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Wie viel Glück Gesundheit im Leben bedeutet, versteht man meistens erst dann, wenn man krank ist und sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder gesund zu sein. Doch was tut man, wenn es keine Aussicht auf Heilung gibt? Wenn man sich von Schmerzen und Ängsten geplagt, auf Therapien einlässt, die mehr schaden als nutzen? Diagnosen unklar sind und die Medizin nicht helfen kann? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man verfällt in tiefe Depressionen und ergibt sich in sein Schicksal, oder man nimmt den Kampf auf. Ina Christiane Sasida hat sich für die zweite Möglichkeit entschieden. In diesem Buch erzählt sie ihre wahre Geschichte, wie sie einer Autoimmunerkrankung, die von heute auf morgen ihr gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte, und Ärzten, die nicht helfen konnten, die Stirn geboten, und ihren ganz eigenen Weg aus diesem Dilemma gefunden hat.
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2016
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„Solange Du nicht bereit bist,
Dein Leben zu ändern,
kann Dir nicht geholfen werden!“
Hippokrates
Oh verdammt, was war denn das? Ich war gerade aufgewacht und sah auf die Uhr. Es war drei Uhr morgens, mein rechter Unterarm tat höllisch weh und ich hatte in Daumen, Zeige- und Mittelfinger kein Gefühl mehr. Ich lag auf meiner Schlafcouch im Wohnzimmer, das seit meiner Scheidung auch gleichzeitig mein Schlafzimmer war, und wusste im Moment nicht so richtig was mit mir eigentlich los war. Aber er war da, dieser brutale, höllische Schmerz in meinem rechten Unterarm. Ach, dachte ich, da bist du wohl sehr unglücklich drauf gelegen. Ich setzte mich im Bett auf und schüttelte den Arm aus, so als wenn er eingeschlafen wäre. Aber so war es nicht. Ich wusste das eigentlich auch, denn es war irgendwie ein anderer Schmerz. Aber man probiert eben mal ein bisschen dies und das, vielleicht ist dann ja alles gleich vorbei und man kann das tun, was man um diese Uhrzeit wahrscheinlich am liebsten tut, nämlich weiterschlafen. Ich saß also bestimmt eine halbe Stunde im Bett und schüttelte meinen Arm. Und während ich so schüttelte und schüttelte, dachte ich über die letzten Wochen nach. War es vielleicht doch ein bisschen zu viel, was ich in der letzten Zeit gearbeitet hatte? War mein Körper vielleicht ganz einfach nur überlastet? Nun gut, wir waren vor gut sechs Wochen umgezogen. Ich hatte unsere und die Wohnung meiner Mutter alleine renoviert. Naja, vielleicht nicht ganz alleine, schließlich hatten die Kinder ja auch geholfen. Ach so, die Kinder, die hatte ich doch fast vergessen zu erwähnen. Es waren drei. Meine beiden Töchter und mein Sohn. Die Mädels waren damals 17 und 13 und mein Sohn gerade mal neun Jahre alt. Es war Anfang März, als wir die Schlüssel zu unseren neuen Wohnungen erhalten hatten. Superglücklich hatten wir sie zwei Wochen vorher angeschaut. Es war genau das, was wir gesucht hatten. Zwei Wohnungen in einem Haus, eine für uns und eine für meine Mutter, nicht weit weg von dort, wo wir vorher gewohnt hatten. Alles war fast beim Alten geblieben. Die Kinder mussten nicht einmal die Schule wechseln. Auch die Freunde waren die Gleichen geblieben. Meine Mutter war zufrieden, schließlich konnte sie nach wie vor die alten Bekannten treffen und auch der Friedhof, auf dem sich das Grab meines Vaters befand, war nur etwa einen Kilometer von uns entfernt. Alles prima. Nach all den Wochen, in denen wir nach einer neuen Bleibe suchen mussten, schließlich war uns ja wegen „Eigenbedarf“ gekündigt worden, hatte es nun endlich geklappt. Meine Mutter, sie war immerhin auch schon 78, hatte sich wieder etwas beruhigt. Sie hatte in der letzten Zeit immer wieder gesundheitliche Probleme. Warum? Aus Angst darüber, dass wir vielleicht keine zwei Wohnungen zusammen finden würden und jeder irgendwo anders hinziehen musste. Irgendwie war ihre Angst ja verständlich, schließlich wohnten wir schon seit 15 Jahren zusammen in einem Haus. Und seit mein Vater gestorben war hatte sie ja nur noch mich und die Kinder. Aber war es wirklich normal, so eine Panik vor dem Alleinsein? Eigentlich hätte es mir zu denken geben sollen. Vor allem, da sie in unserer neuen Unterkunft zwar wohl ein eigenes Wohnzimmer, eine Küche und auch eine Dusche hatte, ihr Schlafzimmer jedoch hatte sie in unserer Wohnung. Naja, es war nicht gerade eine glückliche Lösung, aber es ging. Die Freude darüber, zusammen wohnen zu können, war größer als irgendein Gedanke daran, dass dieses nahe Zusammensein auch Probleme mit sich bringen könnte. Soweit waren alle glücklich und zufrieden. Doch was war mit mir? War ich auch glücklich und zufrieden? Einerseits ja, schließlich hatte ich jetzt wirklich meine Traumwohnung, aber andererseits kostete diese Traumwohnung auch die doppelte Miete als bisher. War es doch schon bisher finanziell immer eng, wie sollte ich denn dann bloß jetzt diese ganze Sache auf die Reihe bringen? Wenn ich darüber nachdachte wurde mir ganz schlecht. Gut, ich hatte natürlich meine Arbeit und auch noch den einen oder anderen Nebenjob, aber das hatte ich ja bisher auch. Ich konnte rechnen wie ich wollte, Tatsache war, dass diese Wohnung verdammt viel Geld kostete und ich nicht wusste, wie wir über die Runden kommen sollten. Und dass mein Auto in gut neun Monaten so gut wie keine Chance hatte, einen neuen TÜV- Stempel zu bekommen, daran mochte ich jetzt aber noch überhaupt nicht denken. Oder etwa doch? Machte sich in meinem Hinterkopf nicht manchmal so ganz leise ein komisches Gefühl breit? Hatte ich nicht in letzter Zeit öfters einmal Magenbeschwerden? Woher kamen die denn? Ach Unsinn, mir ging es doch blendend. Ein wenig überarbeitet, das vielleicht schon, aber sonst? Nein, das konnte nicht sein. Ich doch nicht. Schließlich hatte ich bisher immer alles geschafft. Ich war zweimal geschieden, alleinerziehend mit drei Kindern und hatte immer dafür gesorgt, dass genügend von allem da war. Wir sind in Urlaub gefahren wie jede andere „komplette“ Familie auch und auch sonst fehlte es den Kindern an nichts. Da ich immer die gesamte Kleidung der Kinder und auch meine eigene komplett selber genäht hatte, konnte ich natürlich eine Menge Geld sparen, worum ich in meinem Bekanntenkreis auch immer sehr beneidet wurde. Doch wie viele Nächte ich mir damit um die Ohren geschlagen hatte, konnte sich wohl kaum jemand vorstellen.
