Tödliche Konsequenz - Laura B. Reich - E-Book

Tödliche Konsequenz E-Book

Laura B. Reich

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Beschreibung

Die private Ermittlerin Elli Klinger übernimmt aus Gefälligkeit für ihre Schulfreundin Jutta Steinbeck einen nahezu chancenlosen Fall. Tochter Charlotte, eine BWL-Studentin, ist spurlos verschwunden. Die Polizei bleibt tatenlos, da kein ausreichender Verdacht einer Straftat erkennbar ist. Bei den Ermittlungen stößt Elli auf immer weitere Fragen, anstatt Antworten zu bekommen. Sie findet zahlreiche Indizien, die unerwartete und gefährliche Aspekte ins Spiel bringen. Charlotte und ihre beiden Studienkolleginnen, die sich eine WG teilen, scheinen ein riskantes Doppelleben zu führen. Jede neue Recherche fördert für Elli eine Flut erschreckender Details ans Licht. Auch privat beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Sie stürzt sich in eine Liebschaft und fühlt sich überfordert von widerstreben-den Gefühlen. Sie wird von einem Unbekannten verfolgt und gerät in Panik. Verzweifelt sucht sie Trost bei ihrer Freundin und schürt damit nur das Feuer ihrer verwirrten Gefühle. Schließlich bleibt es ihr nicht einmal erspart, das Verhältnis zu ihrer Nichte Lucy grundlegend zu klären. Alles gerät aus dem Ruder. Je weiter sie mit den Ermittlungen vordringt, desto häufiger stößt sie auf die Universität. Lebensgefährlich für Elli wird es schließlich, als sie alles auf eine Karte setzt, um die Hintergründe von Charlottes Verschwinden zu klären, und dabei die ernst gemeinten Ratschläge ihrer Freunde sträflich ignorieren.

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Laura B. Reich

 

 

Tödliche Konsequenz

 

Elli Klinger ermittelt - ihr zweiter Fall

 

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

Für meinen größten Fan,

der mich stets unterstützte

und mir überhaupt den Mut gab,

mich mit meinen Geschichten

an ein breites Publikum zu wenden.

 

 

 

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede urheberrechtsrelevante Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors oder Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Nachahmungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Auflage: 2. überarbeitete Auflage 2021 1. Auflage 2017

Texte: © Laura B. Reich - Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: © Laura B. Reich, 2016

Model: Cathy Cort, 2016, Germany

Verlag: Laura B. Reich

c/o Poly4Media

Unterbüchlein 1

90547 Stein

[email protected]

Elli: www.toedliche-konsequenz.de

Laura: www.elli-klinger-ermittelt.de

Inhalt

Prolog

Alltägliches

Der Auftrag

Spätschicht

Nachtleben

Achterbahn der Gefühle

Besorgte Mienen

Klinken putzen

Frustbewältigung

Hetzjagd

Harte Fakten

Zähes Ringen

Querbeet

Sinnliches Intermezzo

Überraschend Neues

Liebe schmerzt

Hart auf Hart

In letzter Sekunde

Überwältigend

Epilog

 

 

Prolog

Es ist spät, verdammt spät, wie so oft in letzter Zeit. Zu dieser Stunde zeigt der Herbst sein wahres Gesicht, kühl, feucht und windig. Typisch für Ende Oktober. Die dunklen Gassen im Süden der Stadt, unmittelbar am Fluss, sind anfällig dafür. Im trüben Licht der wenigen Straßenlaternen glänzt das marode Kopfsteinpflaster an manchen Stellen. Dort, wo sich die Feuchtigkeit als rutschiger Film darüber gelegt hat. Der Verwaltung fehlt das Geld, die Pflastersteine durch Asphalt zu ersetzen, ebenso wie die Lampen durch Neue, Hellere zu tauschen. Hier in der Gegend wohnen sowieso nur alte Leute oder Ausländer in schäbigen Wohnungen und heruntergekommenen Häusern. Keine reichen Geschäftsleute, Akademiker oder Stadträte, die sich daran stören.

 

Sie wollte Zeit sparen und wählte die Abkürzung durch diese Gasse. Am Tag sah alles völlig harmlos aus. Doch jetzt mitten in der Nacht ist ihr gar nicht mehr wohl mit jedem Schritt, den sie zurücklegt. Sie blickt immer wieder nervös über ihre Schulter, hat das unbestimmte Gefühl, verfolgt zu werden. Vielleicht ist es ja nur die Müdigkeit, die ihr einen Streich spielt. Oder die Erschöpfung nach dem kräftezehrenden Auftrag, die ihren eigenen, diffusen Schatten an der Wand zu einem unheimlich wirkenden Monster mutieren lässt. Hastig wendet sie erneut den Kopf und übersieht den Treppenabsatz eines alten Sandsteinhauses. Sie erschrickt, stößt einen spitzen Schrei aus, als sie sich den rechten Fuß anschlägt und ins Straucheln gerät. Dieser verflixte enge Rock und die viel zu hohen Absätze sind schuld. Verzweifelt stützt sie sich mit der Hand am rauen Putz der Hauswand ab. Die kleinen Körnchen des Sandsteins sind messerscharf und beißen sich gnadenlos in ihre empfindliche Haut. Sie stöhnt vor Schmerz und kann ihren Sturz in allerletzter Sekunde verhindern. Der Stoff des kurzen Rockes ächzt und reibt unangenehm über die geschundene Haut ihres Hinterteils. Es treibt ihr fast die Tränen ins Gesicht. Noch immer spürt sie die harten Schläge, die ihr der Kunde heute verpasst hatte. Er war böse, weil sie diesmal einen so unzüchtig kurzen Rock getragen hatte. Er musste sie dafür bestrafen. Zuerst mit der Hand. Er legte sie einfach übers Knie, versohlte ihr den Arsch und besorgte es ihr später mit der Gerte. Sie flehte und schrie, doch er blieb unerbittlich. Gab ihr die volle Anzahl, die er ihr angedroht hatte. Und zusätzlich eine Extraportion für ihr ständiges Gejammere. Das gehörte alles zum Spiel und sie wusste es. Er hatte sie extra darum Gebeten und sämtliche Details haarklein im Voraus mit ihr vereinbart, sogar die Anzahl der Extraschläge. Es war nicht ungewöhnlich, dass Kunden ihr genau auftrugen, wie sie sich zu kleiden hatte und was sie von ihr erwarteten. Sie wurde fürstlich entlohnt, zumindest für ihre Verhältnisse als angehende Studentin mit chronischem Geldmangel.

Ihr Herz rast noch immer, als die Schmerzen in ihrem Fuß und der Hand allmählich wieder nachlassen. Nur das Brennen auf ihrem Hinterteil bleibt. Sie muss neue Salbe kaufen und Schmerztabletten. Sie zögert und traut sich nicht, nach ihrem Schuh zu sehen. Es sind echte Tibur Vernis, Peep Toes aus schwarzem Lackleder und roten Sohlen mit 10 cm hohen Stiletto-Absätzen. Ein zeitloses Model von Louboutin. Scheiß teuer. Für einen Augenblick vergisst sie sogar ihre Angst. Zu blöd. Warum hat sie sich kein zweites Paar Turnschuhe für den Nachhauseweg eingepackt?

Nur wenige Sekunden später hört sie das leise Knacken hinter sich und zuckt erschrocken zusammen. Es ist nicht das erste Mal. Ihr Puls pocht laut in den Ohren. Sie muss sich beherrschen nicht einfach loszurennen. Aber wie denn, mit diesem Rock und den Schuhen? Ängstlich verharrt sie und vergewissert sich mit einem raschen Blick über die Schulter, ob ihr tatsächlich jemand folgt. Bereits seit ihrem Aufbruch vom Appartement hat sie das unbestimmte Gefühl. Sie zählt sich nicht unbedingt zu den furchtsamen Frauen, läuft den Weg heute auch nicht zum ersten Mal.

Doch in dieser Nacht scheint alles anders zu sein. Dunkler, unheimlicher, die Geräusche lauter und die Schatten länger und undurchdringlicher, als wollen sie nach ihr greifen. Ihre Schwärze nach ihr ausstrecken.

Die Straßenlaterne über ihr blinkt und flackert. Sie ist defekt, schon seit Monaten. Eine der alten langen Neonröhren, die nur für Licht oben an der Lampe sorgen aber kaum den Boden erhellen. Sie tritt vom Gehweg auf die Straße. Hier würden keine weiteren Treppenabsätze lauern. Sie macht nur wenige Schritte, bis sie mit den dünnen Absätzen ihrer Pumps zwischen dem Kopfsteinpflaster stecken bleibt, sich den Knöchel verdreht und erneut ins Straucheln gerät. Nur mit Gewalt und unter Schmerzen kann sie ihren Fuß aus dem engen Spalt befreien und büßt dabei den kleinen Hartgummi-Absatz ein. «So eine verdammte Scheiße», entfährt es ihr, als sie hinkend mit eiligen Schritten die Fahrbahn überquert und auf dem schmalen Gehweg der linken Seite den Schaden begutachtet. Sie schiebt den Rock ein Stück nach oben und geht in die Hocke, massiert sich den schmerzenden Knöchel und beäugt ihren lädierten Pumps. Der Lack hat gelitten, fühlt sich unter ihren Fingern rau an. Zum Glück hat sie wenigstens Ersatzabsätze zu Hause, sonst wäre der Schuh endgültig ruiniert.

