsere Gefühle nicht in ähnlicher Weise erwidert und wir für ihn eher Bekannte sind.[2]

Die besten Geschichten schreibt das Leben. Alle Geschichten in diesem Buch sind wahr. Sie sind aus dem Leben von Menschen gegriffen, gerade deshalb mögen manche unglaublich, unwahrscheinlich oder gar seltsam klingen. Einige Geschichten werden Sie berühren, andere werden Sie vielleicht als uninteressant empfinden. Manche Geschichten stehen für sich selbst, andere bedürfen einer tieferen psychologischen Interpretation. Wir sind besonders empfänglich für »gute« Geschichten, also solche, die unserem Leben Sinn, Orientierung und Bedeutung geben. Was eine »gute« Geschichte ist, kann nur jeder für sich selbst beurteilen.

Ihre Beurteilung einzelner Geschichten könnte davon abhängen, ob Sie das Buch aus der männlichen oder weiblichen Perspektive lesen. Die Gespräche zu diesem Buch haben mir gezeigt, dass es viele allgemeingültige Thesen und Erfahrungen über Freundschaft gibt, Männer- und Frauenfreundschaften sich in einigen Aspekten aber wesentlich unterscheiden. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass es bereits bei Kindern ab dem zweiten Lebensjahr eine Tendenz zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen gibt, im Alter von sechs Jahren verbringen Kinder elfmal mehr Zeit mit gleichgeschlechtlichen Freunden. Die Unterschiede zwischen Männer- und Frauenfreundschaften werden in einigen Kapiteln dezidiert angesprochen und können hilfreich sein, den Charakter dieser Freundschaften besser zu verstehen.

Mehr als Gedanken kann ein Buch nicht inspirieren, das ist schon sehr viel. Ein Gedanke erscheint mir besonders wichtig: Freunde sind nichts Selbstverständliches. Das wissen wahrscheinlich jene von Ihnen am besten, die zu wenige, die falschen oder gar keine Freunde haben. Dafür gibt es sicher gute Gründe, es reicht aber nicht, seine Muster zu verstehen. Wer Freunde gewinnen will, muss lernen, die Dinge in seinem Leben so zu sehen, wie sie wirklich sind – aber nicht schlechter. Dieses Buch kann Ihnen dabei helfen, die Möglichkeiten für wahre Freundschaften klarer zu erkennen. Die Beispiele gelungener Freundschaft werden zeigen, dass es vielleicht nicht immer in unserer Macht liegt, alle drängenden Probleme in unserem Leben zu lösen, wir aber sehr wohl die Chance haben, es in unseren persönlichen Beziehungen ein bisschen besser zu machen, vor allem in der Beziehung zu uns selbst. Spätestens im Kapitel über das zehnte Gebot sollten Sie »Ihre« Sätze finden. Das sind besonders jene, bei denen eine Frage auftaucht: »Bin ich selbst ein guter Freund?«

Freundschaft im Wandel des Lebens

Freundschaft im Wandel des Lebens

Warum Freundschaft für Glück und Gesundheit in unserem Leben entscheidend ist

Warum Freundschaft für Glück und Gesundheit in unserem Leben entscheidend ist

»Das Einmalige an einer Freundschaft ist weder die Hand, die sich einem entgegenstreckt, noch das freundliche Lächeln oder die angenehme Gesellschaft. Das Einmalige an ihr ist die geistige Inspiration, die man erhält, wenn man merkt, dass da jemand an einen glaubt.«

Ralph Waldo Emerson

 

Die Frage, welche Faktoren entscheidend für Glück und Gesundheit in unserem Leben sind, wurde oft untersucht, fast immer, indem man Menschen über ihr bisheriges Leben befragt hat. Leider vergessen wir einen großen Teil unserer eigenen Lebensgeschichte, verdrängen negative Ereignisse und färben unsere Erinnerungen schön. Wirklich aussagekräftig wären die Ergebnisse erst, könnte man den gesamten Lebensweg von Menschen von ihrer Zeit als Teenager bis ins reife Erwachsenenalter begleitend untersuchen. Genau das hat die Harvard-Universität mit der »Grant-Studie über Erwachsenen-Entwicklung« getan.