Und nun lag ich in meinem „Bett“, hatte diesen komischen Schmerz und dachte nach. Ja, es war vielleicht wirklich ein bisschen viel gewesen in der letzten Zeit. Das Renovieren der Wohnungen, der Umzug und gleich darauf hatte mein Sohn auch noch „Kommunion“. Das war alles in den letzten Wochen auf mich eingestürmt. Und was hatte ich doch gestern noch alles gearbeitet. Immer noch gab es Kartons in der Wohnung, die nicht ausgepackt waren. Die hatte ich mir gestern vorgenommen. Den ganzen Nachmittag hatte ich damit zugebracht, alles auszupacken. Es waren alles nur noch Dinge von mir, denn die Sachen der Kinder und auch von der Oma hatten wir zuerst ausgepackt, gleich nachdem wir eingezogen waren. Und am Abend hatte ich dann noch auf dem Balkon die alten Stühle abgeschliffen, die ich in einem neuen Blauton streichen wollte. War das vielleicht der Grund für meine Schmerzen im Arm? Ja, das könnte möglich sein. Das war es ganz bestimmt. Also dachte ich mir, die nächsten Tage wirst du dich ganz bestimmt schonen. Doch dieser gute Vorsatz nützte mir jetzt im Moment herzlich wenig. Ich saß nun schon bestimmt eine Stunde im Bett und hatte versucht, meinen Arm mit einem Kühlakku zu behandeln. Manchmal hört man ja solche Dinge, dass bei einer akuten Entzündung Kälte hilft. Und eine Entzündung konnte es ja vielleicht auch sein. Nach einer halben Stunde wusste ich, dass meine „Entzündung“ oder was immer es sonst war, nicht besser wurde. Also versuchte ich es mit Wärme. Ich stand auf und machte mir eine Wärmeflasche. Nach einer weiteren halben Stunde wusste ich, dass dieses Etwas sich auch nicht durch Wärme beeindrucken ließ. Warum nur tat das so verdammt weh? Ich verstand es nicht. Mittlerweile war es schon fast sechs Uhr geworden. Ich war müde und wollte eigentlich gerne schlafen. Aber ich konnte nicht. Die Schmerzen waren zu stark. Also blieb nur noch eines. Ein hammermäßiges Schmerzmittel musste her. Ich stand auf und ging zur Hausapotheke. Auf dem Weg dorthin überlegte ich mir schon, was ich denn überhaupt zu Hause hatte, denn mit Medikamenten hatte ich es nicht so. Naja vielleicht hatte ich ja noch eine Aspirin im Medizinschrank? Ich öffnete den Schrank und durchsuchte all den alten Kram, der da drin stand. Mein Gott, dachte ich, hier musst du auch mal aufräumen. Das Zeug da drin war zum Teil so alt wie Methusalem. Aber ich fand etwas. Etwas womit ich gar nicht gerechnet hätte. Novalgin-Tropfen. Ein ziemlich starkes Schmerzmittel. Super, dachte ich, genau das Richtige. Ein Blick auf das Verfalldatum. Perfekt, noch nicht abgelaufen. Ich holte den Beipackzettel heraus und suchte die Dosierung. Ich schluckte die höchstangegebene Menge und legte mich wieder ins Bett. Gleich wird es besser, dachte ich. Nach einer halben Stunde war es immer noch nicht weg. Na gut, dachte ich, vielleicht dauert es halt ein bisschen länger, wenn der Schmerz so stark ist. Ich hatte schließlich noch nie so starke Schmerzen gehabt. Ich wartete noch einmal eine viertel Stunde und noch eine. Aber es änderte sich nichts. Also dachte ich, schluckst du noch einmal die Tropfen. Vielleicht reicht j a einfach die Dosis noch nicht. Nach einer weiteren Stunde wusste ich, dass auch die zweite Dosis nicht ausreichte, um diesen Schmerz zu beseitigen. So langsam machte ich mir nun doch Sorgen. So etwas hatte ich ja noch nie erlebt. Mittlerweile war es auch schon Morgen geworden und ich hätte eigentlich aufstehen müssen, da ich ja schließlich zum arbeitenden Teil der Bevölkerung gehörte. Arbeiten? Mit diesen Schmerzen? Ein völlig irrer Gedanke. Also stand ich auf, rief meinen Chef an, sagte ihm was passiert war und dass ich zum Arzt gehen musste. Daraufhin rief ich beim Arzt an. Doch was war das? Mein Hausarzt war in Urlaub. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ich war am Schimpfen und am Fluchen. Was sollte ich denn nur jetzt tun? Das ganze Jahr über brauchte ich keinen Arzt, nicht einmal wegen einer Erkältung oder einer Grippe und jetzt brauchte ich ihn einmal und dann war er nicht da. Himmeldonnerwetter noch einmal! Was nun? Auf dem Anrufbeantworter der Praxis waren ein paar Ärzte genannt worden, die Vertretung hatten. Also rief ich einen davon an. Es war ein Orthopäde. Egal, dachte ich, Hauptsache ein Arzt. Ich rief an und bekam auch einen Termin. Also nichts wie hin. Nun stand ich einem Arzt gegenüber, den ich im Leben noch nie gesehen hatte und sollte ihm mein Problem mitteilen. Nun gut, dachte ich. Mir ist sowieso alles egal, wenn es mir nur hilft und diese höllischen Schmerzen verschwinden lässt. Ich erzählte ihm also von meiner Umzieherei, meiner vielen Arbeit der letzten Zeit, denn so ganz nebenbei hatte ich auch noch viel für eine Firma genäht. Und dann nicht zu vergessen das Ballettstudio, für das ich seit der Ballettzeit meiner Tochter jedes Jahr zur Aufführung Kostüme genäht hatte. Alles fing damals eigentlich ganz harmlos an. Für die erste Ballettaufführung meiner Tochter musste ich dieses Kostüm, das sie damals getragen hatte, kaufen und das war ziemlich teuer. Deshalb hatte ich das nächste Jahr ihrer Ballettlehrerin gesagt, dass ich nur den Stoff kaufen und das Kleid oder den Rock daraus gerne selber nähen wollte.
„Oh Sie können nähen?“, war der überraschte Ausruf von ihr. Ja das konnte ich. Also wurde ich gefragt, ob ich denn nicht für die ganze Gruppe die Kleider nähen könnte, damit gewährleistet wäre, dass alle gleich wären. Und so fing das damals an. Und aus am Anfang einer Gruppe wurden dann zwei und dann drei und vier und zum Schluss bin ich dann noch bei der Generalprobe auf der Bühne herum gehüpft und habe noch die letzten Änderungen an den Mädels vorgenommen. Das war Stress pur. Und am Tag er Aufführung saß ich dann mit Nadel und Faden in der Handtasche im Publikum und habe gehofft, dass alle Nähte halten und dass sonst kein Missgeschick geschieht.
Der Arzt sah mich an und meinte, dass das natürlich schon extrem viel war, was ich da so in der letzten Zeit geleistet hatte und es könnte, nachdem er meinen Arm abgetastet hatte, ein „Carpal Tunnel-Syndrom“ sein. Kurzum verließ ich eine halbe Stunde später mit einem Gips an meinem rechten Unterarm, einer Schachtel Medikamente und einer Krankmeldung das Sprechzimmer. Aha „Carpal-Tunnel-Syndrom“ nennt sich das. Na gut. Jetzt hatte das Kind ja immerhin einen Namen. Und wenn man erst einmal weiß, was es ist, kann man ja auch etwas dagegen tun. Nur gab es noch ein kleines Problem. Heute war Freitag und ich sollte in ein paar Tagen zum Nachschauen kommen, aber da sie ab nächster Woche leider in Urlaub wären, müsste ich dann zur Vertretung gehen, ließ mich die Arzthelferin wissen. Nun gut.
