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Die private Ermittlerin Elli Klinger erhält von einer Frau den Routineauftrag, Beweise für die Untreue ihres Ehemanns zu beschaffen, damit sie bei der Scheidung auf belastendes Material zurückgreifen kann. Kommissar Klaus Nimrod wird zu einem ominösen Fund gerufen. Ein Angler fand im Fluss eine abgetrennte Hand. Doch wo ist die Leiche? Der Journalist Fred Rupp war einstmals durch spektakuläre Enthüllungsstorys über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Nach langer Durststrecke recherchiert er wieder für einen neuen Knüller, doch ihm fehlen Beweise und das Geld dafür zu bezahlen. Die Polizistin Ulrike Porsch stellt nach einer spektakulären Verfolgungsjagd quer durch die Stadt zwei Bankräuber und wird vorübergehend vom Dienst freigestellt. Was verbindet die Fälle miteinander? Weder Elli noch die Polizei sehen einen Zusammenhang, bis ein weiterer Mord geschieht. Niemand ahnt, dass sich hinter all dem eine viel größere Affäre mit internationalem Ausmaß verbirgt. Die Gegner scheinen übermächtig und gut vernetzt. Da kommt es zur Katastrophe. Ellis Nichte Lucy wird entführt. Diesmal muss die Ermittlerin über ihre Grenzen gehen und bedient sich illegaler Mittel. Sie gerät in Lebensgefahr. Die Situation ist so ernst wie nie zuvor, denn der Gegner hat beschlossen, Elli Klinger und Fred Rupp zu beseitigen.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Laura B. Reich
Die große Story
Elli Klinger ermittelt - ihr achter Fall
Thriller
Für meine liebe Freundin
Kerstin S.
die, wie ich es geschafft hat,
ihren Traum zu leben.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede urheberrechtsrelevante Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors oder Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Nachahmungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Texte: © Laura B. Reich - Alle Rechte vorbehalten Umschlag: © Laura B. Reich, 2021 Model: Cathy Cort, 2016, Germany Verlag: Laura B. Reich c/o Papyrus Autoren-Club R.O.M. Logicware GmbH Pettenkoferstr. 16-18 10247 [email protected] Elli: www.die-grosse-story.de Laura: www.elli-klinger-ermittelt.de
Prolog
Misstrauen
Missempfinden
Missetaten
Missgeschick
Missklang
Missgriff
Missmut
Misserfolg
Missraten
Mission
Missetäter
Missionsarbeit
Epilog
Das leise Klicken des Federhebels, der gegen die Schutzkappe drückt und das Surren des Reibrädchens über das Cer-Eisen, das den Funken erzeugt, sind neben dem permanenten Zirpen der Grillen die einzigen Geräusche, die die Stille der lauen Herbstnacht durchdringen. Er ist kein Freund der Neuen Medien, die so spielend einfach überwachbar sind. Da werden ihn seine jüngeren Berufskollegen niemals vom Gegenteil überzeugen können. Kürzlich faselte jemand von einem Tor-Netzwerk, das angeblich die Verbindungsdaten anonymisieren und den Zugang ins Internet und Darknet deutlich sicherer machen würde. So etwas benötigt er nicht. Seine Sicherheiten sind ursprünglicher. Eine davon bezeichnete Aristoteles bereits vor 2.400 Jahren in seiner Naturphilosophie als eines der vier Grundelemente, das Feuer. Er schließt die Kappe des Sturmfeuerzeugs mit dem Daumen und hält das Stück Papier mit spitzen Fingern, bis die Flamme beinahe seine Fingerspitzen erreicht. Das Hitzegefühl ist wichtig. Er hat gelernt, den Schmerz mit der Information zu verknüpfen, die ihm wie immer als Botschaft auf einem Zettel übermittelt wurde. Sein Datenspeicher ist weder ein USB-Stick noch eine Cloud. Auch hier verlässt er sich lieber auf seinen Verstand. Die Flamme erlischt endgültig, als er das Papier mit dem Schuh austritt und die schwarz-graue Asche sich mit dem feinen Kies vermischt. Das ist genug Datensicherheit, denn obwohl das verbrannte Medium inklusive der Kugelschreiberfarbe, chemisch gesehen, nachweisbar ist und sich von der Schuhsohle nicht rückstandsfrei entfernen lässt, so bleibt die eigentliche Information den neugierigen Augen Dritter verborgen. Genau genommen hätte sich sein Auftraggeber die Mühe sparen können, denn die heutige Nachricht bestätigte nur das, was er bereits selbst recherchiert und beobachtet hatte. Ihm ist klar, dass er, bedingt durch das zeitaufwendigere papierlastige Prozedere, in der Vergangenheit deutlich weniger Aufträge annehmen konnte, als einige der Kollegen. Doch das stört ihn nicht. Er lebt genügsam und hat sich schon vor über 20 Jahren eine eigene Lebensphilosophie erarbeitet. Es wäre pure Verschwendung gewesen, dies nicht zu tun, denn schließlich besitzt er einige akademische Grade. Darunter auch einen Dr. sc. phil., den er nach der Promotion an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg verliehen bekam. Das ist lange her. Ihm standen damals viele Türen offen, und das weltweit. Doch er entschloss sich einen gänzlich anderen Weg einzuschlagen, wobei ‹entschließen› einen freien Willen implizieren mag. Dem war definitiv nicht so, denn höchstens das Universum selbst verschuldete die Tatsache, dass er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand und unfreiwilliger Zeuge eines bestialischen Mordes wurde. Jetzt kann er darüber schmunzeln und sich der Ironie des Schicksals nahezu emotionslos ergeben. Doch tief in seinem Inneren verborgen, lauert die grässliche Bestie, die die Wahrheit sah und binnen weniger Stunden sein Leben völlig auf den Kopf stellte.
Ein rascher Blick auf die Leuchtziffern der Armbanduhr verraten ihm, dass er nur noch eine Stunde bis zur Dämmerung warten muss. Den Chronotyp seiner Zielperson würden die Biologen wohl als extreme Lerche bezeichnen, die bereits um 5:00 Uhr morgens quietschvergnügt durchs Leben wandelt. Dann, wenn die meisten anderen noch friedlich schlummern. Heute soll die Sonne um 7:09 Uhr aufgehen. Doch das ist für die Zielperson irrelevant. Zu diesem Zeitpunkt wird sie bereits seit über einer halben Stunde tot sein, wenn alles planmäßig verlaufen ist.
Und das wird es. Dafür hat er gesorgt. Zwei Reservepläne müssen genügen, schlägt der erste wider Erwarten fehl. Selbst für den schlimmsten Fall, dass man ihn kurz nach der Tat überprüfen oder gar festnehmen sollte, werden die Ermittlungsbehörden den Pass eines gewissen Philip Thaler vorfinden, einem ausgewanderten Geschäftsmann aus Neuseeland auf Urlaubsreise durch Europa. Bisher benötigte er jedoch nur zweimal in über 20 Jahren eine Alternative. Das hat er nur seiner gewissenhaften Vorbereitung zu verdanken, davon ist er überzeugt. Auch wenn ihn manche jungen Branchenkollegen belächeln und ihn hinter seinem Rücken wegen seiner pedantischen Arbeitsweise gerne Dr. P. nennen, beweisen seine bisherigen Erfolge die Art der Vorgehensweise. Er verachtet die selbstgefälligen Jungkollegen, die in den letzten Jahren aus sämtlichen Herren Ländern in die Branche drängen. Neben großspurigen Reden setzen sie vor allem auf Hi-Tech, Kaliber und Masse, statt auf Klasse. Geduld, Ausdauer, Fingerspitzengefühl und Präzisionsarbeit werden meist durch Feuerkraft und Brutalität kompensiert. Nicht in jedem Fall ein adäquater Ersatz. Dessen ist sich auch sein Auftraggeber bewusst. Für zwei Wochen Arbeit akzeptierte er, 350.000 € zu bezahlen. Seinen üblichen Tagessatz von 25.000 €, ein Betrag, der ihm durchaus angemessen erscheint, und nicht nur ihm. Womöglich wäre der Auftraggeber sogar bereit gewesen, das Doppelte auf den Tisch zu legen, angesichts der Vita der Person. Doch Gier liegt ihm fern. Für ihn zählte schon immer eine faire Forderung, für eine solide Arbeit zu stellen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Aus einem leichten Jogging-Rucksack holt er einen in Tuch gewickelten Gegenstand und legt ihn neben sich auf die Parkbank. Er braucht kein Licht, um den Bramit auf den Lauf der Waffe zu schrauben, der man die Jahre kaum ansieht. Sie gehört zu einer der ersten Waffen, die er sich besorgte. Der russische Nagant M1895 wurde 1938 produziert und zählt zu den neueren Modellen des Revolvers, der bis 1945 gebaut wurde. Das Besondere daran ist, dass man einen Schalldämpfer verwenden kann, was bei nur wenigen Revolvern möglich ist. Er sieht die mitleidigen Blicke seiner Kollegen, die meist nur ein müdes Lächeln erübrigen, während sie ihn mit stolzgeschwellter Brust eine Walther P99Q mit Mündungssignaturreduzierer, Zubehörschiene, Laservisier und restlichtverstärktem Zielfernrohr präsentieren. Selbst das 15-schüssige Magazin erzeugt bei ihm noch keinen Neid. Sein Revolver fasst lediglich sieben Patronen, die jedoch vollauf genügen. Zwei Kugeln töten in Kopf und Herz, eine zur Sicherheit in die Leber, das war’s üblicherweise. Die restlichen vier dienen als Reserve oder der unmittelbaren Verteidigung, und das alles, ohne Spuren, sprich Patronenhülsen, zurückzulassen, denn die verbleiben in der Trommel. Dabei geht es ihm nicht um die Verschleierung der verwendeten Waffe, sondern um die des Standorts des Schützen, der ohne Hülsen deutlich schwerer zu ermitteln ist. Nebenbei muss er sich keinerlei Gedanken um zufällig hinterlassene Fingerabdrücke machen. Alles Kriterien, die ein echter Profi in jedem Fall bedenken und je nach Relevanz sorgfältig gegeneinander abwägen sollte. Seine Kollegen verlassen sich allzu oft darauf, binnen kürzester Zeit eine möglichst große Distanz zum Tatort zurückzulegen. Je mehr Landesgrenzen überwunden werden, desto besser. Landet man jedoch im System der Behörden, dann verbleibt man dort und wird zukünftig verglichen.
