Unsere neue beste Freundin, die Zukunft - Andreas Salcher - E-Book

Unsere neue beste Freundin, die Zukunft E-Book

Andreas Salcher

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Was müssen wir jetzt verstehen, um die Zukunft mitgestalten zu können? Welche Eigenschaften und Fähigkeiten brauchen wir dafür? Inspiriert von Interviews, die er mit hochbegabten Schülerinnen und Schülern führte, zeigt Andreas Salcher, mit welchem Mindset wir die Welt von morgen zu unserer machen.

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Seitenzahl: 266

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UNSERE NEUE BESTE FREUNDIN, DIE ZUKUNFT

Andreas Salcher

Unsere neue beste Freundin, die Zukunft

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 edition a, Wien

www.edition-a.at

Umschlaggestaltung: kratkys.net

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Europa

1 2 3 4 5 — 26 25 24 23

ISBN 978-3-99001-675-6

eISBN 978-3-99001-676-3

ANDREAS SALCHER

UNSERE NEUE BESTE FREUNDIN, DIE ZUKUNFT

Was die Jungen wissen und wir noch nicht

edition a

Gewidmet Mihály Csíkszentmihályi, Burkhard Ellegast,David Goldberg und Ernst Scholdan.

Es sind ihre Gedanken und Werke, die bleiben.

INHALT

Einsichten: Heute sehen, was morgen wichtig sein wird

Wer vorschnell urteilt, erkennt oft Neues nicht

Entwickeln Sie ein Anfänger-Mindset und Sie werden viele Möglichkeiten statt nur wenige entdecken

Üben Sie die Kunst des echten Dialogs, statt sich in Diskussionen zu verstricken

Haltungen: Unser Verhalten und Engagement

Seien Sie book smart – aber auch street smart

Diese vier Zukunftsfähigkeiten sollten Sie und Ihre Kinder unbedingt beherrschen

Lebensglück: Wir überschätzen den Intelligenzquotienten und unterschätzen die Selbstdisziplin

Altruismus ist der Egoismus der Zukunft – tun Sie etwas für andere und Sie werden viel zurückbekommen

Investieren Sie in Ihre mentale Gesundheit und die Ihrer Kinder – jeder Mensch hat ein Recht auf Psychotherapie

Nutzen Sie die heilsam transformierende Kraft der Kunst als Gegenpol in einer technologischen Welt

Verlassen Sie die Komfortzone, dort könnte es ungemütlicher werden

Ein neues Leistungsverständnis: Geben Sie Ihr Bestes nach Ihren eigenen Maßstäben

Fähigkeiten: Umsetzen, was wir wissen und können

Sozialkompetenz können Sie sich nicht »ergooglen« – dafür erlernen

Nutzen Sie Künstliche Intelligenz als ein Werkzeug wie einen Schraubenzieher – solange sich dieser nicht von selbst bewegt

Hierarchie ist nie genug – Wer führt, muss Menschen mögen

Lernen Sie, mit Ambivalenz umzugehen

Physik ist die herrschende Wissenschaft – Philosophie wird es wieder

TikTok macht Spaß – YouTube macht Sie klüger

Lernen Sie, richtig zu lernen

Zukunftssplitter out of the box

Erkennen Sie die Chancen des Weltraums – auch wenn Sie nicht zum Mars fliegen wollen

Lernen Sie, in Zelten zu leben, statt Häuser mit fixen Grundmauern zu bauen

Seien Sie dankbar für das Privileg, in Europa zu leben – solange es noch geht

Keiner von uns ist so klug wie wir alle zusammen

Test: 21 Fragen zur Selbsteinschätzung Ihrer Zukunftsfähigkeiten

Das offene Geheimnis – worum es in diesem Buch geht

Die Zukunft ist etwas, das meistens schon da ist, bevor wir es erkennen. Deshalb habe ich mich für dieses Buch auf die Reise gemacht und bei jenen nachgefragt, die unsere Welt von morgen gestalten werden: bei begabten jungen Menschen in Österreich und Deutschland.

Schon immer umwehte die Jugend aus Sicht der Erwachsenen ein Geheimnis. In den Jungen reifen die neuen Denkweisen vielleicht noch im Verborgenen, sind aber bereits angelegt. Sie verfügen über Potenziale und Fähigkeiten zu allen möglichen Bereichen des Lebens, die uns Älteren oft fehlen. Die Ansichten und Ideen der Jungen wurden noch nicht abgeschliffen durch die Erfahrungen im Laufe des Lebens. Sie können oft selbst nicht konkretisieren, was genau sie uns auf einer tieferen Ebene voraushaben. Ihr ungetrübter Blick auf die Welt von morgen kann uns als Quelle der Inspiration dienen. Allerdings nur dann, wenn wir ihnen genau zuhören, sie beobachten und versuchen, die gemeinsamen Muster zu entschlüsseln.

Manche ihrer Ansichten, Visionen und Ideen sind sehr idealistisch und nicht eins zu eins auf die Herausforderungen, vor denen wir Erwachsenen heute stehen, übertragbar. Daher habe ich die aus den Gesprächen mit den Jungen gewonnenen Erkenntnisse mit der Lebenserfahrung der besonderen Menschen, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte, verschmolzen. Entstanden ist ein subjektives, auch von meinen persönlichen Einschätzungen geprägtes Bild davon, was wir heute von der kommenden Generation lernen dürfen, um morgen noch mitgestalten zu können. Die in den einzelnen Kapiteln beschriebenen Einstellungen, Haltungen und Fähigkeiten zeigen Ihnen, wie Sie den ständigen Wandel für Ihr persönliches Wachstum nutzen können. Vielleicht wird sich auch die Art, wie Sie auf die Talente Ihrer Kinder schauen, ein klein wenig verändern.