Seit 1938 analysieren Wissenschaftler der berühmten Universität die Lebenswege von 724 Männern, die man bewusst aus zwei unterschiedlichen Bevölkerungsschichten in Boston ausgewählt hatte. Die erste Gruppe bestand aus Harvard-Studenten, die zweite Gruppe setzte sich aus den ärmsten Schichten Bostons zusammen. Seit ihrer Zeit als Teenager wurden die Gesundheit, das Privatleben, die Berufskarrieren und die Lebenszufriedenheit der Studienteilnehmer Jahr für Jahr wissenschaftlich erhoben. Nicht nur mit den üblichen Fragebögen, die Forscher besuchten die Probanden zu Hause, sprachen mit deren Frauen und Kindern, studierten die ärztlichen Atteste vom Blutbild bis zum Gehirn-Scan. 60 der ursprünglich 724 Menschen sind noch immer am Leben und nehmen weiter an der Studie teil. Beide Gruppen brachten Fabrikarbeiter, kleine Angestellte, Anwälte und Ärzte hervor. Manche kletterten die Karriereleiter ganz weit nach oben, andere fielen tief herunter. Es muss eine besondere Laune des Schicksals gewesen sein, dass sich unter den ausgewählten Studienteilnehmern sowohl der spätere US-Präsident John F. Kennedy als auch der als Unabomber (university and airline bomber) bekannt gewordene Attentäter Theodore Kaczynski befanden.[3]

Welche drei Erkenntnisse dieser Studie können hilfreich für unser eigenes Leben sein?

1. Menschliche Beziehungen sind lebensnotwendig für uns. Dabei geht es nicht nur um die Bindung zum Lebenspartner, sondern vor allem um die Art der Beziehungen zu anderen Menschen, und zwar im Sinne von wertschätzenden und einfühlsamen Verbindungen. Freunde spielen daher so wie Familie und Partnerschaft eine zentrale Rolle. Menschen, die sich mit Freunden verbunden fühlen, sind glücklicher, gesünder und leben länger als isolierte Menschen, selbst wenn diese beruflich erfolgreicher, berühmter und wohlhabender sind. Einsamkeit tötet uns. Einsame Menschen sind öfter und schwerer krank, ihre Gedächtnisleistung nimmt früher ab. Diese Fakten sind umso tragischer, wenn wir wissen, dass jeder fünfte Mensch an Einsamkeit leidet.

2. Aber auch mit Freunden oder Partnern kann man einsam und unglücklich sein. Die Aufrechterhaltung einer lieblosen Ehe mit permanentem Konfliktpotenzial wirkt sich auf die Gesundheit meist belastender aus als eine Scheidung. Was zählt, ist nicht die Tatsache, verheiratet zu sein oder die Anzahl der Freunde, sondern die Qualität der Beziehungen.

3. Die Forscher konnten aufgrund der Daten sogar vorhersagen, welche 50-Jährigen im Alter von 80 Jahren glücklicher und gesünder sein würden. Es zeigte sich, dass nicht die Cholesterinwerte entscheidend waren, sondern die Zufriedenheit mit den sozialen Beziehungen. Hatte man mit 50 eine liebevolle Ehe und enge Freunde, so war man mit 80 Jahren höchstwahrscheinlich gesund und glücklich. Gute Freunde und Partnerschaften schützen unseren Körper nicht vor dem Älterwerden, sie sind aber sehr wohl wichtig für unsere Gehirnleistung im Alter. Das Gefühl, dass jemand für uns da ist, wenn wir ihn brauchen, tröstet bei Gesundheitsproblemen und Gemütsschwankungen im Alter.