Behutsam verstaut er die Waffe in einem extra eingearbeiteten Holster unter dem Kapuzenshirt und zieht den Reißverschluss ein Stück weit nach oben. Speziell eingenähte Polster auf beiden Seiten sorgen dafür, dass er sie völlig unauffällig mit sich führen kann, selbst wenn er in der Kleidung einen flotten Sprint hinlegen müsste. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, während er den fleckigen Lappen wieder in den Rucksack packt. Spätestens seit zwei Tagen ist er überzeugt, dass der Auftrag ein Kinderspiel werden wird. Alles läuft nach Plan, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Zielperson erwies sich als penibel pünktlich. Laut seinen Aufzeichnungen lagen zwischen dem täglichen Erscheinen maximal drei Minuten Differenz und das in einem Beobachtungszeitraum von zehn Tagen.
Die Wartezeit überbrückt er mit Meditation, die er vor einem guten Jahrzehnt in einem laotischen Kloster erlernte. Damals befand er sich aus unterschiedlichsten Gründen in einer massiven Krise. Er stand kurz davor, alles hinzuschmeißen. Privat, beruflich und auftragsmäßig passte nichts mehr zusammen. Das reinste Desaster. Einer seiner wenigen Freunde gab ihm den Tipp, den er zunächst als weder angemessen noch zielführend wertete, bis ein weiterer Schicksalsschlag ihn zum Handeln zwang.
Seufzend nimmt er die Füße hoch und begibt sich in den Lotussitz, der im Yoga als Padmasana bezeichnet wird. Er verzichtet darauf, die Sneakers auszuziehen, ebenso wie das Kapuzenshirt. Im Ernstfall will er binnen Sekunden in der Lage sein, zu handeln. Mit geschlossenen Augen beginnt er tief zu atmen, berührt mit den Zeigefingern die Daumen und legt die Hände behutsam auf die Knie. Nach wenigen Atemzügen spürt er die Entspannung einsetzen. Körper und Geist verschmelzen und verdrängen Ärger, Zweifel und Sorgen. Die ersten Vogelstimmen lösen das Zirpen der Grillen ab, während er nur noch Ohren für den eigenen Puls und die Atmung hat. Energie und Zuversicht kehren zurück, so wie er es nicht nur erwartet, sondern sich auch innigst gewünscht hat. Auf seine innere Uhr ist Verlass, die ihn eine knappe Viertelstunde vor der geplanten Tatzeit aus der Tiefenentspannung zurückholt. Es bleibt ihm genügend Zeit, den Warteplatz aufzugeben und zur tatsächlichen Startposition zu wechseln. Er wird der Zielperson entgegenjoggen. Der Weg gibt ihm durch ein ausreichendes Sichtfenster die Gelegenheit, das Aufeinandertreffen relativ genau zu kalkulieren. Sein Opfer bewies nicht nur in puncto Lauftempo äußerste Präzision, sondern auch bei der Wahl der Orte für Dehnübungen. Der vorgesehene Tatort, eine Holzbrücke mit niederem Geländer, ist durch Bäume, Buschwerk und eine sanfte Anhöhe nur schwer einsehbar. Ideal also für sein Vorhaben.
Kurz zuckt ein Lächeln auf, bevor der Gesichtsausdruck in die volle Konzentration zurückkehrt. Eine Schweizer Uhr könnte nicht exakter funktionieren, als dieser Mann. In Gedanken zählt er mit und handelt unmittelbar nach acht Wiederholungen, genau dann, als die Zielperson den Fuß vom Geländer nimmt und den Lauf über die Brücke fortsetzen will. Alles geht rasend schnell. Ein letztes Mal vergewissert er sich, dass sie niemand beobachtet, bevor er mit einer fließenden Bewegung die Waffe zieht. Der Schalldämpfer macht kaum ein Geräusch. Es klingt wie kurzes Husten, als drei Schüsse Schulter, Kopf und in Höhe des Herzens den Rücken treffen. Die Schussfolge war absichtlich so gewählt und lässt das Opfer eine Rechtsdrehung vollführen, sodass er nur wenige rasche Schritte benötigt, dem Sterbenden einen finalen Stoß zu versetzen. Es gleicht eher einem harmlosen Rempler, als er mit dem Ellenbogen die Wirbelsäule des Mannes trifft. Das Einschussloch ist kaum zu erkennen, wäre da nicht ein sich rasch ausbreitender Blutfleck. Ihm bleibt der Anblick des ungläubig verzerrten Gesichts erspart, als der Körper über das Geländer in den träge dahin fließenden Fluss stürzt. Mit einem fast perfekten Kopfsprung taucht der Tote ein, sodass kaum Wasser empor spritzt. Doch selbst wenn er auf dem Bauch gelandet wäre, hätte es keinen Unterschied gemacht. Zu dieser Zeit ist er hier mutterseelenalleine, abgesehen von den unzähligen Vogelstimmen, die, jede für sich um die geräuschvolle Vormachtstellung kämpft. Der Leichnam treibt in der Mitte des Flusses und wird bald das Wehr erreichen. Wenn er sich konzentriert und das Vogelgezwitscher ausblendet, kann er in der Ferne das Tosen des Wassers hören. Dort wird der Tote in den Sog gerissen und zwischen schweren Baumstämmen zermalmt, die der Strudel noch nicht freigegeben hat. Hier rächt sich die Vorliebe des Opfers für unauffällige graue Joggingkleidung und einem blauen Sweatshirt. Er bezweifelt jedoch, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wäre sein Zielobjekt mit Kleidung in Warnfarben unterwegs gewesen. Noch auf dem Herweg hat er sich selbst davon überzeugt, das Wehr inspiziert und den bunt zusammengewürfelten Plastik-Unrat bemerkt, der sich nicht mehr aus dem Mahlstrom befreien kann. Ein paar farbige Kleidungsstücke würden niemanden auffallen.
Seelenruhig schraubt er den Schalldämpfer vom Revolver. Einmal mehr zahlt sich die Wahl der Waffe aus, denn ansonsten müsste er das Gras und Gebüsch entlang des Wegs nach Patronenhülsen absuchen und würde womöglich mehr Spuren, wie Fasern und Fußabdrücke hinterlassen, als entfernen. Obwohl er die Schüsse in kurzer Folge abgab, hatte er dabei schätzungsweise 20 Meter zurückgelegt. Eine lange Strecke, um drei kleine Hülsen zu finden, noch bevor die Sonne aufgegangen ist.
Konzentriert beäugt er die Umgebung und dreht sich einmal im Kreis, während er den Revolver neben dem Schalldämpfer im Rucksack verstaut. Alles geht automatisch. Jeder Handgriff sitzt. Er könnte es ebenso mit geschlossenen Augen. Eine weitere Eigenart, die ihm, dem Dr. P., einigen Spott einbrachte. Doch die echten Profis wissen genau, dass der Rückzug den heikelsten Teil der Mission darstellt. Denn Verschwinden, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen, ist nur durch sorgfältige Planung und disziplinierte Durchführung möglich.
Weit entfernt am Wiesenrand entdeckt er eine Frau auf einem Fahrrad, die einen großen braunen Hund an der Leine neben sich führt. Will sie heute nicht ausnahmsweise quer über die Wiese und durch das Gebüsch fahren, so benötigt sie auf dem geschotterten Weg noch gute vier Minuten bis zur Holzbrücke. Er kennt die Frau vom Sehen und hat die Zeit bereits einige Male gestoppt.
Fünf Minuten später wird er im Auto sitzen und auf dem Weg zur Unterkunft sein. Vormittags wird er die restliche Summe abholen und alles vorbereiten, damit er sich im Notfall umgehend in den wohlverdienten Ruhestand begeben kann. Dies war sein vorletzter Auftrag. Kein spektakuläres Meisterstück, aber solide Arbeit für eine angemessene Entlohnung. Er hat genug beiseitegelegt, um einen ruhigen Lebensabend verbringen zu können. Nicht hier, sondern weit entfernt. In einem Land, wo man wenige Fragen stellt, und Fremden gegenüber genauso offen ist, wie den Einheimischen. Dann wird er endlich wieder den wahren Leidenschaften frönen können, der Astronomie und Philosophie.
Warum er noch einen weiteren Auftrag annahm weiß er selbst nicht so genau, denn er weicht nur ungern von einem bereits gefassten Entschluss ab. Die Frau klang verzweifelt und vertrauensvoll zugleich. Das sagt ihm zumindest die jahrelange Erfahrung. Auf die Forderung, binnen zwölf Stunden die Hälfte im Voraus bezahlen zu müssen, ging sie erst nach kurzem Zögern ein. Eine Reaktion, die ihm authentischer vorkam, als eine sofortige Zusage. Im anderen Fall hätte er wohl einen beliebigen Grund gefunden, ihr einen Korb zu geben. Vorsicht walten lassen, ist die Grundvoraussetzung für den Job, auch wenn sie das Codewort kannte. Davon wird er auch nicht beim vermeintlich letzten Auftrag abweichen.