Die Zukunft hat nicht einen richtigen Zugang, sondern viele. Man kann nie alle Zugänge kennen, aber Sie können sich bestimmte Denkweisen und Haltungen aneignen, um Ihre eigenen Fähigkeiten klarer zu sehen. Zum Beispiel: Neues entdecken, statt vorschnell zu urteilen; book smart – aber auch street smart sein; sich selbst erkennen, anstatt Künstliche Intelligenz über sich entscheiden zu lassen; verstehen, warum Altruismus in Zukunft der bessere Egoismus ist; sich in einer von Technologie dominierten Welt von der Kunst berühren lassen; richtig in die eigene mentale Gesundheit investieren; sich mit Philosophie beschäftigen, statt Programmieren zu lernen; sich auf echte Dialoge einlassen, anstatt sich in fruchtlosen Diskussionen zu verstricken; die vier entscheidenden Zukunftskompetenzen beherrschen. Und vielleicht das Wichtigste: Lernen, was erfolgreiche Lernende von weniger erfolgreichen unterscheidet.

Sie werden allerdings merken, dass sich diese einzelnen Puzzlesteine nicht einfach zu einem fertigen Bild zusammenfügen lassen. Daher hat mir eine Frage den Schlaf geraubt: Gibt es ein gemeinsames Muster, das alle jungen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, verbindet?

Vielleicht haben Sie schon einmal erlebt, dass mitten in der Nacht der Wecker läutete, weil er falsch eingestellt war. Eine ähnliche Timer-Funktion ist auch in unserem Unbewusstsein eingebaut. Wenn wir uns wochenlang mit einer Frage beschäftigen, dann arbeitet unser Unbewusstsein in der Nacht weiter und weckt uns irgendwann um vier Uhr morgens auf, und plötzlich wird uns klar: »Genau, das ist es.« So ist es mir bei der Suche nach dem fehlenden roten Faden gegangen, der alles in diesem Buch verbindet.

Inspiration kann man nicht einfordern, man kann sie lediglich herbeiwünschen, und manchmal kommt sie eben in der Nacht. Beim Nachdenken habe ich mich erinnert, welche Freude es war, mit diesen jungen Menschen zu reden, ihre positive Energie zu spüren. Trotz aller Krisen konnte ich keinen Pessimismus spüren. Viele waren besorgt, was die Zukunft der Welt betrifft, aber sie sahen ihre eigene durchwegs zuversichtlich. Ich erkannte, dass das genau die Einstellung ist, die nicht nur die besonders begabten Jungen auszeichnet, sondern fast alle, die ihr Leben gut bewältigen. Diese Grundhaltung gleicht einem offenen Geheimnis, sie ist uns nur oft nicht bewusst:

Vertrauen ins Leben

Das geht weit über positives Denken und Optimismus hinaus.Hätte ich die Möglichkeit, allen Leserinnen und Lesern einen Zaubertrank in ihr Wasser zu mischen, der eine Kraft in ihnen verdoppelt, so wäre das: Vertrauen ins eigene Leben. Doch wie kommt man ohne Zaubertrank zu solchem Vertrauen, wie kann man es stärken?

Die wichtigste Botschaft, auf der dieses Buch aufbaut, lautet: Es existiert eine Brücke zwischen dem Wissen über unsere eigenen Fähigkeiten und dem Vertrauen ins Leben. Menschen durchlaufen in ihrem Leben verschiedene Entwicklungsstufen. Sobald die Bedürfnisse eines Kindes nach Nahrung, Sicherheit und Zuneigung in der ersten Lebensphase zuverlässig erfüllt worden sind, entwickelt es ein Grundvertrauen in die Welt. Menschen, die über hohes Grundvertrauen verfügen, sind imstande, sich selbstbewusst an immer neue Aufgaben heranzuwagen, um herauszufinden, wo ihre tatsächlichen Fähigkeiten liegen.

Waren alle meine Gesprächspartner mit einem hohen Grundvertrauen ausgestattet? Offensichtlich nicht. Glücklicherweise ist die Brücke zwischen dem Grundvertrauen ins Leben und den eigenen Fähigkeiten von beiden Seiten begehbar. »Tiefes Vertrauen ins Leben ist kein Gefühl, sondern eine Haltung, die man bewusst wählt. Eine Einstellung, die wir Mut nennen«, sagt der Benediktinermönch David Steindl-Rast.

Wer in der Kindheit nur mit einem geringen Grundvertrauen startet, kann sich dieses auch im Laufe seines Lebens erarbeiten. Jede Form von positiven Erfahrungen und unterstützenden Beziehungen trägt dazu bei. Man kann die Brücke daher auch von der Seite der Erfolgserlebnisse betreten, welche einem durch das Erkennen der eigenen Fähigkeiten gelingen. Je besser jemand diese Möglichkeiten nutzt, desto stärker findet er durch Anwendung seiner Talente Vertrauen ins Leben. Das betrifft keineswegs nur intellektuelle Fähigkeiten. Wer an einem Kletterkurs teilnimmt und merkt, dass er gut klettern kann, der wird Selbstvertrauen und Sicherheit auch in anderen Bereichen gewinnen.

