Riskante Höhenflüge - Laura B. Reich - E-Book

Riskante Höhenflüge E-Book

Laura B. Reich

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Beschreibung

Diesmal verschlägt es die private Ermittlerin Elli Klinger an einen ungewöhnlichen Ort. Gernots langjähriger Freund, Zoltán Szabó kämpft gegen Anschläge auf seinen Zirkus. Artisten kamen zu Schaden. Elli soll undercover ermitteln und dabei in die Rolle einer Artistin schlüpfen, um den Saboteur zu enttarnen, der im schlimmsten Fall ein Insider sein könnte. Die Zirkusfamilie gilt als eingeschworene Gemeinschaft zu deren erklärten Feinden jegliche Fremden und besonders die Polizei gehören. Das bekommt Kriminalhauptkommissar Klaus Nimrod hautnah zu spüren, der auf eine Mauer des Schweigens trifft, als er einen Mordfall aufklären will, der bereits ein gutes Jahrzehnt zurückliegt. Ellis Ermittlungen gestalten sich ungleich schwerer als bei anderen Fällen. Anstatt in Ruhe zu recherchieren, gerät sie gleich mehrmals in lebensbedrohliche Situationen und muss trotzdem einen kühlen Kopf bewahren, um das Leben der Artisten und Akrobaten zu retten. Wie so oft überschneiden sich ihre Nachforschungen mit denen der Polizei. Turbulenzen im Privatleben verkomplizieren die Sache zusätzlich. Das Arrangement zwischen Bettina, Jörg und ihr droht zu scheitern. Stattdessen drängt sich Serena in ihr Leben und stellt alles auf den Kopf. Elli ringt verzweifelt nach einer Lösung, bis sie sich schließlich ein Herz fasst und ihren Freunden Jörg und Serena ihre wahren Gefühle offenbart.

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Laura B. Reich

 

 

 

 

 

 

 

Riskante Höhenflüge

 

 

Elli Klinger ermittelt - ihr sechster Fall

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

 

Für Renate F.,die, ohne zu zögern, für meine Coverbilder in die Rolle der Protagonistin geschlüpft ist.

 

 

 

 

 

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen, ebenso wie der Zirkus, sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede urheberrechtsrelevante Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors oder Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Nachahmungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Auflage: 2. überarbeitete Auflage 2021 1. Auflage 2020 Texte: © Laura B. Reich - Alle Rechte vorbehalten Umschlag: © Laura B. Reich, 2020 Models: Cathy Cort 2018, Germany Adriana Andrews 2018, Germany Verlag: Laura B. Reich c/o Poly4Media

Unterbüchlein 1

90547 [email protected] Elli: www.riskante-hoehenfluege.de Laura: www.elli-klinger-ermittelt.de Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

 

Inhalt

Prolog

Ankunft

Alltag

Spannungen

Sabotage

Absturz

Aufklärung

Überraschungen

Besuche

Kollateralschäden

Perspektivenwechsel

Persönlichkeiten

Spannungsfelder

Unruhe

Unwägbarkeiten

Blitz & Donner

Bilanz

Epilog

Zirkus Amborettini

Prolog

Mit einem vermutlich letzten Aufbäumen stemmte sich der Spätsommer in den ersten Tagen des Septembers mit strahlendem Sonnenschein und hochsommerlichen Temperaturen nahe der 30 °C gegen den herannahenden Herbst. Was vor allem die Restaurants, Biergärten und Cafés mit Plätzen im Freien aber auch die Zoos, Freizeitparks und selbst die Freibäder erfreute, erwies sich für den Zirkus Amborettini als enormer Nachteil. Kaum jemand war bereit, bei brütender Hitze während der Nachmittagsvorstellung in einem geschlossenen Zelt zu sitzen. Die wenigen Klimageräte, die noch rasch besorgt werden konnten und lediglich provisorisch den Dienst verrichteten, kamen gegen die Macht der Sonne nur unzureichend an. Kurzfristig hatte der Direktor Zoltán Szabó beschlossen, den Start der Abendvorstellung, um eine halbe Stunde zu verschieben, und dafür sämtliche Plakate in der Stadt mit der Änderung überkleben lassen. Immerhin war die letzte Vorstellung bis auf drei Dutzend Plätze ausverkauft, sodass sich der Aufwand rechnete, wenn auch nur geringfügig.

Als an diesem Abend der letzte Vorhang fiel, blieben die erhofften Begeisterungsstürme größtenteils aus und das auf beiden Seiten. Der Applaus klang höflich, jedoch deutlich limitiert. Gründe dafür waren nicht nur in den verletzungsbedingten Kürzungen einiger Auftritte zu suchen. Die Saison war bereits zu Beginn geprägt von vielen kleinen Bagatellverletzungen der Artisten und Hilfskräfte, die kaum ausheilen konnten. Jetzt, kurz vor dem Saisonende forderten sie ihren Tribut. Gedanklich befanden sich manche der Artisten und Akrobaten bereits in der ersehnten Winterpause. Nur noch eine weitere Stadt auf der Tour und dann würde sich der Zirkus ins Winterlager begeben. Nach einer ziemlich durchwachsenen Saison also kein Grund zu überschwänglichem Jubel. Trotzdem hatte Zoltán es sich nicht nehmen lassen, für den Abend eine kleine spontane Feier zu organisieren. Angeblich besaß ein Verwandter im Nachbarort ein Restaurant und würde sie günstig beliefern. Außerdem wollte er seine Pläne mit neuen Ideen für die Saison 2007 verkünden, was die meisten Beteiligten noch viel mehr verwunderte. Was hatte er vor? Etwa den Spielplan verlängern und Wintervorstellungen geben? Zumindest machte er schon seit Jahren Andeutungen. Oder gar neue Nummern integrieren? Zusätzliche Artisten verpflichten? In nur wenigen Monaten? Bei Zoltán musste man jederzeit mit Überraschungen rechnen. Das Ärgerliche an der Sache, niemand, mit Ausnahme seiner Schwester Martina, wusste Bescheid. Kein Wunder, dass innerhalb kürzester Zeit die wildesten Gerüchte kursierten.

Eine so kurzfristig anberaumte Feier hatten Zsombor und sie nicht einkalkuliert. Sie durchkreuzte ihre Pläne gleich in mehrerlei Hinsicht. Für einen Rückzieher war es jedoch zu spät. Verschieben um einige Stunden, stellte keine Gefahr dar, doch bei einem Abbruch würden sie viel Geld verlieren. Geld, dass sie ihren Kontaktleuten versprochen hatten, aber zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht besaßen.

Erst weit nach Mitternacht ergab sich endlich eine günstige Gelegenheit zur unbemerkten Flucht, als die meisten auf der Feier bereits zu betrunken waren, um etwas mitzubekommen. Wenigstens hatte die Hitze in dieser Hinsicht ihre Vorteile und verhalf dem Alkohol bei den Feiernden zu einer rascheren und nachhaltigen Wirkung.

 

Jetzt kurz vor 4:00 Uhr in der Nacht ist von der Hitze des Tages nichts mehr zu spüren. Es hat überraschend schnell abgekühlt. Der Fahrtwind, der durch den schmalen Spalt des Beifahrerfensters nach innen dringt, lässt die Luft an ihren Wangen eiskalt erscheinen, dabei glühen sie noch immer vor Aufregung. Vor knapp drei Stunden sind sie erst geflohen, nachdem es Zsombor schließlich gelungen war, den Tresor des Direktors zu knacken. Eine weitere Hürde, die ihnen kurzfristig im Wege stand. Just an diesem Abend hatte Zoltán die Kombination geändert. Aber wenigstens war er faul und nutzte darüber hinaus ein gewisses Schema, sodass bereits der elfte Versuch zum Erfolg führte. Jedenfalls trieb ihnen dieses unerwartete Hindernis nicht nur den Schweiß auf die Stirn, sondern auch den Blutdruck gehörig in die Höhe. Für einen kurzen Moment stand sie davor, die ganze Sache abzublasen, Geld hin oder her. Doch damit hätte sie den gesamten Plan gefährdet. Und ob es jemals wieder eine zweite Chance unter so günstigen Bedingungen für sie geben würde, wäre fraglich. Schließlich siegte die Vernunft und Kaltblütigkeit über die Panik.

Direktor, was für ein hochtrabender Begriff für diesen aufgeblasenen Lackaffen, der selbst tagsüber außerhalb der Vorstellungen mit seinem Kostüm herumrannte. Am Liebsten würde sie lauthals lachen, wenn sie nur daran denkt. Aber sie muss vorsichtig sein, darf auf keinen Fall Zsombors Misstrauen wecken und das aus gutem Grund. Im Nachhinein weiß sie nicht mehr, welcher Teufel sie geritten hatte, gerade seinen Avancen nachzugeben. Womöglich, weil er ihr so charmant schmeichelte? Was für ein Bockmist. Schließlich wusste jeder im Zirkus, was für ein rücksichtsloser Schürzenjäger Zoltán doch war. Aber damit ist jetzt Schluss. Sie will ein neues Leben beginnen und hat in den letzten Jahren hart dafür gearbeitet. Und bei ihrem Masterplan ist für Zoltán kein Platz mehr vorgesehen ebenso wie für den Zirkus. Etwas weniger als die Hälfte des Geldes ließen sie zurück. Sie wollten niemanden in den Ruin treiben und das so kurz vor der Winterpause. Der Zirkus wird den Verlust verkraften, besonders Zoltán, dem das Jammern im Blut liegt, der jedoch sein Scherflein längst im Trockenen hat, im Gegensatz zu ihr und den restlichen Zirkusleuten. Das Geld dient ihr als Startkapital für eine völlig andere Sache. Um sich frühzeitig zur Ruhe zu setzen, ist es bei Weitem zu wenig. Tief in ihrem Inneren wurmt es sie, dass sie nicht mehr mitgehen ließen. Martina war gestern nur ätzend. Was bildete sich diese dumme Pute ein? Es gipfelte darin, dass sie von ihr für einen schnippischen Satz eine Ohrfeige kassierte. Immerhin sei sie Zoltáns Schwester und hätte das Sagen, wenn er nicht da wäre. Solch eine bodenlose Frechheit hätte sie bestrafen müssen. Doch Zsombor beruhigte ihr aufgebrachtes Gemüt. Sie wären schließlich keine gemeinen Diebe. Er ließ auch ihr Argument nicht gelten, dass für den Zirkus kaum laufende Kosten anfallen würden, seitdem sie die aufwendigen Tiernummern aus dem Programm gestrichen haben. Vier Pferde, ein Dutzend Hunde, ein paar Tauben und Kaninchen sind überschaubar und lassen sich durchaus überwintern. Sie hätte strikter aufbegehren sollen. Doch jetzt ist es zu spät. Nur noch wenige Minuten und sie erreichen die Stelle, an der sie das Auto wechseln werden.