Sie läuft vorsichtig weiter. Hier herrscht noch größere Dunkelheit. Das spärliche Licht der Straßenlampen von gegenüber reicht nicht bis hierher. Sie erkennt kaum die unebenen Pflastersteine, die vor ihr liegen. Hohe, verwitterte Sandsteinmauern säumen die Gasse. Nur schmale Türen durchbrechen die Mauerfront, über die die Äste von Bäumen und Sträuchern bis auf den Gehweg ragen. Die Eingänge führen alle zu Gärten von Häusern, die zurückversetzt stehen. Hier auf dieser Seite ist es noch gruseliger, die Schatten noch dunkler, noch länger und die Gasse scheint heute kein Ende zu nehmen. Ein kühler Windstoß lässt sie erschaudern.

Plötzlich knackt es laut neben ihrem Kopf. Sie duckt sich erschrocken und blinzelt reflexartig. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie die Augen weit aufreißt. Für einen Moment verharrt sie bewegungslos und lauscht. Doch sie hört nur ihren eigenen Herzschlag. Kein Laut, kein Geräusch. Ganz in der Ferne vernimmt sie die Sirene eines Polizeiautos. Sie fröstelt noch mehr und kuschelt sich in die dünne Strickjacke. Trotz des angenehm warmen, sonnigen Herbsttages zieht jetzt, mitten in der Nacht, Nebel auf. Der Fluss, der nicht weit entfernt liegt, liefert die nötige Feuchtigkeit. Kein erneutes Geräusch. Niemand, der sie verfolgt. Sie bildet sich alles nur ein, beruhigt sie sich selbst.

Zögerlich setzt sie den Weg fort. Das Klacken der Absätze, reflektiert von der hohen Mauer, hallt viel deutlicher als sonst in den Ohren. Klick, klack, klick, klack. Der rechte Schuh klingt dumpfer als ihr linker, weil der Gummiabsatz fehlt. Kichern steigt in ihr hoch, hysterisch. Ihre Nerven sind bis aufs Äußerste angespannt. Das Kichern fühlt sich so gut an, nimmt ihr den Druck und die Last der Anspannung. Es knackt erneut, lauter und diesmal genau über ihr. Sie stößt einen spitzen Schrei aus, reißt den Kopf nach hinten, sodass ihre Halswirbel knacken, als sie zwei große gelbe Augen anstarren. Sie sieht schemenhaft etwas Dünnes, Weißes zwischen den Ästen über sich auftauchen, ganz nahe vor ihrem Gesicht, doch sie ist unfähig, sich zu bewegen. Es folgt ein leises «Miau». Die Katze springt mit einem eleganten Satz von der Mauer und landet direkt vor ihren Füßen auf dem Gehweg. Rasch überquert das schwarz-weiß getigerte Fellknäuel die schmale Straße und verschwindet durch die Katzenklappe einer Haustür. Erstarrt vor Angst weiß sie zunächst nicht, wie ihr geschieht. Ihre Lungen brennen, weil sie vergessen hat, zu atmen. Mit leisem Zischen entweicht der Atem durch die zusammengebissenen Zähne. Sie genießt den ersten tiefen Atemzug mit frischer, kühler Luft.

Eine Katze. Ihr Verfolger ist nur eine Katze. Vermutlich schon die ganze Zeit. Katzen mögen sie, seitdem sie ein kleines Kind war. Warum hat sie nicht gleich daran gedacht? An das Einfachste? Ihr ist zum Heulen zumute, sie entscheidet sich jedoch für Lachen. Wie kann sie nur so ängstlich und dumm sein? Wer soll sie verfolgen? Warum auch? Ihr fällt sofort ein triftiger Grund ein. Besonders heute würde sie ein lohnendes Opfer für einen Dieb abgeben. Das Geldbündel in ihrer Tasche fühlt sich mit einem Mal schwer wie Blei an. Verängstigt packt sie den Griff der Handtasche fester und hält sie schützend vor die Brust. Sie hat doch Pfefferspray und ist im Stande, sich zu wehren. Außerdem wird sie gleich diese elend dunkle Gasse verlassen und in die breitere, heller beleuchtete Gartenstraße einbiegen.

Sie stöhnt gequält, als sie wallende Nebelschwaden vor sich bemerkt. Immer rascher und dichter ziehen sie, vom Wind getrieben, durch einen engen Fußweg vom Fluss hoch und trüben die Sicht. Sie kennt diesen schmalen Weg, lief ihn bereits vor langer Zeit. Einmal und nie wieder. Damals kam ihr ein Mann mit einem Hund entgegen. Es gab keine Möglichkeit, aneinander vorbei zu kommen. Sie rettete sich in den niedrigen Durchgang zu einem der Gärten. Doch der war mit einer Tür verschlossen und verwehrte ihr eine Flucht. Mit Dornen verzierte, schmiedeeiserne Stäbe drückten ihr schmerzhaft in den Rücken, als sie ängstlich wartend die Luft anhielt. Sie erinnert sich noch jetzt an den übel riechenden Atem des Hundes. Irgend eine Dogge oder ein Dobermann. Mit Tieren kennt sie sich nicht aus. Aber er erschien ihr schwarz und riesengroß. Sie hat Angst vor Hunden. Und dann dieses feiste Lachen des Mannes, der ihn an der kurzen Leine an ihr vorbei führte. Kahl rasierter Schädel, ein auffälliges Tattoo am Hals, dunkle Fliegerjacke und klobige Springerstiefel. Warum sind es immer die gleichen Typen, die solche Tiere besitzen?

Doch heute Nacht drängt nur dichter grauer Nebel aus dem Fußweg, kein furchteinflößender schwarzer Hund und auch kein unheimlicher Mann. Nebel, es ist nur Nebel, versucht sie, sich zu beruhigen. Noch wenige Schritte trennen sie von der Einmündung. Soll sie sofort hier die Straßenseite wechseln? Sie muss sowieso später rechts in die Gartenstraße abbiegen. Ihr Blick fällt auf das unebene Kopfsteinpflaster neben ihren Füßen. Weiter vorne entdeckt sie einen Streifen asphaltierter Straße. Vermutlich von Kanalarbeiten.

Klick, klack, klick klack. Sie weiß nicht, was lauter pocht, ihr Herz oder die Absätze. Verdammt, warum hat sie kein Taxi angehalten, oben an der Hauptstraße. Oder an der Bushaltestelle, wo immer Wagen warten. Aber nein. Sparen, sparen, sparen, ständig nur dieses blöde Geld. Nur nichts verschwenden. Das hat sie nun davon. Ihr rechter Schuh ist vielleicht nicht mehr zu gebrauchen. Ein teurer Spaß, stolze 485 € kostete sie das Paar. Zu Hause wird sie ihn genauer begutachten.

Klick, klack, klick klack. Sie wagt nicht, den Kopf zu drehen, um in dieses finstere Loch zu blicken, das doch nur ein Fußweg ist. Panik überwältigt ihren Verstand. Ihre Finger umklammern den Griff der Handtasche so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Am liebsten würde sie jetzt einfach losrennen. Nur ein paar schnelle Schritte würden genügen, dann wäre sie vorbei. Aber der enge Rock behindert sie. Ihr lädierter Fuß spielt nicht länger mit, quittiert plötzlich den Dienst. Der Knöchel knickt um, ohne Vorwarnung. Sie stürzt dem Bordstein entgegen. Ihr bleibt keine Chance, den Sturz abzufangen. Sie hört ihr Handgelenk laut Knacken, bevor ein grässlich stechender Schmerz den Arm hochjagt. Es raubt ihr den Atem, als sie auch noch mit der Schulter auf der Kante des Bordsteins aufschlägt. Ihr eigener, gepresster Schrei schmerzt in den Ohren, treibt ihr Tränen in die Augen, bevor etwas ihr langes Haar packt und den Kopf herum reißt. Eine große Hand in einem schwarzen Handschuh und dunkle Beine, das letzte, was sie sieht, bevor es noch einmal knackt. Diesmal ist es das Genick. Danach herrscht nur noch Leere.

Sie spürt nicht mehr, wie der Schädel hart auf den Gehweg prallt, als der schwarze Handschuh ihre Haare wieder freigibt. Heißes Blut ergießt sich aus einer Platzwunde an der Schläfe auf das Pflaster. Es ist nur eine geringe Menge, denn schon wenige Sekunden später bleibt das Herz stehen. Luft entweicht ihren Lungen, die Blase entleert sich und der Urin bildet einen schnell größer werdenden Fleck zwischen den Beinen. Die hübschen braunen Augen starren tot und gebrochen in den dunklen Himmel. Sie hätte ihren Mörder gesehen, ihn vermutlich sogar erkannt.

 

Sein Werk ist noch nicht vollendet. Die nächsten Schritte sind immer die gefährlichsten. Er muss rasch handeln, darf trotzdem keine Spuren hinterlassen. Das Messer ist schmal und sehr scharf. Sammler kennen das traditionelle französische Taschenmesser als Laguiole.

Mit flinken Bewegungen zerschneidet er die Bluse und den BH, darauf bedacht, nichts vom Textil abzutrennen. Nun liegt sie mit entblößtem Oberkörper vor ihm. Für einen Moment starrt er auf die zarten Brüste, die unnatürlich bleich und hell im spärlichen Licht der Straßenlampe zu leuchten scheinen.