Arthur Koestler hat gesagt: »Jeder Mensch ist eine Insel, die sich nach Vereinigung mit dem Festland sehnt.« Diese Brücke von der Insel zum Festland ist gebaut auf Vertrauen. Erst Vertrauen ins Leben lässt Ihre Talente und die Ihrer Kinder aufblühen. Der EQ, darunter versteht man die Summe aller emotionalen und sozialen Kompetenzen, wird in der Welt von morgen sicher noch wichtiger werden. In seinem Konzept der »multiplen Intelligenzen« hat der Harvard-Forscher Howard Gardner aufgezeigt, dass der IQ nur eine von mehreren Intelligenzen ist. Im Kapitel »Wir überschätzen den Intelligenzquotienten und unterschätzen die Selbstdisziplin« dokumentiert eine Studie, dass ein hoher IQ in Verbindung mit geringer Selbstannahme sogar hinderlich für das Lebensglück sein kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass es zusätzlich zum IQ und EQ einen weiteren Faktor gibt, der als Multiplikator für alle anderen Fähigkeiten wirkt, die in diesem Buch beschrieben werden: den VQ oder Vertrauens-Quotienten.

Ein wesentlicher Teil meiner Recherche basiert auf Gesprächen in zwei Schulen, die sich auf die Förderung hochbegabter junger Menschen konzentrieren, der Sir Karl Popper Schule in Wien und des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra in Meißen. Mir ist bewusst, dass Leistung heute einen stark ideologisch besetzten Begriff darstellt. Dennoch ist weitgehend unbestritten, dass manche Menschen über außergewöhnliche sportliche oder künstlerische Veranlagungen verfügen, die dann schon in ihrer Jugend in speziellen Fußballakademien, Skigymnasien oder Musikschulen gefördert werden. Genauso gibt es intellektuelle Hochbegabung. Die von mir interviewten Schüler und Absolventen sind keineswegs einseitige Kopfmenschen. Viele engagieren sich neben dem Studium ehrenamtlich als Rettungssanitäter, geben unbezahlt Nachhilfe, betreiben Leistungssport oder spielen Theater. Manche hatten schwierige Schicksalsschläge zu bewältigen, einer hatte Leukämie, die Krankheit kam zweimal zurück und er absolvierte einen Teil seiner Schulzeit als Popper-Schüler im St. Anna Kinderspital. Eine Schülerin aus St. Afra musste aufgrund ihrer schweren Magersucht drei Monate in einer Reha-Klinik verbringen, um anschließend das Abitur trotzdem zu schaffen.

Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig Menschen über ihre herausragendsten Fähigkeiten wissen. Dabei ist es klüger, jene Fähigkeiten zu entwickeln, die man hat, und nicht solche, die man sich wünscht. Das Wichtigste, das die Sir Karl Popper Schule und das Sächsische Landesgymnasium Sankt Afra von vielen anderen Bildungseinrichtungen unterscheidet, ist, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, herauszufinden, worin sie wirklich gut sind.

In der gesamten Menschheitsgeschichte ist irgendwann die Entscheidungsmacht immer an die nächste Generation übergegangen – das wird in Zukunft nicht anders sein. Selbst wenn die jungen Menschen viele Dinge ganz anders sehen und noch keine Antworten auf viele Zukunftsfragen wissen, sollten wir darauf vertrauen, dass sie die Führungsaufgaben in der Gesellschaft verantwortungsvoll und reflektiert ausüben werden. Die Anthropologin Margaret Mead hat es auf den Punkt gebracht: »Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde.«

Dieses Buch ist reich an Zitaten, einige gehen bis in die Antike zurück. Was haben Hinweise auf Erkenntnisse aus der Vergangenheit in einem Buch, das sich mit den notwendigen Fähigkeiten für die Welt von morgen auseinandersetzt, verloren? Gerade in turbulenten Zeiten ist es gut zu wissen, dass bestimmte Dinge gleichbleiben.1 Das Warenangebot in Supermärkten ist zwar vielfältiger geworden, aber wir kaufen noch immer Waschmittel, Brot, Lebensmittel und Süßigkeiten, um diese nach Hause zu schleppen. Es gibt heute Unmengen von Jeansmarken in allen Preiskategorien, am Ausgangsstoff hat sich wenig geändert. Wir verlieben uns, bauen Beziehungen auf, setzen Kinder in die Welt, die später Schulen besuchen, in denen meist sehr ähnlich unterrichtet wird wie in unserer eigenen Schulzeit. An den großen Konstanten Kindheit, Jugend, Arbeit, Freizeit, Ruhestand und Tod hat sich zwar die Art, wie wir diese leben, verändert, aber nicht so sehr der Inhalt jener Lebensabschnitte. Liebeskummer wird nicht kleiner, weil wir die Abfuhr heute nicht mehr in einem Brief oder Telefonat erhalten, sondern per WhatsApp. Vieles verändert sich, doch die Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste der Menschen bleiben gleich. Daher verkörpern einige der alten Weisheitslehren gültige Wahrheiten, die auch für uns im 21. Jahrhundert hilfreich sein können.

Es liegt an uns, ob die Zukunft für uns die große Unbekannte bleibt, die plötzlich unser Leben umstülpt. Oder ob wir uns die Zukunft zur neuen besten Freundin machen, wissend, dass wir auch von unseren Freunden und Freundinnen nicht immer nur schöne Überraschungen zu erwarten haben. Vertrauen ins Leben ist getragen von der Überzeugung: Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann ist es nicht das Ende.