Die neuen Eigentümer haben für das japanische Restaurant Sekandohōmu keine Mühen und Kosten gescheut. Er bedeutet übersetzt so viel wie ‹Das zweite Zuhause›. Der Vorraum ist als gemütlicher Wartebereich mit mehreren Sitzgruppen gestaltet. Gleichzeitig dient er als klassischer japanischer Garten mit Flusslauf, einem roten hölzernen Tor einer Steinbrücke und allerlei Bonsais.
Im Inneren des Restaurants herrscht nicht, wie man es erwarten würde, die übliche raumoptimierte Aufteilung der Plätze. Niemand wollte hier möglichst viele Gäste auf engstem Raum unterbringen. Vielmehr erinnert es an eine riesige Terrasse mit loser Anordnung von Tischen und Stühlen. Hüfthohe Steinmauern, bepflanzt mit allerlei fremdartigen Blumen, darunter unzählige Orchideen, große Pflanzkübel mit Bambus und segelähnliche Reistapeten mit beeindruckenden japanischen Kalligrafien, Shodō genannt, trennen die Sitzgruppen voneinander. Hier wurde eindeutig Wert auf exotische Ursprünglichkeit gepaart mit Eleganz und Intimität gelegt. Dementsprechend gehört das Lokal nicht nur zu den begehrtesten, sondern auch teuersten der Stadt, was jedoch seine Berechtigung hat.
Kein Besucher kommt mit der Erwartung hierher, um binnen kurzer Zeit billiges japanisches Fast Food zu konsumieren. Den Gästen wird das Gefühl vermittelt, dass sich Speisen in Kombination mit spirituellem Erleben auf einer völlig neuen Ebene perfekt ergänzen. Hier zu essen, gleicht dem Besuch eines Events.
«Das Menü war vorzüglich, Frau Rawell. Sie haben nicht zu viel versprochen», lächelt er und nickt anerkennend.
«Das freut mich, Herr Bukowski, denn Sushi, Fugo und Seeigel sind nicht jedermanns Sache. Da habe ich schon manche meiner Freunde und Begleiter insgeheim die Nase rümpfen sehen, auch wenn sich keiner traute, es offen auszusprechen», schmunzelt sie. «Oder wirke ich auf Sie so furchteinflößend und einschüchternd?»
Er zögert kurz und errötet. War das ein erneuter Versuch, mit ihm zu flirten oder eine neutrale Frage? Bereits seit Stunden stellt er sich immer wieder die Frage und ist noch zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangt. Mahnende Worte seiner Freundin Lucy schießen ihm durch den Kopf. Sie besitzt ein deutlich besseres Gespür für solche Dinge, wie er. Das hat sie eindeutig mit ihrer Tante Elli gemein, die er nur allzu gut kennt. Er wagt, sogar behaupten zu dürfen, dass er über das höfliche nachbarschaftliche Verhältnis hinaus, mittlerweile mit der Ermittlerin befreundet ist. Spätestens seitdem sie ihm bei den Werbeaufnahmen aus der Patsche half und kurzfristig, als Model einsprang. Ein Glücksfall in doppelter Hinsicht. Dass er sich danach in ihre Nichte verliebte, kommt für ihn noch immer einem Traum gleich.
Frau Rawell mustert ihn aufmerksam und runzelt die Stirn. Sie hat ihn bei seinem gedanklichen Ausflug ertappt, neigt den Kopf fragend zur Seite und wartet offenbar tatsächlich auf eine Antwort.
Er räuspert sich und schlägt die Augen nieder. Ihr intensiver Blick verwirrt ihn zunehmend und lässt ihm keinen klaren Gedanken fassen. Tief in ihm regt sich ein Verlangen nach der Dame, das er bisher nicht kannte.
«Nun, Frau Rawell, in Ihrer Position ist es durchaus zielführend, wenn Sie mit einem gewissen Nachdruck agieren. Den Frauen in Führungspositionen wird in der Regel ein bisschen mehr abverlangt, als Männern.»
Er hebt den Kopf, auch wenn er sich überwinden muss, und schaut ihr in die Augen. Was er sieht, überrascht ihn. Anstatt, wie befürchtet, verärgert oder amüsiert zu sein, bildet er sich ein, so etwas wie Respekt zu erkennen.
Ohne auf seine Äußerung zu antworten, wechselt sie das Thema. «Ich denke, ich werde jetzt rasch meine Nase pudern gehen und mich um die Rechnung kümmern. Wir führen das Gespräch an einem intimeren Ort fort.» Sie legt eine Pause ein, ohne ihn anzusehen, und kramt geschäftig in ihrer Handtasche. So, als wüsste sie genau, welches Programm sie dadurch bei seinem ganz persönlichen Kopfkino provoziert. Folglich zuckt er erschrocken zusammen, als sie unvermittelt nachsetzt. «Ich kenne eine hübsche Bar in der Innenstadt mit hervorragenden Drinks und guter Musik.» Sie lächelt kokett, dreht sich abrupt auf den hohen Absätzen ihrer wildledernen schwarzen Overknees um und läuft mit elegantem Hüftschwung in Richtung der Toiletten.
Ohne es zu wollen, starrt er ihr hinterher. Wohlgeformte Beine, die ein Stück perlmuttglänzende dunkelblaue Feinstrumpfhose zwischen Stiefeln und dem kurzen Rock preisgeben. Sie bewegt sich wie jemand, der bereits einige Erfahrungen auf dem Laufsteg gesammelt hat. Dafür würde auch die perfekte Kombination ihrer Kleidung sprechen. Ein gelungener Spagat aus businessmäßiger Eleganz und dezenter Provokation. Schließlich verfügt er als Fotograf über einen geschulten Blick für genau solche Details.
Die Situation überfordert ihn eindeutig. Warum hat er sich auch darauf eingelassen? Zuerst ein Geschäftsessen in einem hochpreisigen Lokal? Nein, nicht in irgendeinem, sondern dem momentan angesagtesten der ganzen Stadt, wenn er es genau betrachtet. Mit üblichen Wartezeiten für Normalsterbliche bis zu einem halben Jahr, wie ihn ein Bekannter kürzlich erzählte. Niemand soll behaupten, er hätte sich nicht informiert. Er muss schmunzeln, weil ihm wieder seine Nachbarin Elli durch den Kopf spukt. Sie als Ermittlerin wäre sicherlich stolz auf ihn.
Sein Blick schweift über die anderen Tische, die meist nur mit zwei Personen besetzt sind. Schlagartig kehren seine Gedanken zurück ins hier und jetzt. Was soll er tun? Höflich aber nachdrücklich ablehnen? Kann er sich das überhaupt erlauben? Der Werbeauftrag von Hartmut Wetzels Firma SPEXTRA ist der lukrativste seit Jahren und er hätte das Geld bitternötig. Oder das Risiko eingehen und mit ihr eine hübsche Bar besuchen, wie sie es nannte? Wo er doch kaum Alkohol verträgt und die zwei Gläser Wein noch überdeutlich spürt. Was hat sie vor?
Ein Arbeitsessen hieß es. Um in aller Ruhe die Zielrichtung der Marketingaktion genauer zu erläutern. Es klang plausibel, denn damit ist es für ihn einfacher, an den nächsten Tagen bei den Fotoaufnahmen die Szene zu gestalten und die Models anzuleiten. Er rechnet mit mindestens einer Woche, nachdem er nun die Details erläutert bekam. Endlich wieder ein Kunde mit konkreten Vorstellungen, was heutzutage leider immer seltener vorkommt. Was passiert, wenn er ihr einen Korb gibt? Und was, wenn nicht? Ihm bleiben nur noch wenige Augenblicke, sich darüber klar zu werden und sich zu entscheiden. Soeben verlässt sie den Gang, der zu den Toiletten führt und nähert sich dem Tresen. Er sieht, wie sie kurz mit einem japanischen Kellner spricht, der sich mit mehrmaligem Verbeugen zu bedanken scheint und ihr die Kreditkarte und einen Bewirtungsbeleg übergibt. Sie verbeugt sich ebenfalls lächelnd und kommt auf ihn zu.
«Ich habe bereits ein Taxi für uns bestellt. Es sollte jeden Augenblick eintreffen. Wollen wir draußen warten? Dann könnte ich noch rasch meinem hässlichen Laster frönen», kichert sie kleinmädchenhaft und zeigt ihm eine Schachtel Zigaretten.