Er vergeudet kostbare Sekunden. Zeit, in der er Gefahr läuft, entdeckt zu werden. Noch immer strömt das Adrenalin durch seine Adern. Er keucht, als hätte er gerade einen Spurt hinter sich gebracht. Dabei waren es nur wenige Schritte und ein beherzter Griff in die haselnussbraunen Haare. Alles verlief heute viel einfacher als gedacht. Erregung steigt in ihm hoch, als er das zarte Fleisch der Brüste verstümmelt und sein Zeichen hinterlässt. Das Blut rauscht in den Ohren. Die Schläfen pochen, als er die sorgfältig abgetrennten Warzenhöfe in eine kleine Plastiktüte packt. Nur vereinzelte Blutstropfen sickern aus den klaffenden Wunden an den Brüsten der jungen Frau. Er bedeckt die Stellen mit großen Baumwolltupfern, die er griffbereit aus der Manteltasche zieht.

Warum es hier tun und nicht an einem sicheren Ort? Das hat er sich schon oft gefragt. Alles kostet Zeit. Doch diese Bilder in seinem Kopf verfolgen ihn seit damals, zwingen ihn, so zu handeln. Er kann nicht anders. Sein Stöhnen hallt laut von der Mauer, als er das Werk betrachtet. Er wirft einen gehetzten Blick in alle Richtungen entlang der Straße. Kein Mensch weit und breit zu sehen. Sämtliche Fenster der Häuser sind dunkel. Nicht sehr verwunderlich um 3:00 Uhr morgens. Trotzdem sind selbst zu dieser Zeit Menschen unterwegs. Nur einer davon genügt, wenn es derjenige ist, der ihn entdeckt.

Den Leichensack aus dünnem, reißfesten, schwarzen Kunststoff entnimmt er dem Rucksack, ebenso einen kleinen Kanister mit chlorhaltiger Bleiche. Dumm, dass sie so unglücklich gefallen ist und einen Blutfleck auf dem Pflaster hinterlassen hat. Das Bleichmittel wird jedoch alle DNA-Spuren beseitigen, die des Urins und Blutes und auch seine. Andächtig bettet er die Tote auf den Kunststoff, zieht langsam den Reißverschluss nach oben, streicht eine verirrte Strähne ihres langen Haares vorsichtig in den Sack, bevor er ihn mit einem Seufzen endgültig schließt. Genau solches Haar hat er gesucht. Sehr lange sogar. Haselnussbraun und sanft gewellt, dass bis zur Hüfte reicht. Es fällt ihm nie leicht, es zu tun, auch diesmal nicht. Aber es muss getan werden. Es fehlt nicht mehr viel und sein Werk ist vollendet.

Die junge Frau über der Schulter spürt er kaum. Das Adrenalin im Blut gibt ihm die nötige Kraft. Fast lautlos verschwindet er auf den Gummisohlen in der Dunkelheit des schmalen Fußweges. Dort wo er auf sie gewartet hat, geduldig, eiskalt. Der Nebel umhüllt seine Gestalt, schluckt schon nach wenigen Augenblicken das leise Ächzen, als er sich mit raschen Schritten entfernt.

Dieses Mal hätte es sich für ihn sogar finanziell gelohnt. In der Handtasche, die er ihren toten Händen entrissen hat, findet er später 1.400 € in großen Scheinen. Doch Geld interessiert ihn nicht. Schließlich ist er kein Dieb.

Alltägliches

Ahh! Lärm! Der Wecker schreit mit voller Lautstärke typische Aussieklänge und lässt mir fast den Kopf zerplatzen. Ich erkenne die Stimme von Brian Johnson sofort, ebenso den AC/DC-Song ‹Ballbreaker›. Unwillig knurre ich in das Kopfkissen. Das grelle Licht quält mich, als ich träge ein Lid öffne, aber nicht mehr als ein Blinzeln zustande bringe. Die gleißende Sonne schickt noch weitere schmerzvolle Blitze in mein Gehirn. Ich versuche es blind und taste unbeholfen nach dem Wecker. Endlich finde ich die große Stummtaste und plötzliche Stille umfängt mich. So gerne ich diesen Radiosender auch höre, besonders weil ich dort rund um die Uhr anständige Rockmusik geboten bekomme, so sehr verfluche ich ihn an solchen Tagen. Verdammt, warum bin ich eigentlich auf die blöde Idee gekommen, mich kurz vor 8:00 Uhr wecken zu lassen? Gestern war es spät geworden, sehr spät. Genaugenommen war es schon heute.

Aber ich muss mich an die eigene Nase fassen und finde keinen anderen Schuldigen, als mich selbst. Gernot hatte mir bereits um Mitternacht angeboten, die Segel zu streichen und nach Hause zu gehen. Aber das Lokal war noch gut besucht und ein rascher Blick in die Runde offenbarte mir so manch lukratives Opfer für ein saftiges Trinkgeld. Ich bin immer wieder erstaunt, was ein etwas freizügigeres Dekolleté, ein bauchfreies Tank-Top oder knappe Hotpants so alles bewirken können.

Anfangs spielte ich sogar mit dem Gedanken, mit sexy Netzstrümpfen und High Heels eins drauf zu setzen. Gernot riet mir strikt davon ab. Ich sehe noch heute sein mitleidiges Lächeln vor mir.

«Beschwere dich aber nicht bei mir, wenn dir einer der Typen an den Allerwertesten fasst. Außerdem garantiere ich dir nach einem halben Tag so deftige Blasen an den Füßen, dass du die nächste Zeit nur humpeln wirst.»

Ich setzte damals zu einer Erwiderung an, alleine aus Prinzip, weil ich einfach gerne das letzte Wort habe. Als ich jedoch den fürsorglichen Unterton in seiner Stimme vernahm, begnügte ich mich mit einem kurzen, wortlosen Nicken.

 

Gestern zuckte er nur mit den Schultern, als ich ihm mitteilte zu bleiben und mich ans Abtrocknen der Gläser machte. Ich werde nach Stunden bezahlt und bekomme obendrein Provision für Getränkeverkäufe, wenn ich die Gäste dazu überreden kann, Spirituosen, Wein oder gar Sekt zu bestellen. Das Trinkgeld darf ich ebenfalls behalten. Gernot stellt damit im ansonsten ziemlich frustrierenden Geschäft der Gastronomie eine Ausnahme dar. Ich brauchte ein halbes Dutzend an Fehlversuchen und mehrere Jahre, bis ich schließlich auf ihn traf und er mir eine Stelle anbot.

Eigentlich war der Anlass recht traurig, denn seine langjährige Freundin hatte ihn von heute auf morgen verlassen und war mit einem der Stammgäste nach Mallorca abgehauen. Über Nacht packte sie ihre Koffer, nahm es nicht so genau mit meins und seins und hinterließ ihm nicht nur eine halb leere Wohnung, sondern auch ein bis auf magere 500 € geplündertes Bankkonto. Sämtliche Ersparnisse bis auf einige Wertpapiere und Pfandbriefe waren futsch. Unwiederbringlich.

Gernot war damals verzweifelt und stand kurz davor, alles hinzuschmeißen und die Kneipe zu schließen. Seine Kneipe, sein Lebenswerk. Als ich ihn fragte, warum er keine gefälligere Bezeichnung verwenden würde: Bistro, Restaurant, Gasthaus, lachte er nur und meinte, Kneipe wäre genau richtig. Gemütlich, klein, einfach und irgendwie gesellig. Ich ließ mir seine Erklärung durch den Kopf gehen und begriff die Logik dahinter.

Bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht sicher, ob uns der Zufall oder das Schicksal zusammen führte. Und bis heute weiß ich nicht, ob ich seine Freundin für ihren Verrat hassen, oder ihr dankbar sein soll, dass sie mir unwillentlich zu dieser Chance verholfen hatte.

 

Das Pochen im Kopf lässt allmählich nach. Trotzdem schreit alles in mir nach einer Schmerztablette und einer schönen heißen Dusche. Bilder von gestern Abend erscheinen vor meinem inneren Auge. Ich hatte Recht behalten, konnte zwei jüngeren Kerlen noch ein paar Runden Hochprozentiges aufschwatzen und musste ihnen später ein Taxi holen. Das Trinkgeld war mehr als fürstlich.

Einen älteren Herren, den ich in den letzten Wochen öfter bei uns gesehen habe und der meist einen der Tische abseits der Theke wählte, beglückte ich wieder in gewohnter Weise mit etwas Small Talk. Obwohl er dabei jedes Mal einen glücklichen Eindruck machte, wenn ich mit ihm über so banale Sachen wie das Wetter, Fußball oder irgendwelche Veranstaltungen sprach, musste ich mir eingestehen, so gut wie nichts von ihm zu wissen. Nicht einmal wie er hieß, wo er wohnte oder was ihm bei uns so gut gefiel. Und das mir. Pah, private Ermittlerin will ich sein und schaffe es nicht, einem älteren Herren den Namen zu entlocken. Zumindest für sein Trinkgeld bin ich dankbar und biete ihm meist auch noch einen etwas tieferen Einblick in meinen Ausschnitt, den er mit gierigen Blicken sichtlich genießt.

Was mich so lange aushalten ließ, war allerdings ein anderer Gast. Jemand, den ich zum ersten Mal in der Kneipe sah und der mir von Anfang an sympathisch wirkte. Er kam gegen 23:00 Uhr, setzte sich direkt rechts außen an den Bar-Tresen und bestellte sich einen Cocktail, einen Mai Tai. Nicht gerade der häufigste Cocktail, den die männliche Kundschaft bei uns verlangt. Vielleicht hat er deshalb meine Neugierde geweckt. Als er relativ kurz darauf einen Zweiten orderte, kamen wir ins Gespräch. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig und mir gefiel sein gepflegtes Äußeres. Dunkle, krause Haare rahmten ein markantes, glattrasiertes Gesicht mit dominantem Kinn und einem breit lächelnden Mund ein. Seine Augen strahlten rehbraun, wirkten jedoch auch irgendwie traurig.