Sie mustert Zsombor von der Seite und bemerkt, wie er angespannt das Lenkrad umklammert. Er dreht den Kopf und lächelt ihr zu, um sie zu beruhigen. Seit einer Stunde haben sie kein Wort miteinander gesprochen. Den ständig wechselnden Sendern im Autoradio folgt sie schon lange nicht mehr. Was Zsombor wohl gerade denken mag? Ob es ihm ähnlich ergeht, wie ihr? Dabei hatte er ihr doch immer wieder versichert, dass ihm Geld nicht viel bedeuten würde, Hauptsache, er wäre mit ihr zusammen. Schuldbewusst legt sie die Hand auf den Bauch. Wenn er es wüsste, würde er kaum Grund zur Freude haben. Aber manchmal kommt es einfach anders, als man denkt und plant. Im Nachhinein ist sie selbst überrascht, wie sich alles ergeben hatte. Jetzt ist keine Zeit mehr, sich Vorwürfe zu machen. Immerhin gibt es durchaus Möglichkeiten, das Problem noch zu lösen. Doch aus einem unbestimmten Grund schreckt sie davor zurück. Es ist nicht die Furcht, als vielmehr ein vages Gefühl, dass sie von diesem Umstand eines Tages profitieren könnte. Der Kuckuck hat unwissentlich seine Arbeit verrichtet. Nun ist es an ihr, das Nest sorgfältig vorzubereiten.

Sie dreht rasch den Kopf zur Seite, starrt aus dem Seitenfenster und unterdrückt den Reiz zu lachen. Cool, geduldig und sexy muss sie sich verhalten. Genau so hat es ihr Lukas eingetrichtert. Zsombor darf keinerlei Verdacht schöpfen, sonst könnte der gesamte Plan scheitern. Er besitzt ein feines Gespür für Menschen und ist darüber hinaus reaktionsschnell und unglaublich stark. Als sie in einer anderen Stadt unverhofft auf einen pöbelnden Mob trafen, ein Trupp angetrunkener Jugendliche, die sich einen Spaß daraus machten, sie mit Steinen und Flaschen anzugreifen, lief Zsombor zur Höchstform auf. Er alleine, verprügelte drei krankenhausreif und schlug den Rest in die Flucht. Anschließend sammelte er seelenruhig sämtliche Handys ein und entsorgte sie im nahe gelegenen Fluss. Lediglich Dorina erlitt eine Platzwunde durch eine Flasche, da es ihr nicht gelang, rasch genug zu flüchten. Zum Glück konnten sie verschwinden, ohne weiteres Aufsehen zu erregen. Wäre die Polizei zeitiger eingetroffen, hätten sie sich in jedem Fall ein riesiges Problem eingehandelt, egal ob sie schuldig oder unschuldig gewesen wären. Polizei gehörte schon immer zum natürlichen und erklärten Feind des fahrenden Volkes.

Zsombor wirft einen misstrauischen Blick in den Rückspiegel, scheint jedoch zufrieden zu sein und setzt den linken Blinker. Nur wenige Sekunden später rumpelt das Auto auf zwei unebenen Fahrspuren immer tiefer in den Wald hinein. Das Gestrüpp ist so dicht, dass er lediglich im Schritttempo fährt. Sie hält sich die Ohren zu, weil sie das hohe Quietschen der Äste, die über den Lack streifen, kaum noch ertragen kann. Es ist für sie fast so schlimm wie Kreide oder Fingernägel, die über eine Tafel kratzen.

Die Fahrspuren münden mit einem Mal in einer kleinen Lichtung, die von alten hochgewachsenen Kiefern und einigen jungen Birken umsäumt ist. Sie erkennt das Auto nur für den Bruchteil einer Sekunde, als Zsombor einen Kreis fährt und die Scheinwerfer kurz darüber streifen. Er stoppt den Wagen, stößt einen erleichterten Schrei aus und schlägt auf das Lenkrad. Aufgeregt deutet er auf das Auto und lächelt sie freudig an. Ein dunkelblauer Peugeot 205 Diesel mit gerade einmal 64 PS, der bereits stattliche 15 Jahre auf dem Buckel hat. Das Einzige, was sie in der Kürze der Zeit für nahezu lau organisieren konnten. Sie zögert, lächelt zurück und schafft es vor Aufregung kaum, die Tür zu öffnen. Zsombor hingegen ist schwerlich zu bremsen, springt aus dem Auto und läuft schnurstracks auf den Peugeot zu. Binnen Sekunden hat ihn die Dunkelheit verschluckt, als er den Lichtkegel der Scheinwerfer verlässt. Von da an geht alles rasend schnell. Bevor sie aus dem Wagen geklettert ist, hört sie laute Stimmen, einen dumpfen Schlag und einen Schrei, der in einem Röcheln endet. Mit schreckensweiten Augen schlägt sie die Hände vor den Mund und starrt auf die Stelle, woher die Geräusche kamen. Erst allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie erkennt schemenhaft Bewegungen und fühlt sich wie versteinert.

Als er plötzlich vor ihr steht, kann sie den Aufschrei nicht länger unterdrücken. Der Schreck weicht nur einem Sekundenbruchteil später grenzenloser Erleichterung. Tränen laufen über ihre Wangen, als sie ihm stürmisch um den Hals fällt und sie sich küssen, dass sie kaum noch Luft bekommt. Ihre Knie versagen den Dienst. Sie klammert sich an ihm fest und kann ihr Glück nicht fassen, als sie sich endlich wieder voneinander lösen. Er legt den Finger an den Mund, zeigt ihr, dass sie leise sein soll, und deutet auf den anderen Wagen. Sie nickt und spürt, wie sie am ganzen Körper zu zittern beginnt. Die Kälte und der Schock verrichten ihre Arbeit. Er trägt eine Gestalt über den Schultern, als er wenig später neben ihr auftaucht. Sie wagt nicht, zu atmen, schließt die Augen, weil sie es nicht mit ansehen will. Keuchen, Quietschen, ein kurzes Rumpeln, erneut Keuchen und zwei dumpfe Schläge vom Schließen der Fahrertür und des Kofferraums.

Sie hätte aus lauter Panik beinahe in die Hose gemacht, als er sie sanft an der Schulter berührt.

«Steig ein. Ich bin in spätestens fünf Minuten zurück», flüstert er ihr ins Ohr und haucht ihr einen Kuss auf die Wange.

Der leichte Klaps auf ihr Hinterteil erlöst sie aus der Starre. Sie nickt erneut und setzt behutsam einen Fuß vor den anderen.

Allmählich kann sie die Umrisse des Peugeots deutlicher erkennen. Er startet hinter ihr den Wagen und entfernt sich nahezu lautlos nach links auf zwei, kaum erkennbaren, Spuren in dichteres Unterholz. Sie wagt es nicht, sich nach ihm umzusehen und benötigt mehrere Versuche, die Tür zu öffnen. Inzwischen zittert sie so sehr am ganzen Körper, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Die Federn knarzen, als sie sich erleichtert auf den Sitz fallen lässt und die Tür mit einem Ruck ins Schloss zieht. Es riecht widerlich nach kaltem Rauch. Sie kurbelt das Fenster herunter, obwohl sie von der frischen Luft die Nase voll hat. Aber der Gestank ist kaum auszuhalten.

Sie weiß nicht, ob tatsächlich nur fünf Minuten vergangen sind, als sich die Fahrertür öffnet und sie sein strahlendes Gesicht erblickt. Er beugt sich zu ihr und küsst sie noch einmal, weniger leidenschaftlich, doch dafür zärtlicher und ausdauernder.

«Du brauchst keine Angst mehr zu haben Tereza. Nun bist du endlich frei», haucht er und streicht ihr mit der Hand über die Wange.

Sie lässt den Tränen freien Lauf und nickt nachdrücklich.

«Ja, ich weiß. Danke für alles. Ohne dich hätte ich das niemals geschafft. Und bald bin ich auch deine Manželka. So wie ich es dir versprochen habe.»

Er lacht, startet das Auto und dreht das Autoradio lauter. Sie lehnt den Kopf an die Stütze. Mit geschlossenen Augen lauscht sie dem Text des alten Bob Dylan Klassikers, gecovert von Guns ’n’ Roses, ‹Knockin’ on Heaven’s Door›. Ihr ist schon wieder zum Heulen zu Mute, als sie den Gefühlen des alternden Sheriffs Baker zuhört, der angeschossen wurde und nun im Beisein seiner Frau den Tod erwartet. Wie passend unpassend. Für einen der ihren trifft es zu. Der lange schwarze Schatten hat sich gesenkt. Doch in diesem Fall ist es nicht nur das Gefühl, an der Himmelspforte zu klopfen.