Nach der Lektüre eines Sachbuchs fragt man sich oft: Vieles klingt gut und richtig, aber was kann ich jetzt konkret tun? Erinnern Sie sich an gute Ratschläge oder Weisheiten, für die Sie dankbar gewesen wären, wenn Sie diese Jahre früher erhalten hätten? Das letzte Kapitel »Keiner von uns ist so klug wie wir alle zusammen« enthält einen Vorschlag, wie Sie sofort anfangen können. Lassen Sie sich überraschen.

1

John Naisbitt: Mind Set! Wie wir die Zukunft entschlüsseln. 2006. Hanser, S. 19.

Viele Erkenntnisse in diesem Buch wurden durch die Gespräche mit besonders begabten jungen Menschen inspiriert. Die Interviews wurden in zwei Schulen geführt, die sich auf die Förderung hochbegabter Schüler konzentrieren:

Die Sir Karl Popper Schule in Wien ist ein Sonderzweig des öffentlichen Wiedner Gymnasiums mit dem Schwerpunkt Begabungsförderung.

www.popperschule.at

Folgende Schülerinnen und Schüler beziehungsweise Absolventen haben an dem Buch mitgewirkt:

Julian Bridi

Florian Brosch

Stella Engel

Leonhard Goliasch

David Michler

Lina Reiter

Alessandro Rodia

Simon Urwaleck

Elisa Briem

Adam El-Hamalawi

Paula Gokl

Rosa Mangold

Martin Pleyer

Lara Tegrovsky

Julian Rothenbuchner

Das Sächsische Landesgymnasium Sankt Afra in Meißen ist eine öffentliche Schule für Hochbegabtenförderung im Freistaat Sachsen.

www.sankt-afra.de/landesgymnasium-sachsen

Folgende Schülerinnen und Schüler bzw. Absolventen haben an dem Buch mitgewirkt:

Charlotte Beckmann

Lasse Höhle

Ole Pawlowski

Oskar Wienecke

Laurenz Frenzel

Lara Müller

Carolin Terkamp

David Wittmann

Aus Gründen der flüssigeren Lesbarkeit erfolgt die Zuordnung der wörtlichen Zitate im Buch zur jeweiligen Schule nur, wenn dies der Kontext erfordert. Die Schülerinnen und Schüler verwenden meist die Begriffe »Popper-Schüler«und Afraner« für sich, deshalb wurden sie so übernommen.

Einsichten: Heute sehen, was morgen wichtig sein wird

Wer vorschnell urteilt, erkennt oft Neues nicht

»Als ich 14 war, war mein Vater so dumm, dass ich ihn kaum ertragen konnte. Aber als ich 21 wurde, war ich doch erstaunt, wie viel der alte Mann in sieben Jahren dazugelernt hatte.«

Mark Twain

Julian Rothenbuchner studiert Space Technology an der Tech Uni in Delft: »Es gibt hier in den Niederlanden offene Entscheidungsträger, die schauen sich ein revolutionäres Konzept vorurteilsbefreit an und denken nicht gleich: ›Kenne ich das schon oder wie alt ist die Person, die das gerade vorschlägt?‹, sondern sie fragen vorurteilsfrei: ›Ist das eine gute Idee? Hat das Potenzial?‹ Die verwenden ihr Wissen, um wirklich genau zu schauen, bevor sie bewerten. In Österreich habe ich oft erlebt, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, auf Leute vor allem aus der älteren Generation zu treffen, die gleich am Anfang sagen: ›Nein, das kann ja nie funktionieren.‹ Solange keine zwei Doktortitel vor deinem Namen stehen, hast du für die keine Glaubwürdigkeit. Ich bin in Business-Meetings reingegangen, wo ich dann zwei Stunden lang eine Vorlesung von den Entscheidungsträgern über ›Das sind die ganz fundamentalen Dinge von Space Business‹ bekommen habe, die ich ohnehin längst wusste. Wenn du dann zu argumentieren beginnst, lassen sie dich nicht ausreden, bevor du überhaupt zum entscheidenden Punkt kommst. Sie wollen nur noch über Dinge reden, die sie schon kennen. Dieses sehr enge Mindset verhindert Innovation.«

Eine Aussage zieht sich durch fast alle Interviews: Die Alten urteilen und verurteilen neue Ideen oft sehr schnell, ohne sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Sie denken aufgrund ihrer Erfahrung Vorschläge immer mit allen möglichen, vor allem den negativen Konsequenzen, bis zum Ende durch. Lasse Höhle, Schüler in St. Afra, widerspricht dieser These allerdings. Die privilegierten Alten in unserer Gesellschaft denken die Folgen ihrer Entscheidungen eben nicht in letzter Konsequenz zu Ende. Sie suchen sich vielmehr die für sie passenden Argumente aus, um den Status quo zu verteidigen, und fürchten Einfluss zu verlieren. »Ich glaube, dass unsere Generation anders aufwächst und mit neuen Lösungen an die Probleme herangeht«, meint Lasse Höhle.