Als er mir eröffnete, dass seine Scheidung schon einige Jahre hinter ihm lag und die Trennung damals alles andere als einvernehmlich verlaufen war, erfuhr ich sicherlich einen der Gründe dafür. Je länger wir uns unterhielten, es ihn nicht im Geringsten störte, dass ich dabei weiterhin Gläser spülte und abtrocknete, desto mehr gefiel er mir. Er sei Rektor am hiesigen Wilhelm-Löhe-Gymnasium und half manchmal sogar als Dozent in Chemie an der technischen Fakultät der Uni aus. Dies sei das Einzige gewesen, dass ihm damals geholfen hätte, aus seinem emotionalen Loch zu entkommen. Als er meinte, mich heute zum ersten Mal zu sehen, war klar, dass er die Kneipe häufiger besuchte, ich ihn bisher nur immer verpasst hatte. Ich eröffnete ihm, dass ich nur an einigen Tagen Teilzeit arbeiten würde und es nicht meine Hauptbeschäftigung sei. Er fragte nicht nach und ich war ihm sehr dankbar dafür. ‹Private Ermittlerin› bekamen manche Männer rasch in den falschen Hals und ließen mich fallen, bevor sie überhaupt wussten, wie ich hieß. Eine schmerzvolle Erfahrung, die mich lehrte, an dieser Stelle etwas besonnener zu agieren.

Ich sehe noch heute die entsetzten und erstarrten Gesichter der Mannsbilder vor mir, denen mein Hauptberuf kein bisschen behagte. Im Nachhinein bin ich froh darüber, so schnell die Spreu vom Weizen getrennt zu haben. Überwiegend waren es verheiratete Typen, die mit einem kleinen Seitensprung die Absicht hegten, ihr trauriges Liebesleben zu bereichern. Da musste mir der Kerl schon ausgesprochen gut gefallen, dass ich mich als Lückenbüßer herabließ, wenn auch nie mehr als zu einem One-Night-Stand. Wollte ich eine längere Beziehung, blieb mir nichts anderes übrig, als irgendwann mit der Wahrheit heraus rücken. Nur einer hielt mir einige Zeit die Treue und wir schafften ein knappes Jahr, bis sich unsere Wege wieder trennten. Seitdem sind wir weiterhin nur gute Freunde, Walter und ich. Ein Arrangement, das anfangs ziemlich verwirrend für uns beide war, besonders was den Sex betraf.

Ich hatte keinen Mann zuvor erlebt, mit dem ich mich beim Sex so wohl und befriedigt gefühlt habe, wie mit ihm. Und es beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich bekomme noch jetzt Gänsehaut am ganzen Körper, wenn ich mir überlege, wo wir es überall miteinander getrieben haben. Manchmal kam ich mir bei unserem Zusammensein wie eine läufige Hündin vor, die an nichts anderes denken konnte. Letztlich gehört jedoch etwas mehr zu einer funktionierenden Beziehung, als guter Sex. Nein, nicht einmal hervorragender, überwältigender Sex genügte auf Dauer.

So sehr wir in dieser Weise harmonierten, so deutlich unterschieden wir uns auf anderen Gebieten. Wir waren beide nicht häuslich, was häufig in kleineren Wortgefechten mündete, weil wieder irgendetwas fehlte, und sei es nur das Toilettenpapier. Wer war schuld daran? Wer hätte es besorgen müssen? Mich mit solchen banalen Schuldzuweisungen und Fragen herumzuschlagen, machte mich rasend. Er schaffte es, über solche Dinge stundenlang mit mir zu streiten. Doch es war nicht nur das Toilettenpapier, sondern alle möglichen Kleinigkeiten, über die wir stritten. Manchmal wusste ich kurze Zeit später nicht mehr den Grund, warum wir uns in die Haare gekommen waren. Ich brauchte dann erst einmal für einige Stunden Abstand, schwang mich aufs Fahrrad oder ging unten am Fluss joggen. Nur raus aus der Wohnung und weg von ihm.

Letztendlich überforderte ich Walter allerdings mit meinem ungezügelten Drang nach Selbstständigkeit. Da bin ich mir inzwischen ziemlich sicher. Ich hasse es, von jemandem abhängig zu sein, vor allem in finanzieller Hinsicht. Eigentlich meinte er es nur gut mit mir. Als Inhaber einer Sicherheitsfirma verdiente er recht gut. Fraglos bekam er im Job viel von der Gewalt mit, die mittlerweile in der Gesellschaft herrschte und vertrat deshalb die Meinung, eine Frau hätte darin nichts zu suchen. Sie käme in dieser Welt früher oder später unweigerlich unter die Räder. Ermittler und weiblich schlossen sich für ihn einfach aus, ohne staatlichen Schutz, wie bei Polizei oder Militär. Ich war wie vom Donner gerührt, als er mir dies alles bei einem unserer hitzigen Gespräche um die Ohren schlug. Wie konnte er sich nur erdreisten, mir den Job madig zu reden? An diesem Abend verließ ich wortlos unsere Wohnung und schlief bei einer Freundin. Ganze zwei Tage hielt ich es durch, kein Wort mit ihm zu wechseln. Als ich mir dann aber bei einem Feuergefecht mit einem Verbrecher einen Streifschuss und jede Menge Blessuren eingehandelt hatte, kam es zum Bruch. Eigentlich war unsere Beziehung nach meinem Empfinden bereits kurz zuvor beendet. Doch mir fehlte einfach der Mut, es ihm zu sagen. Wir schafften es, uns ohne großen Streit zu trennen, was ich Walter hoch anrechne. Ich lag damals kurz im Krankenhaus und fand nach der Entlassung vorübergehend Unterschlupf bei einer Freundin.

Das ist jetzt schon wieder eine gefühlte Ewigkeit her. Für uns war eine Trennung eindeutig das Beste. Er konnte mir nicht mehr ständig seine Angst um mein Wohlbefinden unter die Nase reiben. Und ich brauchte mich nicht länger für jede riskantere Aktion zu rechtfertigen. Trotzdem sind wir weiterhin Freunde und ich weiß, dass er sich noch immer Sorgen um mich macht. Doch wir haben gelernt, auf einer professionellen Ebene miteinander zu sprechen, und ich bin ihm dafür sehr dankbar. Ich kann mich auf ihn verlassen, wenn ich Hilfe benötige, und er erspart mir die früheren Standpauken. Dass er sich gelegentlich in Naturalien entlohnen lässt, kommt mir nicht ganz ungelegen. In dieser Hinsicht verstehen wir uns nach wie vor blendend.

Allmählich wird es jedoch Zeit, dass ich beginne mich nach etwas Ernsthaftem umzusehen. Ich habe das Gefühl, dass mit Anfang 40 die Chancen zusehends schwinden, einen vernünftigen Kerl zu finden. Meine letzten Erfahrungen waren alles andere als berauschend. Auch was mir Freundinnen so erzählten, baute mich nicht wirklich auf. Entweder traf ich auf vorgeschädigte Männer, die nach ihrer Scheidung für einen Schwarm Kinder sorgen mussten und kein weiteres Thema kannten. Oder ich geriet an Kotzbrocken, die einfach keine Frau vor mir haben wollte. Warum sollte dann ausgerechnet ich diejenige sein? Nein. Für mich zählt nur eins. Ich muss auf diesem spärlichen Markt denjenigen finden, der mir die geringsten Kompromisse abverlangt. Einen neuen ‹Walter› brauche ich nicht. Leichter gesagt, als getan.

Bei Hans-Peter hatte ich ein gutes Gefühl. Er machte auf mich den Eindruck, die Schrecken seiner Trennung überwunden zu haben, wenngleich einige kleine Wunden übrig geblieben sind. Doch die können heilen und ich würde ihm liebend gerne dabei helfen.

 

Als ich den Tisch des alten Herren abräumte und sauber wischte, wagte ich einen unauffälligen Blick über die Schulter und musterte Hans-Peters Rückansicht. Zum Glück bin ich mit einer schnellen, selektiven Wahrnehmung gesegnet, was mir nicht nur als Ermittlerin zugutekommt. Ich konnte mir ein ziemlich genaues Bild davon machen, wie er stehend und liegend aussehen würde, sogar unbekleidet. Sein Blazer passte wie angegossen, brachte die breiten Schultern gut zur Geltung, die so gar nicht an einen akademisch verklärten Rektor eines Gymnasiums erinnern wollten. Die schwarzen Jeans wirkten schon fast verwegen, doch zeigten sie mir auch eine ansprechende Ansicht des Gesäßes. Endlich einmal ein Mann mit genügend Arsch in der Hose, seufzte ich insgeheim und beendete die Kurzvisite. Er schenkte mir ein freundliches und offenes Lächeln, als ich zurückkehrte.

«Ich halte Sie hoffentlich nicht davon ab, zu schließen?»

«Nein, nein, keineswegs», grinste ich zurück. «Unser Chef hat regulär bis 3:00 Uhr geöffnet. Bis dahin kann ich Ihnen noch ein halbes Dutzend Mai Tais mixen.»