 

Studienleiter George E. Vaillant formuliert sein subjektives Ideal eines erfüllten Lebens mit einem Bild: »Im poetischen Sinne ist Glück, in sein Ferienhaus zu kommen und die Wäsche sauber und ordentlich gefaltet vorzufinden. Und dabei von vier liebenden Kindern und sechs liebenden Enkeln umgeben zu sein. Das Haus muss nicht groß sein, sondern nur nah genug am Wasser liegen, damit man seinen Kindern das Segeln beibringen kann. Das Ferienhaus meine ich im übertragenen Sinn. Reich zu sein ist kein Garant für Glück. Geld kann zweifellos Freude bereiten, doch an Reichtum gewöhnt man sich schnell. Dann wird er unbedeutend. Glück hat mehr mit Eleganz als mit Wohlstand zu tun. Eine gewisse Ordnung der Umgebung und der Umstände gehören zum Glück, und dazu Menschen, die man liebt und die einen lieben.«[4]

Die Studie beweist vor allem auch, dass gleichrangig mit glücklichen Ehen oder Partnerschaften wahre Freunde ausschlaggebend dafür sind, wie lange, wie gesund und wie glücklich wir leben werden. Die wahre Glückseligkeit liegt in der echten und tiefen Bindung mit anderen Menschen. Diese Erkenntnis scheint wenig überraschend, sie wurde nur selten so eindeutig wissenschaftlich bewiesen wie mit der Harvard-Studie. Warum behandeln wir unsere Freunde dann oft nur wie eine Nebensache?

Weil wir glauben, mit unserer Familie und dem Beruf so beschäftigt zu sein, dass wir nicht mehr Zeit für unsere Freunde erübrigen können. Weil es nicht einfacher ist, wahre Freunde zu finden als den Partner fürs Leben. Weil wir Freunde in der Jugend scheinbar so mühelos gewinnen können, dass wir nicht erkennen, wie schnell sich das im Laufe des Lebens ändern kann.

Wie wandelt sich Freundschaft in einzelnen Lebensphasen?

Wie alt sind Sie?

20, 30, 40, 50, 60, 70, 80, 90 Jahre oder älter? Wie verändert sich die Bedeutung, die wir Freundschaft geben, im Laufe unseres Lebens?

Die Sicht auf unser Leben und damit unsere Freunde hängt wesentlich von unserer Lebensphase ab. Kindheit, Schule, Jugend, Beruf und erste Lebenskrisen konfrontieren uns mit ganz unterschiedlichen Aufgaben, wie die drei folgenden Geschichten zeigen sollen.

Erste Freunde: Die ersten Freundschaften unserer Kinder ermöglichen uns, über die frühen Freunde in unserer eigenen Kindheit nachzudenken. Tatjana erzählt: »Unser Sohn schaut sich seine Freunde schon mit seinen sieben Jahren genau an. Seine beiden besten Freunde kennt er, seit er drei Jahre alt ist – vier von sieben Lebensjahren, das ist in seinem Alter eine sehr lange Freundschaft. Das lässt mich oft an meine Kindheit und dieses tiefe Bedürfnis nach allerallerbesten Freunden zurückdenken.« Und auch das Verständnis von Werten kann sich dabei unter Kindern schon sehr früh entwickeln. »Wir waren mit unserem Sohn Sönke und seinem Freund im Kino und haben uns den Film ›Drachenzähmen leicht gemacht 2‹ angesehen. In einer dramatischen Szene am Schluss wirft sich der Häuptling Haudrauf vor seinen Sohn Hicks, um ihn zu beschützen. Dass Haudrauf dabei stirbt, war für die Kinder ein Schock, einige Eltern waren regelrecht aufgebracht. Wir haben Sönke erklärt, dass Liebe die größte Kraft ist und sie es war, die Hicks rettete. Zu Hause haben die Kinder mit Playmobil die Szene nachgestellt. Sönke sagte: ›Ich kann mich unsichtbar machen.‹ Daraufhin hat sein Freund geantwortet: ›Ich kann riesige Steine werfen.‹ Eine Superkraft folgte auf die andere. Dann rief Sönke: ›Ich bin unbesiegbar!‹ – ›Warum?‹, hat sein Freund gefragt. »Weil ich die Liebe habe!« Das war der Supertrumpf. Sein Freund hat kurz nachgedacht, dann hat er gesagt: ›Dann habe ich auch die Liebe.‹ Offenbar ist ihm keine stärkere Kraft mehr eingefallen. Das hat uns an einem tiefen Punkt berührt.«