Etwas erleichtert verließ ich die Praxis. Die Vertretung von der Vertretung war ein Chirurg. Also ließ ich mir einen Termin für Montag geben. Es war soweit ja nun alles geklärt, bis auf die Tatsache, dass sich an meinen Schmerzen überhaupt nichts geändert hatte. Ich konnte nichts, aber rein gar nichts zu Hause tun und nachts konnte ich nicht schlafen. Die Schmerzen waren unerträglich. Also ging ich am Montagmorgen zum Chirurgen. Der hörte sich meine Geschichte an und meinte, dass seiner Meinung nach ein Gips nichts bringen würde. Also wurde er entfernt. Als nächstes wurden mehrere verschiedene Blutuntersuchungen durchgeführt. Der Arm wurde eingesalbt und zugebunden. So wurde ich nach Hause geschickt. Bis die Blutergebnisse da wären sollte ich mich gedulden. Zwei Tage später war es dann soweit. Ich hatte mich schon gefreut, jetzt endlich eine vernünftige Diagnose zu erhalten und somit auch eine Möglichkeit zu finden, diese Schmerzen, diese qualvollen Schmerzen, endlich wieder loszuwerden. Doch leider hatte ich mich zu früh gefreut. Es gab zwar gewisse Anzeichen auf irgendwelche Entzündungen, aber nichts Genaues. Es waren aufwändigere Untersuchungen nötig. Also ging das ganze Spiel von vorne los. Blutabnehmen und auf die Ergebnisse warten. Ansonsten musste ich jeden Tag in der Praxis erscheinen, wo ich einen neuen Verband bekam. Und man wird es kaum glauben, aber so ganz langsam wurden meine Schmerzen weniger. Obwohl ja eigentlich nicht viel gemacht wurde. Ich war glücklich. Einmal wieder abends ins Bett gehen und ohne Schmerzen einschlafen können. Es wäre wunderbar. Mit diesen Voraussetzungen fiel es einem doch gleich viel leichter, auf die Untersuchungsergebnisse zu warten. Doch dann kam es hammerhart.
Es war Wochenende. Genauer gesagt, Sonntagmorgen. Als ich aufwachte, ein grausamer Schmerz im linken Arm. Aber nicht nur im Unterarm, wie es auf der rechten Seite damals angefangen hatte, sondern im ganzen Arm. Von der Schulter über den Ellbogen bis ins Handgelenk und dazu sowohl im Ringfinger als auch im kleinen Finger kein Gefühl mehr. Meine Finger waren einfach tot. Ich saß heulend im Bett. Was war denn nun schon wieder los? Das konnte doch alles einfach nicht wahr sein. Jetzt hatte ich nach fast zwei Monaten endlich fast keine Schmerzen mehr in meiner rechten Hand, die Gefühlsstörungen der Finger waren zwar immer noch da, aber die taten ja nicht weh, damit konnte man leben und jetzt das. Das war ja noch schlimmer, als das, was ich nun schon überstanden hatte. Ich war am Boden zerstört. Heulend stand ich auf und wollte ins Bad gehen. Doch was war das? Ich konnte nicht mehr auf meinem linken Bein stehen. Die Fußsohle war taub. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein Bein konnte mein Gewicht nicht mehr tragen. Ich humpelte auf meinem rechten Bein hüpfend ins Bad und zog mich an. Ich musste zum Arzt und zwar sofort. Nicht dass ich nur wegen der schier unerträglichen Schmerzen zum Arzt wollte, nein, ich hatte nun auch wirklich Angst um mich. Für meine Kinder muss es ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Eine heulende, durch die Wohnung humpelnde Mutter, die nicht in der Lage war, auch nur ein Wort zu sprechen. Keiner hatte sich getraut mich zu fragen. Ich glaube die Kinder spürten den Ernst der Situation, obwohl sie bestimmt nicht verstanden, was gerade geschah. Ich humpelte die Treppe hinunter, schaffte es über den Hof in mein Auto und fuhr zum Krankenhaus, in dem ich ja selber arbeitete. Ich ging zur Notaufnahme und erklärte der Schwester, die ich leider nicht kannte, mein Problem. Kurz darauf kam der Arzt. Ich erzählte auch ihm meine Geschichte und er kam nach kurzem Überlegen zu der Ansicht, dass es wohl das Beste wäre den Arm einzugipsen und somit ruhig zu stellen. Jede Bewegung des Armes war sehr schmerzhaft und mir liefen die Tränen über die Wangen. Die Schwester, die den Gips anlegte, entschuldigte sich ständig bei mir, da sie dachte, sie täte mir weh dabei, aber dem war nicht so. Der Arm tat auch weh, wenn ich ihn nicht bewegte. Es war einfach schrecklich. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Schmerzen. Selbst die Geburt eines Kindes – ich habe ja schließlich drei davon – ist nicht vergleichbar mit diesen Schmerzen, sie waren bestimmt hundertmal schlimmer. Ich bekam wieder irgendwelche Schmerzmittel in die Hand gedrückt und durfte nach Hause gehen. Und ich ging wie ich gekommen war, nämlich heulend. Na klasse. Mit Mühe und Not schaffte ich es nach Hause zu fahren. Alle waren froh, dass ich wieder zu Hause war. Man konnte ihnen die Erleichterung richtig ansehen. Wenn ich nicht im Krankenhaus bleiben musste, konnte es auch nicht so schlimm sein, dachten sie wohl. Nur die Tränen in meinen Augen passten nicht so recht in dieses Bild.
Nun gut, ich war also wieder zu Hause. Ich legte oder besser gesagt setzte mich im Wohnzimmer auf die Couch. Ich hatte herausgefunden, dass es etwas weniger weh tat, wenn ich mich aufrecht hinsetzte und den Arm mit allen mir zur Verfügung stehenden Kissen abstützte. Ich nahm ein paar von den Tabletten, die mir der Arzt gegeben hatte und schlief irgendwann ein. Im Sitzen versteht sich. Ich weiß nicht, wie lange ich so geschlafen hatte. Als ich die Augen aufmachte, sah ich, wie die Kinder verstohlen zur Wohnzimmertür hereinschauten. Als sie sahen, dass ich wach war und auch nicht mehr weinte, kamen sie zu mir.
„Und, Mama geht es dir wieder besser“, fragten sie?
Und ich merkte, dass sie hofften, dass ich „Ja“ sagen würde. Also sagte ich „Ja“. „Ja Kinder, mir geht es ein bisschen besser, aber ich habe immer noch Schmerzen“. Ich konnte die Erleichterung fast spüren. Sie setzten sich zu mir auf die Couch.
Vorher wurde noch die Oma informiert, dass die Mama wieder unter den „Lebenden“ sei. Prima. Auch die Oma freute sich, dass es mir wieder besser ging. Sie hatte die Kinder den ganzen Tag, während ich im Krankenhaus war, versorgt und ihnen immer wieder gesagt, dass ich bald kommen würde. So gesehen war die Welt ja wieder in Ordnung. Ich nahm noch ein paarmal an diesem Tag meine Schmerztabletten und saß auf meiner Couch mit hochgelegtem Arm. Aber viel besser wurde es nicht. Doch das behielt ich für mich. Schließlich wollte ich meine Familie nicht schon wieder beunruhigen.
Die Nacht verbrachte ich ebenfalls sitzend. Wenn ich aufstehen musste, um auf die Toilette zu gehen, war das eine wirkliche Qual. Zum einen, weil ich dann meinen Arm bewegen musste, zum anderen weil ich nach wie vor kein Gefühl und keine Kraft in meinem linken Fuß hatte. Nach einer fast schlaflosen Nacht stand ich morgens auf und ging zum Arzt. Mein Hausarzt war immer noch in Urlaub, so dass ich wieder zum Chirurgen gehen musste. Er war ziemlich überrascht, als er mich mit zwei weißen Armen sah. Ich erzählte ihm, was sich gestern ereignet hatte.