 

Um 1:42 Uhr verließ ein weiterer Stammgast das Lokal, verabschiedete sich mit etwas schwerer Zunge und gab mir stolze 8 € Trinkgeld. Ich bedankte mich höflich und öffnete ihm die Tür. Er wohnte nur fünf Häuser entfernt, weshalb ich mir keine Sorgen wegen des Nachhausewegs machte. Gernot streckte den Kopf aus der Küche, als er die Tür hörte und wirkte erleichtert, dass es sich um keinen neuen Gast handelte. Ich winkte ihm zu und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass ich heute für ihn abschließen würde. Ich bemerkte das dankbare Lächeln in seinem erschöpft wirkenden Gesicht. Gernot brauchte die Ruhe dringender als ich.

Mit einem Mal waren wir alleine, Hans-Peter und ich. Im Radio spielte schon längst das Nachtprogramm und ich freute mich einmal mehr, Gernot überzeugt zu haben, den gleichen Rocksender in der Kneipe zu spielen, den ich so gerne hörte. Unseren Kunden schien es zu gefallen, was Gernot anfangs sehr verwundert hatte.

Gerade kamen Rock-Balladen. Ich summte leise zu dem Lied ‹When you came into my Life› von The Scorpions, als ich das letzte Weizen-Glas vom Abtropfbrett mit dem Geschirrtuch trocknete und ins oberste Regal stellte. Ich musste mich strecken, trotz meiner 1,78 m, doch ich wusste auch um die Reize meiner Rückansicht. Ohne es zu sehen, spürte ich Hans-Peters Blicke meinen schlanken Körper entlang gleiten. Sicherlich würden sie etwas länger auf dem Po und den langen Beinen verweilen, Attribute, die ich meiner Mutter verdanke.

Sein hastiger Griff nach dem Glas und die aufgesetzte Unschuldsmiene bestätigte meine Vermutung, als ich mich wieder zu ihm umdrehte und ihm ein wissendes Lächeln schenkte. Ich fühlte ein verräterisches Kribbeln zwischen den Beinen, als ich ihn genauer betrachtete und die unterschwellige maskuline Art auf mich wirken ließ. Dabei wurde mir schlagartig bewusst, dass mein letztes Mal schon mehrere Wochen zurücklag. Ein heißer One-Night-Stand mit einem Gast auf der Durchreise. Also keine Gefahr für peinliche Szenen hinterher.

Ob Gernot ahnte, dass ich durchaus gerne hier arbeitete, um mir Gesellschaft für zwischendurch zu angeln, weiß ich bis heute nicht. Wenn ja, lässt er sich nichts anmerken. Dass zwischen uns beiden nichts laufen würde, klärten wir bereits frühzeitig. Ich wusste, dass er füllige Blondinen mit großen Brüsten, breitem Gesäß und langen Haaren bevorzugte. Ich entsprach mit der schlanken Erscheinung, den dunklen, schulterlangen Haaren und der mittelmäßigen Bestückung so gar nicht seinem Beuteschema, was jedoch auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem fanden wir uns sympathisch und vertrauten einander.

Es ging sogar so weit, dass er Probleme ausschließlich mit mir und nie mit meinen Kolleginnen besprach. Etwas, das mich durchaus stolz machte, auch wenn es mir bei den Kolleginnen kaum Pluspunkte einbrachte und jedes Mal spürbar den Neidfaktor erhöhte. Doch damit konnte ich gut leben.

Hans-Peter befand sich mittlerweile in bester Plauderlaune, erzählte mir einige amüsante Geschichten aus der Schule und schwelgte in alten Urlaubserinnerungen mit seiner Frau und seiner Tochter. Diese hätte die Scheidung noch schlechter verkraftet, als seine Frau und er selbst. Eine Woche vor ihrem 18. Geburtstag packte Nicole heimlich ihre Koffer und war von heute auf morgen einfach spurlos verschwunden. Die Polizei bemühte sich, gab allerdings zu bedenken, dass sie inzwischen volljährig sei und das Recht hatte, zu tun, was sie wollte. Wie passend oder besser unpassend, dass in diesem Moment gerade Freddy Mercury Queens traurige Ballade ‹You Take My Breath away› trällerte. Ich musste fast heulen, als er mir mit stockender Stimme die Geschichte mit seiner Tochter erzählte.

Ich weiß nicht, was mich geritten hatte, nach seiner Hand zu greifen und sie zu drücken. Er hob den Blick, schenkte mir ein dankbares Lächeln und erwiderte den Druck. Sofort kehrten die wohligen Gefühle zurück, die in letzter Zeit nur der Massagestab mit meinem Lieblingsaufsatz in mir hervorrief. Vielleicht hegte er ähnliche Gefühle und war einfach noch nicht bereit, als er verschämt die Hand zurückzog und errötete.

Oh Gott, wie weit war es gekommen, dass ich es schaffte, Kerle zum Erröten zu bringen? Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass ich außerhalb seines Beuteschemas lag. Dazu konnte ich die Blicke von Männern inzwischen zu gut deuten. Krampfhaft überlegte ich, ob ich es wagen sollte, den ersten Schritt zu tun. Eine unverfängliche Frage nach einem Date, einem Essen oder Kino. Er hatte mir euphorisch von einigen Gruselfilmen berichtet, die kürzlich erst in den Kinos gelaufen waren. Ich bot ihm noch einen Cocktail an, doch er lehnte dankbar ab und warf einen raschen Blick auf die Uhr über dem Tresen. Die Entscheidung nahm er mir ab.

«Das wird mir zu spät. Aber ich würde mich gerne noch mal mit dir treffen, Elli.»

Ich brauchte einen Moment, mich zu realisieren, und hätte am liebsten die Faust gereckt, so wie der Sitcom-Star Al Bundy, wenn er sich über einen ‹Strike› beim Baseball gefreut hatte. Nach zwei tiefen Atemzügen hatte ich mich wieder im Griff.

«Na klar, gerne. Was schwebt dir vor?» Immerhin war ich bereits mit ihm per Du und wusste dafür noch immer nicht den Namen des älteren Herren.

Hans-Peter schien sich sichtlich zu freuen, als ich sein Angebot annahm.

«Das wollte ich gerade dich fragen.»

«Essen ist immer gut oder Kino», setzte ich nach und entlockte ihm ein strahlendes Lächeln.

«Wie wäre es mit beidem? Beginnen wir doch mit einem schönen Gruselfilm, anschließend gehen wir in ein Restaurant wohin du möchtest und dann …»

Er beendete den Satz nicht und brachte diesmal mich zum Erröten. Als er sich etwas schwerfällig vom Stuhl erhob, den er die ganze Zeit kein einziges Mal verlassen hatte, fingerte er eine Visitenkarte aus der Tasche des Blazers und streckte sie mir entgegen. Ich trat hinter dem Tresen hervor und nahm sie ihm aus der Hand.

Hans-Peter Bender, Rektor, Wilhelm-Löhe-Gymnasium, Schlossplatz 10, las ich im Laufen und lugte noch immer verschämt von unten über die Karte. Er war fast einen Kopf größer als ich, musste also knapp an der Zweimeter-Marke schrammen. Die Größe verblüffte mich, als er nun direkt vor mir stand. Auf seinem Barhocker wirkte er nicht so imposant. Er bemerkte den Blick und lachte.

«Mir fehlen genau zwei Zentimeter, wenn du das fragen willst, aber nicht dort, wo es wichtig ist.»

Damit trieb er mich erneut an die Schamgrenze. Als hätte er meine geheimsten Gedanken erraten. Vermutlich erlebte er solche erstaunten Reaktionen nicht das erste Mal und hatte gelernt, geschickt zu kontern. Ich begleitete ihn zur Tür.

«Die Privatnummer findest du auf der Rückseite. Aber über das Handy bin ich auch stets erreichbar. Wie wäre es nächstes Wochenende?»

«Ja gut, passt mir gut», entgegnete ich etwas hölzern und ärgerte mich über die wenig euphorisch klingende Antwort, obwohl mein Körper schon längst drei Schritte weiter dachte und mich mit einem lustvollen Kribbeln folterte.

Hans-Peter grinste und schien keinen Anstoß an der kurzen Äußerung zu nehmen. Ganz im Gegenteil leuchteten seine Augen und er drückte zärtlich meine Schulter, bevor er die Stufen vor der Kneipe nach unten lief und sich noch einmal umdrehte.

«Freitag um 19:00 Uhr?»

Ich nickte und lächelte etwas dümmlich, als er die Hand zum Gruß hob und sich mit einem «Bis Freitag dann», verabschiedete.

Ich schaute ihm einen Moment hinterher, bevor ich mich anschickte, zurück in die Kneipe zu gehen. Ich fröstelte in der spärlichen Kleidung und sah gegenüber vereinzelte graue Nebelschwaden über die Wiese ziehen. Alles Schönreden half nichts. Der Sommer war endgültig vorbei und wurde gnadenlos vom Herbst abgelöst. Rasch holte ich die Schlüssel und sperrte die Vordertür ab. Kurz vor 3:00 Uhr, die verbliebenen paar Minuten schenkte ich mir. Die letzten drei Stunden sind wie im Flug vergangen. Ich prüfte die Fenster, schaltete Geräte und das Licht aus und lief in den kleinen Aufenthaltsraum. Mit einem Blick auf dem Weg in die Küche vergewisserte ich mich, dass Gernot nichts vergessen hat. Nur gut, dass ich immer eine Jeans und einen Pullover zum Wechseln hier hatte, denn mit dem bisschen Stoff auf den Rippen hätte ich auf dem Fahrrad geschlottert, wie ein frisch gescherter Pudel am Nordpol. Ich musste grinsen bei dem Vergleich und konnte meine Freude auf die bevorstehende Verabredung mit Hans-Peter kaum zügeln.