Was für ein grässlicher Handel? Auf was hat sie sich nur eingelassen? Ob Zsombor lange gelitten hat? Hoffentlich nicht, obwohl die Vermutung den Schmerz kaum zu lindern vermag. Ein Menschenleben für ihre Freiheit. Grauenvoll. Der Preis war zu hoch. Und irgendwann wird sie dafür büßen müssen. Das ist ihr erst in den letzten Minuten klar geworden. Niemals hätte sie sich darauf einlassen dürfen. Es hätte sicherlich eine Alternative gegeben, später einmal. Doch da lag ihr Problem. Ihr blieb nicht genug Zeit, um anders zu handeln. Die Natur lässt sich in manchen Dingen nicht einfach stoppen, wie es einem gefällt. Die Worte des Liedes durchdringen erneut ihre Gedanken.

Sie dreht an der Kurbel und schließt das Fenster, bevor ihr noch mehr hereinschnellende Zweige den Hals und das Gesicht zerkratzen. Obwohl sie es verdient hätte, die Geißelung durch die Natur. Sie wandte sich schließlich gegen sie. Ließ es zu, dass ein Mensch getötet wurde.

Ihr Retter mustert sie von der Seite, trommelt auf das Lenkrad und pfeift vergnügt den Refrain. Ihn scheint es in keiner Weise zu stören, was er soeben getan hatte. Im Gegenteil, nur selten erlebte sie ihn so frei und unbeschwert, wie gerade eben. Sie hingegen würde sich am Liebsten übergeben.

Ankunft

Er kann sein Glück kaum fassen, als er auf der Heimfahrt von einem dreitägigen Seminar das großformatige Plakat an einem Gartenzaun kurz nach dem Ortsschild entdeckt. Der Zirkus Amborettini ist wieder in der Stadt und damit auch Dorina. Insgeheim hoffte er es, als er vor drei Wochen bei einem Fotoshooting für einen Werbekunden das Schild bereits in der Nachbarstadt gesehen hat. Schon gestern gab es offenbar die ersten Vorstellungen, wie er auf die Schnelle erkennen kann. Er spürt, wie sich sprunghaft der Puls erhöht. Für einen kurzen Moment schließt er die Augen, stellt sich in Gedanken ihr Gesicht und die schlanke Figur vor und produziert dabei fast einen Unfall.

Im letzten Augenblick bringt er das Fahrzeug mit laut ratterndem ABS zum Stehen. Wer rechnet auch damit, dass die Fahrerin vor ihm schon beim Umschalten der Ampel auf Gelb eine Vollbremsung hinlegt. Er ist nicht der Einzige, den das Verhalten überrascht. Ein gehetzter Blick in den Rückspiegel, lässt ihn ängstlich die Schultern hochziehen. Auch der Fahrer hinter ihm wird zu einer harten Bremsung mit quietschenden Reifen genötigt. Glücklicherweise bleibt der dumpfe Schlag am Heck aus.

Den drohenden Auffahrunfall gebannt und das im allerletzten Augenblick. Wenigstens hat sein Körper nun allen Grund, mit rasendem Puls und keuchendem Atem zu reagieren. Er spürt förmlich, wie das Adrenalin seine Adern flutet. Das war knapp, verdammt knapp sogar. Für einen Moment richtet er die Augen gen Himmel und dankt seinem Schutzengel. Als Fotograf gehört er zu den Abergläubischen. Sein Studienkollege Freddy hat ihn schon an der Uni ständig damit aufgezogen, aber er kann nichts dagegen tun. Er fühlt sich einfach wohler, wenn er seine gewohnten Rituale durchzieht, obwohl es ihm manchmal peinlich ist, wenn es andere Leute bemerken. Es tröstet ihn, dass er nicht der Einzige ist. Nie hätte er vermutet, wie abergläubisch Schauspieler und Models sein können.

Die Ampel schaltet wieder auf Grün. Diesmal hält er mehr Abstand. Wer weiß, was sich die Fahrerin noch alles an Überraschungen einfallen lässt. Er hat kaum zu Ende gedacht, als die Frau den rechten Blinker setzt und in eine Parklücke fährt. Erleichtert atmet er auf.

«Ein Problem weniger», murmelt er leise vor sich hin und bewältigt den letzten Kilometer bis zu seiner Wohnung ohne weitere Störungen.

Den Reisekoffer stellt er neben den Wäschekorb. Die meiste Kleidung ist total durchgeschwitzt, weil es im Seminarraum viel zu heiß war. Keine Klimaanlage und das bei dem Batzen Geld. Er war nicht der Einzige, der bei der abschließenden Bewertung bissige Bemerkungen auf dem Formular hinterließ. Jetzt braucht er unbedingt ein Vollbad. Die letzte schweißtreibende Aktion gab nicht nur seiner Kleidung den Rest. Er klebt unangenehm am ganzen Körper.

Sein Blick fällt auf die Kommode neben dem Bett. Darin bewahrt er seine speziellen Spielsachen auf. Sofort schießen ihm Bilder durch den Kopf, auch wenn das Treffen mit Dorina bereits ein Jahr zurückliegt. Sie war unglaublich. Noch nie hatte er eine Frau erlebt, die zu solchen ausgefallenen Stellungen in der Lage war. Er fragte sie, ob sie, denn als Schlangenmensch auftreten würde. Sie hatte nur gelacht und meinte, sie wäre meilenweit davon entfernt, könnte ihm aber gerne jemanden vorstellen, wenn er es wünsche. Er lehnte verunsichert ab. Schließlich war er mit Dorinas Angeboten mehr als zufrieden. Dreimal bekam er einen Termin und opferte dafür die gesamten Einnahmen von zwei lukrativen Kundenaufträgen. Eine Menge Geld, doch sie war jeden einzelnen Cent wert.

Mit Grauen denkt er an Christine. Was für ein Desaster. Dabei hatte er zu Beginn ein gutes Gefühl bei der Sache. Sie schien freundlich, aufgeschlossen und vor allem sehr interessiert zu sein. Es geschah nicht gleich nach dem ersten Treffen, einem ziemlich feuchtfröhlichen Abendessen in einem griechischen Lokal. Irgendwo in einem der unzähligen Ratgeber einer Illustrierten hatte er gelesen, dass man es langsam angehen sollte, wenn beide an einer längerfristigen Beziehung interessiert wären. Langsam angehen, das sagt sich so leicht. Hatte er sich bei ihrer Vorgängerin nicht auch besonders viel Zeit gelassen? Erst nach dem vierten Treffen landeten sie in der Kiste und das sogar, weil sie es von sich aus so wollte. Einen ganzen Monat ließ er danach verstreichen, bis er es wagte, seine speziellen Wünsche zu äußern. Er kassierte dafür eine eiskalte Abfuhr und am nächsten Tag war Schluss. Christine hingegen machte ihm wirklich Hoffnung. Sie zeigte sich von Anfang an überraschend dominant und übernahm gerne die Führung. Sie gab sich laut und leidenschaftlich, was ihm ordentlich imponierte. Bei ihr hatte er zum ersten Mal den Eindruck, dass sie ihm nichts vorspielte. Das Stöhnen klang echt, nicht wie ein verzweifelter Ansporn, die kümmerliche Aktion endlich zu beenden. Sie empfand Lust. Das konnte er nicht nur hören und sehen, sondern auch fühlen.

Diesmal wartete er ganze sechs Wochen, obwohl sie in dieser kurzen Zeit schon mehr ausprobiert hatten, als er mit einem halben Dutzend Frauen zuvor. Umso mehr entsetzte ihn ihre Reaktion. Warum sie sich in der Hinsicht so vehement sträubte, ist ihm bis jetzt ein Rätsel. Sie hatte ihm stattdessen Fesselspiele vorgeschlagen auch Peitschen oder Schlagen und präsentierte ihm ein hölzernes Paddel, dass sie scheinbar griffbereit in der Schublade ihres Nachtkästchens aufbewahrte. Er stand jedoch nicht auf Gewalt und schüttelte nur resigniert den Kopf. Schließlich packte sie ihn am Arm und zog ihn ins Badezimmer. Als er sich nackt in die Badewanne legen sollte, ahnte er bereits, was sie vor hatte. Er lehnte erneut ab und erntete von ihr lediglich völliges Unverständnis.

Mit einem Mal änderte sich auch ihr Tonfall, als sie abfällig bemerkte: «Warum denn nicht? Ich dachte, ihr Kerle steht so auf Pisse? Und dafür habe ich nun den ganzen Abend über auf den guten Rotwein verzichtet, stattdessen die grässliche Apfelsaft-Schorle in mich hineingeschüttet?»

Sie wedelte mit den Händen und scheuchte ihn hinaus.

«Dann gibts auch nichts zu glotzen für dich. Pech mein Lieber. Ich muss jetzt dringend pinkeln. Also husch, husch raus hier.»