Er nickt reflexartig und erhebt sich ungelenk. So viel zu einer Möglichkeit, abzulehnen. Das wird er sich wohl abschminken müssen, wenn er nicht riskieren will, den Auftrag zu verlieren. War es nicht er selbst, der ihr gerade eben einen gewissen Nachdruck in ihren Entscheidungen nachsagte? Das hat er nun davon. Er holt tief Luft und beeilt sich, ihr in den langen Ledermantel zu helfen. Sofort steigt ihm ihr Parfüm in die Nase. Eine Mischung aus fruchtiger Spritzigkeit, süßer Vanille, herbem Sandelholz und einer leicht pudrigen Note, die er nicht genau zuordnen kann. Jetzt kommt ihm zugute, bereits mehrmals für Parfümhersteller fotografiert zu haben. Damals bekam er sogar eine Kurzeinweisung von einem echten Berufsschnüffler. Beiläufig bemerkt er, dass sie sich tatsächlich frisch gepudert und nachgeschminkt hat. Er wäre auch hier ein schlechter Fotograf, würden ihm solche Details nicht ins Auge fallen. Und die Ohrringe? Trug sie nicht andere beim Essen? Ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, streift seinen Handrücken. Seidenweich, schießt ihm durch den Kopf. Er spürt, wie der Puls beschleunigt und er unvermittelt den Atem anhält. Verwirrt greift er nach der Jacke und benötigt mehrere Versuche, bis die linke Hand endlich das Ärmelloch findet. Frau Rawell hat bereits die erste Glastür erreicht, die automatisch aufschwingt. Mit ein paar raschen Schritten holt er sie ein, bevor sich die eigentliche Eingangstür mit einem dezenten Klang eines traditionellen Gongs öffnet. Er lässt ihr den Vortritt und deutet etwas tollpatschig eine galante Verbeugung an. Sie grinst amüsiert und streckt ihm die Hand entgegen. «Wir können uns ab jetzt gerne duzen. Ich bin Lucinda.»
Unbeholfen greift er nach ihrer Hand. «Frederic. Ich heiße Frederic», antwortet er mit rauer Stimme und entdeckt aus dem Augenwinkel die Scheinwerfer eines Autos. Das Taxi ist überpünktlich.
«Angenehm. Offiziell anstoßen können wir gleich noch in der Bar. Ein echter Geheimtipp, wenn du verstehst», lächelt sie und zwinkert ihm zu.
Er nickt wortlos und will ihr die Tür des Taxis öffnen.
«Lass mal gut sein Frederic. Ich rauche jetzt erst noch eine Zigarette. Aber du darfst gerne einstweilen einsteigen. Es ist irgendwie frisch geworden. Findest du nicht?»
Er nickt erneut. In seinen Ohren klingt es weniger nach einer Frage, obwohl sie es als solche formulierte. Zögernd verharrt er für einen kurzen Augenblick, bis sie sich die Zigarette anzündet und einen ersten tiefen Zug nimmt. Mit der Hand deutet sie an, dass er doch einsteigen solle. Und er folgt ihrer Aufforderung wie ein braves Hündchen.
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Der Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude der Firma ist bis auf die beiden Autos des Wachpersonals verwaist. Sie parkt bewusst auf der Straße außerhalb des Geländes, um den Überwachungskameras zu entgehen. Niemand soll Verdacht schöpfen, dass sie nicht sofort aussteigt. In den vergangenen Stunden ist es empfindlich kalt geworden. Selbst hier im Auto spürt sie es, weil sie viel zu zeitig eintraf und bereits über 20 Minuten bewegungslos ausharrt. In ihrer Aufregung wollte sie unbedingt pünktlich sein. Ihr bleibt schließlich nur eine gute Chance, mit großem Glück noch eine zweite.
Das Handy zeigt 23:25 Uhr. In wenigen Minuten erfolgt der alltägliche Schichtwechsel des Wachpersonals. Sie kennt Igor, der die Nachtschicht übernimmt, nur flüchtig vom täglichen morgendlichen Grüßen. Jedoch hat sie längst den Eindruck gewonnen, dass er gerne an etwas mehr als dem üblichen Small Talk interessiert wäre. Bisher ignorierte sie allerdings sämtliche seiner Offerten höflich und bestimmt, obwohl es ihr natürlich schmeichelt, bei 24 Jahren Altersunterschied, wie sie zwischenzeitlich in Erfahrung brachte. Welche Frau würde nicht liebend gerne von einem deutlich jüngeren Mann begehrt oder zumindest noch als ausreichend attraktiv befunden werden?
Igor mag ein netter Kerl sein, das will sie nicht bestreiten. Sie sammelte jedoch mit seiner Art von Burschen bereits ganz eigene Erfahrungen, auf die sie gerne verzichtet hätte. Seitdem sind Russen und alle die nur entfernt danach aussehen oder sich ähnlich benehmen, ein absolutes Tabu.
Sie erinnert sich, als wäre es letzte Woche geschehen. Zwei Freundinnen überredeten sie, sie auf eine Party von Kommilitonen zu begleiten, die zunächst völlig harmlos begann. Doch je später es wurde und je weniger Studenten übrig geblieben waren, desto härter ging es zur Sache. Sie musste all ihre Kräfte aufbieten, nahezu sämtliche anzüglichen Angebote abzulehnen. Außer beim Alkohol ließ sie sich auf keinerlei Zugeständnisse ein. Die einzige Droge, die sie einigermaßen kontrollieren könnte, dachte sie in ihrer damaligen Naivität. Als ihre beiden Freundinnen begannen, auf dem Tisch zu tanzen und dabei einen Striptease hinlegten, bis lediglich die Stringtangas übrig blieben, wollte sie nur noch schleunigst nach Hause. Die verbliebenen drei russischen und zwei bulgarischen Studenten waren von der Show hellauf begeistert und drängten sie dazu, ebenfalls zu tanzen. Der Alkohol vernebelte ihre Sinne. Sie bildete sich ein, schneller dem Ganzen entkommen zu können, wenn sie sich zumindest ein bisschen kooperativ zeigen würde. Sie kam bis zum Pullover und der Bluse, als sie es nicht länger ertrug. Die Mimik und Gestik der Männer sprachen für sich. Dazu musste sie nichts von den mit schwerer Zunge zugerufenen Anfeuerungen in deren Muttersprache verstehen. Ihre beiden Freundinnen gingen einen Schritt weiter und verhalfen ihr ungewollt zur Flucht. Je zwei der Studenten teilten sich eine der Frauen, sodass sie selbst in lediglich ein grobschlächtiges Gesicht eines Russen blickte, der sie erwartungsvoll anstarrte. Trotz gehöriger Mengen Alkohol und noch härteren Drogen erstaunte sie die rasche Reaktion, als sie in den High Heels ungelenk vom Tisch sprang, beinahe stürzte, sich den Pullover und die Handtasche schnappte und versuchte, die Tür zu erreichen. Er versperrte ihr den Weg, so als hätte er ihren Fluchtversuch geahnt. Die verschwitzte Bluse nahm er in seine bratpfannengroßen Hände und hielt sie sich immer wieder an die Nase, um verzückt daran zu schnüffeln. Es mag der Ekel gewesen sein, der ihr zusätzliche Kräfte verlieh, ihm einen so gewaltigen Stoß gegen die Brust zu versetzen, dass er rückwärts taumelte, über eine Flasche am Boden stürzte und unsanft auf dem Hinterteil landete. Panisch sprang sie über seine Beine, rannte in die Diele und riss dabei mehrere Bierflaschen von einer Kommode, die auf dem Teppichboden fielen, ohne zu zerbrechen. Die Wohnungstür war verschlossen, doch zum Glück steckte der Schlüssel. Trotzdem büßte sie zwei Fingernägel ein, als sie in ihrer blanken Verzweiflung den Riegel und das Schloss versuchte, gleichzeitig zu öffnen. Der laute Schrei des Russen, der offenbar die Verblüffung über seinen Sturz überwunden hatte, machte es nicht leichter. Sie wimmerte und spürte nicht einmal die Tränen der Resignation, die ihr über die Wangen liefen und hässliche schwarze Spuren der Schminke hinterließen. Raus hier. Weg. Weit weg. Das war alles, was ihre Gedanken beherrschte. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie plötzlich auf dem Gehsteig, in der einen Hand den Pullover und in der anderen ihre Handtasche. Ein kalter Wind ließ sie erschaudern. Die Zähne schlugen hart aufeinander. Die Straße war zu jener nachtschlafenden Zeit menschenleer. Hektisch zuckte ihr Kopf hin und her, bis ihr wieder einfiel, in welche Richtung sie gehen musste. Schluchzend schlüpfte sie in den Pullover. Auch wenn sie die Bluse und die Jacke zurückgelassen hatte, so konnte sie zumindest die Handtasche mit allen wichtigen Utensilien darin retten. Für einen Moment überlegte sie, sich ein Taxi zu rufen, doch der nächste Stand lag mehrere Hundert Meter entfernt, am Südausgang des Bahnhofs. Sie hatte keine Lust, nur eine Minute länger hier zu verweilen. Bruchstückhaft kann sie sich daran erinnern, wie sie nach Hause kam. Sie weiß nur noch, dass sie eine Woche lang die Vorlesungen geschwänzt hatte, weil sie null Bock verspürte, ihren beiden Freundinnen zu begegnen.
Sie strafft die Schultern, holt tief Luft und packt die Handtasche fester. Mit schnellem Schritt nähert sie sich der Pforte. Die Absätze der dunkelblauen Pumps hallen auf den Fliesen unnatürlich laut. Der Wachmann Igor hebt den Blick und lächelt ihr zu, während ihn sein Kollege unwirsch auf den Arm knufft und ihm offenbar etwas im Wachbuch zeigt. Es gab heute einen Feueralarm in einer der Fertigungshallen, zum Glück nur ein Fehlalarm. Trotzdem rückte die Feuerwehr an und die Beschäftigten mussten für kurze Zeit die Halle verlassen, bis die Ursache des Alarms, ein defekter Rauchmelder, gefunden war. Solche Vorgänge müssen im Wachbuch verzeichnet werden und gehören sicherlich zu den Highlights im täglichen Einheitstrott des Personals an der Pforte. Igor öffnet den Mund, doch bevor er eine Frage stellen kann, kommt sie ihm zuvor.