Ich trat in die Pedale und schaffte den Weg in acht Minuten. Obwohl ich mich verschwitzt fühlte, kam duschen nicht mehr infrage. Ich erinnerte mich gerade noch daran, den Wecker auf kurz vor 8:00 Uhr zu stellen, bevor ich den BH auf den Wäschestapel warf und nur im Slip unter die Bettdecke schlüpfte.

 

Umso grausamer holt mich die Realität zurück, als ich im Badezimmerspiegel fassungslos auf die dunklen Augenringe und die fahle Haut starre.

«Du siehst beschissen aus, wie frisch aus der Tonne gezogen.»

Meine innere Stimme rät mir, schleunigst die Dusche aufzusuchen und danach weiter zu sehen.

«Du musst immer positiv denken, Eleonore, auch wenn du früh in den Spiegel schaust.»

Meine Schwester mag recht haben, hat aber auch deutlich triftigere Gründe so zu denken, als ich. Nicht dass ich mich besonders attraktiv finde, obwohl mir andere häufig das Gegenteil bescheinigen. Gott hatte damals wenig Feingefühl bewiesen, als er die Gene auf uns beide verteilte. Meine Schwester kommt eindeutig nach unserem Vater, leicht untersetzt, mit einer unvorteilhaften Birnenfigur ausgestattet, die ein Abnehmen an den heiklen Stellen schlichtweg unmöglich macht. Bei mir dominieren die Gene unserer Mutter, mit hohen Wangenknochen, weit auseinanderstehenden, mandelförmigen, blauen Augen und einer schmalen Nase. Rebecca hat hingegen den runden Kopf von Vater. Ihre Augen stehen ein bisschen zu eng, als dass es noch attraktiv aussieht, getrennt von einer kleinen Stupsnase und abgerundet mit einem breiten Mund und dünnen Lippen. Ich wiederum habe einen richtigen Kussmund mit vollen Lippen, wenn ich mir einmal die Zeit nehme, sie mit einem passenden Lippenstift zu betonen. Mehr als Lipgloss ist meist jedoch nicht drin.

Manchmal bedauere ich meine Schwester wegen ihres Äußeren, aber nur manchmal. Immerhin hat sie schnell einen geeigneten Deckel für ihren Topf gefunden und lebt in gut situierten Verhältnissen, wie man so schön sagt. Ihr Mann Holger besitzt eine gut laufende Versicherungsagentur und vereint damit gleich zwei Vorteile für Rebecca: wenig freie Zeit und jederzeit ausreichend Geld. Und sie genießt es, bei jeder Gelegenheit mir ihre ach so stressigen Aufgaben und Pflichten als Hausfrau und Mutter unter die Nase zu reiben. Nicht nur dafür hasse ich sie, sondern auch, dass sie die Einzige ist, abgesehen von meinem längst verstorbenen Großvater, die mich bei meinem vollen Vornamen nennt: Eleonore.

Ich revanchiere mich schon zeit meines Lebens damit, sie Rebecca zu rufen, doch sie scheint es nicht im Entferntesten zu stören. Was ihre Aufgaben und Pflichten als Mutter betreffen, bewundere ich jedes Mal ihre Ignoranz zu akzeptieren, dass ihre Tochter Lucy inzwischen volljährig ist, studiert und in einer hübschen WG mit zwei anderen Studentinnen lebt. Ein Posten weniger, um den sich meine Schwester kümmern muss.

Ich zügle den Zorn und drehe den Mischregler der Dusche auf kalt, bevor ich mich noch verbrühe. Langsam kreise ich mit kleinen Trippelschritten und geschlossenen Augen unter dem Strahl und bereue es nicht, mir damals diesen Luxus gegönnt zu haben. Eine richtig große Duschkabine mit Massagedüsen in den Wänden. Manchmal drehe ich mich minutenlang unter dem heißen Wasser und genieße die harten Strahlen auf der Haut. Nur gut, dass auch mein Massagestab wasserdicht ist.

Die Kopfschmerzen lassen allmählich nach. Die Tablette wird gleich den Rest erledigen. Mein verspannter Nacken fühlt sich deutlich besser an. Unbewusst streiche ich mit der Hand unter die linke Brust und spüre die Narbe, die der Streifschuss hinterlassen hat. Knapp, sehr knapp, haben die Ärzte befunden und ich muss ihnen beipflichten. Langsam aber sicher verblassen die Bilder von diesem ganz besonderen Tag, von den wenigen Sekunden, die mein Leben ein stückweit veränderten. Nur selten schrecke ich noch schweißgebadet mitten in der Nacht aus dem bestens bekannten Albtraum hoch, in dem ich die schrecklichen Szenen erneut durchlebe. Den Schmerz, die Schreie, das Inferno auf der Straße.

Ich drehe das Wasser ab und verfolge die Wassertropfen, die in dünnen Rinnsalen über die Haut den Weg nach unten suchen. Mit leisem Gurgeln verschwindet ein Schaumrest im Abfluss, bevor ich schweren Herzens die Glastür öffne und nach dem großen Badetuch fingere. Ich hätte es noch gut und gerne etwas länger ausgehalten. Aber die Vernunft, der dröhnende Kopf und vor allem der knurrende Magen überzeugen mich, das Wasserspiel bis auf Weiteres zu beenden. Nach Zähne putzen und ein paar raschen Versuchen, die Haare in Form zu bringen, fühle ich mich wieder wie ein Mensch. Ob ich sie schneiden lasse? Es wäre viel praktischer als schulterlang, überlege ich einen Moment und verwerfe den Gedanken sofort wieder. Zumindest ertrage ich mein Spiegelbild nun deutlich besser als zuvor.

Erst der Kopf, dann der Magen. Lediglich in Slip und BH schlüpfe ich in die Sandaletten, die mir im Sommer als Hausschuhe dienen. In der Küche löse ich eine Multi-Vitamin-Tablette in einem großen Glas Wasser auf und angle den Blister mit den Schmerztabletten aus der Verpackung, die ich neben allerlei anderen Mittelchen und Verbandsstoffen in der Erste-Hilfe-Schublade aufbewahre.

 

Toast mit Honig und ein Becher warmer Kakao. Ich brauche nach so einer kurzen Nacht unbedingt etwas Süßes, sonst kann ich mich gleich wieder ins Bett legen. Der Körper lechzt nach Kalorien und straft mich mit einer schlechten Futterverwertung. Ich wiege seit dem 25. Lebensjahr um die 65 kg und habe die letzten 16 Jahre kaum ein Kilo zugelegt. Okay, ich bin nicht der große Vielfraß, esse meist nur, wenn ich richtig Hunger habe, kann jedoch Schokolade nur schwer widerstehen. Zum Ausgleich halte ich mich fit, was schon der Beruf mit sich bringt. Rebecca hingegen braucht nur an etwas Essbarem zu riechen und hat bereits ein Kilo mehr auf den Hüften. Ein Umstand, den sie mir bei jeder Gelegenheit vorhält. Doch jegliche Versuche, mich zu verführen, mehr zu essen, blieben bisher erfolglos.

Lucy wiederum hat meine Figur und die herbe Schönheit ihrer Großmutter, wie ich. Früher glaubten viele Fremde, dass Lucy meine Tochter wäre, weil wir uns in vieler Hinsicht so ähnlichsahen. Ein weiterer Stachel im Fleisch meiner Schwester, die sich zu manch einem wutschnaubenden Kommentar hinreißen ließ, wenn sie ihre Rolle als perfekte Mutter durch mich bedroht sah.

Ich spüle die letzten Bissen des Toasts mit dem Rest Kakao hinunter und umschlinge fröstelnd die Knie. Eigentlich müsste ich es besser wissen. Der Sommer ist vorbei und der Vermieter wird die Heizung erst am Wochenende einschalten. Ich hätte mich anziehen sollen. Jetzt ist mir fast wieder nach einer heißen Dusche zumute. Ich stelle das Geschirr in die Spüle und husche ins Schlafzimmer. Es ist schon spät und mein Termin rückt in greifbare Nähe. Dies ist auch der Grund, warum ich mich überhaupt so zeitig habe wecken lassen. Es gibt noch ein paar Unstimmigkeiten bei der Steuererklärung und die will ich so schnell wie möglich geklärt haben. Als Selbstständige mit Zusatzjob sollte ich mir eigentlich einen Steuerberater gönnen, alleine wegen des Aufwands. Ich weiß nicht, wie oft ich mir das in den letzten Jahren bereits vorgenommen und immer wieder auf die lange Bank geschoben habe. Aber jedes Mal wenn ich kurz davor stand, mir ein Branchenbuch zu schnappen, und nach einem geeigneten Kandidaten zu suchen, herrschte Flaute im Büro und in meinem Geldbeutel, sodass ich den guten Vorsatz rasch verwarf. In Wirklichkeit müsste ich mir keine Gedanken machen. Ich konnte mir dank einer Klientin ein beachtliches Sümmchen zur Seite legen und gewinnbringend für sich selbst arbeiten lassen. Mit dem Geld, das ich verdiene, komme ich klar und Gernot würde mich liebend gerne auch Vollzeit beschäftigen. Insgeheim handelt er mich als Nachfolgerin und Erbin seiner Lebensaufgabe, was mich in gewisser Weise mit Stolz erfüllt. Schon öfter sprach er mit mir über seine Ideen für die Zukunft, wann er aussteigt und wem er gerne die Kneipe anvertrauen würde. Bisher ließ ich es offen, da ich seine Hoffnung nicht gänzlich zerstören wollte. Der Grund ist banal. Ich sehe mich einfach nicht als Wirtin hinter einem Tresen stehen und der Gunst der Gäste ausgesetzt. Es sind zwei paar Stiefel, in der Kneipe zu arbeiten oder sie zu besitzen. Obwohl ich die Selbstständigkeit sehr schätze, sehe ich bei Gernots Kneipe deutlich mehr Abhängigkeiten als Freiheiten.