Er nahm ihre Aufforderung wortwörtlich. Noch während sie ihr Geschäft erledigte, sammelte er seine Kleidungsstücke, zog sich an und verließ ihre Wohnung. Erst zu Hause fasste er den Mut, ihr eine Abschiedsbotschaft zu schreiben, eine WhatsApp, seine bisher längste. Danach löschte er ihren Kontakt. Nachdem er die Nachricht versendet hatte, wurde ihm bewusst, dass sie sich bis dato nur in einem billigen Hotel und bei ihr getroffen hatten, abgesehen von den beiden spontanen Nummern im Auto und hinter dem Kino. Sie wusste nicht einmal, wo er wohnte, und das war sicherlich von Vorteil. Er wollte sich nicht ausmalen, wie emotional sie reagieren würde, obwohl er den Eindruck hatte, dass der Bruch bereits geschehen war, als sie ihn aus dem Badezimmer vertrieben hatte.

Er hasst es, zu Nutten zu gehen. Kaum eine spricht noch deutsch und länger als eine halbe Stunde, angereichert mit ziemlich halbherzigem Aktionismus, ist es nie geworden. Dafür sündhaft viel Geld zu opfern, für seine Extrawünsche, sieht er nicht mehr ein.

Er löst den Blick von der Kommode, seufzt und zieht das Handy aus dem Clip am Gürtel. Die Nummer hat er noch abgespeichert. Ohne zu zögern, drückt er auf das Wählsymbol. Er hört den eigenen Puls laut im Ohr pochen, während er aufgeregt wartet, dass jemand abhebt. Neun quälend lange Klingeltöne muss er warten, bis sich eine Stimme meldet. Stillschweigend hat er schon damit gerechnet, nur die Mailbox zu erreichen. Es ist ein Mann, doch es überrascht ihn nicht sonderlich. Er weiß, dass sich ihr Bruder üblicherweise um die Termine kümmert. Nebenbei fungiert er auch als ihr Bodyguard und Dealer. Wer auf Spaß steht, ist bei ihm an der richtigen Adresse. Doch wer es übertreibt, der wird sein blaues Wunder erleben. Einmal beobachtete er hautnah, wie Dorinas Bruder einen übermütigen Freier auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Er kannte sämtliche schmerzhaften Stellen, die kaum deutliche Spuren hinterließen. Das Risiko einer Anzeige hielt sich somit im kalkulierbaren Rahmen.

«Hallo ich bin’s, Arnd», meldet er sich mit klopfendem Herzen. «Ich hätte gerne einen Termin bei Dorina.» Rasch fügt er noch eine Zahlenfolge hinzu, die er nur allzu gut auswendig kennt.

Es ist sein persönlicher Code, der sicherstellen soll, dass sich niemand fälschlicherweise für ihn ausgibt. Anfangs fand er es übertrieben. Doch mittlerweile ist ihm bewusst, dass illegale Prostitution, Dealen mit Pharmaka und Drogen und letztendlich die eine oder andere Körperverletzung bei säumigen Kandidaten keine Kavaliersdelikte darstellen.

«Hallo Arnd. Schön von dir zu hören. Das Übliche?», fragt die männliche Stimme.

Er nickt aufgeregt, bis ihm klar wird, dass ihn Dorinas Bruder nicht sehen kann.

«Ja, wäre toll», krächzt er und schließt kurz die Augen.

«Morgen 19:00 Uhr wäre frei oder heute noch. Aber erst nach 3:00 Uhr. Du wärst der Letzte.»

«Ich nehme beide, auch den heute Nacht. 3:00 Uhr? Ich bin pünktlich.»

Er hört den Mann kurz heiser lachen. «Cash, wie immer. Kostet aber 50 Moneten mehr, als letztes Mal. Inflation, du weißt. Dafür schaue ich diesmal nicht auf die Uhr.»

«Ja, ja, geht in Ordnung», versichert er und nickt erneut ganz automatisch. «Ich bringe alles mit, auch die Sachen.»

«3:00 Uhr. Sei pünktlich, sonst wird dich Dorina bestrafen», lacht der Mann und trennt das Gespräch ohne Gruß.

Was hat er nur getan? Gleich zwei Termine. Hoffentlich hat er noch genügend Geld auf dem Konto. Das Seminar kostete bereits ein halbes Vermögen. Egal, selbst wenn er bei der Bank einen Dispo beantragen muss. Dorina bietet ihm wenigstens genau das für sein Geld, was er besonders gerne mag. Ihre Finger sind geschickt, beinahe magisch und erkunden auch die dunkelsten Tiefen.

 

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Mein Kopf rollt haltlos über den Boden, schlägt dumpf gegen Metall. Ich stöhne und kann nichts sehen. Grobes Sackleinen behindert den Blick. Ein Kartoffelsack, ich rieche es. Die Augen brennen. Feine Sandkörner reiben stechend beim Blinzeln und reizen mich zum Niesen. Ich will den Sack vom Kopf reißen. Doch meine Handgelenke sind gefesselt. Auf dem Rücken. Mit Kabelbindern, die schmerzhaft in die Haut schneiden. Ich will schreien, mein Mund ist zugeklebt, mit Panzertape. Der Klebstoff schmeckt widerlich und macht meine Zunge fast taub. Mich überflutet Panik, wie eine riesige Welle, die sich dem Strand nähert und immer höher auftürmt. Adrenalin schießt durch meine Adern. Ich ignoriere den Hustenreiz, hole Luft, will erneut schreien. Der Wagen stoppt. Hart schlage ich mit dem Kopf gegen die Bordwand. Schritte. Die Tür knarzt. Verzweifelt zerre ich an den Fesseln. Ich blinzle, obwohl es fürchterlich schmerzt und sowieso keinen Unterschied macht.

Feuchter Strand, tosende Brandung, blauer Himmel, vereinzelte Wolken, plötzlich bin ich frei, spüre den sanften Wind auf der Haut und schmecke Salz auf den Lippen. Ich muss die Augen mit der Hand beschatten, weil mich die Helligkeit blendet. Ich höre eine Stimme, zunächst undeutlich und Musik, die immer mehr in mein Bewusstsein dringt. Als ich den Kopf drehe, sehe ich Palmen und einen Schatten, der rasch größer wird. Es ist Jörg, der mit breitem Grinsen auf mich zu rennt und winkt. Er hält etwas in der Hand. Doch je näher er mir kommt, desto mehr verblasst er. So als würde er sich vor meinen Augen in Luft auflösen. Mich packt erneut Panik. Ich kann Jörg kaum noch sehen, strecke verzweifelt die Arme nach ihm aus. Nun verschwimmt meine Umgebung, die Palmen, das Meer, der blaue Himmel. Unversehens ist alles um mich herum in tiefes Schwarz getaucht. Dafür wird die Musik immer lauter. Ich lausche dem Text. Jemand singt in Englisch. Ich kenne den Text, kann ihn nur nicht zuordnen. Jetzt ist mir klar, ich träume. Angsterfüllt reiße ich die Augen auf.

Alles um mich herum ist in ein diffuses Grau getaucht, abgesehen von einigen dünnen Lichtstrahlen, die durch die Jalousie dringen und ein Muster an die Wand projizieren. Ich liege im Bett. Die Musik kommt aus dem Radiowecker. ‹Girls, Girls, Girls› von Sailor erkenne ich üblicherweise im Schlaf. Walters ständiges Musikratespielen hatte auch sein Gutes. Und der Sex. Aber das ist Vergangenheit.

Übergangslos befinde ich mich wieder im Hier und Jetzt. Erst allmählich spüre ich, wie mein Herz rast und ich laut keuche. Es war nur ein Traum, der übliche, üble Albtraum, der mich nach dem damaligen Überfall noch immer ab und an heimsucht, gemischt mit den Erinnerungen des Urlaubs mit Jörg in Thailand. Meine erste größere Reise nach Asien. Warum ist der Verstand nur so grausam und mischt diese grässlichen Szenen des Kidnappings mit den tollen Urlaubserinnerungen? Der Arzt hat mich gewarnt, dass es noch Jahre dauern kann, bis ich das Trauma überwunden habe. Wenn es mir überhaupt jemals gelingen sollte. Das Letzte hat er nicht ausgesprochen, doch ich konnte es von seinem mitfühlenden Gesichtsausdruck ablesen, als er in meiner Krankenakte blätterte, und die Brille mit der Fingerspitze auf die Nase schob. Er bot mir eine psychologische Betreuung an, die ich jedoch strikt ablehnte. Schließlich kam ich schon häufiger in brenzlige Situationen. Wenn es auch nicht immer so knapp zuging und hoffnungslos aussah, wie bei der Entführung. Unbewusst berühre ich mit den Fingern meinen Hals. War das nicht sogar viel gefährlicher? Diese Attacke mit dem Kabelbinder? Egal. Ich bereue es nicht, das Angebot ausgeschlagen zu haben. Schließlich bin ich private Ermittlerin und werde noch öfter unbekannten Risiken ausgesetzt sein. Da kann ich nicht jedes Mal hinterher zum Psychologen rennen und mich ausheulen. Ich habe Freunde, die mir helfen. Und Jörg.

Reflexartig taste ich mit der Hand neben mich auf das Kopfkissen. Das Bett ist leer, doch ich spüre noch seine Wärme. Er muss erst vor Kurzem aufgestanden sein. Ich starre für einen Augenblick an die Zimmerdecke und versuche, mich zu erinnern. Es war spät geworden bei Gernot. Erst kurz nach 3:00 Uhr verließen die letzten Gäste die Kneipe. Ich beseitigte mit Lydia rasch die gröbsten Reste, bevor uns Gernot nachdrücklich hinauskomplimentierte. Morgen sei genügend Zeit dafür. Eigentlich meinte er heute, aber ich war zu müde, um aufzubegehren. Lydia erging es nicht anders.