Unabhängig von ihrem Alter besitzen konstruktive Menschen die Fähigkeit, einer neuen Idee aufbauend auf ihrem Wissen offen gegenüberzutreten. Frei von geistigen Fesseln werden zunächst Grenzen ausgetestet und verschoben und so der Weg für bahnbrechende Entdeckungen und Erfindungen bereitet. Unkonventionellen Vorschlägen unvoreingenommen gegenüberzutreten ist, wenn wir uns ehrlich sind, für uns Älteren eine riesige Herausforderung, vor allem auf Gebieten, auf denen wir uns kompetent fühlen. Oft würde es schon ausreichen, wenn wir unser Feedback wertschätzend und nicht belehrend geben. Es gibt einen Unterschied zwischen: »Tu das nicht, ich weiß, wovon ich rede« oder: »Dieses Thema bereitet mir Sorgen, weil es unangenehme Folgen haben könnte. Was denkst du, wie könnten wir das gemeinsam lösen?«

Es fehlen die Brücken zwischen den Generationen – auch die Jungen sind gespalten

Die Arbeit an diesem Buch hat mir selbst geholfen, mein eigenes Verhalten gegenüber jungen Menschen unter einer neuen Perspektive zu sehen. Denn die Generationen der »Digital Natives« und der »50plus« klaffen immer mehr auseinander. Lenny Goliasch: »Ich würde meinen Eltern und Großeltern gerne abgewöhnen, dass sie neue gesellschaftliche, technologische Entwicklungen zuerst, vor allem anderen, immer mit Ablehnung begegnen.« Die einen sind mit den Werten der »alten Schule«, wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Lernen tut man aus Erfahrung und Erfolg muss man planen, aufgewachsen. Die anderen leben in einer Welt der ständigen Veränderung, des Ausprobierens ohne fixen Lebensplan, des Stresses der vielen Möglichkeiten und der Gefahr des Verlorengehens in den virtuellen Welten.

Die Konfliktlinien verlaufen freilich nicht nur zwischen den Jungen und Alten, sondern auch innerhalb der Generation der Jungen. Das Spannungsfeld Freiheit versus Gerechtigkeit polarisiert auch bei ihnen. Die gut gebildeten jungen Menschen agieren sehr sensibel in Fragen der Diskriminierung von Rasse, Geschlecht und Herkunft. Sie haben viel Verständnis für Minderheiten, die lautstark versuchen, ihren Anliegen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, weil diese sonst nicht in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Die Meinungsbildung erfolgt in ihrer eigenen Community und sie informieren sich primär über linksliberale Medien. Viele sehen die Marktwirtschaft sehr kritisch beziehungsweise lehnen diese als die Menschen und die Umwelt ausbeutenden Kapitalismus ab. Den Klimawandel empfinden sie als größte Bedrohung für die Menschheit, die man auch mit radikalen Methoden jenseits der parlamentarischen Demokratie bekämpfen muss. Politisch identifizieren sich die Gymnasiasten und Studenten am ehesten mit den Grünen. An zweiter Stelle kommen die Liberalen, in Deutschland die FDP, in Österreich die Neos. Eine kleine Minderheit wählt die extreme Linke. Im ideologischen Grundkonflikt über die Frage, ob eine Gesellschaft mehr die Freiheit des Einzelnen oder Gleichheit für möglichst alle garantieren soll, entscheidet sich die Mehrheit der Afraner und Popper-Schüler für Gleichheit. Dieser öffentlich sehr präsenten Gruppe stehen ihre weniger gebildeten Altersgenossen gegenüber, die sich ausgegrenzt und in ihren Lebenschancen benachteiligt fühlen. Sie sorgen sich eher um ihre persönliche Zukunft als um jene der Welt. Politisch tendieren sie zu rechtspopulistischen Parteien. Bio beim Einkaufen ist für sie und ihre Eltern oft nicht leistbarer Luxus, sie verzichten auf Flug- und Fernreisen nicht wegen dem Klimawandel, sondern aus Mangel an Geld.

Diese kurze subjektive Einschätzung soll nur verdeutlichen, dass weder die Generation der Älteren noch die der Jungen durch einheitliche Werte geprägt ist, sondern die Konfliktlinien auch in Zukunft sowohl zwischen als auch innerhalb der Generationen verlaufen werden. Die Fähigkeit, die Kunst des echten Dialogs zu erlernen, statt sich in Diskussionen zu verstricken, wird daher für alle Generationen entscheidend sein, deshalb widme ich dem Thema auch ein eigenes Kapitel.

Das Prinzip der verzögerten Kritik als Mittel gegen die hohe Säuglingssterberate neuer Ideen

»Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen.«

Kurt Tucholsky, Schriftsteller

Die Jungen wünschen sich, dass man ihnen vorurteilsfrei zuhört, sich in ihre Lage versetzt und ihre Ideen erst nach einer längeren Nachdenkzeit beurteilt. Dieser Ansatz ist keineswegs neu, sondern entspricht dem Prinzip der verzögerten Kritik. Jenes wurde vom Erfinder des Brainstormings, dem Mitbegründer der Werbeagentur BDO (heute BBDO) Alex Faickney Osborn bereits 1938 definiert. Er entwickelte das Brainstorming (Gehirnsturm), die am häufigsten und am häufigsten falsch angewendete Kreativitäts-Methode. Brainstorming ist nicht, wenn sich einige Leute fünf Minuten zusammensetzen und jeder sagt, was ihm gerade einfällt. Falsch eingesetzt führt Brainstorming zu enttäuschenden und vor allem konventionellen Ergebnissen. Osborn hat jahrelang Sitzungen analysiert und dabei die Hauptursachen für die Blockierung der Kreativität gefunden. Diese stimmen in verblüffender Weise mit der Kritik der Jungen von heute an der vorschnellen Bewertung ihrer Ideen überein. Osborn schlug einen Prozess vor, der diese Hemmnisse durch strenge Regeln ausschalten, innerhalb jener Regeln aber Raum für maximale gedankliche Freiheit schaffen sollte:

Der Mensch neigt dazu, mit anerkannten Vorstellungen übereinzustimmen, darum ist jede Idee prinzipiell erlaubt, auch wenn sie scheinbar überhaupt nichts mit der Problemstellung zu tun hat.