Ich reiße mich mit Gewalt aus den Tagträumen und starre in den geöffneten Kleiderschrank. Nicht zu salopp aber auch nicht zu elegant. Ich entscheide mich für eine dunkle Jeans und eine helle Bluse. Dazu passen meine schwarzen Collegeschuhe mit dem flachen Absatz. Fehlt nur ein breiter Gürtel und ich bin zufrieden.

Jetzt wird es aber wirklich knapp. Rasch stopfe ich den Stapel Rechnungen aus dem Arbeitszimmer in eine große Tasche und überlege, ob ich nicht doch das Auto nehmen soll. Aber bis ich zur Garage laufe und dann in der Innenstadt einen Parkplatz suchen muss, bin ich mit dem Fahrrad schneller. Meine kleine Handtasche landet ebenfalls in der großen Tasche. Ich habe keine Lust, alles umzuräumen, und will auch keine zwei Trümmer auf dem Fahrrad transportieren. Ich bin schon dabei, die Tür ins Schloss ziehen, als mein Blick auf die beigefarbene Lederjacke an der Garderobe fällt. Es ist Herbst, ermahne ich mich und öffne noch einmal die Tür.

 

Die Luft riecht frisch und fühlt sich feucht an vom Nebel der Nacht. Ich bereue es nicht, in der Lederjacke zu stecken, und trete kräftig in die Pedale. Ein Lieferant parkt auf dem Radweg und muss damit leben, dass ich ihm freundlich den Mittelfinger entgegen recke. Ein Taxifahrer ignoriert mein Klingeln und schneidet mir beim Rechtsabbiegen prompt den Weg ab. Nur gut, dass ich nicht auf der Vorfahrt bestehe. Alles normaler Wahnsinn, denke ich mir, nachdem ich den Frust verbal ablasse und sich eine ältere Frau kopfschüttelnd nach mir umdreht.

 

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Musste es ausgerechnet dieser Parkplatz an der Autobahn sein? Alles sieht verkommen aus und bräuchte schon seit Jahren eine gründliche Sanierung, besonders die Toiletten neben der Tankstelle und dem kleinen Imbiss. Kein Wunder, dass die Raststätte regelmäßig und mit weitem Abstand bei Tests von Automobilklubs den letzten Platz belegt. Doch das spielt heute keine Rolle. Ganz im Gegenteil ist es sogar förderlich. Jedenfalls für das, was sie zu tun hat. Noch zwei Stunden und sie hat es endlich geschafft. Alexej ist unerbittlich und Mitleid oder Gnade scheinen in seinem Wortschatz nicht zu existieren. Zumindest hatte sie bisher nie solche Gefühlsregungen an dem weißrussischen Muskelprotz entdeckt. Er kontrolliert den Eingang. Passt auf, dass nur Kunden die letzte Kabine betreten. Es herrscht Hochkonjunktur. Eine Messe in der Stadt ist immer Garant für viel Kundschaft. Sie hat nicht daran gedacht und Alexej hat es sicherlich mit voller Absicht nicht erwähnt. Hat sie ins offene Messer laufen lassen, der Dreckskerl.

Der stetige Ansturm macht sie fertig, bereits von Beginn an. Keine Chance für eine Pause. Nicht einmal Zeit, um kurz ihre steifen Glieder zu strecken und die schmerzenden Stellen zu massieren. Schon seit einer Stunde spürt sie kaum noch ihre Füße. Das Kribbeln schmerzt fürchterlich, ebenso wie das quälende Ziehen in ihren Oberschenkeln. Die Haltung ist für sie auf Dauer total kräftezehrend. Und dazu noch diese Enge.

Dabei hat sie selbst Schuld. Freier haben sich beschwert, weil sie sich geweigert hat. Es machte hierbei keinen Unterschied, dass sie überraschend früh ihre Periode bekommen hatte. Wie oft lag ihr Tamara in den Ohren, sich endlich eine Spritze geben zu lassen, anstatt täglich die Pillen zu schlucken. Dann bliebe auch die Blutung aus. Doch sie hatte höllische Angst vor Spritzen. Lieber nahm sie die Strafe in Kauf und bediente acht Stunden das Schwanzloch oder ‹Gloryhole›, was in ihren Ohren etwas besser klang, es allerdings nicht besser machte.

Sie spült sich den Mund mit dem Rest Wasser aus der großen 1,5-Liter-Flasche und spuckt in die Toilettenschüssel. Schon wieder blinkt das Licht am lautlos geschalteten Piepser. Gleich erscheint der nächste Kunde. Ohne Gummi bedeutet Blasen, ein blaues Kondom steht für vaginal und ein schwarzes für anal. Ihr tut der Kiefer weh, die Zunge fühlt sich mittlerweile fast taub an, ebenso ihre gesamten Muskeln. Ihr Hals kratzt, wie bei einer Erkältung. Wenn sie richtig mitgezählt hat, kommt nun Nummer 20. Sie blickt auf die abgerissenen Blätter Toilettenpapier und die stattliche Sammlung verknoteter Kondome. Sie würde sie erst am Ende entsorgen, dann wenn ihr Job beendet war. Eines ihrer kleinen, persönlichen Rituale. Warum und seit wann sie es tut, hat sie allerdings vergessen. Sie tut es einfach, zählt zwei leere Blätter Toilettenpapier, sieben transparente, sieben schwarze und lediglich drei blaue Gummis. Sie hofft inständig auf einen blauen Gummi.

Warum wollen heute alle einen geblasen bekommen oder ihren Arsch? Sie ist sich hundertprozentig sicher, dass Alexej seine Finger im Spiel hat, das Schwein. Er weiß ganz genau, dass sie dies nicht freiwillig tut, um sich einen Bonus zu verdienen, sondern unfreiwillig Strafdienst verrichtet. Der Russe kennt sie alle ziemlich gut. Sogar wem von ihnen was gefällt und auch, was sie hassen. Sie braucht neues Wasser und drückt rasch die Taste an ihrem Piepser, um ihm ein Zeichen zu geben.

Schon nähern sich Schritte. Schweres Schnaufen und Ächzen in der Kabine neben ihr, bevor sie hört, wie jemand die Tür verriegelt. Sie schlenkert ihre müden Arme und massiert ihre Waden. Doch es verschafft ihr kaum Linderung.

«Bitte mach ihn blau», bettelt sie leise, «blau und dünn.»

Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Obwohl niemand sie sehen kann, ebenso wenig, wie sie nur einen anonymen Penis zu Gesicht bekommt. Trotzdem sind ihre Nerven vor jedem Kunden aufs Äußerste gespannt. Erst nachdem sie mit ihrem Job beginnt und dabei jegliche Emotion verdrängt, kann sie sich wieder beruhigen. Die Spitze erscheint in der Öffnung. Verdammt! Erneut schwarz und dazu ein mächtiges Kaliber. Fast so dick, wie ihr heutiger Rekordhalter, doch dafür um einiges länger. Und der Freier hat scheinbar die Ruhe weg. Immer weiter streckt er sein gummiertes Stück durch das Loch. Sie sieht, wie er mit den Fingern nachhilft und auch die Hoden durch das enge Loch schiebt. Sie seufzt und verzieht angewidert das Gesicht. Noch einen Fehler darf sie sich nicht erlauben. Sie braucht das Geld. Sie braucht die Chance, wieder ins richtige Kundengeschäft zurückkehren zu dürfen. Resigniert rückt sie die Schachtel mit den feuchten Reinigungstüchern zur Seite und greift nach dem Gleitmittel. Sie drückt einen Klecks aus der Tube und verteilt es auf der schwarzen Latexhaut. Er fühlt sich warm und prall an. Eigentlich liebt sie es, so mit ihm zu spielen, aber nicht für ihren Lieferanteneingang. Und schon gar nicht ohne Vorspiel geschweige denn bei dieser Größe.

Sie mustert noch einmal die glänzende Schicht. Es muss genügen. Mit dem Rest in der Hand, befeuchtet sie sich selbst und steckt zwei Fingern in sich hinein. Es schmerzt. Sie stöhnt auf. Alles fühlt sich wund und gereizt an. Sie befürchtet, dass sie nach dem heutigen Straftag eine Woche pausieren muss. Scheiße, eine Woche keine Kunden und vor allem kein Geld. Das Trostpflaster eines einzigen mageren grünen Scheins für einen ganzen Tag harter Arbeit, ist eigentlich Strafe genug. Weniger als manch eine Putzfrau verdient, seufzt sie verächtlich.

Sie erhebt sich schwerfällig, dreht ihr Gesäß zur Wand und positioniert den Riesen vor ihrem Anus. Für einen kurzen Augenblick denkt sie daran, ihn einfach zu täuschen und ihn vorne hinein zu schieben. Doch einige Männer fühlen den Unterschied ziemlich genau. Bei irgendeiner weiteren beliebigen Verfehlung hätte sie zur Zeit bereits mit unangenehmen Konsequenzen zu rechnen, ein Betrug wäre jedoch viel fataler.