Sie erzählte mir den ganzen Abend über von Stress mit ihren Eltern, bei denen sie seit der Scheidung mit ihrer kleinen Tochter wohnte. Sie behandelten sie allzu oft wie eine Aussätzige und nicht wie das eigene Kind. Lydia spart, wo sie nur kann, und versucht schon seit geraumer Zeit eine günstige Wohnung zu finden. Sie klagt nur selten, doch ich sehe, wie sehr sie unter den widrigen Umständen leidet. Und in den letzten Wochen wurde es nicht besser. Ganz im Gegenteil. Dabei hoffte ich inständig, dass sie endlich aus dem Jammertal entfliehen könnte, als sie vor einigen Monaten einen Mann kennenlernte. Sympathisch, offen, sogar kinderlieb, aber eben auch etwas speziell. Seit Jahren ließ er sich tätowieren. Sein Körper ist inzwischen von unzähligen Motiven übersät. Piercings gehörten ebenso ins Gesamtbild, sodass sich Lydia verleiten ließ, sich den Bauchnabel und die Nippel stechen zu lassen. Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, als sie frisch aus dem Studio in die Kneipe kam und ich ihr Erste Hilfe leistete. Eigentlich hätte sie sich einen Tag Pause gönnen sollen, doch sie brauchte das Geld. Seit einigen Tagen hätten sich auch die letzten Schmetterlinge in ihrem Bauch verkrümelt, wie Lydia es ausdrückte und mich dabei traurig angesehen. Ich verzichtete, nachzufragen, nicht zuletzt weil permanent Hochbetrieb herrschte und wir uns im ständigen Dauerlauf befanden. Doch sie weiß, wenn ihr die Sache über den Kopf wächst und sie den Kummer loswerden will, bin ich für sie da.

Der Moderator quatscht über das Wetter und gibt aktuelle Radarfallen durch. Genervt strecke ich die Hand aus und bringe den Wecker zum Verstummen. 10:07 Uhr zeigt das Display. Jörg hat mich ziemlich lange schlafen lassen. Immerhin hat er gestern Nacht oder genauer heute Morgen auf mich gewartet und so lange an seinem Buch geschrieben, bis ich nach Hause kam. Ich hatte nicht damit gerechnet, mich aber umso mehr darüber gefreut. Besonders als er mich fest an sich drückte und ich seine Erregung an meinem Bauch spürte. Für einen Augenblick gelang es ihm, die bleierne Müdigkeit in mir zu verdrängen und mich in eine Welt des Verzückens zu entführen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er sich bereits in diesem Zustand befand. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen, mich zu entkleiden, sodass meine Füße sogar noch in den Sneakers steckten, als er mich rücklings auf das Sofa warf. Ich wollte kurz protestieren, als er mir die Beine in die Höhe hob und etwas rüde in mich eindrang. Doch ich verzichtete darauf und schloss einfach nur die Augen. Von da an versank ich in einen Taumel der Lust, der mich angesichts der fortgeschrittenen Stunde selbst überraschte. So als hätte ihn mein Körper sehnlichst erwartet. Ich öffnete die Augen, genoss es, seine Begierde zu sehen und so herrlich ausgefüllt zu sein. Ich warf mich seinen Stößen entgegen, so gut ich konnte. Diesmal kam ich viel schneller als er, erschrak über meinen eigenen spitzen Schrei und fühlte, wie es tief in mir zuckte. Jörg presste sich ein letztes Mal gegen mich, bevor er laut keuchte und ich in mir erneut ein Zucken spürte. Seine zufriedene Miene wich rasch einem schuldbewussten Ausdruck. Es gipfelte darin, dass er sich für den rüden Überfall entschuldigte. Als ob er es nötig hätte. Schließlich hatte ich den Orgasmus genossen, selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit. Vielleicht war es auch nur eines seiner Spielchen, das er sich den ganzen Tag lang ausgedacht hatte. Es wäre nicht das erste Mal. Die frivolen Geschichten über mich und meinen Ex-Freund Walter haben ihn sicherlich angestachelt. Aber daran hat er selbst Schuld. Er wollte es schließlich wissen, am liebsten bis ins kleinste Detail. Ich war zunächst wenig begeistert, denn ich befürchtete, ihn damit zu verletzen oder gar unter Druck zu setzen. Was kann schon schlimmer sein, als der Vergleich seines Partners mit dem Ex? Doch er ließ nicht locker, bohrte solange nach, bis ich klein beigab und ihm einiges erzählte. Meinen Protest erstickte er jedenfalls mit einem Kuss, hob mich kurzerhand vom Sofa hoch und trug mich ins Bett. Erst dort half er mir, die Sneakers auszuziehen, und überredete mich ausnahmsweise auf den Schlafanzug zu verzichten. Ich murrte aber mehr aus Prinzip, denn eigentlich schlafe ich ganz gerne nackt.

 

Vehement schlage ich die Bettdecke zur Seite und strecke mich genüsslich. Das lästige Ziehen im linken Oberschenkel ist noch immer unangenehm. Kein Wunder. Ich kann froh sein, dass die Nummer so glimpflich abgelaufen ist, als ich von der Mülltonne sprang und sich der Gürtel im Haltegriff der Tonne verfing. Kollateralschaden bei einer üblichen Observation nenne ich es. So etwas kann passieren. Zu allem Überfluss rammte ich mir gestern bei Gernot auch noch die Kante der Kühlschranktür genau in die gleiche Stelle. Wie so oft, wenn es dicke kommt, dann gewaltig.

10:16 Uhr. Langsam sollte ich aus den Federn kommen. Spätestens bis Mittag will ich den Bericht für Frau Ludwig fertig geschrieben haben.

Bis jetzt weiß ich nicht, ob ich mich freuen soll oder nicht. Sie hatte ihren Mann in Verdacht, dass er sie betrügt. Anfangs sah es ziemlich eindeutig danach aus, als ich ihn beschattete und er sich nach der Arbeit mehrmals mit einer äußerst attraktiven und gepflegten Frau traf. Jedes Mal in einem Café oder einer etwas abgelegenen Bar, sodass ich mich vorsehen musste, nicht entdeckt zu werden. Auch wenn ich nicht feststellen konnte, dass sie irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten, kein Streicheln, kein Kuss, lediglich ein Händeschütteln zur Begrüßung und zum Abschied, so wirkten sie sehr innig und vertraut. Ich folgte ihm in der Hoffnung, dass sie sich anschließend irgendwo heimlich verabreden würden, doch dem war nicht so. Er fuhr stets direkt nach Hause, abgesehen von dem einen Mal, wo er noch den Wagen auftankte. Trotzdem schoss ich einige Bilder, wenn sich die Gelegenheit ergab. Warum ich nach dem dritten Treffen nicht ihm, sondern ihr folgte, war reine Intuition. Der silbergraue Hyundai Tucson, den die Frau fuhr, war auffällig genug, sodass ich mir einen großzügigen Sicherheitsabstand erlaubte. Wieder einer dieser angesagten Kompakt-SUVs, deren Sinn ich bis heute nicht verstehe, besonders wenn ich, damit meist in der Stadt unterwegs bin. Der Weg führte mich in die östlichen Vororte zu einem gepflegten, strahlend weiß gestrichenen Bungalow. Eine hohe Mauer umsäumte das Grundstück, sodass mir der Blick auf das Gebäude größtenteils verwehrt wurde. Ich wartete zu weit entfernt, als dass ich Genaues, außer einer Doppelgarage, sehen konnte, bevor sich das breite Garagentor hinter dem Wagen automatisch schloss. Hohe Nadelbäume zeigten mir, dass der Garten nicht erst vor Kurzem angelegt wurde. Ich parkte in einer Nebenstraße und lief ein Stück zurück, um mir das Haus näher anzusehen. Die Mauer war leider so hoch, dass ich trotz meiner 1,78 m hätte springen müssen, um etwas zu sehen. Ich verzichtete darauf, aufzufallen, und näherte mich dem Eingang.

Dort entdeckte ich ein Schild, das mir vorhin entgangen war. «Angela Teichmann, Praxis für Psychotherapie, Verhaltenstherapie und Paar-Beratung.» Darunter las ich Öffnungszeiten und eine Telefonnummer. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Frau Ludwig erzählte mir von Schwierigkeiten in ihrer Beziehung, verzichtete jedoch auf Details. Herr Ludwig gehörte offensichtlich nicht zu der überwiegenden Gruppe frustrierter Ehemänner, die ihre Frau betrogen, um ihre Probleme zu lösen. Dass die Männer dadurch nur noch mehr Scherereien verursachten, war ihnen häufig egal. Ihr Gatte ging einen anderen Weg, zählte zu der kleinen Minderheit, die sich Hilfe suchten. Er war scheinbar schon einen Schritt weitergegangen und hatte sich professionellen Rat geholt. Außer meinen Mutmaßungen, die für mich durchaus schlüssig erschienen, fehlten mir allerdings stichhaltige Beweise. Auf den Frontalangriff verzichtete ich, denn Frau Teichmann auf Herrn Ludwig anzusprechen, konnte ich mir sparen. Sie würde mit ärztlicher Schweigepflicht argumentieren, lästig aber verständlich. Und dabei machte es keinen Unterschied, ob sie mit Herrn Ludwig ein berufliches oder womöglich doch privates Verhältnis pflegte. Für mich schien der Fall jedenfalls klar, je länger ich darüber nachdachte. Dass Herr Ludwig einen andersgearteten Kontakt mit Frau Teichmann unterhielt, außer einer reinen Arzt-Patienten- Beziehung, erschien mir absurd. Seine Gattin befand sich auf dem Holzweg und sollte vielleicht eher den Weg ihres Mannes folgen, als ihn der Untreue zu beschuldigen. So deutlich würde ich es nicht in den Bericht schreiben, da ich schließlich nicht für eine Eheberatung bezahlt werde. Aber wenn sie klug ist, wird sie es zwischen den Zeilen lesen. Schade, dass die meisten häufig nur das Schlimmste vermuten und sich lieber, und vor allem leichter, damit abfinden, betrogen zu werden, anstatt mit dem Partner ein offenes Gespräch zu führen. Gekränkt und wütend zu sein, selbst ohne Beweise, ist entschieden einfacher.