Der Mensch tendiert zu vorschnellen Urteilen, daher ist während des Prozesses jede Form von Kritik verboten.

Der Mensch hat die Neigung zur Furcht, sich lächerlich zu machen, deswegen gibt es keine Sanktionen für »dumme Ideen« oder »blöde Bemerkungen«. Sie sind sogar ausdrücklich erwünscht.

Der Mensch fürchtet Tadel und Kritik von Vorgesetzten, darum findet Brainstorming in einem hierarchiefreien Raum statt, wo weder formale Position noch Erfahrung eine Rolle spielen.

Der Mensch hat Angst davor, dass eigene gute Ideen gestohlen werden, deshalb gibt es kein Besitzrecht an Ideen, die Gruppe agiert als Ganzes.

Das Prinzip der verzögerten Kritik könnte ein hilfreiches Werkzeug sein, um den Dialog zwischen den Generationen in produktive Bahnen zu lenken. Denn es gibt ein natürliches Spannungsfeld zwischen schöpferischer Fantasie und kritisch-rationalem Urteilsvermögen. In der Kindheit und Jugend ist vor allem das affektive, kreative Potenzial gut ausgeprägt, während mit zunehmendem Lebensalter aufgrund von Erfahrungen das kritische Urteilsvermögen zunimmt. Das bedeutet nicht, dass ältere Menschen nicht kreativ und junge nicht kritisch gegenüber ihren eigenen Ideen sein können. Es herrscht aber eine unterschiedliche Ausprägung jener Fähigkeiten. Denn Erfahrung kann hinderlich sein, um neue Dinge zu erkennen, aber auch notwendig, um nicht gegen die erste Mauer zu krachen. Ältere können den Jungen mit ihren Kontakten Türen öffnen, und die Jungen können ihnen dafür helfen, ihre Erfahrungen in einer digitalen Welt weiter nutzbar zu machen.

Caro Terkamp: »Ich glaube, dass sich einfach die Interaktion zwischen den Generationen in den letzten Jahren teilweise ins Negative verändert hat. Wir hören einander zu wenig zu. Aber die Welt wandelt sich so schnell, dass es sich lohnt, sich gegenseitig zuzuhören. Die ältere Generation muss die Hürde ihrer vermeintlich großen Lebenserfahrung überwinden, um von den Jüngeren zu lernen. Genauso dürfen wir jüngere Leute nicht sagen: ›Na ja, die sind halt alle alt, die haben doch eh keine Ahnung mehr, wie es heute funktioniert, vor allem was Technik betrifft.‹«

»Die Alten und die Jungen« sind ein Thema, das seit Generationen bewegt, wie nachstehendes Gedicht von Theodor Fontane zeigt:

»Unverständlich sind uns die Jungen‹,

wird von den Alten beständig gesungen;

meinerseits möcht ich’s damit halten:

›Unverständlich sind mir die Alten.‹

Dieses Am-Ruder-bleiben-Wollen

in allen Stücken und allen Rollen,

Dieses Sich-unentbehrlich-Vermeinen

samt ihrer ›Augen stillem Weinen‹,

als wäre der Welt ein Weh getan – (…)«

Entwickeln Sie ein Anfänger-Mindset und Sie werden viele Möglichkeiten statt nur wenige entdecken

»Wenn dein Geist leer ist, dann ist er bereit für alles. Im Anfänger-Mindset gibt es immer viele Möglichkeiten, aber im Experten-Mindset nur wenige.«

Shunryū Suzuki

»Shoshin«, das Konzept des »Anfänger-Mindsets«, stammt ursprünglich aus dem Zen-Buddhismus.1 Auch wenn man kein Zen-Buddhist werden will, das ist ein ziemlich aufwändiger Weg, kann ein Anfänger-Mindset durchaus hilfreich sein. Meine eigenen Erfahrungen in Tassajara, dem von Shunryū Roshi gegründeten ersten Zen-Kloster in den USA, bieten einen hoffentlich interessanten Einstieg in eine andere Welt. Da es im Zen darum geht, möglichst immer im Jetzt zu sein, habe ich diesen Teil in der Gegenwartsform geschrieben.

Man muss kein Zen-Mönch werden, um ins Kloster zu gehen

Tassajara, nur mit einem Geländewagen auf engen Pfaden im Carmel Valley in Kalifornien erreichbar, ist kein Ort, der einen vom ersten Augenblick einfängt. Seine Kraft entfaltet sich langsam, dafür stetig. Das immer präsente Geräusch von fließendem Wasser, die heißen Bäder, der harte kalte Holzboden im Shendo (Meditationshalle), die freundlichen Mönche, die sich untereinander mit der buddhistischen Verbeugung begrüßen, während sich die profanen Gäste mit einem »Hi« begnügen, das von Herzen kommt. Auffallend bei allen Mönchen und Studenten ist die kerzengerade Haltung, und dass sie auch auf breiten Gängen nicht wie bei profanen Menschen üblich in der Mitte, sondern immer an der Seite gehen, damit automatisch Platz für andere ist. Haltung kommt vor Meditation.