Forschungsergebnisse belegen, dass bereits 12 bis 18 Monate alte Kinder beginnen, bestimmte Kinder zu bevorzugen, was sich dadurch ausdrückt, dass sie zum Beispiel mehr mitleiden, wenn diese sich wehtun. Im Alter von zwei Jahren entwickeln Kinder Fähigkeiten wie das Nachahmen von Sozialverhalten in Rollentauschspielen (»So-als-ob-Spiele«). Zwischen fünf bis acht Jahren definieren Kinder Freundschaft vorwiegend über ihre Spielgefährten, mit denen sie die meiste Zeit verbringen. Ab ungefähr neun Jahren werden Kinder empfindsamer, was die Bedürfnisse anderer Menschen angeht, akzeptieren Unterschiede und Ungleichheit in verschiedenen Bereichen. Sie beginnen, Erwartungen an ihre Freunde aufzubauen, etwas zurückzubekommen, wenn sie etwas geben, zum Beispiel Spielsachen verborgen. Mit zehn Jahren gewinnen Werte wie »Treue« und »Verständnis für den anderen« an Bedeutung. Jedenfalls sind Kinderfreundschaften entscheidend für die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten wie die Berücksichtigung der Wünsche anderer und die Bereitschaft zum »Geben« und »Nehmen«. Manche Experten gehen sogar davon aus, dass frühe Kinderfreundschaften die spätere Einstellung zu Liebe beeinflussen können.[5]

Getrennt durch eine gemeinsame Kindheit: Karl und Stephan wachsen in einem sozialen Wohnbau am Rande einer Großstadt auf. Die beiden besten Freunde verbringen ihre Zeit mit Fußball, Schlittenfahren, ausgedehnten Radtouren und langen Gesprächen. Karl ist ein Jahr älter und körperlich stärker als Stephan und schützt diesen vor den rauen Sitten, die in der Siedlung unter den Burschen herrschen. Karl und Stephan sind beide gute Schüler in der Grundschule, Karl hat nur das Problem mit dem dritten und vierten Fall der deutschen Sprache von seinem Vater geerbt, der Straßenbahner ist. Karl geht daher in die Hauptschule, auch weil er seine Freunde nicht verlieren will, während Stephan ins Gymnasium wechselt. Trotz der unterschiedlichen Bildungswege bleiben die beiden Kinder beste Freunde. Als Stephan von seinen Eltern einen Intelligenztest zu Weihnachten bekommt, probieren ihn beide aus und erreichen exakt den gleichen Wert. Stephan setzt nach der Unterstufe das Gymnasium fort, während Karl eine Lehre als Fernsehtechniker in einer großen Fabrik antritt. Die Lehre entpuppt sich für Karl nicht als Karriere, er fühlt sich intellektuell unterfordert, leidet unter der Monotonie am Fließband. Stephan findet neue Freunde und verliert Karl immer mehr aus den Augen. Die wenigen Treffen bei einem Glas Bier verlaufen deprimierend. Als sich Karl nach langer Zeit wieder meldet und Stephan erzählt, er plane die Studienberechtigungsprüfung zu machen, die ihm ein Studium ohne Abitur ermöglichen würde, bestärkt ihn Stefan. Mehr tut er für den ehemaligen besten Freund aus Kindestagen aber nicht, er ist mit seinem eigenen Leben mehr als ausgelastet. Stephan erhält eines Tages einen Brief von Karl, in dem ihm dieser schreibt, er habe sich das mit dem Studium aus dem Kopf geschlagen, sei nach Holland ausgewandert und habe dort geheiratet. Er führe ein bescheidenes ruhiges Leben. Stephan schreibt ihm zurück, erhält jedoch keine Antwort mehr. Die Beziehung zwischen Karl und Stephan steht für viele Jugendfreundschaften, die zerbrechen, weil frühe Weichenstellungen in der Schule zu immer stärker auseinanderklaffenden Lebenswegen führen.