Sie hat Kolleginnen munkeln gehört, was mit Mädchen passiert ist, die versucht haben, zu betrügen. Die Gerüchte alleine genügen vollauf.

Keine zwei Stunden mehr. Was für ein schwacher Trost. Sie gibt sich Mühe, sich zu entspannen, und gönnt sich die Sekunden, bis ihr Schließmuskel den Widerstand aufgibt und sie den harten Riemen immer tiefer hinein gleiten lässt. Erst als sie ihr Hinterteil fest an die kalte Wand presst, gibt sie ein leises Klopfzeichen. Er kann loslegen. Schon längst muss sie die Zähne zusammen beißen, um den Schmerz besser ertragen zu können. Sie hat nach einigen Minuten sogar nachgeschmiert und Gleitmittel in ihre Falte gedrückt, doch der Kerl kommt einfach nicht zum Ende. Sie ballt die Hände zu Fäusten, atmet nur noch stoßweise. Es müssen inzwischen mehr als zehn Minuten vergangen sein.

Sie überhört fast das leise Klopfen, das Zeichen, dass nun sie weitermachen muss. Stattdessen befällt sie Panik, als er sich plötzlich nicht mehr in ihr bewegt, ohne abgespritzt zu haben. Bisher hat es der Kerl scheinbar genossen, sie mit langsamen, langen Stößen zu quälen. Doch sie will, dass es aufhört. Und zwar rasch. Sie stemmt sich mit den Händen an die gegenüber liegende Wand und prüft ihre Bewegungsfreiheit. Sie darf ihn nicht verlieren, zumindest nicht mehrmals. Es brennt höllisch, als sie die Muskeln anspannt und versucht zu kneifen, so fest wie sie nur kann. Sie will ihn melken, so gut es geht, und hat auch Erfolg. Keine zwei Minuten später spürt sie das heftige Zucken in ihr, als der Kerl zu Ende kommt, die Ladung in das Kondom spritzt und sie erlöst ist. Sie verharrt, bis er sich aus ihr zurückzieht und hört heftiges Keuchen nebenan. Ihre Beine schmerzen, ganz zu schweigen von ihrem Arsch, der sich anfühlt, wie pures Feuer. Angewidert rollt sie das Kondom vom erschlafften Schwanz, den der Kerl durch das Loch geschoben hat, säubert und trocknet ihn mit Toilettenpapier. Ein besonderer Service, den ihr Alexej aufs Auge gedrückt hat.

Sie hört erneutes Klopfen. Der Freier verabschiedet sich. Sie tränkt mehrere Lagen Klopapier im Wasser der Kloschüssel und versucht, sich zu kühlen. «Bitte, bitte, nicht wieder ein Schwarzer», jammert sie den Tränen nahe. Die Bonbons mit Erdbeeraroma hat sie längst aufgebraucht. Der üble Geschmack im Mund kehrt allmählich zurück und reizt sie fast zum Würgen. Alexej hat ihr verboten, Pfefferminz-Bonbons zu lutschen. Er will nicht, dass das Kältegefühl der Minze die Sache für die Kunden verkürzt. Schließlich haben einige von ihnen für eine echte Nummer ohne Gummi bezahlt und wollen dafür auch eine entsprechende Leistung bekommen. Nur gut, dass sie nicht Schlucken muss. Der Russe hat das nicht zu bestimmen. Alles nur mit Gummi. Das hat sie von vorne herein klargestellt und mit der Chefin abgemacht. Sie einigten sich auf maximal drei Blowjobs ohne.

Der Piepser leuchtet erneut und Alexej hat sich noch immer nicht blicken lassen. Sie braucht dringend frisches Wasser. Nein, er kann das nicht auch noch von ihr verlangen. Es sähe dem Dreckskerl ähnlich. Weil er genau weiß, dass sie nicht schlucken will, soll sie nun ... Sie weigert sich, weiter darüber nachzudenken, und beäugt angeekelt die Kloschüssel.

«Alles blitzsauber, Aschenputtel, das Wasser macht dich wieder blond», hat er mit Anspielung auf ihre langen schwarzen Haare und deutlich rollendem ‹R› gelacht, als er sie vor fast sieben Stunden hier eingeschlossen hat.

Er hat es tatsächlich ernst gemeint, dieses Schwein.

Sie hört Schritte und das Türschloss nebenan. Ihr Puls beschleunigt sich. Kurz darauf schiebt sich ein nackter Penis durch das Loch. Der Dritte und damit Letzte. Alexej geht an ihr Limit. Nichts anderes hat sie erwartet. Nur noch eine gute Stunde, versucht sie sich, selbst zu trösten. Sie spürt nicht, wie ihr Tränen lautlos über die Wangen laufen, als sie sich schwört, nie mehr solch einen Fehler zu begehen. Langsam öffnet sie den Mund und befeuchtet ihre Lippen mit der Zunge.

 

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Völlig außer Atem erreiche ich den 3. Stock des Finanzamtes. Gehetzt starre ich auf die Uhr am Ende des Flurs. Nur noch zwei Minuten bis zum vereinbarten Termin. Ich krame in der Tasche nach dem Notizzettel und vergleiche die Nummer mit der Anzeige über Zimmer 307. Tatsächlich, ich bin die Nächste. Schwer schnaufend nehme ich auf einem freien Stuhl gegenüber der Tür Platz. Der Flur ist fast menschenleer. Nur weiter hinten im endlos erscheinenden Gang sehe ich jemanden auf einem Stuhl sitzen. Wie lange ich wohl warten muss? Das Finanzamt war mir schon immer ein Gräuel. Und dass es anderen bestimmt genauso geht wie mir, macht es trotzdem nicht leichter für mich. Ich bin überrascht, als ich nur wenige Minuten warten muss, bis ein leiser Gong ertönt und meine Nummer in der Anzeige erscheint.

Noch erstaunter bin ich über die freundliche Begrüßung und Beratung eines älteren Herren. Ich vermute jedoch, dass er statt der Personalnummer bereits eine Inventarnummer besitzt. Geduldig erklärt er mir, wo ich, welche Angaben in das elektronische Formular eintragen muss, und sucht sich die Rechnungen aus dem Stapel, den ich vor ihn auf den Schreibtisch gelegt habe. Eigentlich ist es nicht mehr üblich, dass Finanzbeamte beraten. Ich habe mich bereits innerlich darauf eingestellt, irgendeine dieser Lohnsteuerberatungen aufsuchen zu müssen oder letztendlich doch einen Steuerberater zu engagieren. Knapp 20 Minuten später stehe ich wieder vor der Tür und bin immerhin eine meiner Sorgen los.

So langsam spüre ich die Müdigkeit zurückkehren. Ich überlege, ob ich auf dem Weg zum Büro nicht besser einen kurzen Kaffeestopp einlege. Mein Körper lechzt nach Schlaf, das ist mir klar, aber Koffein ist momentan das Einzige, was ich ihm bieten kann.

Auf dem Weg zum Ausgang spuken mir plötzlich Bilder von Hans-Peter durch den Kopf. Zum ersten Mal, seit dem ich aufgestanden bin, denke ich an ihn und unsere Verabredung. Wenn ich bedenke, wie geil ich mich gestern gefühlt habe, wundere ich mich, nicht schon früher an ihn gedacht zu haben. Notgeil, wenn ich ehrlich bin, kichere ich. Und gestern? Streng genommen war es heute Nacht. In Gedanken versunken verlasse ich das Gebäude durch die große Glastür am Haupteingang. Eigentlich kann ich dieses Wort ‹geil› nicht leiden, ebenso wenn es einige Menschen ständig in sämtliche ihrer Sätze einbauen. Bei Gesprächen muss mindestens einmal das Wort fallen, sonst fühlt sich Mann oder Frau offenbar nicht cool genug. Verächtlich schüttle ich den Kopf, steige auf das Fahrrad und trete fest in die Pedale.

Hans-Peter, er lässt mich noch immer nicht los. Die lebhaften braunen Augen, die großen Hände, die mich streicheln oder packen könnten. Der knackige Po, sicherlich mit kräftigen Muskeln bepackt, die so herrlich zustoßen könnten. Auch die schiere körperliche Größe, die mich unter ihm begräbt, während er sich in mir austobt. Er gibt mir keine Chance, zu entrinnen. Ich möchte auch keine haben. Ja, ich wüsste eine perfekte Möglichkeit, richtig wach zu werden, und seufze leise.

«Hey, pass doch auf, wo du hinfährst du blöde Kuh!»

Im letzten Moment reiße ich den Lenker herum und weiche aus. Beinahe hätte ich einen jungen Kerl angefahren, der mir aus einer Hofeinfahrt direkt vors Rad rennt. Ohne sich umzusehen, ist er einfach quer über den Radweg gelaufen. Ich bin vollauf mit Ausweichen und Bremsen beschäftigt und kämpfe mit dem Gleichgewicht. Glück für ihn. Sonst hätte ich ihm die Meinung über Vorfahrt, Rücksicht und Umsicht gegeigt. Die Sache mit der blöden Kuh quittiere ich zumindest umgehend mit Faust und Mittelfinger - schon wieder. Doch als ich mich umdrehe, verschwindet er zwischen geparkten Autos und hat die Geste vermutlich gar nicht bemerkt. Etwas Gutes hatte die Sache. Ich bin jetzt hellwach und beschließe, die Pause zu streichen.

Im Vorüberfahren fällt es mir schwer, den Duft von frisch gemahlenem Kaffee, der durch die geöffnete Tür meines Lieblingscafés ‹Veneziana› bis auf die Straße dringt, zu ignorieren.