Auch, dass ich diese Schwierigkeiten mit meinem Fuß hatte. Er war ratlos. Zwar waren in der Zwischenzeit auch meine Blutergebnisse da, aber so recht glücklich war er damit nicht. Es gab zwar ein paar mehr Hinweise auf eine Entzündung, aber irgendwie passte alles nicht so recht zusammen. Und vor allem machten ihm meine Gefühlsstörungen in den Fingern und jetzt auch in meinem Fuß zu schaffen. Also empfahl er mir zur Sicherheit, noch einen Neurologen aufzusuchen. Vielleicht konnte der ja herausfinden, woran ich litt. Ich war damit einverstanden und so wurde gleich ein Termin für mich vereinbart. Die Blutergebnisse wurden dorthin gefaxt, so dass auch dieser Arzt, wenn ich hinkommen würde, gleich über alles Bescheid wüsste. Der Termin war zwei Tage später. Ach so, ich hätte fast vergessen zu erwähnen, dass der Chirurg auch dieses Mal der Meinung war, dass der Gips an meinem Arm nichts bringen würde und er deswegen abgenommen wurde. Das Einzige was daran gut war, war der Gewichtsverlust an meinem linken Arm, denn die Schmerzen waren mit und ohne Gips dieselben. Auch die neuverordneten Schmerzmittel blieben ohne große Wirkung. Manchmal dachte ich zwar, dass es besser würde, aber das war immer nur von kurzer Dauer, danach waren die Schmerzen jedes Mal wieder genauso schlimm wie vorher auch. Es war zum Verzweifeln. Ich konnte schlucken was ich wollte, es half nichts. Wenn mir das vorher jemand erzählt hätte, dass so etwas möglich ist, ich hätte es nicht geglaubt. Ja, dass es bei Krebs im Endstadium zum Beispiel so etwas geben kann, das ist ja allgemein bekannt, aber das hatte ich ja nicht. Also warum konnten die Schmerzen dann nicht gestoppt werden? Diese Frage konnte mir leider niemand beantworten.
Die Nacht konnte ich mehr schlecht als recht schlafen und als ich am nächsten Morgen aufstehen wollte, hat mich dann wirklich fast der Schlag getroffen. Jetzt war auch meine rechte Fußsohle taub. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Jetzt hatte ich zwei kaputte Arme und zwei kaputte Beine. Nein, ich konnte und wollte es einfach nicht glauben. Was kam denn jetzt wohl als nächstes dran? Ich war völlig verzweifelt. Kaputt, ausgebrannt, einfach leer. Diese Krankheit, was immer es auch sein mochte, schaffte mich. Ich wollte nicht mehr. Meiner Familie sagte ich natürlich nichts. Die wären nur noch mehr beunruhigt geworden, als sie es ohnehin schon waren. Ich rief meine Freundin an. Die war schließlich vom Fach. Sie arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus. Nicht in dem Krankenhaus, in dem ich arbeitete, sondern in dem anderen in unserer Stadt. Wir telefonierten bestimmt eine Stunde miteinander. Mit ihr konnte ich reden. Ihr konnte ich all das sagen, was ich meiner Familie nicht sagen konnte. Aber geändert hatte es auch nichts. Sie wünschte mir viel Glück für den Besuch beim Neurologen morgen und sagte, dass sie sich am nächsten Tag wieder melden würde.
Ich saß ziemlich deprimiert zu Hause und zählte die Stunden, die noch vergehen mussten, bis ich zum Arzt gehen konnte. Wieder ein Arzt mehr in meiner Sammlung. Wieder ein Arzt, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Was würde mich morgen wohl erwarten? Würde mir morgen früh, wenn ich aufwachte, wieder etwas anderes weh tun oder gefühllos sein? Oder was konnte sonst noch passieren? Ich hatte keine Ahnung. Und das war auch gut so, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung hatte, was noch alles auf mich zukommen würde. Es kam auch so noch früh genug.
Der nächste Morgen wurde also mit Spannung erwartet. Als ich wach wurde, ich schlief immer noch im Sitzen, beobachtete ich zuerst einmal meinen Körper, ob nicht vielleicht schon wieder etwas anderes weh tat. Doch - oh Wunder - nein. Es war alles beim Alten geblieben und das war ja auch schon mal was. Ich stand auf, duschte mich und ging zum Neurologen. Um die Kinder brauchte ich mich nicht zu kümmern, die wurden in dieser Zeit vollständig von unserer Oma versorgt. Gott sei Dank! Darüber war ich wirklich sehr froh. Also machte ich mich auf den Weg zum Arzt. Es war ein sehr netter, ruhiger Mann, mit dem man sehr gut reden konnte. Über meine Krankheitsgeschichte war er schon einigermaßen informiert worden und den Rest erfragte er sich bei mir. Er führte verschiedene Untersuchungen durch, unter anderem überprüfte er auch einige Reflexe. Das heißt, er versuchte sie zu überprüfen. Aber ich hatte keine mehr. Es war tatsächlich so. Ich hatte tatsächlich keine Reflexe mehr. Wie war denn das möglich? Ich wusste es nicht und konnte es mir auch überhaupt nicht vorstellen, da dies ja Dinge waren, die nicht meinem Willen unterworfen waren. Nun gut, ich war ja auch kein Fachmann. Woher sollte ich wissen, welche Krankheit so etwas auslösen konnte. Aber er, er war der Fachmann. Er musste es doch wissen, dachte ich. Aber weit gefehlt. Er wusste es auch nicht. Hatte so etwas in seiner ganzen langjährigen Praxis noch nicht erlebt. Ich war total geschockt. Wer sollte es dann wissen, wenn nicht er? Er würde mich gerne ins Krankenhaus schicken, hörte ich ihn auf einmal sagen. Die Kollegen sollten mich doch mal ganz durchchecken. Krankenhaus! I c h sollte ins Krankenhaus. Wie stellte er sich denn das vor? Ich war alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Ich konnte mich doch nicht so einfach ins Krankenhaus legen.
„Nein“, sagte ich, „das geht nicht, was soll ich denn mit meinen Kindern machen?“
Er versuchte mir noch einmal klar zu machen, dass er mir so nicht weiterhelfen könnte und er mir dringend empfehlen würde, ins Krankenhaus zu gehen. Doch ich konnte mich so schnell einfach nicht zum „Ja sagen“ entscheiden.
„Ich würde das erst gerne mit meinem Hausarzt besprechen“, sagte ich ihm. Er war damit einverstanden.