«Ich muss noch einmal kurz hoch. Dummerweise habe ich wichtige Papiere im Büro vergessen, die Herr Wetzel gleich morgen früh benötigt. Sie wissen, wenn der Chef ....» Sie beendet den Satz nicht, zuckt entschuldigend die Schultern und ringt sich ein Lächeln ab.
Igor reagiert so, wie sie es vorhergesehen hat. Er schenkt ihr ebenfalls ein breites Lächeln und deutet lediglich eine leichte Verbeugung an. Danach widmet er sich wieder dem missmutigen Kollegen.
Die erste Hürde ist genommen, ohne dass sie sich in die Liste hätte eintragen müssen. Sämtliche Angestellten, die nach 21:00 Uhr noch einmal die Firma betreten, werden üblicherweise vom Wachpersonal in eine Anwesenheitsliste ein- und auch wieder ausgetragen. Dies hat ausschließlich versicherungstechnische Gründe, da im Falle einer Notsituation bekannt sein muss, ob und wer sich, wo auf dem Firmengelände aufhält. Sie hatte gepokert, dass Igor darauf verzichten würde, sie einzutragen, weil er es auch die letzten beiden Male nicht getan hatte. Sie darf es nur nicht übertreiben und startet die Stoppuhr auf dem Handy. Exakt zehn Minuten müssen ihr genügen, um keinen Verdacht zu erregen. Maximal zwei Minuten länger, aber nicht mehr.
Sobald sie sich aus dem Sichtbereich der Pforte befindet, streift sie sich die Schuhe ab und beginnt zu rennen. Keuchend erreicht sie kurz darauf ihr Büro, schaltet das Licht ein, um wenigstens von außen keinen Verdacht zu erregen, und rennt weiter. Sie verliert dadurch kostbare Zeit, doch Sicherheit geht vor. Am Ende des Ganges befindet sich ihr Ziel, das Büro, das nicht ihres ist. Sie aktiviert die Taschenlampenfunktion des Smartphones und weiß genau, in welchem Hängeregister sie suchen muss. Die Hände zittern, sodass sie weitere Sekunden einbüßt, bis sie die richtigen Akten findet. Zwei lose Blätter fallen zu Boden, eines davon verschwindet zielgenau unter dem Rollcontainer am Schreibtisch. Fluchend geht sie in die Knie und reißt sich prompt mit dem Fingernagel eine Laufmasche in den Strumpf. Sie könnte heulen über ihre Ungeschicklichkeit. Vielleicht soll es einfach nicht sein, schießt es ihr durch den Kopf. Nein, falsch. Diese Grübelei hat sie bereits hinter sich gelassen. Sie tut genau das Richtige. Ächzend ertastet sie mit den Fingerspitzen das Blatt und zieht es hervor. Nur noch vier Minuten und 47 Sekunden. Hastig breitet sie die Akten auf dem Schreibtisch aus und beginnt sie der Reihe nach abzufotografieren. Brauchte die Blitzfunktion schon immer so lange, um sich neu aufzuladen? Mit Schrecken stellt sie fest, dass sie kaum noch Akku hat. Da vergaß sie doch prompt das Handy zu laden. So ein verfluchter Mist. Erneut heult sie auf und fotografiert weitere acht Blätter, bis der Akku abrupt und diesmal endgültig den Dienst verweigert. Blitz- und Taschenlampenfunktion gehören wohl zu den Energiefressern. Mit einem Mal ist es stockdunkel. Ein Geräusch lässt sie verharren. Sie traut sich kaum, zu atmen. Ihre Gedanken rasen. Ob Igor nach ihr sehen will und gerade ihr verwaistes Büro inspiziert? Sie könnte sagen, sie hätte dringend auf die Toilette gemusst. Doch die liegt genau am entgegengesetzten Ende des Ganges. Alles bleibt still. Keine Schritte, niemand, der fragend ruft. Sie beruhigt sich und lässt pfeifend die Luft aus den Lungen. Es hilft nichts. Sie braucht Licht. In dem schwachen Zwielicht kann sie die Akten weder fotografieren, noch zurück räumen. Ihre Finger ertasten den Schalter der LED-Tageslichtlampe und drücken ihn. Geblendet schließt sie die Augen, wegen der ungewohnt grellen Helligkeit. Erneut verrinnen die Sekunden. Nun wäre es ein Leichtes, die restlichen Blätter aufzunehmen, doch das Handy ist tot, so sehr sie wischt, und den Einschaltknopf drückt. Keine Fotos, keine Stoppuhr, alles weg. Sie hat völlig das Gefühl verloren, wie viel Zeit ihr noch bleibt, denn ohne Saft versagt auch die Uhr. Sie schließt die Augen und ballt die Hände. Nur keine Panik, nicht jetzt. Ihr Appell zeigt Wirkung. Diesmal gelingt es ihr, die Finger zu beruhigen und die Blätter in genau der richtigen Reihenfolge einzuheften. Nur bei den beiden losen Akten zögert sie. Hoffentlich erinnert sich niemand, an welcher Stelle sie einsortiert waren. Behutsam schiebt sie das schwere Hängeregister möglichst geräuschlos in das Fach. Danach schnappt sie sich das Handy, die Schuhe und die Handtasche, bevor sie den Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen lässt und das Licht ausschaltet. Zurück auf dem Flur stößt sie erleichtert die Luft aus, die sie bei all der Aufregung immer wieder angehalten hat. Im Vorübergehen löscht sie rasch das Licht in ihrem Büro und vergisst nicht, die Tür unverschlossen und halb geöffnet zu belassen, so wie gewohnt. Erst auf dem letzten Treppenabsatz schlüpft sie in die Schuhe, ordnet die Haare und bemüht sich um einen souveränen lässigen Gang. Wenige Stufen vor dem Ende der Treppe schießt es ihr siedendheiß durch den Kopf, dass sie keine Papiere bei sich trägt. Ihre Handtasche ist deutlich zu klein, außer sie hätte sie gefaltet, was nicht üblich wäre. So viel zu ihrer Notlüge. Es bleiben ihr nur wenige Sekunden und der Schwindel könnte auffliegen. Sie spürt Schmerzen im Kiefer, weil sie die Zähne mehrmals krampfhaft fest zusammengebissen hat. Mit kreisenden Bewegungen presst sie beide Daumen auf die Stellen, bis er allmählich nachlässt. Zumindest verhilft ihr die Zwangspause dazu, sich einen Plan zurechtzulegen. Sie beschließt, in die Offensive zu gehen. Das Einzige, was ihr auf die Schnelle einfällt. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Locker bleiben, lächeln, freundlich sein und nicht übertreiben, feuert sie sich an.
Der Wachmann hebt wie erwartet den Kopf.
«Guten Abend Igor», grüßt sie und spielt an einer Haarsträhne. «Das wollte ich Ihnen schon beim letzten Mal sagen. Ich bewundere Sie, dass sie immer nur die Nachtschichten arbeiten. Ist das nicht sehr anstrengend?»
Er hebt erstaunt die Augenbrauen und zeigt ihr mit breitem Grinsen eine Reihe überraschend makelloser Zähne.
«Halb so schlimm», winkt er ab. «Ich bin gerne nachts wach und genieße die Ruhe.» Er breitet die Arme aus und lässt den Blick durch die Eingangshalle schweifen.
«Das wäre nichts für mich», schüttelt sie lächelnd den Kopf und wischt sich kokett eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ich brauche dringend meinen Schönheitsschlaf, sonst bin ich hinterher den ganzen Tag über nicht ansprechbar.»
Sie bemerkt, wie Igor den Mund öffnet, und rechnet bereits mit einer anzüglichen Bemerkung oder zumindest mit einem Kompliment. Doch nichts davon geschieht.
Stattdessen zuckt er mit hochrotem Gesicht die Schultern und senkt beschämt den Kopf.
Sie vernimmt ein schüchtern gemurmeltes «Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Nacht Frau Lohse und bis morgen.»
Sie zögert, doch er hält weiterhin den Kopf gesenkt.
«Na dann auch Ihnen eine ruhige Nacht Igor. Bis morgen früh dann», entgegnet sie freundlich, verspürt jedoch eine Spur Enttäuschung. Erst draußen auf dem Parkplatz in der kühlen Nachtluft meldet sich der rationale Verstand zurück. Warum hadert sie nur? Weswegen fühlt sie sich enttäuscht, weder angebaggert worden zu sein, noch ein halbherziges Kompliment bekommen zu haben? Da will sie die Situation retten und prompt meldet sich gekränkte Eitelkeit. Anstatt sich zu freuen, dass zumindest an der Pforte alles perfekt geklappt hat, spuckt ihr das eigene Ego in die Suppe. «Wie erbärmlich», schnaubt sie leise und drückt den elektronischen Türöffner. Das Auto quittiert es mit dem Ausklappen der Spiegel und einem kurzen Aufleuchten der Blinker. Sie wirft einen Blick zurück zur Pforte, wo sie durch die getönten Glastüren eine Gestalt erkennen kann, die eindeutig in ihre Richtung schaut. Seufzend steigt sie ein und drückt den Startknopf. Der Motor erwacht mit leisem Schnurren zum Leben und schaltet automatisch die Scheinwerfer ein. Erst als sie langsam vom Parkplatz rollt, wird ihr bewusst, wie knapp und riskant es in den vergangenen Minuten zugegangen war. Was, wenn Igor sie auf die Akten angesprochen hätte? Oder darauf bestanden hätte, dass sie sich doch noch in die Liste einträgt? Gänsehaut überfällt sie und lässt sie fröstelnd erschaudern. Nun kann sie nur hoffen, dass die Datenübergabe reibungsloser über die Bühne geht. Außerdem ist ihr bewusst, dass sie es noch einmal wagen muss. Worauf hat sie sich nur eingelassen? Doch jetzt ist es zu spät, die Sache abzublasen. Zu weit hat sie sich aus ihrer bisherigen heilen Welt, ihrer gewohnten Komfortzone entfernt. Sie muss es zu Ende bringen. Zur Sicherheit wird sie erst in einigen Tagen den nächsten Versuch unternehmen, um auch die restlichen Akten zu fotografieren, sonst war alles umsonst.