Gute und böse Überraschungen: Wer steht in der Krise zu uns?

Ein lange verdrängter Konflikt droht die 35-jährige Brigitte völlig aus der Bahn zu werfen. Sie wird von einem prominenten Geschäftspartner des schweren Betruges bezichtigt und bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Ihre berufliche und private Existenz steht auf dem Spiel, als die Medien über ihren Fall berichten. Aus Sorge um ihre Kinder versucht sie, den Konflikt ihrerseits nicht zu eskalieren, was von einigen als Schuldeingeständnis gesehen wird. Paralysiert von emotionalen Verletzungen und Existenzängsten erlebt Brigitte, wie sich ihre Freunde in Gruppen aufspalten. Besonders abscheulich findet sie jene, die wie Fetischisten Lust darin finden, ihre Nase in jedes kleinste Stück Schmutzwäsche zu stecken. Dann gibt es die schwachen Freunde, die sich nur heimlich mit ihr treffen, weil sie um ihre gesellschaftliche Reputation fürchten. Einer ihrer engsten Freunde stellt sich wider besseres Wissen gegen sie. Natürlich gibt es auch die loyalen Freunde, die zu ihr halten und denen es vollkommen egal ist, was andere über Brigitte behaupten. Sie vertrauen ihr einfach. Ihre bis dahin beste Freundin, die allein in einem großen Haus wohnt, erweist sich dagegen als überforderte Versagerin. Obwohl sie weiß, dass Brigitte ihre Wohnung aufgeben muss, bietet sie ihr nicht an, sie und ihre Kinder zumindest kurzfristig aufzunehmen. Hilfe kommt von unerwarteter Seite. Ein eher entfernter Freund, der von ihrer Situation erfährt, trifft sich sofort mit Brigitte, drückt ihr den Schlüssel zu seiner Wohnung in Hand und zieht zu einer Freundin, damit sie für eine Übergangszeit bei ihm wohnen kann. Brigitte über diesen besonderen Augenblick: »Er hat mich gesehen, er hat meine Situation erfasst, er hat nicht gefragt, er hat einfach gehandelt. Es gibt edle Menschen. Das kann man nicht lernen. Ich habe erlebt, dass es im Leben existenzielle Krisen geben kann, in denen man nicht einmal mehr fähig ist, seine Freunde um Hilfe zu bitten. Dann ist jemand da oder nicht.«

Wie wir unsere Freunde gewinnen und warum wir sie dann vergessen

Im Schnitt haben wir drei bis vier enge Beziehungen in den einzelnen Lebensphasen.[6] Das persönliche Netzwerk erreicht zahlenmäßig seinen Höhepunkt zwischen der Teenagerzeit und dem 25. Lebensjahr. In dieser Phase bilden wir die meisten der engen Freundschaften. Viktor E. Frankl spricht von »schicksalhaftem Boden«, auf dem langjährige Freundschaften gut gedeihen. Wir haben viel Zeit, fühlen uns erstmals nach der Schule oder Lehre freier vom Elternhaus, ohne schon selbst durch Familienbildung eingeschränkt zu werden. Ab dem 25. Lebensjahr nimmt die Anzahl der sozialen Beziehungen eindeutig ab, das hängt mit fixen Partnerschaften, Familiengründung und starker beruflicher Auslastung zusammen. Selbst wenn wir neue faszinierende Menschen kennenlernen, wird es schwierig, die notwendige Zeit zu finden, um intensivere Beziehungen aufzubauen.