Heute war Freitag und mein Hausarzt würde am Montag aus dem Urlaub zurück sein. Solange musste einfach Zeit sein. Für mich bedeutete das zwar, noch ein weiteres Wochenende mit Schmerzen und noch mehr Ungewissheit über meinen Gesundheitszustand, aber ohne meinen Doc wollte ich nichts entscheiden. Also wartete ich ab. Am Montagmorgen rief ich also in der Praxis an, um einen Termin zu vereinbaren. Umso überraschter war ich, als sie mir mitteilten, dass sie auf meinen Anruf schon gewartet hätten, da der Neurologe schon morgens um acht Uhr angerufen und mit meinem Doc über mich gesprochen hatte und ich sollte doch wenn möglich sofort kommen. Nanu, dachte ich. Was passiert jetzt? Die Herren Doktoren telefonierten miteinander. War so etwas normal? Ich wusste es nicht. Aber so ganz langsam beschlich mich der Verdacht, es könnte etwas ganz furchtbar Schlimmes sein, woran ich litt und es wollte mir bloß keiner sagen. Also fuhr ich mit sehr gemischten Gefühlen zu meinem Doc. Es war nicht viel los in der Praxis, sodass ich auch nicht lange warten musste. Gott sei Dank! Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte Angst. Zum ersten Mal spürte ich dieses Scheißgefühl in mir. Mein Arzt teilte mir mit, dass der Neurologe angerufen und ihn über seine Untersuchungsergebnisse informiert hätte. Das heißt besser gesagt, dass er nicht wusste was er ihm diesbezüglich hätte mitteilen sollen, da er keine Ahnung hatte, was mit mir los war. Mein Hausarzt machte ein bedenkliches Gesicht und meinte, dass er mir nun wirklich auch dringend empfehlen würde, ins Krankenhaus zu gehen. Da er meine familiäre Situation kannte, wusste er natürlich auch was das für mich für ein Problem darstellte, nämlich die ,Kinder. Wohin sollte ich mit den Kindern? Das war die große Frage. Gut, unsere Oma war da, aber die war ja auch schon 78 Jahre alt und dann drei Kinder rund um die Uhr zu betreuen, war ja nun wirklich ein bisschen viel verlangt. Die Kinder waren wohl auch bei der Oma, wenn ich arbeitete, aber da waren sie ja morgens in der Schule und dann kam ich ja doch mal irgendwann nach Hause. Das war dann doch eine ganz andere Situation. Aber so wie es jetzt aussah, war das etwas, was ich mir niemals hätte vorstellen können, dass es passieren würde. Und doch war es passiert. Ich war ziemlich durch den Wind. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mir auch Gedanken darüber, was denn mit den Kindern geschehen würde, wenn mir etwas passieren sollte. Ein Unfall oder was auch immer. Etwas, woran ich sterben könnte. Was würde mit den Kindern passieren, wenn ich nicht mehr da wäre? Ich dachte nur, oh lieber Gott, bitte lass mich so lange leben, bis meine Kinder groß sind und mich nicht mehr brauchen. Ich konnte mich absolut nicht dafür erwärmen dem Vorschlag meines Arztes zu folgen, aber andererseits musste ich auch einsehen, dass es so mit mir nicht weitergehen konnte. Also es musste eine Entscheidung getroffen werden und zwar bald. Nein, nicht bald, sondern jetzt. Mein Hausarzt meinte, er könnte im Krankenhaus anrufen und gleich ein Bett für mich reservieren lassen, wenn ich bereit wäre sofort zu gehen. Ich zögerte und zögerte, aber ich wusste mittlerweile, dass ich eigentlich keine andere Chance mehr hatte. Also sagte ich ja, aber nur für eine Woche. Allerhöchstens eine Woche.
„Gut“, sagte mein Hausarzt. Er rief in dem Krankenhaus an, in dem ich arbeitete, und ließ sich mit dem Chefarzt der Neurologie verbinden, den er auch persönlich kannte. Er schilderte kurz meinen Fall und musste sich dann sagen lassen, dass es im Moment, auch wenn es noch so wichtig wäre, völlig unmöglich sei ein Bett zu bekommen, da die Station restlos ausgebucht und mit mindestens drei Wochen Wartezeit zu rechnen wäre. Toll, schöne Aussichten. Jetzt, nachdem ich mich endlich entschlossen hatte ins Krankenhaus zu gehen, gab es kein Bett. Die nächste Möglichkeit war ein ähnliches Krankenhaus in einer anderen Stadt, die etwa 20 Kilometer von uns entfernt war. Er fragte mich, ob ich einverstanden wäre, wenn es dort klappen würde. Ich sagte ja. Also versuchte er erneut sein Glück. Er rief an und ließ sich auch dort mit dem Chefarzt verbinden. Er erklärte kurz die Situation, vor allem wie wichtig es wäre und er hatte Glück. Sie hatten ein Bett frei und ich könnte schon morgen früh kommen, wenn ich wollte. Nun, von w o l l e n konnte ja nun überhaupt keine Rede sein. Aber mir blieb ja keine andere Wahl. Also verließ ich die Arztpraxis mit einem Einweisungsschein für das Krankenhaus und der Information, dass ich mich morgen früh um acht Uhr auf der Neurologischen Station melden sollte. So kam ich nach Hause. Meine Mutter war schon ganz gespannt auf das, was ich ihr erzählen würde und ich ganz angespannt, wie ich ihr das wohl beibringen könnte. Also sagte ich es ihr einfach so, wie es der Arzt mir gesagt hatte, nämlich dass ich für eine Woche ins Krankenhaus gehen musste, um mich durchchecken zu lassen. Meine Mutter war sofort einverstanden. Sie hätte sich das schon beinahe gedacht, meinte sie. Also gut, dann war die Überraschung ja nicht ganz so groß. Auch recht. Aber jetzt musste ich es den Kindern sagen. Ich rief sie alle drei zusammen und erzählte es ihnen. Sie waren wirklich sehr verständnisvoll und versprachen auch hoch und heilig, diese Woche bei der Oma ganz brav zu sein. Also fing ich an meinen Koffer zu packen.
Am nächsten Morgen fuhr mich meine Cousine dann ins Krankenhaus. Ich bekam ein sehr schönes Zimmer mit Balkon. Das war ja doch schon mal wenigstens etwas. Ich packte meinen Koffer aus, so gut das eben mit meinen kaputten Armen möglich war und wartete auf den Arzt, der gleich kommen sollte. Es dauerte auch gar nicht lange bis er kam. Er setzte sich zu mir und fragte mich nach meinem Problem. Ich begann zu erzählen und er machte sich seine Notizen, während ich redete. Als ich fertig erzählt hatte, meinte er, dass sie dann erst mal anfangen würden Blut abzunehmen. Gesagt, getan. Ich dachte nur, macht was ihr wollt, aber macht schnell. Ich muss nach Hause zu meinen Kindern. Ich habe keine Zeit hier sinnlos herumzuliegen. Gebt mir irgendetwas, was mir gegen die brutalen Schmerzen hilft und dann tschüss. Aber ich musste es erst einmal über mich ergehen lassen, dass sie mir mehrere Ampullen Blut abzapften. Gut, dachte ich, wenn sie mir danach dann sagen können was ich habe, dann soll es mir recht sein. Den Rest des Tages wollte man dann nichts mehr von mir, sodass ich meine Ruhe hatte. Ich lag im Bett mit zwei schmerzenden Armen, der eine etwas mehr, der andere etwas weniger, und konnte nichts tun außer über mich nachdenken. Nicht einmal ein Buch konnte ich lesen, da ich nicht einmal in der Lage war es in meinen Händen zu halten. Also blieb mir nichts anderes übrig als zu denken. Und heute weiß ich, dass es gut war, dass mir nichts anderes übriggeblieben war. Damals war ich natürlich noch nicht so einsichtig. Ich lag also im Bett, konnte auf meinen schönen Balkon blicken und die schöne Aussicht genießen. Zwischendurch, es war mittlerweile auch schon fast Abend geworden, schlüpfte ich ab und zu auch auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Das war zwar nicht erlaubt, denn dafür gab es am Ende des Flures eine Raucherterrasse, aber ich hatte keine Lust dorthin zu gehen. Also rauchte ich auf meinem Balkon. Nachdem das Abendessen serviert war, kam sowieso keiner mehr in mein Zimmer und ich war ganz alleine. Die Nacht verbrachte ich wie bisher zu Hause auch mehr wach als schlafend, denn die Schmerzen waren nach wie vor ziemlich stark. Der Arzt hatte mir zwar ein Schmerzmittel angeboten, das ich aber abgelehnt hatte. Ich würde es mir vielleicht für die Nacht aufheben. Denn auch die Nachtschwester hatte Anweisung, dass ich noch mehr Schmerzmittel haben könnte, wenn ich wollte. Aber bis jetzt wollte ich nicht. Ich war es ja schon gewohnt, Schmerzen zu haben und ich wusste, dass das Zeug eh nicht viel nützt. Also versuchte ich zu schlafen, was mir auch stückweise gelang. Mitten in der Nacht wachte ich jedoch auf, weil die Schmerzen wieder so stark waren. Ich klingelte nach der Schwester und ließ mir dann doch ein paar Tabletten bringen. Ich schluckte sie und hoffte auf Besserung. Leider vergebens. Das Einzige was ich damit erreicht hatte war, dass mir jetzt nicht nur meine Arme wehtaten, sondern dass ich auch noch fürchterliche Magenschmerzen von den Tabletten bekommen hatte. Die Nacht war gelaufen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Also lag ich im Bett, biss die Zähne zusammen und wartete auf den Morgen. Immer in der Hoffnung, dass sich bald etwas ändern würde. Dass die Ärzte endlich etwas herausfinden würden.