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«Du gehst jetzt sofort nach Hause. Für dich ist heute Schluss», kommandiert meine Chefin Kitti Kiss resolut und fuchtelt mit erhobenem Finger herum. Noch bevor ich protestieren kann, gibt sie mir einen Klaps auf den Po und haucht mir gleichzeitig einen Kuss auf die Wange.
Ich unterdrücke im letzten Moment mein Murren, drehe mich stattdessen zu ihr, mache einen Schritt zurück und salutiere zackig: «Jawohl Boss!»
Kitti errötet und zischt hastig: «Lass das bitte.» Aufgeregt fuchtelt Sie mit den Händen und wirft einen unauffälligen Blick in die Gaststube. Doch die drei noch übrig gebliebenen Stammgäste unterhalten sich lautstark und gestenreich. Sie haben höchstens Augen für ihre Biergläser.
Ich schmunzle wortlos, rühre mich jedoch nicht von der Stelle. Ein bisschen muss sie leiden für ihren frechen Klaps, das Aas. Sie weiß genau, wie ich normalerweise reagiere, wenn jemand meinem Po ungefragt zu nahe kommt. Ich sehe das nervöse Flackern in ihren Augen und bekomme Mitleid. Wenn ich ehrlich bin, gehört sie wohl zu den ganz wenigen Freundinnen, denen ich diese Freiheit zugestehe.
«Willst du einen Limoncello für den Weg?»
«Ein richtiger Kuss wäre mir lieber, Boss. Hatte meinen Letzten heute Morgen, wo ich noch nicht ganz bei mir war», entgegne ich schlagfertig und bringe sie erneut zum Erröten. Ich weiß auch nicht, was gerade in mich gefahren ist und meine Hormone so in Wallung versetzt hat. Mein Freund Jörg machte heute Morgen während des Frühstücks in der Küche so eindeutig zweideutige Bemerkungen, was mir erst im Büro bewusst wurde, nachdem ich mir das Protokoll des aktuellen Falls durchgelesen hatte. Wirkte er beim Abschied deshalb ein wenig enttäuscht, als ich mich lediglich mit einem halbherzigen Kuss verabschiedete? Hatte er mit einem Quickie spekuliert, gegen den ich selten Einwände erhebe? Eigentlich müsste er mich inzwischen gut genug kennen. Wenn ich kurz davor stehe, einen Auftrag zu beenden, bin ich kaum empfänglich für irgendwelche anderen Dinge.
Sie überwindet ihre Scham, wirft einen raschen Blick in den Gastraum, zuckt die Schultern und kommt auf mich zu. Ich leiste keinen Widerstand, als sie mich rückwärts gegen die Tür des Aufenthaltsraums drückt, meine Handgelenke packt und meine Lippen erobert. Sie muss sich strecken, weil ich mit den Absätzen deutlich größer bin. Keuchend drängt sich ihre Zunge zwischen meine Zähne. Küssen beherrscht sie, das hat sie mir bereits mehrmals bewiesen. Ich schmecke intensives Zitronenaroma. Ihre Lieblingsbonbons seit dem sie aufgehört hat, zu rauchen. Ich lasse mich genüsslich treiben, schließe die Augen, und spüre eine unbändige Lust in mir hochsteigen. Sekundenlang kämpfen unsere Zungen um die Vormacht, ehe ich gedanklich die Reißleine ziehe, sie blitzschnell packe und mit einem Hebelgriff nun meinerseits gegen die Tür presse. Sie reißt überrascht die Augen auf, bevor wir uns keuchend voneinander trennen.
«Oh, entschuldigt Leute, ich wollte euch nicht stören», höre ich hinter mir Klaras Stimme. Diesmal erröten wir beide. Sie übergeht geflissentlich unsere Reaktionen und wischt sich die Hände an einem großen Geschirrtuch trocken. «Ich wollte nur fragen, ob wir die Küche schon schließen dürfen. Anna hat morgen Vorlesungen.»
«Ja klar», tönt es wie im Duett, als Kitti und ich gleichzeitig antworten. Wir lachen, während Klara den Kopf schüttelt und abwinkt. «Schon verstanden, ihr habt wieder mal das Vergnügen und wir, die Küchenzombies, die Arbeit», seufzt sie spielerisch und verdreht die Augen.
«Komm her du Küken», kichere ich und packe sie kurz an den Schultern. «Schafft ihr das wirklich ohne mich? Seid ehrlich.» Ich drehe den Kopf zu Kitti, die den Daumen in die Höhe streckt.
«Na klar, Mama. Lydia kommt doch auch», grinst sie.
«Ich geb dir gleich Mama, du freches Stück. Die Mama legt dich, ohne lange zu fackeln, übers Knie.»
«Das will ich sehen, Mama», entgegnet diesmal Klara provokant, und flieht in die Küche, als ich drohend auf sie zulaufe.
Kitti muss lachen. «Ich weiß schon jetzt, was mir am meisten fehlen wird, wenn du nicht da bist.»
«Übertreib nicht so maßlos. Du arbeitest mit netten Kolleginnen, hast lauter freundliche Gäste und darfst dabei rund um die Uhr tolle Musik hören.»
Ich deute mit dem Daumen hinter mich auf die großen Lautsprecher. Frontmann Urban Breed gibt mit der Band Trail of Murder zu so später Stunde den fetzigen Kracher ‹I know Shadows› zum besten.
Kitti nickt verkniffen, schaut jedoch alles andere als glücklich aus der Wäsche.
«Ich bin ja schließlich nicht aus der Welt», schmunzle ich und stemme herausfordernd die Fäuste in die Hüfte.
Sie imitiert meine Geste. «Du bist die Einzige, die Gernot bändigen kann. Das weißt du genau. Seitdem seine Flamme Martina für vier Wochen ihren Bruder besucht, ist es dem alten Brummbären tierisch langweilig.»
«Dann schicke den lieben Herrn Geiger in die Küche, wenn er dich nervt, und lass ihn etwas Besonderes kreieren. Setze es auf die Tageskarte, das freut ihn. Und dich befreit es garantiert für ein paar Stunden von der Nörgelei, glaub mir.»
Sie neigt den Kopf zur Seite und kneift die Augen zusammen. «Stimmt. Das könnte funktionieren. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?»
«Für ausgefallene Ideen ist schließlich Mama da», necke ich sie, sodass wir erneut lachen müssen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich die Stammgäste suchend umdrehen. «Chefin, du wirst gewünscht» raune ich.
Kitti versteht sofort. Sie nickt und winkt mir zu. «Bis dann irgendwann. Pass auf dich auf Kate Johnson.»
Ich zwinkere ihr zu und schaue ihr hinterher. Sie schüttelt das Haar, sodass für einen kurzen Augenblick die blau gefärbte linke Hälfte, mit der von Natur aus schwarzen rechten verschmilzt. Mit geschäftsmäßigen Schritten nähert sie sich den Zechbrüdern, die lautstark alle drei leeren Gläser in die Höhe halten. Das wird wohl noch eine Weile dauern. Die Uhr über dem Tresen zeigt 01:17. Für solche hoffnungslosen Fälle wäre Gernot hilfreich. Ich habe ihn jedes Mal bewundert, wie spielend einfach er es immer wieder geschafft hatte, seine Gäste binnen weniger Minuten nach Hause zu schicken, ohne dass sie es ihm übel nahmen. Immerhin akzeptierten sie Kitti anstandslos als neue Inhaberin, was nicht zuletzt an Gernots Zuspruch gelegen haben mag. Mich freut es, dass es beiden auf ihre eigene Art und Weise guttut. Kitti ist in den vergangenen Monaten regelrecht aufgeblüht, während sich Gernot deutlich geräuschloser mit der neuen Rolle als Privatier abgefunden hat, als ich annahm. Ganz nebenbei bin ich auch deshalb erleichtert, weil ich bis vor Kurzem noch annehmen musste, dass er es sich in den Kopf gesetzt hat, mir seine geliebte Kneipe zu übergeben. Ihm einen Korb geben hätte ich wohl nicht übers Herz gebracht. Jörg hätte mich sicherlich dabei unterstützt, wo er nur kann und meine Kolleginnen ebenso.
Seufzend drehe ich mich um und eile zum Hinterausgang, versäume es jedoch nicht, mich auf dem Weg von Klara und ihrer jüngeren Schwester Anna zu verabschieden, die gerade geräuschvoll die letzten Pfannen unter dem Herd verstauen. Beide werfen mir eine Kusshand zu und wirken traurig. Am Liebsten würde ich auch sie in den Arm nehmen und drücken. Doch Abschiede liegen mir nicht. Eine der wenigen Anlässe, bei denen ich meine Emotionen nur mit großer Mühe kontrollieren kann.