Im Zentrum startet alles pünktlich auf die Minute und wird durch Glockenschläge oder Trommel angekündigt, von der Morgenmeditation um 5.45 Uhr über das Frühstück bis zum Abendessen genau um 19 Uhr. Da erkenne ich große Parallelen zu den Benediktinern. In der Nacht gibt es nur Petroleumlampen, was mir als Städter das Gefühl von Nacht und Dunkelheit wiedergibt. Beginnt man die Umgebung von Tassajara zu erkunden, findet man sich in einzigartiger Wildnis und landschaftlicher Schönheit.

Tassajara ist kein Platz, wo vordergründige Weisheiten gelehrt werden. Die erste über einstündige Meditation um 5.45 Uhr erfolgt ohne Instruktion gemeinsam mit den Mönchen. Fragen der Gäste, ob man es ordentlich gemacht hat und wie es richtig geht, werden liebevoll-ironisch beantwortet, mit dem Hinweis, dass es keine richtige Art zu meditieren gibt. Alle Rezepte würden nur falsche Erwartungshaltungen auslösen. Der Sinn der sehr strengen Sitzhaltung liegt vor allem darin, dass man sich aufs Formale konzentriert und sich nicht so schnell in den eigenen Gedanken verliert, was uns Anfängern natürlich überhaupt nicht gelingt. Zen ist eben nicht, wie viele glauben, die Fähigkeit, an nichts zu denken, sondern die Gabe, seine Gedanken nicht Besitz von Geist und Wollen ergreifen zu lassen.

Die Abkürzung zur Weisheit ohne Schmerzen

Meiner Natur entsprechend suche ich die Abkürzung zur Weisheit und bitte Ed Brown, den Priester, der die spirituelle Autorität in Tassajara verkörpert, um ein Privatissimum. Ed Brown hat sein ganzes Leben dem Studium und der Praxis von Zen gewidmet. »War das sinnvoll?«, frage ich ihn. Er kam mit den typischen Gefühlen des Zweifels, der Verlorenheit nach Tassajara und fand dort zu sich – er nennt es »Reparenting«. Die westliche Psychotherapie versteht darunter eine therapeutische Haltung, die dem Patienten gezielt nachträgliche, elterliche Fürsorge zukommen lässt. Ed ist ein faszinierender Vortragender mit viel Witz und Weisheit. Auf die Frage eines Gastes, wie man denn mit all den Schmerzen während der strikten Sitzhaltung in der Meditation umgeht, antwortet er: Er habe selbst zehn Jahre gebraucht, um eine einigermaßen passende Sitzhaltung zu finden. Manchmal hatte er das Gefühl, so viel Schmerz müsse einfach gut sein für seine geistige Entwicklung, und dass er dafür mit viel Licht am Ende des Tunnels belohnt werden würde. Doch es sei gut möglich, dass da kein Licht komme und der Schmerz weiterginge. Er fand für sich heraus, dass es manchmal besser ist, das schmerzende Bein ein bisschen zu bewegen. Aus seiner Sicht ist es viel seligmachender, den Druck von den Schülern zu nehmen, als ihnen einzureden, dass das Leiden notwendig ist. Entscheidend sei eher, das richtige Ausmaß von Schmerz zu erreichen, sodass man sich fühlt und wach ist und gleichzeitig nicht völlig davon blockiert wird. Die entscheidende Frage stelle ich dem Meister am Ende unseres Gesprächs: »Was kommt nach dem Tod?« Er antwortet wie selbstverständlich: »Zen glaubt nicht so sehr an die konkrete Wiedergeburt wie der tibetische Buddhismus. Es ist eher so: Wenn du dein Leben lang gelernt hast, im Augenblick zu leben, dann wirst du auch im Angesicht des Todes genau wissen, was du tun musst.«

Wie könnte Ihnen diese Geschichte helfen, Ihr eigenes Anfänger-Mindset zu entwickeln? Ein Weg besteht darin, den Zusammenhang zwischen Reisen und der Zeit zu verstehen. Reisen hilft uns, das Zeitempfinden zu verlangsamen, sonst würde unser Leben gleichförmig blitzschnell dahinfließen. Die Verjüngung und Verstärkung des Zeitgefühls gehört zu den Hauptmotiven, warum Menschen reisen. Die Um- und Neugewöhnungen in Tassajara waren für mich ein Mittel, den Zeitsinn aufzufrischen und mein Lebensgefühl zu erneuern. Die Ordnungsstruktur des Alltags zu verlassen und in eine neue Wirklichkeit einzutreten ist für viele eine Möglichkeit, die Dinge mit neuen Augen zu sehen. Welche Ihrer Reisen hat den Blick auf Ihr Leben verändert?