Mir ist durchaus bewusst, wie schwer das ist. Probleme anzusprechen, auch auf die Gefahr hin, etwas zu zerstören. Immerhin musste ich lange mit mir ringen, bis ich den Mut dazu fand, Jörg und Bettina meine Gefühle und Ängste mitzuteilen. Ich weiß also sehr genau, wovon ich spreche.

Inzwischen bekomme ich am ganzen Körper Gänsehaut und klappere mit den Zähnen. Mich fröstelt, weil ich mich schon vor einer Weile aufgedeckt habe. Sommer hin oder her, eine heiße Dusche ist genau das, was ich jetzt dringend brauche. Ohne nach den Hausschuhen zu suchen, husche ich nackt ins Badezimmer. Ich höre Jörg in der Küche hantieren und fröhlich pfeifen. Sofort befällt mich das schlechte Gewissen. Seitdem er nun zu Hause an seinem Buch arbeitet, nimmt er mir noch mehr Hausarbeit ab, als er es zuvor schon getan hat. Nicht dass ich ihm deswegen wirklich böse bin. Das wäre gelogen. Aber manchmal ist es mir einfach peinlich. Ihn hingegen scheint es nicht zu stören, die Wohnung zu saugen und zu putzen, Wäsche zu waschen und zu bügeln, was mich zumindest ein bisschen beruhigt. Seine Argumente, dass schließlich ich, mit meinen zwei Jobs für das Einkommen sorge, lasse ich nicht gelten. Ich weiß, dass er immer wieder einiges von seinen Ersparnissen in den Haushalt mit einfließen lässt und denkt, ich würde es nicht bemerken. Ich sollte mir auch überlegen, was ich mit meiner Wohnung machen will. Die meiste Zeit steht sie nur noch leer. Trotzdem muss ich Miete bezahlen. Für ein paar Wochen überließ ich sie Klaus, der sich endlich dazu durchgerungen hat, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Ein längst überfälliger Schritt. Er fand mittlerweile sein Glück in einer neuen Beziehung, über die ich mich inzwischen riesig freue. Zugegeben verspürte ich anfangs so etwas wie Bauchgrummeln und Eifersucht. Total hirnrissig, aber gegen gewisse Gefühle bin ich eben machtlos. Zum Glück schaltet sich meistens doch noch rechtzeitig der Verstand mit ein und klärt das Chaos in meinem Kopf.

Warum sind Spiegel nur so grausam? Ich vergaß, mich vor dem Schlafengehen abzuschminken. Jetzt sehe ich fast so aus wie Alice Cooper in seinen besten Zeiten, schießt es mir durch den Kopf. Die Haare total zerzaust, die Augenlider leicht gerötet, von der tiefen Schlaffalte an der Wange ganz abgesehen, sah ich wirklich schon einmal frischer aus. Knappe sechs Stunden Schlaf sind mir inzwischen zu wenig, auch wenn ich es nur ungern zugebe. Vor 20 Jahren hätte ich jedem den Vogel gezeigt, doch mit Anfang 40 bin ich eben keine Jugendliche mehr, ob es mir nun gefällt oder nicht. Ich schneide dem Spiegelbild ein paar Grimassen, was die Situation nicht unbedingt verbessert. Als Trost bleiben mir die längeren Haare, die mir endlich über die Schulter reichen, auch wenn ich noch um Welten von der Haarlänge meiner Nichte Lucy entfernt bin. Früher habe ich mich damit beruhigt, mit der kürzeren Frisur maskuliner und tougher zu wirken, was mir als Ermittlerin entgegenkäme. Inzwischen ist es mir egal, was andere von mir denken, denn ich mache meine Arbeit, so gut ich kann. Dafür spielt die Haarlänge meist keine Rolle. Allerdings sitzt irgendwo tief im Kopf verborgen mein Stolz, der immer wieder einmal vorsichtig Flagge zeigt und mich daran erinnert, öfter ich zu sein. Alle meine Bekannten, selbst meine Schwester Rebecca haben mittlerweile längere Haare als ich. Das sollte Ansporn genug sein. Früher wäre es das in jedem Fall gewesen. Schon aus Prinzip, wenn es um Themen ging, in die Rebecca involviert war. Ich kannte kein anderes Geschwisterpaar, dass sich so oft bis aufs Messer bekriegte, wie meine Schwester und ich. Manchmal geschehen jedoch Wunder, vielleicht auch nur, weil es das Universum satthat und auf ein neues Programm schaltet. Eine Kehrtwendung um 180 Grad, besser kann ich es nicht beschreiben. Nach meinem letzten Geburtstag schüttete mir Rebecca ihr Herz aus. Zum ersten Mal im Leben führte ich ein echtes Gespräch von Schwester zu Schwester - und das Wunder geschah. Wir versöhnten uns nach all den aufreibenden Jahren und geben uns seitdem die größte Mühe, dass es auch so bleibt.

Ich seufze, blecke dem Spiegelbild die Zunge und husche in die Dusche. Schon wenige Augenblicke später fühle ich mich wie ein anderer Mensch. Jörgs Massagedüsen sind perfekt, um richtig wach zu werden. Kein Vergleich zu denen in meiner Wohnung. Unbewusst streichen meine Finger über die Narbe unter der Brust. Mühelos kann ich mir die Geschehnisse von damals ins Gedächtnis rufen, die Schüsse, die Schmerzen, wenn sie mir inzwischen auch deutlich weniger Angst bereiten, als früher. War das nicht viel brenzliger, als alles, was danach geschah? Der Arzt sprach von haarscharf. Trotzdem bereitet mir die Sache mit dem Kidnapping bei einem späteren Fall erheblich mehr Probleme. Vielleicht deshalb, weil ich nicht agieren konnte, sondern überwältigt wurde und ohnmächtig abwarten musste, was geschehen würde. Ich hasse es, passiv zu sein.

Als eingefleischter Single mit gewisser Vorschädigung war ich es, bis vor nicht allzu langer Zeit gewohnt, in jeder Situation für mich selbst zu sorgen. Doch die Zeiten ändern sich. Zum Glück, wie ich mir inzwischen eingestehen muss, denn eine feste Beziehung hat durchaus ihre Vorteile.

Jörg trägt einen großen Anteil dazu bei, dass ich mich zum ersten Mal im Leben geborgen fühle. Ich weiß, da ist noch jemand, der sich um mich sorgt und der mir in der Not beisteht. In dieser Hinsicht hat meine Freundschaft zu Klaus ihre Grenzen, denn ich käme nie auf den Gedanken, mit ihm zu kuscheln. So etwas fühlt sich für mich unpassend an, auch wenn ich ihm damit womöglich unrecht tue. Selbst in seinen Armen einfach loszuheulen, fällt mir schwer, obwohl ich es in der Vergangenheit nicht immer vermeiden konnte.

Mit den Fingerspitzen berühre ich zufällig den Vibrator, als ich die Hand nach dem Shampoo ausstrecke. Ich schmunzle und wundere mich jedes Mal, wie gelassen und selbstverständlich es Jörg aufgenommen hatte, als er ihn bei mir zu Hause in der Dusche entdeckte. Noch mehr überraschte es mich, als er mich beinahe nötigte, Lucys Geburtstagsgeschenk an geeigneter Stelle zu platzieren. Schließlich solle ich mich doch hier wie daheim fühlen.

Meinem Ex-Freund Walter hätte ich so etwas sofort zugetraut. Für ihn stand alles, was mit Sex zu tun hatte, an oberster Stelle. Noch vor Essen und Trinken und den täglichen Erledigungen. Jörg verhält sich in dieser Hinsicht deutlich zurückhaltender. Sofort durchströmen mich bei der Erinnerung an letzte Nacht wohlige Schauer. Gedankenversunken massiere ich das Shampoo in die Haare ein und verteile den restlichen Schaum über Schultern und Brüste. Für einen kurzen Moment liebäugle ich, damit, mir eine kleine Extraportion Lust zu spendieren. Doch der aufdringlich knurrende Magen vergällt mir den Spaß. Ich muss ihm zustimmen, denn schließlich will ich Jörg nicht länger mit dem Frühstück warten lassen. Jetzt ist erst einmal Kaffee und Joghurt angesagt. Und was hinterher passiert? Für ein paar Zentimeter Jörg muss ich nicht lange überredet werden.

Ich werfe einen letzten Blick auf den Vibrator. Nachdrücklich schüttle ich den Kopf, sodass kleine Schaumflocken aus den Haaren fliegen. Nein, jetzt nicht. Erst die Pflicht, dann das Vergnügen. Für meine Verhältnisse beende ich die Dusche im Rekordtempo, putze mir die Zähne und föhne die Haare, bevor ich in ein flauschiges Handtuch gewickelt barfuß in die Küche tipple.

 

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«Klaus wir müssen los», teilt ihm Brunner mit und hält noch das Mobilteil in der Hand. «Gerade hat uns die Bundespolizei verständigt und Hilfe angefordert. Ein junger Mann wurde am Bahnhof tot aufgefunden und die Spurensicherung vor Ort kann Mord nicht ausschließen.»