Als dann der Morgen endlich kam und auf dem Flur so langsam der morgendliche Krankenhausbetrieb begann, konnte ich es kaum noch erwarten bis der Arzt kam. Vielleicht wusste er ja schon etwas. Aber es dauerte. Die Schwester brachte in der Zwischenzeit das Frühstück und räumte es auch wieder ab, weil ich keinen großen Hunger hatte. Ich sagte ihr, dass ich von den Tabletten der Nacht immer noch Magenschmerzen hatte. Sie sagte, dass ich gleich mit dem Arzt darüber sprechen sollte. Da heute aber Chefarzt-Visite sei, könnte es noch eine Weile dauern, bis jemand käme. Und es dauerte tatsächlich noch. Aber endlich war es dann doch soweit. Die Tür ging auf und ein ganzer Schwarm weißer Kittel betrat mein Zimmer. Allen voran der Chefarzt, dann der Oberarzt, dahinter ein paar Assistenz – oder Stationsärzte und am Ende ein paar Krankenschwestern. Welche Hierarchie, dachte ich. Alle schön auf ihrem Platz. Aber egal. Hauptsache, sie waren da.
So lernte ich nun auch den Chefarzt kennen. Ein sehr netter Arzt. Er stellte sich vor, fragte nach meinem Befinden und besprach sich mit seinen Ärzten. Die Blutergebnisse waren leider noch nicht da, ich müsste mich noch ein wenig gedulden. Auf das Problem mit meinem Magen angesprochen, wurde mir ein Magenschutzmittel verordnet und dann verabschiedeten sich die Herren wieder. Das war die Visite am Morgen. Ich war so schlau wie vorher auch und ich hatte auch immer noch die gleichen Schmerzen. Wann nur würde sich daran endlich etwas ändern?
Es war so gegen Mittag. Das Mittagessen war schon vorbei, und nachdem mir die Schwester auch gleich dieses Magenschutzpräparat vor dem Essen gebracht hatte, konnte ich auch ein wenig zu Mittag essen. Nach dem Essen kam dann doch noch einmal der Stationsarzt zu mir und teilte mir mit, dass nun die Blutergebnisse da wären, aber sich leider kein Befund ergeben hätte. Es müssten dann doch noch weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Ich war irgendwie total enttäuscht. Hatte ich mir doch solche Hoffnungen gemacht, dass nun endlich einmal etwas herauskommen würde. Und jetzt das. Also wurde mir noch einmal Blut abgenommen. Das hieß dann ja auf jeden Fall schon mal mindestens weitere ein bis zwei Tage auf die Ergebnisse zu warten. Na prima. Wieder weitere schmerzvolle Tage. Ich wartete also und wartete und wartete. Um es kurz zu machen: Es ging so die ganze Woche. Jede Untersuchung, die gemacht wurde, brachte kein Ergebnis. Ich konnte es nicht verstehen. Es war doch nicht möglich, dass kein Mensch wusste, was ich hatte. Dass es so einen Fall wie mich in diesem Krankenhaus noch nie gegeben hatte. Warum konnten die Ärzte mir nicht helfen? Als ich am Ende der Woche immer noch auf das letzte Blutergebnis warten musste, kam am Samstagmorgen der Oberarzt zu mir und meinte: “Also, wenn wir bei Ihnen körperlich nichts finden können, müssten wir uns einmal über Ihren seelischen Zustand unterhalten.“
Das war doch wohl die Höhe. Was glaubte der denn eigentlich? Bloß weil die zu doof waren um herauszufinden, was mit meinem Körper los war, sollte ich jetzt plötzlich seelische Probleme haben. Die hatten doch alle selber einen Knall, dachte ich. Ich war stinke sauer. Und das hatte auch dieser Oberarzt zu spüren bekommen. Ich hatte mich fürchterlich mit ihm gestritten. Was ich davon hatte, war, dass er mich in seinem späteren Bericht als „affektlabil“ bezeichnete. Das war mir aber ziemlich egal. Tatsache war, dass ich jetzt schon fünf Tage hier war, das Wochenende, an dem sowieso nichts weiter getan würde, vor der Tür stand, ich den Eindruck hatte, dass mir keiner glaubte, dass ich Schmerzen hatte und die Ärzte mir ein Gefühl vermittelten, als ob ich der größte Simulant wäre. Das war doch nun wirklich kein berauschendes Ergebnis. Am liebsten hätte ich meinen Koffer gepackt und wäre nach Hause gegangen. Wenn da nicht diese verdammten Schmerzen gewesen wären. Also blieb ich. Ließ alles über mich ergehen, immer in der Hoffnung, dass ein Wunder geschehen und endlich herausgefunden würde, was ich habe. Ich verbrachte ein sehr ruhiges, aber schmerzvolles Wochenende und vor allem war jetzt klar, dass ich noch eine weitere Woche würde bleiben müssen, denn ans Nach-Hause-Gehen war überhaupt nicht zu denken. Doch das war natürlich ein Problem. Ich war auf eine Woche Krankenhaus eingestellt gewesen. Was sollte nur mit den Kindern geschehen, wenn ich noch länger bleiben musste? Ich wusste nicht, ob meine Mutter das auf längere Zeit packen würde, die Kinder rund um die Uhr zu betreuen. Ich sprach darüber mit meinen Ärzten. Sie verstanden, dass ich damit ein Problem hatte und auch dadurch eigentlich nicht zur Ruhe kommen konnte, da ich mir viel zu viel Gedanken darum machte. Also wurde mir ein Gespräch mit dem Sozialen Dienst verordnet und da erfuhr ich, dass es die Möglichkeit gibt über die Krankenkasse eine Familienhelferin zu bekommen. Das fand ich gut. Mir wurde erklärt, was diese Familienhelferin alles für Aufgaben übernehmen würde. Sie würde sich um den Haushalt und um das Essen für die Kinder kümmern und auch einmal etwas mit den Kindern unternehmen. Das hörte sich wirklich gut an. Und mir würde damit eine große Last von den Schultern genommen, wenn ich wüsste, dass sich noch jemand um meine Kinder kümmern würde und nicht die ganze Arbeit auf meiner Mutter lasten würde. Nach diesem Gespräch ging es mir wesentlich besser, da ich jetzt wusste, dass wir Hilfe bekommen konnten. Ich bekam auch gleich eine Telefonnummer von meiner Krankenkasse, wo ich mich sofort informieren konnte. Ich rief auch gleich dort an und hatte eine sehr nette Dame am Telefon, die mir auch gleich alles dazu sagen konnte. Ich war ziemlich glücklich darüber, was ich jetzt so alles erfahren hatte. Damit sah die Situation doch gleich viel anders aus. Ich hatte, solange ich im Krankenhaus bleiben musste, auf jeden Fall Anspruch auf diese Familienhilfe. Und das beruhigte mich doch ungemein. Damit fühlte ich mich gleich auch viel besser und dann war es mir auch egal wenn ich noch eine Woche länger im Krankenhaus bleiben müsste. Das konnte ich dann doch mit ruhigem Gewissen hinnehmen.