Sie müssen selbstverständlich nicht nach Tassajara reisen, es gibt auch in Österreich und Deutschland Orte, die einladen, sein Anfänger-Mindset zu entwickeln. Einen jener Orte kann ich persönlich empfehlen. Inmitten der archaischen Landschaft des Waldviertels steht das Seminarhaus »Die Lichtung« in Rastenberg unweit von Zwettl. Die angebotenen Workshops beschäftigen sich mit Yoga, Achtsamkeit, Tanz oder Heilung.2

In Deutschland bietet der Benediktushof im unterfränkischen Holzkirchen Meditation, Achtsamkeit, Kontemplation und Zen. Gegründet wurde dieser Kraftort in einem ehemaligen Benediktinerkloster aus dem achten Jahrhundert von dem Benediktiner und Zen-Meister Willigis Jäger (1925–2020). Der überkonfessionelle Ort der Stille unterstützt Menschen dabei, mit christlicher Kontemplation und Zen Zugänge zu ihrer Spiritualität zu finden.

Viele spirituelle Ort schenken uns die notwendige Zeit, um fern des Alltags unsere inneren Bedürfnisse wieder zu spüren und zu nähren. Und zu erkennen, dass unsere Angst, die Welt würde sich ohne uns nicht weiterdrehen, unbegründet ist.

Das Anfänger-Mindset erfordert, dass wir nie ganz erwachsen werden

»Der Lehrer ist da, wenn der Schüler dafür bereit ist«, heißt es im Zen-Buddhismus. Der ewig Lernende ist eben nicht der Durchblicker, Besserwisser oder Fachspezialist. Er bewahrt sich einen Rest an Naivität, um sich überraschen zu lassen von den großen Geschichten der Menschheit und den vielen kleinen Wundern des Alltags. Einige Möglichkeiten, die Sie ausprobieren können, um in Ihrem Alltag an Ihrem Anfänger-Mindset« zu arbeiten:3

Lassen Sie sich von Kindern inspirieren

Für ein Kind ist fast alles neu, und es geht mit Staunen und Verwunderung an Situationen heran. Kinder leben ihr Leben nicht auf der Grundlage einer vorgefassten Meinung darüber, wie es sein sollte. Wenn Sie das nächste Mal mit Kindern zusammen sind, achten Sie darauf, wie diese auf die Welt um sich herum reagieren. Kinder sind nie fertig mit dem Lernen. Fangen Sie an, Fragen zu stellen, wie Kinder es tun: Was ist das, warum ist es so, wie funktioniert das? Sobald Sie anfangen, derartige Fragen zu stellen, werden Sie mehr über Themen und Situationen lernen, von denen Sie glauben, dass Sie diese bereits kennen. So hat der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi den Flow-Effekt entdeckt, indem er zufällig spielende Kinder beobachtete. TikTok-Gründer Alex Zhu sah während einer Zugfahrt Teenagern zu, die ständig Selfies machten und Musik hörten. Diese Erfahrung inspirierte ihn zu der Idee mit TikTok.

Erlauben Sie sich konstruktive Naivität

Wird man älter, schleifen sich Muster und Erwartungen ein, man ist schon so vielen Menschen begegnet, dass man irgendwann glaubt zu wissen, was auf einen zukommt, statt bereit zu sein, sich vom Leben überraschen zu lassen. Junge Menschen verstehen es besser, Situationen weniger voreingenommen zuzulassen, weil sie neue Erfahrungen machen wollen. Ein gewisses Maß an Naivität birgt viel Potenzial für neue Lösungswege, neue Herangehensweisen und neue Sichtwinkel. »Warum ist das Naive schön?«, hat Friedrich Schiller gefragt. »Weil die Natur darin über Künstelei und Verstellung ihre Rechte behauptet.«

Hören Sie alten Menschen zu

Die Popper-Schüler besuchten im Rahmen des »Projekts Sozial« Altersheime mit überwiegend dementen Menschen, was für alle eine fordernde Erfahrung war, ebenso für die Alten, die überhaupt nie Besuch bekamen. Einige von ihnen waren abgestumpft, verärgert und wollten eigentlich nur noch sterben. Eine Mahnung für die Schüler, sich schon heute Gedanken über ihr Leben und ihre letzte Stunde zu machen. Doch es gab hoffnungsvolle Begegnungen, selbst dort, wo Gespräche fast nicht mehr möglich schienen. Für Paula Gokl war es ein besonderes Erlebnis, die Lebensgeschichte einer sehr alten Frau zu hören, die blind und fast taub war und sich in die Sonne gesetzt und die Füße hochgelagert hatte. Trotz ihrer Einschränkungen war sie glücklich, wenn sie die Vöglein noch etwas zwitschern hörte. Sie sei so dankbar, dass sie noch leben dürfe.

Nutzen wir die Chance, mit alten Menschen in den Bilderbüchern ihres Lebens zu blättern, ihre Gipfelsiege und besonderen Augenblicke nochmals zu durchleben, davon für unser eigenes Leben zu lernen. Die älteste und zweifellos größte Universität ist jene des Lebens. Die Lehrenden sind die Großväter und Großmütter. Die Studierenden sind die Jüngeren. Was die Universität des Lebens neben ihrer Größe so einzigartig macht, ist das herrschende Prinzip des Lernens. Denn die Dozierenden, also die ältere Generation, sind gleichzeitig die Lernenden, weil sie von den Jungen mit ihren Fragen immer wieder gefordert sind, ihr Wissen infrage zu stellen, und die Jungen sind immer auch die Forschenden, denn sie stellen die Fragen, wollen Neues entdecken. Die Hörsäle der Universität des Lebens sind die Wohnungen, Häuser, Bauernhöfe, Altenheime genauso wie die Parks, Dorfplätze, Wiesen und Wälder, überall dort, wo Junge auf Alten treffen können.

Langsamer werden