«Gib mir zwei Minuten» murmelt er resigniert und schaut auf die Uhr an der Wand gegenüber.

Gerade einmal 10:38 Uhr. Eine ziemlich ungewöhnliche Zeit, um eine Leiche an solch einem belebten Ort wie einem Bahnhof zu finden. Seufzend wirft er einen letzten Blick auf das Vernehmungsprotokoll und die Bilder von der Wohnung. Ein Beziehungsdrama. Mann schlägt Frau. Sie wehrt sich, sticht auf ihren Gatten ein und wird durch einen weiteren Schlag getötet. Der Mann liegt schwer verletzt im Krankenhaus und ringt ums Überleben. Die Stiche des Kochmessers in Brust und Bauch haben haarscharf die Hauptarterien verfehlt, jedoch erheblichen Schaden an den Organen, Lunge, Magen, Leber und Dünndarm hinterlassen. Eine Vernehmung über den genaueren Tathergang ist ausgeschlossen.

Als er das Holster überstreift und in die dünne Windjacke schlüpft, wartet Brunner bereits auf ihn und hält ihm einen Autoschlüssel vor die Nase. Er schüttelt den Kopf und bringt es zumindest zu einem verkniffenen Lächeln. Noch immer hat er die Fotos des Tatorts von gerade eben vor Augen. Überall Unmengen von Blut, in der Küche, im Wohnzimmer an den Möbeln auf den Teppichen und Fliesen. Wegen der hellen Einrichtung stach es ihm besonders ins Auge. Er muss tief Luft holen.

«Fahr du Peter. Ich lass mich heute zur Abwechslung mal von dir chauffieren.»

Er sieht den enttäuschten Blick des Kollegen und neigt den Kopf erwartungsvoll zur Seite.

«Was ist los? Haben wir, heute nur noch einen VW Käfer im Fuhrpark übrig? Weißt du eigentlich, dass ich früher auch einen Käfer gefahren bin?»

Brunner verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. «Nein, so schlimm ist es nicht. Wir haben heute ausnahmsweise einen Nissan Quashqai im Angebot, die Allrad-Variante mit 1,6 Liter-Benzinmotor. Ist nicht gerade der Brüller, aber soll auch seine 200 km/h Spitze schaffen.»

«Na dann ist es doch nahezu perfekt. Ein SUV mit Allrad für die Innenstadt. Damit fallen wir neben den Hausfrauen, die heute Morgen die Kinder in die Schule gefahren haben und jetzt zum Einkaufen unterwegs sind wenigstens nicht auf.» Lakonisch zuckt er die Schultern.

«Das war aber echt böse, Klaus», mahnt Brunner mit erhobenem Zeigefinger, kann sich ein Grinsen jedoch nicht verbeißen.

«Was heißt hier böse? Immerhin haben wir noch schlappe 150 km/h als Reserve, wenn wir im Notfall unserer Kollegin Porsch folgen müssen. Das ist böse.»

«He, das war jetzt nicht böse, sondern gemein», murrt Brunner. «Du weißt genau, dass sie Rennen fährt und ...»

«Lass gut sein Peter», winkt er lachend ab und wundert sich, dass sein Kollege so dünnhäutig reagiert und scheinbar noch immer nicht die Schmach der Verfolgungsjagd vom vergangenen Winter ad acta gelegt hat.

«Dass du auch ständig darauf ...»

«Ja ich bin gemein, tut mir leid», unterbricht er Brunner und klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter.

 

Am Ostausgang des Bahnhofs entdecken sie mehrere Streifenwagen und einen Bundespolizisten, der ihnen zuwinkt, als er die Blaulichter im Kühlergrill entdeckt. Sie halten neben einer Absperrung und zeigen dem Beamten kurz ihre Dienstausweise. Dieser nickt freundlich und deutet auf den breiten Ausgang.

«Es ist im Hauptgang die dritte Tür auf der linken Seite. Drinnen gibt Ihnen eine Kollegin noch die Schutzanzüge.»

Er tippt sich kurz dankend an die Stirn und überquert mit Brunner die vierspurige Straße. Der Ostausgang ist weiträumig abgesperrt, sodass sie, außer einigen Beamten der Bundespolizei nur Kollegen der Spurensicherung entdecken. An Rande der Absperrung haben die Bundespolizisten alle Hände voll zu tun, aufgebrachte Reisende zu den anderen Eingängen zu schicken und schaulustige Fußgänger höflich zu bitten, weiterzugehen. Er sieht mehrere Arme mit Handys in die Höhe gestreckt, auch wenn es absolut nichts zu sehen gibt. Kopfschüttelnd wirft er Brunner einen gequälten Blick zu, der sicherlich genau weiß, was ihm gerade durch den Kopf geht. Tatort-Tourismus, eine Unsitte, die langsam überhandnimmt und Einsatzkräfte immer häufiger an der Arbeit hindert. Besonders die Rettungskräfte auf den Straßen müssen täglich gegen das unsoziale und teilweise sogar gefährliche und gewaltbereite Verhalten kämpfen.

Eine junge Polizeiobermeisterin eilt ihnen mit Schutzanzügen entgegen, so als hätte sie sie bereits erwartet.

«Respekt», raunt ihm Brunner zu. «Da sag noch einmal einer etwas gegen die Bundespolizei.»

Er zwinkert ihm verstohlen zu und wendet sich an die Polizistin.

«Hauptkommissar Nimrod und das ist mein Kollege Kommissar Brunner. Sie erwarten uns bereits.» Er lächelt freundlich und nimmt ihr einen der Anzüge aus der Hand.

Die Polizistin errötet und reicht Brunner den Zweiten.

«Gut, das Sie so rasch gekommen sind. Zu dieser Zeit ist hier unter der Woche nämlich die Hölle los. Fünf ICE-Züge innerhalb einer knappen Stunde. Außerdem findet momentan noch eine große Messe statt.»

Sie wirft einen Blick über die Schulter zu ihren Kollegen an der Absperrung, während er sich in den Anzug quält.

«Gestern gab es eine anonyme Bombendrohung und wir waren gezwungen, schon einmal das gesamte Gebäude zu räumen. Sie können sich vorstellen, wie begeistert die Bahnverwaltung war, als wir heute erneut absperren mussten.»

«Wenn tatsächlich etwas passiert, weil zu lax gearbeitet wurde, ist das Geschrei noch größer. Sie tun nur Ihren Job, wie wir auch.» Er zuckt die Schultern und deutet auf eine Toilettentür. «Dort hinten vermute ich?»

«Ja genau. Im WC haben wir den Toten aufgefunden», lächelt die Polizistin sichtlich erleichtert und nickt.

Kaum dass er die Toilette betritt, schlägt ihm ein widerlich beißender Geruch nach Fäkalien entgegen, auf den er gerne verzichtet hätte. Die hellgrünen, teils abgeschlagenen Kacheln an den Wänden und in die Jahre gekommene Neonröhren Marke Ultrakaltlicht verstärken die unangenehme und abstoßende Atmosphäre der Räumlichkeiten. Er erblickt einen Servicewagen der Reinigungskräfte, die den Leichnam entdeckt haben. Eine weiß vermummte Gestalt kommt ihm entgegen. Er benötigt einen kurzen Augenblick, bis er hinter dem Mundschutz und der Brille die Rechtsmedizinerin Dr. Renate Nüsslein erkennt. Aber wen hat er schon erwartet? Miriam nimmt sich heute und morgen einen Gleitzeittag wegen einiger dringender Besorgungen. Bleibt also nur ihre Kollegin. Sofort befällt ihm ein unwohles Gefühl, obwohl es dazu keinerlei Anlass gibt. Renate begrüßt ihn freudig.

«Hallo Klaus, hallo Herr Brunner. Na wie gehts? Ja, ähm blöde Frage. Schaut mich nicht so vorwurfsvoll an. Leider haben die Reinigungskräfte den Toten gefunden, bevor sie hier sauber gemacht haben.» Sie verdreht die Augen, streift den Mundschutz nach unten und kommt auf ihn zu.

«Weiß Brunner Bescheid?», raunt sie so leise, dass nur er es hören kann.

Ihm ist sofort klar, was sie meint. Er nickt und kann einfach nicht verhindern, zu erröten. Sie kommt näher, umarmt ihn und drückt ihn kurz an sich.

«Es freut mich für euch beide», flüstert sie. «Miriam ist total aus dem Häuschen und hat mir schon gebeichtet, dass du dich so genierst. Aber das musst du nicht.» Sie kichert und tritt wieder einige Schritte zurück.

Er sieht Brunner aus dem Augenwinkel breit grinsen und räuspert sich. Sein Lächeln wirkt alles andere als erleichtert.

«Danke, ja, ich, also ich freue mich auch», antwortet er hölzern und wirft dem Kollegen einen verärgerten Blick zu, weil dieser noch immer grinst.

Die Gerichtsmedizinerin rettet die peinliche Situation und beginnt über den Fall zu berichten.

«Der Tote ist laut dem mitgeführten Ausweis ein gewisser Arnd Junghans, 29 Jahre alt, ledig, wohnt hier in der Stadt und arbeitet als freischaffender Fotograf. So wie ich es sehe, ist er nicht hier im Bahnhof ums Leben gekommen, sondern wurde tot hierher gebracht. Einige Hämatome und gewisse Abschürfungen deuten auf äußere Gewalt hin. Jedoch fehlen die typischen Abwehrverletzungen für einen Kampf. Rätsel geben mir die gebrochenen Rippen auf, denn die entstehen üblicherweise, wenn jemand mit Herz-Druck-Massage reanimiert wird. Fragt ihr mich, so sieht es nach einem etwas aus dem Ruder geratenen Liebesspiel aus. Ein Knutschfleck am Hals des Opfers und einige Hautschuppen unter drei Fingernägeln deuten darauf hin. Außerdem habe ich zwei lange Haare in seiner Unterhose entdeckt, die eindeutig nicht von ihm stammen. Weiterhin befanden sich Spuren eines Spermizids und Ejakulatreste am Penis und Gleitmittelrückstände am Anus. Er hatte also, nicht lange vor seinem Tod, geschätzt nicht mehr als zwölf Stunden, Geschlechtsverkehr, und zwar ziemlich heftigen.» Grinsend stemmt sie die Hände in die Hüfte.