Aber diese Rechnung hatte ich ohne meine Mutter gemacht. Nach diesem Gespräch mit der Krankenkasse rief ich sie freudig an und erzählte ihr, dass ich eben erfahren hatte, dass uns eine Familienhelferin zustehen würde und dass die ihr helfen würde die Kinder und unseren Haushalt zu versorgen, sodass sie selber nicht mehr so viel zu tun hätte. Aber was hatte ich mit diesem Vorschlag angerichtet? Wie konnte ich nur meiner Mutter „unterstellen“, dass sie das nicht allein konnte? Wie konnte ich nur annehmen, dass sie Hilfe brauchen würde? Nein, das brauchte sie nicht. Sie konnte das alles alleine und eine fremde Frau käme ihr auf gar keinen Fall ins Haus. Wie ich nur auf so eine Idee käme.
Das wäre völlig ausgeschlossen. Sie war tödlich beleidigt, dass ich überhaupt nur daran denken konnte, dass sie das nicht schaffen würde. Es entstand eine Riesendiskussion. Ich versuchte ihr klar zu machen, dass niemand an ihrer Kompetenz zweifeln würde, aber dass ich einfach wusste, dass es anstrengend ist, drei Kinder rund um die Uhr zu betreuen, sich um die Schularbeiten und alles drum herum zu kümmern. Es ist einfach mit viel Arbeit verbunden. Es geht dabei nicht nur darum, sie zu bekochen und abends ins Bett zu schicken. Es sind so die ganz alltäglichen Sachen. Zuzuhören, zu trösten wo es nötig ist, Probleme zu lösen, Hilfe zu geben wo sie gebraucht wird, die Geborgenheit zu vermitteln, die sie brauchen, der Fels in der Brandung zu sein, der für alle und alles immer eine Lösung parat hat und so weiter und so weiter. Und immer allen gerecht zu werden konnte manchmal ziemlich anstrengend sein. Das alles wusste ich ja schließlich.
Aber es nutzte alles nicht. Ich konnte ihr erzählen was ich wollte, eine fremde Frau kam nicht in Frage. Also blieb alles wie gehabt. Ich versuchte zwar noch mit den Kindern darüber zu sprechen, aber die hatte sie dann schon so um den Finger gewickelt, dass die natürlich auch keine fremde Frau bei sich haben wollten.
Also was sollte ich tun? Mir ging es einfach zu schlecht, um mich auf große Streitigkeiten einzulassen und wenn sie es nun alle so wollten wie es war, dann sollten sie es in Gottes Namen auch so behalten. Und somit war dann dieses Thema vom Tisch. Aber ich hatte es wenigstens versucht und obwohl sich an der Situation nichts geändert hatte, ging es mir diesbezüglich trotzdem besser, da es jetzt ihre eigene Entscheidung war, die sie freiwillig getroffen hatte und es nicht länger eine Situation war, in der es einfach von ihr erwartet wurde, dass sie die Betreuung der Kinder übernimmt. Und so konnte ich mich dann auch wieder um mich selbst kümmern.
Am meisten beschäftigte mich, was wohl die nächste Woche mit mir geschehen sollte? Was wollten die über mein Seelenleben wissen? Was war das eigentlich, das Seelenleben? Man hörte oder las zwar so allerhand darüber, aber was war damit eigentlich gemeint? Wo war die Seele? Hatte ich so etwas überhaupt? Was sollte ich mir nur darunter vorstellen? Ich hatte das ganze Wochenende darüber nachgedacht und irgendwie war mir ganz mulmig dabei. Ich konnte nicht so genau sagen warum, aber mich beschlich irgendwie ein komisches Gefühl. Es war nichts Greifbares, aber irgendwie seltsam. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger konnte ich mir darunter vorstellen. Oder vielleicht besser gesagt: Ich wollte mir nichts darunter vorstellen. Und überhaupt was sollte das Ganze denn? Ich hatte doch überhaupt keine Probleme. Unseren Umzug Anfang des Jahres hatte ich ja nun wirklich gut verkraftet. Mittlerweile war es immerhin schon Oktober geworden und somit schon einige Monate her. Es hatte sich soweit alles eingependelt. Nur dass mein finanzielles Problem in der Zwischenzeit noch ein bisschen größer geworden war, da ich nun nämlich schon seit Ende Juli krankgeschrieben war und somit keine Lohnfortzahlung von meinem Arbeitgeber mehr bekam, sondern nur noch Krankengeld, was ja nun nicht mehr dem normalen Lohn entsprach. Wie sollte ich denn jetzt bloß überleben? Das hieß nun für mich, ganz, ganz schnell gesund zu werden, um wieder arbeiten gehen zu können. Es ging ja schließlich nicht nur um meine Arbeit im Krankenhaus, sondern auch um meine zahllosen Nebenjobs, die mir immer gutes Geld eingebracht hatten. Aber wie sollte ich gesund werden, wenn die Ärzte noch nicht einmal wussten, was ich hatte, beziehungsweise anfingen auf meinem seelischen Zustand herumzuhacken? Ich war sicher, dass da meine Schmerzen nicht begraben waren. Aber so wie es aussah, wollte mir das ja niemand glauben.
So verging das Wochenende. Am Montagmorgen gingen die Untersuchungen dann weiter. Ein weiterer Neurologe kam dazu, der irgendwelche speziellen Untersuchungen mit verschiedenen Geräten durchführte. Einige davon waren sehr unangenehm. Aber diese Unannehmlichkeiten sollten sich lohnen. Am Spätnachmittag kam mein behandelnder Arzt zu mir und teilte mir mit, dass sie endlich etwas gefunden hätten, was meine Schmerzen erklärte. Vor lauter Freude darüber, dass jetzt endlich klar war, dass ich weder simulierte, noch dass ich einen an der Klatsche hatte, hätte ich fast vergessen zu fragen, was denn nun festgestellt worden war. Es war niederschmetternd für mich, mir anhören zu müssen, dass ich in meinem linken Arm eigentlich keinen Nerv mehr hatte. Die Nervenfasern des Ulnaris waren zu drei Viertel zerstört. An meinem rechten Arm war nicht der Ulnaris, sondern der Medianus betroffen. Aber dort war es nicht mehr ganz so schlimm. Mein Körper hatte wohl schon mit der Reparaturarbeit begonnen. Der Neurologe erklärte mir, dass die Nervenfasern sich wohl regenerieren konnten, dass dies aber sehr, sehr lange dauern konnte. Mit diesem „sehr, sehr lange“ meinte er mindestens ein halbes, wenn nicht gar ein ganzes Jahr. Eine tolle Aussicht war das. Aber immerhin. Es gab ein Ergebnis. Einerseits war ich fast glücklich darüber, dass man jetzt endlich wusste was ich hatte, andererseits aber ziemlich enttäuscht, als ich erfuhr, dass man eigentlich gar nichts dagegen tun konnte. Der Körper musste die Reparaturarbeit selber leisten. Man musste ihm eben Zeit lassen. Ja, super. Wie sollte ich ihm denn Zeit lassen? Ich musste arbeiten gehen und das so schnell wie möglich. Wie sollte es denn jetzt bloß weitergehen? Ich hatte keine Ahnung. Im Moment ging es jedenfalls so weiter, dass ich versuchte, einigermaßen mit meinen Schmerzen zurechtzukommen, und seitdem ich nun wusste, was es war und dass es wieder weggehen würde, gelang es mir eigentlich auch viel besser als vorher. Irgendwie muss die Psyche da wohl doch eine Rolle gespielt haben. Was ich allerdings bisher ganz vergessen hatte