Eine kalte Windbö schlägt mir entgegen, als ich die Hintertür öffne und zum Fahrrad laufe. Die Jeansjacke ist viel zu dünn und lässt mich sofort frösteln. Ich werde wohl ein bisschen heftiger in die Pedale treten, dass mir warm wird. Ob Jörg noch wach geblieben ist? Trotz der Kälte und der klappernden Zähne spüre ich erneut Lust in mir aufsteigen. Warum war ich heute Morgen nur so abweisend zu ihm? Den Auftrag, der mir so im Magen lag, konnte ich binnen einer Stunde abschließen. Das Protokoll zu Ende schreiben, Beweisfotos ausdrucken, samt der Rechnung eintüten und per Einschreiben zur Post bringen. Die beiden übrig gebliebenen Aufträge sind mittlerweile reine Routine. Eine Recherche zum Aufspüren von vermeintlichen Erben und ein besorgter Ehemann, den es brennend interessiert, was seine Frau den lieben langen Tag als Hausfrau und Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern so alles treibt. Wäre da nicht noch dieser ominöse Anruf gewesen, hätte ich es beinahe schon wieder bereut, mich bei Kitti in der Kneipe für die nächste Zeit abgemeldet zu haben. Ist ein Urlaub von meinem Nebenjob wirklich so nötig, wie Jörg und Serena ständig behaupten?
Im Nachhinein weiß ich selbst nicht, was ich an der aufgesprochenen Nachricht so seltsam finde. Eine Frau Herrler hatte mich für den nächsten Tag um einen Rückruf gebeten, also streng genommen heute. Es ginge um ihren Mann. Wäre ich einerseits nicht gerade zur Post unterwegs gewesen, als sie anrief, bräuchte ich mir jetzt keine Gedanken machen. Andererseits falle ich immer wieder in alte Gewohnheiten zurück. Da wäre die Sache mit der Angst, dass mir die Klienten ausgehen, was mich inzwischen zunehmend ärgert. Was bringt mich nur dazu, dabei so panisch zu reagieren? Abgesehen von den ersten zwei Jahren, wo es schleppend anlief, kann ich mich seit mehr als zehn Jahren nicht beschweren, im Gegenteil. In Gedanken verdrehe ich die Augen über mich selbst und erinnere mich an den Anruf. Was sie wohl von mir will? So interessant es sein mag, ein bisschen zu mutmaßen, was mich erwarten könnte, so lästig ist es aber auch, wenn sich Klienten auf dem Anrufbeantworter nicht klar ausdrücken. Lediglich anhand der Stimme versuche ich mir die Person vorzustellen und habe dabei schon manche Überraschung erlebt. Ein anspruchsvoller Fall wäre im Moment vielleicht genau das Richtige. Der meine grauen Zellen anregt, die sich momentan wieder viel zu sehr mit ungelegten Eiern beschäftigen und Probleme finden, wo vermutlich gar keine existieren. Jörg schießt mir durch den Kopf und bringt sofort meine Libido in Wallung. Serena drängt sich in die Szene und verursacht ein Chaos. Ich heule kurz laut auf und bin mir im ersten Moment dessen gar nicht bewusst. Nur gut, dass die Straßen menschenleer sind und mich niemand hören kann. Warum stochert mein Verstand ständig in diesem Pulverfass herum? Es läuft doch alles prima und weit und breit keine brennende Lunte in Sicht. «Schluss jetzt», murmle ich, bevor ich noch kräftiger in die Pedale trete.
Keuchend gehe ich aus dem Sattel und will trotz des steilen Anstiegs das Tempo halten. Gedanken um die Kälte muss ich mir jedenfalls nicht mehr machen, obwohl die Ohren bitzeln. Am Liebsten würde ich die Jeansjacke öffnen, lasse es jedoch bleiben. Noch zweimal abbiegen und ich bin zu Hause. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich nicht mehr automatisch den Weg zu meiner kleinen Wohnung in der Südstadt nahm. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass ich in Jörgs großzügigem Loft wohnen darf. Es bietet nicht nur mehr Platz, genug für uns beide, sondern auch einen unverbauten Blick auf die Wiesen und den Fluss. Für ihn stand es niemals zur Debatte. Er sah es als Selbstverständlichkeit an, dass ich bei ihm einziehe, als wir uns entschlossen haben, es miteinander zu versuchen. Ich hingegen musste ein Stück meiner Eigenständigkeit aufgeben, für die ich lange gekämpft habe. Es tröstet mich jedoch, dass ich die Mietwohnung nicht aufgegeben habe, sondern mit dem Vermieter verhandelte und sie zeitweise untervermieten darf. Momentan nutzt sie Kitti, bis der Umbau ihrer eigenen Wohnung abgeschlossen ist, was jedoch noch eine ganze Zeit dauern wird. Gernot bestand darauf, dass sie nicht nur die Gasträume, sondern auch seine Eigentumswohnung über der Kneipe und die Kellerräume bekommen sollte. Martina und er hätten schließlich genügend Geld und keine Nachkommen. Ich hatte Kitti noch nie zuvor so gerührt und beschämt zugleich gesehen. In beiderseitigem Interesse ließen sie ihr Arrangement von einem Notar beglaubigen, obwohl Gernot sogar darauf verzichtet hätte. Kitti bestand jedoch darauf und ließ sich auch nicht umstimmen. Es macht mich ein bisschen stolz, dass er mich damals zu einem Gespräch nur unter sechs Augen einlud. Ich kann mich noch gut daran erinnern und fühlte mich anfangs absolut unwohl. Ich nahm an, er hätte sich mich ausgesucht, was ich in einer Vielzahl seiner Andeutungen hineininterpretierte. Tagelang grübelte ich, welche Gründe ich anführen könnte, abzulehnen, ohne ihn allzu sehr zu enttäuschen. Dabei hatte ich selbst den Vorschlag gemacht, Kitti eine Chance zu geben. Martina fand die Idee optimal. Sie kannte die Artistin aus dem Zirkus schließlich von Kindesbeinen an und verfolgte die persönliche Entwicklung mit Argusaugen. Kitti musste in der Vergangenheit viele Höhen und Tiefen meistern und hat letztendlich doch die Kurve gekriegt. Es wäre nur fair, ihr eine Chance zu geben, meinte sie. Ich habe den Verdacht, dass ihr Zuspruch nicht völlig uneigennützig erfolgte, denn ein Gernot im längst überfälligen Ruhestand würde auch ihr, mehr gemeinsame Freizeit ermöglichen. Ich konnte Martina nur beipflichten. Meine ehemalige Assistentin aus dem Zirkus, hatte in den vergangenen Monaten mehrmals bewiesen, dass sie nicht so rasch aufgibt, selbst wenn die Situation auf den ersten Blick aussichtslos erschien.
«Und du bis mir auch wirklich nicht böse, weil ich vorhatte Kitti und nicht dir ...?», fragte er mich und ließ den Satz unvollendet.
Ich umarmte ihn nur wortlos. Gernot wirkte mit einem Mal wie befreit. Ich konnte nur vermuten, dass es ihm ziemlich schwergefallen war, einen Weg zu finden, um mich nicht zu kränken. Bei der Verabschiedung an der Wohnungstür bestätigte er meine Befürchtungen. Schon seit Jahren bestand für ihn kein Zweifel, dass ich ihm irgendwann einmal nachfolgen würde. Ich, die ihm so sehr ans Herz gewachsen war, wie eine eigene Tochter, die er nie hatte.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich vor dem Aufzug in der Tiefgarage von Jörgs Wohnhaus stehe. Nur mit Mühe gelingt es mir, mich an die vergangenen Minuten zu erinnern, die mich völlig automatisch und unterbewusst hierher geführt haben. Nein, ich brauche mir keine Sorgen mehr machen und weiß inzwischen sehr gut, wo ich zu Hause bin und hingehöre.
01:38 Uhr zeigt mir das Smartphone. Wecke ich ihn, wenn er doch schon eingeschlafen ist? Mal sehen. Obwohl ich die letzten Minuten völlig andere Gedanken gewälzt habe, kehrt meine angestaute Lust umso heftiger zurück, als sich die Aufzugtür mit einem leisen ‹Ding› öffnet.
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Er schielt nervös auf die kleine Uhr am Bildschirm. Momentan sieht alles ruhig aus. In einer Viertelstunde würde sie eintreffen, schrieb sie in ihrer SMS und trieb ihm sofort den Schweiß auf die Stirn. Selten zuvor im Leben fühlte er sich so hin- und hergerissen wie in diesem Fall und gleichzeitig so ohnmächtig. Dabei musste er jahrelang genug Scheiße erdulden, bis es ihm endlich gelang, abzuhauen. Doch im Moment sieht er keine andere Lösung, als das schmutzige kleine Spiel mitzumachen.
Nur ein verdammter Buchstabe machte sie misstrauisch und genau jener lieferte ihn schließlich ans Messer. Immerhin hätte es ihn deutlich schlimmer treffen können. Eine Anzeige bei der Behörde und er säße im nächsten Bus zurück in die Heimat. Was ihn dort erwarten würde, will er sich erst gar nicht ausmalen. Sein Bachelor-Abschluss in Informatik hilft ihm dabei nicht die Bohne, ebenso, dass er fließend Deutsch und Englisch spricht, im Gegenteil. Er weiß doch, wie die Polizei und die Geheimdienste ticken. Von wegen Glasnost. Er bräuchte entweder immens viel Geld oder Beziehungen nach oben. Ihm fehlt es an beiden.