In diesem Augenblick erinnert ihn Renate eindeutig an Miriam. Ob sie es absichtlich tut, um ihn zu provozieren? Oder geschieht es ganz unterbewusst, weil sich beide in so vielen Belangen ähneln? Er muss sich erneut räuspern.

«Das ist ja schon jede Menge, die du herausgefunden hast. Die Todesursache hast du mir jedoch verschwiegen.»

«Gut aufgepasst, Herr Kollege», grinst sie süffisant. «Das liegt daran, weil ich es noch nicht genau sagen kann. Vieles deutet darauf hin, dass er an Kreislaufversagen gestorben ist. Unter Umständen in Folge übermäßiger Anstrengung, was erklären würde, dass er trotz der Reanimationsversuche verstorben ist. Da er auf den ersten Blick ziemlich gesund aussieht, tippe ich auf einen überdosierten PDE-5-Hemmer in Kombination mit einer weiteren Droge. Die genauen Ergebnisse aus dem Labor bekomme ich in Kürze. Der Schnelltest hat zumindest Spuren von Kokain oder Crack angezeigt, allerdings habe ich den Verdacht, dass Amylnitrit oder ein Verwandter im Spiel war.»

«Hilf mir auf die Sprünge, Renate. Das war mir jetzt doch zu viel Chemie. Ein PDE-5-Hemmer ist das so etwas ähnliches wie Viagra?»

«Ja genau. Viagra nimmt man gelegentlich als Sammelbegriff für Medikamente jener Wirkstoffgruppe, beispielsweise Sildenafil, Tadalafil, Avanafil oder Vardenafil, was die gebräuchlichsten sind. An und für sich sind die Substanzen für einen gesunden Menschen nicht gefährlicher als viele andere Medikamente auch. Kombiniert man jedoch einen PDE-5-Hemmer mit sogenannten Poppers, wie Amylnitrit kann es zu einem akuten Abfall des Blutdrucks mit Schockzuständen kommen, der lebensgefährlich ist. Poppers besitzen nicht nur eine psychotrope, sondern darüber hinaus eine extrem starke Vasodilatation, also muskelrelaxierende gefäßerweiternde Wirkung. Das Gehirn bekommt es zuerst zu spüren, wenn die Blutversorgung einbricht.»

«Ein Potenzmittel und das in seinem Alter?», fragt er verwundert und sieht Renate seufzen.

«Ach, das ist gar nicht so ungewöhnlich, wie du denkst. Manche stehen unter gewaltigem Stress, sind so übersättigt mit allen möglichen Anreizen aus dem Internet oder nehmen ständig Medikamente oder Drogen, dass sich unter normalen Umständen einfach nichts mehr in der Hose regt. Ich hatte schon einen 19-Jährigen mit einer Überdosis auf dem Tisch. Da ging es jedoch um eine Mutprobe, die im Gegensatz zu ihm, wenigstens sein Freund haarscharf überlebte.» Sie zuckt resigniert die Schultern.

Er kann nur den Kopf schütteln und knetet die Unterlippe. Was bringt Menschen dazu, immer wieder unkontrolliert Drogen zu nehmen, nur um in Fahrt zu kommen? Ihm genügt bereits, sich Miriam vorzustellen, dass sich etwas in der Hose regt. Ähnlich ergeht es ihm momentan bei Renate, auch wenn er es sich nur ungern eingesteht und es wahrlich der unpassendste Moment ist. Aber beide haben etwas an sich, dem er nur schwer widerstehen kann.

Renate bemerkt seinen ratlosen Blick. «Um zu deiner Frage, nach der Todesursache zurückzukommen», unterbricht sie sein Grübeln. «Ich vermute momentan noch einen Unfall, Kreislaufversagen in Folge der Nebenwirkung des Potenzmittels und der Mengen an inhaliertem Amylnitrit. Weitere Drogen will ich nicht ausschließen, aber halte ich nicht für ursächlich.»

«Und warum inhalierte er die Poppers?», fragt er, obwohl er bereits ihre Antwort ahnt.

«Tja, das ist in der Szene durchaus üblich, wenn man extrem entspannt sein muss, weil ein Elefant durch das Nadelöhr soll», kichert sie schelmisch und lässt ihn erröten.

Er wirft seinem Kollegen einen Blick zu, sieht bei ihm jedoch nur ratloses Stirnrunzeln.

«Wer sich allerdings ein bisschen mit den Mitteln auskennt, kann die Nebenwirkungen natürlich spielend leicht provozieren», schließt Renate ihre Erklärung ab.

«Was nichts anderes wie vorsätzlichen Mord bedeutet. Wolltest du das sagen?»

«Richtig schlussgefolgert, Klaus», nickt sie grinsend und legt wieder den Mundschutz an. «Komm mit. Ich will dir noch kurz die Position der Leiche zeigen, bevor ich sie in die Pathologie bringen lasse.»

Er dreht sich zu Brunner, der schlagartig erblasst.

«Peter, mach mir bitte den Gefallen und erkundige dich, wer die Leiche gefunden hat. Außerdem brauchen wir die Aufnahmen der Überwachungskameras. Wenn das Opfer nicht mehr selbst laufen konnte, dann muss das doch zu sehen sein. Dass ihn jemand getragen hat, wäre zu auffällig. Bleibt nur, dass er vermutlich auf irgendeinem fahrbaren Untersatz transportiert wurde.»

«Wird erledigt», versichert ihn Brunner eifrig und wirkt mit einem Mal wie ausgewechselt.

Er weiß, wie der Anblick von Leichen seinen Kollegen belastet. Leider kann er es ihm nicht jedes Mal ersparen. Dieses Problem hat er bisher erfolgreich verdrängt, und es vermieden, bei den Mitarbeitergesprächen anzuschneiden. Jedoch ist es keine Lösung auf Dauer. Nachdem Brunner die Toilette verlassen hat, sind sie allein. Schlagartig meldet sich wieder sein verflixtes schlechtes Gewissen, obwohl ihm Miriam und heute nun auch Renate höchstpersönlich versichert haben, dass dazu keinerlei Grund besteht. Er erschrickt, als Renate unvermutet zu reden beginnt.

«Weißt du, momentan habe ich wieder richtig Lust bekommen, kreuz und quer durch die Republik zu ziehen. In zwei Wochen halte ich sogar Gastvorträge bei unseren Nachbarn in Österreich an der Universität Salzburg über forensische Toxikologie und Sexualmedizin. Es erinnert mich an meine wilde Studienzeit.» Sie seufzt und wirft ihm einen verzückten Augenaufschlag zu. «Ich weiß auch nicht, warum mir das gerade jetzt so wichtig ist, aber da wäre sowieso wenig Platz für Beziehungen», lacht sie trocken. «Da bist du bei Miriam viel besser aufgehoben.»

«Danke, dass du es mir leicht machen willst», flüstert er fast tonlos und sieht sie einen Augenblick verharren. «Ich weiß das sehr zu schätzen.» Er bildet sich ein, so etwas wie Traurigkeit in ihrer Stimme gehört zu haben, aber vielleicht täuscht er sich.

Renate erhebt sich langsam, nimmt den Mundschutz ab und schaut ihm direkt in die Augen. Nein, er hat sich nicht getäuscht.

«Mieses Timing, nennt man das, glaube ich», seufzt sie und zuckt resigniert die Schultern.

Sie schaut ihm tief in die Augen und verursacht unbewusst ein völliges Gefühlschaos in seinem Kopf.

«Weißt du, dass ich dich unter anderen Umständen jetzt einfach küssen würde?», haucht sie kaum hörbar.

Er kann nur wortlos nicken und senkt die Augen. Für einen kurzen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Er spürt sie atmen, so nahe stehen sie sich gegenüber. Bilder, Sätze und Situationen purzeln in seinem Kopf wild durcheinander. Selten zuvor im Leben fühlte er sich so hilflos wie gerade eben. Schließlich fasst sich Renate ein Herz und erlöst ihn. Vielleicht hat sie seine Seelenqual gespürt. Oder ihr ging es ganz ähnlich.

«Aber besser meine beste Freundin bekommt dich, als jemand anderes. Miriam hat es echt verdient.»

Er sieht, wie sie ihm die Hand entgegenstreckt.

«Freunde?», grinst sie.

«Freunde», krächzt er verkniffen lächelnd und drückt ihre Hand.

«Und wenn sie dich nicht mehr haben will, das Biest, dann sag mir Bescheid», knurrt sie im Befehlston. «Ich nehme dich sofort. Ist das klar?»

Er zuckt zusammen und nickt verdattert.

Für einen kurzen Augenblick herrscht erneut Schweigen, bis beide in schallendes Gelächter ausbrechen, dass schließlich sogar die junge Bundespolizistin mit besorgtem Blick die Toilette betritt, um nach dem Rechten zu sehen.

«Alles in Ordnung, Frau Kollegin», winkt er ab und sieht, wie die Polizistin fragend die Stirn runzelt.