Was will sie gerade jetzt, ohne Vorwarnung? Er hätte sich entsprechend vorbereiten können. Aber warum fragt er sich das überhaupt? Bei ihm in Russland gibt es das Sprichwort: Prishla Beda – otvoryay vorota, was so viel wie ‹Ärger ist gekommen – öffne die Tür› bedeutet. Hier sagt man, ‹ein Unglück kommt selten allein›, hat er gelernt. Seitdem er heute aufgestanden ist, kam immer etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Der Kaffee war aus. Er hatte übersehen, ihn auf den Einkaufszettel zu schreiben, und glatt vergessen. Dann, als er sich für die Nachtschicht anzog, riss ein Knopf am Hemd ab. Das andere lag ungebügelt im Wäschekorb. Bügeln ging schneller als nähen. Immerhin konnte er sich die Zeit fürs Kaffeekochen sparen. Dass ihm der Bus vor der Nase davon fuhr, war nur das Sahnehäubchen. Auf den Nächsten brauchte er nicht zu warten. Mitten in der Nacht drehte er nur alle 45 Minuten seine Runden. So joggte er den größten Teil des Weges und kam völlig ausgepowert und durchgeschwitzt hier an. Den Plan, das feuchte Unterhemd rasch auszuziehen und auf der Heizung zu trocknen, durchkreuzte sein kroatischer Kollege, der einen fehlerhaften Eintrag im Wachbuch über einen defekten Rauchmelder zum Staatsakt hochstilisierte.
Vor lauter Lamentieren fiel dem Kollegen nicht einmal auf, dass er der Hübschen aus der Buchhaltung ersparte, sich in die Anwesenheitsliste einzutragen. Warum der Aufwand für läppische zehn Minuten? Klar gibt es strenge Vorgaben, die er befolgt, wie alle anderen auch. Aber was, wenn man nicht einmal mehr jemanden aus der Verwaltung vertrauen darf? Allerdings muss er zugeben, wäre sie unsympathisch und hässlich, würde es ihm sicherlich schwerer fallen. Doch die Lohse ist eben eine Wucht. Es haute ihn fast vom Stuhl, als er zufällig erfuhr, wie alt sie bereits ist. Er hätte sie locker zehn Jahre jünger geschätzt.
Die Glastüren öffnen sich leise surrend. Er braucht den Kopf nicht erst zu heben, um zu wissen, wer sich um kurz nach drei Uhr morgens mit einer Schlüsselkarte Einlass verschafft, denn er hat sie längst auf den Monitoren der Außenkameras beobachtet.
Deutlich hört er das scharfe Klacken der spitzen Absätze ihrer Overknees auf dem Marmorfliesen, als sie sich ihm nähert und grußlos Richtung der Aufzüge entschwindet. Aus dem Augenwinkel sieht er die Hälften ihres langen Mantels aufklaffen, als sie den Arm nach vorne zum Knopf des Aufzugs streckt. Kurz erhascht er einen Blick auf das weit geöffnete Dekolleté, den Minirock und die dunkle Strumpfhose, die ihre schlanken Beine verhüllt.
Er wartet, bis sie den Aufzug betritt. Der Schlüsselbund gibt leise klirrende Laute von sich, während er ihn nervös um den Zeigefinger kreisen lässt. Seufzend starrt er auf die Uhr, bis exakt drei Minuten verstrichen sind. Er schnuppert und riecht die dezente Note ihres edlen Parfüms, als er sich langsam erhebt. Sie hat ihn bereits vor Monaten ausführlich instruiert, als sie ihn mit dem Fehler konfrontierte, dem bisher niemanden aufgefallen war. «Der Anfang vom Ende», brummt er kaum hörbar und läuft zum Aufzug. Ins Wachbuch hat er eingetragen, dass er sich auf die Inspektionsrunde begibt, die zweite von insgesamt vier je Schicht.
Die Tür zum Kopierraum ist nur angelehnt. Er klopft leise gegen den Rahmen, wartet jedoch nicht auf eine Antwort. Er braucht einen Moment, bis sich die Augen an das schummrige Zwielicht gewöhnt, denn außer einem beleuchteten Notausgangschild und Stand-by-Lämpchen der Kopierer, erhellt nur das spärliche Licht aus dem Gang den Raum.
Sie mag es gerne schummrig, verrucht und möglichst hart, hatte sie ihm beim ersten Mal ins Ohr geflüstert. Noch ehe er reagieren konnte, hatte sie bereits seine Hose geöffnet, mit geschickten Fingern genau das entpackt, was sie interessierte und ihm so einen heftigen Blowjob verpasst, dass er beinahe Sterne sah. Danach musste er sie ficken und ihr zwei Orgasmen bescheren, bevor sie sich endlich zufriedengab. Er war es nicht gewohnt, dass die Frau verlangte, dabei gewürgt und geschlagen zu werden. Aus Furcht etwas falsch zu machen, gab er ihren Forderungen nach. Dabei traf er sie aus Versehen so unglücklich an der Unterlippe, dass diese aufplatzte und feine Blutstropfen auf sein weißes Hemd spritzten. Sie hatte nur gelacht, ihm mit der Hand das Haar gekrault und lapidar bemerkt, dass sie es beim nächsten Mal nicht mehr straflos durchgehen lassen würde. Mittlerweile konnte er sie dazu bringen, dass sie sich mit etwas härteren Klapsen auf den Po zufriedengab. Er bringt es einfach nicht fertig, grundlos jemanden zu schlagen, erst recht nicht eine schwächere Frau und schon gar nicht ins Gesicht.
Er öffnet den Gürtel und streift die Hose ab. Die Unterhose überlässt er ihr, denn das gehört bereits zu ihrem Spiel. Binnen weniger Augenblicke hat sie ihn mit geschickten Fingern, flinker Zunge und heißem Mund so sehr erregt, dass er kurz davor steht, zu kommen.
Sie gibt ihn keuchend frei. In perfektem Russisch schleudert sie ihm entgegen: «Mne nuzhno eto brutal’nyy», bevor sie sich umdreht und ihm das nackte Gesäß entgegenstreckt.
Sie will es also brutal? Dann muss er sich zusammenreißen. Laut klatschend verabreicht er ihr eine Tracht Prügel, abwechselnd auf beide Pobacken und empfindet heute zum ersten Mal so etwas, wie Genugtuung. Die letzten Schläge setzt er so fest, dass ihm die Finger bitzeln und sie leise stöhnt. Ansatzlos versenkt er sich in der gierigen Grotte, die durch die handfeste Vorarbeit fast überläuft. Er rammt sich in sie, wie ein Berserker und gibt erst auf, als sie sich zitternd versteift und den Rücken krümmt. Den Orgasmus presst sie beinahe lautlos wimmernd in den Ärmel ihrer Bluse.
Ohne ihr eine Pause zu gönnen, dreht er sie um, hebt sie auf einen Beistelltisch für die Kopien und reißt ihre Füße nach oben. Erneut dringt er nahezu widerstandslos in sie ein. Sie umklammert die Beine, spreizt sie weit auseinander, sodass er noch tiefer in sie eindringen kann. Er pumpt langsamer, jedoch mit der vollen Länge und wartet auf ihr Kommando. Insgeheim hofft er, dass sie heute darauf verzichtet, doch schon hört er den kehligen Befehl.
Er würgt sie mit der rechten Hand, während er sich mit der linken an der Wand hinter ihr abstützt. Die röchelnden Laute machen ihn beinahe verrückt. Die Angst, zu fest zuzudrücken, steigt von Mal zu Mal, obwohl er doch eigentlich darin geübt sein sollte. Nur mit großer Überwindung gelingt es ihm, nur kurz nach ihrem zweiten Höhepunkt ebenfalls zu kommen und sich in ihr zu ergießen.
«Kein Kondom, die ganze Ladung, in die Fotze oder in den Arsch! Bis auf den letzten Tropfen. Kapiert?» Er dachte damals, sie würde sich über ihn lustig machen, als sie ihm mit jenen derben Ausdrücken bombardierte. Doch es war ihr voller Ernst.
Heftig atmend zieht er sich aus ihr zurück. Noch ehe er seine Hose hochgezogen und den Gürtel geschlossen hat, steht sie neben ihm, den langen Mantel bis oben zugeknöpft. Sie reicht ihm etwas, das aussieht, wie eine Zigarette. In Wirklichkeit ist es jedoch ein eng gerollter gelber Schein, den sie mit einem blauen Haargummi zusammengebunden hat. «Bol’shoye spasibo», haucht sie leise und geht als Erste auf den Gang hinaus. Eigentlich müsste er sich bei ihr bedanken und wartet auch diesmal, bis der Klang der Absätze nicht mehr zu hören ist.
Sie wird den Aufzug nehmen und er schleunigst die Runde beenden. Wenn er wieder zu seinem Platz im Foyer zurückkehrt, wird sie längst das Gebäude verlassen haben.
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Er kann sich kaum noch auf den Füßen halten und hat das Gefühl, dass ihm jeden Augenblick die Beine versagen. Zweimal ist er schon beim Überqueren der Straße am Bordstein hängen geblieben. Langsam wird er zu alt für den Mist. Vor zehn Jahren wäre er für eine gute Story sogar quer durch die Hölle gekrochen. Doch das war damals. Seine Hand zittert, als er sich an einem verrosteten Treppengeländer festhält. Er schaut nach oben und kneift die Augen zusammen. Obwohl die Sonne deutlich später, wie noch vor wenigen Wochen aufgeht, ist der rote Feuerball am Horizont viel zu hell für seine erschöpften Augen, die die ganze Nacht über Wache halten mussten. Ihn fröstelt. Kein Wunder. Wann hat er das letzte Mal überhaupt etwas gegessen, abgesehen von der Currywurst an der Bude unten am Fluss? Er schlägt den Kragen nach oben und drückt sich hinter einen Mauervorsprung, um dem schneidenden Wind zumindest für einen Moment zu entgehen.