war, dass sich seit einiger Zeit an meinen Füßen so seltsame rote Flecken gebildet hatten, die allerdings nicht immer sichtbar waren, nur manchmal. Und da diese nun aber auch überhaupt nicht weh taten, hatte ich sie auch nicht so sehr beachtet. Nur jetzt, da ich nun schon einmal im Krankenhaus war, und da ja jetzt geklärt war was ich hatte, könnte man ihnen vielleicht auch ein bisschen Beachtung schenken. Also sprach ich am nächsten Tag meinen Arzt darauf an. Er sah sie sich an, fragte mich, wann das denn begonnen hätte, ob sie weh tun würden und wann sie mehr und wann weniger zu sehen sind. Ich hatte eigentlich keine Ahnung. Das Einzige was ich mit Bestimmtheit sagen konnte war, dass sie nicht weh taten. Wann ich sie zum ersten Mal wahrgenommen hatte wusste ich schon gar nicht mehr. Vor ein paar Monaten war da mal ein kleiner Fleck an meinem linken Knöchel sichtbar. Dann war mal einer am rechten Knöchel an der Innenseite. Aber alles nichts Schlimmes. Nichts, worüber man sich hätte Gedanken machen müssen. Nun ja, man hätte vielleicht mal darüber nachdenken können, ob es vielleicht nicht doch besser wäre, mit dem Rauchen aufzuhören. Man ging ja nun schließlich auf die vierzig zu. Aber sollte das nun wirklich ein Grund sein? Eigentlich doch nicht. Und sonst ging es mir ja immer gut. Also warum sollte ich? Die Ärzte sahen das allerdings ein klein bisschen anders. Eine Ahnung, was es sein könnte, hatten sie zwar nicht, aber dass es besser wäre, wenn ich mit dem Rauchen aufhören würde, da waren sie sich alle einig. Ich dagegen war allerdings weniger einsichtig. Schon gar, weil mir ja keiner sagen konnte, was es war und ob das wirklich mit dem Rauchen zusammenhing. Ich wollte es nicht glauben und konnte es mir auch nicht vorstellen. Also sah ich auch keine Veranlassung dazu mein geliebtes Laster aufzugeben. So ging das nun weiter. Jeden Tag neue Untersuchungen. Neue Ideen was die Flecken an meinen Beinen wohl sein könnten. Jeden Tag neue Untersuchungsergebnisse. Und jeden Tag ein kleines Stück Hoffnung weniger, dass sie doch noch herausfinden würden, was es war. Ich wurde wirklich auf die ausgefallensten Krankheiten hin untersucht, aber alles ohne Erfolg. Auch davon hatte ich nichts. Ich wusste mittlerweile nur was ich alles nicht hatte. Ich hatte keinen Krebs, kein AIDS, keine Hepatitis und auch meine Lunge war in Ordnung. Nun gut, es war ja nun auch schon mal beruhigend, zu wissen was man alles nicht hatte. Aber so langsam wurde ich ungeduldig. Ich wollte nur noch nach Hause. Aus der einen Woche, für die ich eigentlich in das Krankenhaus gegangen war, waren mittlerweile schon vier geworden. Meine Schmerzen in den Armen waren auch etwas besser, sodass ich damit leben konnte. Ich hatte zwar noch immer keine Kraft und eine Sprudelflasche konnte ich noch immer nicht alleine öffnen, aber es tat auch nicht mehr ganz so arg weh wie am Anfang. Ich konnte jetzt zumindest ein Buch halten, sodass ich wenigstens ein wenig lesen konnte. Auch mit dem Stricken hatte ich es schon probiert. Es ging so einigermaßen. Allerdings nicht sehr lange am Stück. Meine Arme ermüdeten recht schnell. Aber egal. Immer wieder ein Stückchen, das ging schon. So war ich eigentlich recht zufrieden. Am Ende der Woche kamen der Professor und der Oberarzt zu mir, um noch einmal ein paar außergewöhnliche Untersuchungen mit mir zu besprechen, die man für die nächste Woche angeordnet hätte. Ich willigte ein und so begann die nächste Woche, wie eigentlich alle Wochen begonnen hatten, mit Blutabnehmen. Aber das war ich ja nun mittlerweile gewohnt. Es machte mir überhaupt nichts mehr aus, wenn sie mir irgendwelche Nadeln in meine Venen stachen, um mir mein Blut abzuzapfen. Für eine Untersuchung musste ich sogar in eine andere Klinik gebracht werden. Sie war etwa vierzig Kilometer von hier entfernt und ich wurde mit dem Taxi hingefahren. Es war eine spezielle Hautklinik. Dort sollte eine Hautbiopsie durchgeführt werden. Das hieß, jetzt wollten sie von mir nicht nur mein Blut haben, sondern auch noch ein Stück meiner Haut aus mir herausschneiden. Also gut. Auch das ließ ich über mich ergehen. Es war auch nicht schlimm. Die Stelle wurde örtlich betäubt, ein kleines Stück von der Haut, an der so ein roter Fleck sichtbar war, herausgeschnitten und danach wieder zusammengenäht. Das Ganze wurde in dieser Klinik ambulant durchgeführt und ich hätte eigentlich eine Stunde später wieder gehen können, wenn da nicht dieser Arzt gewesen wäre, der die Sache so interessant gefunden hatte, dass er ganz wild darauf war mich seinem Professor im Hörsaal vorzustellen. Ich hatte keine Vorstellung davon, was das zu bedeuten hatte. Er erklärte es mir kurz und bat mich inständig dazubleiben. So etwas Seltenes bekomme man schließlich nicht jeden Tag zu sehen. Also blieb ich da. Bestellte mein Taxi ab und wartete auf den Professor und seine Studenten. Als es dann endlich soweit war, wurde ich in den Hörsaal geführt. Dort sollte ich meine Hose ausziehen, damit alle meine Beine begutachten konnten. Mein behandelnder Arzt teilte währenddessen die Untersuchungsergebnisse der anderen Klinik mit, die ich mitgebracht hatte. Der Professor saß in der Mitte und seine „Fans“ um ihn herum. Alle sahen sich meine Beine eingehend an. Danach ein kurzes Gemurmel mit dem Chef, der sich daraufhin gelangweilt in meine Richtung wandte und meinte das säh alles nach einer MS (Multiple Sklerose) aus und er könnte nichts für mich tun. Bevor ich mich richtig versah war ich schon wieder draußen.
Total geschockt stand ich neben meinem Arzt im Flur. Es war in all den Wochen, die ich jetzt im Krankenhaus verbracht hatte, das erste Mal, dass mir jemand so eine „Diagnose“ im Schnellverfahren an den Kopf geschmissen hatte. I c h sollte MS haben. Ich wusste, was das bedeuten würde. Hatte ich nicht früher, als ich noch als Kellnerin nebenbei gejobbt hatte, immer die AMSEL – Gruppe einmal wöchentlich bedient? Hatte ich nicht gesehen, wie es diesen Menschen mit dieser Krankheit immer schlechter gegangen war? Ich sah alles vor meinem geistigen Auge. Und dazu sollte ich ab jetzt gehören? Mir war auf einmal ganz schlecht. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Ich hasste diesen Professor in diesem Augenblick für das, was er eben zu mir gesagt hatte, und ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was das für mich bedeuten würde. So verließ ich die Klinik.
Auf dem Weg zurück in mein Krankenhaus unterhielt ich mich mit dem Taxifahrer. Ich erzählte ihm, was mir soeben passiert war und er merkte schnell, dass mich diese Aussage dieses Professors ziemlich tief getroffen hatte. Aber er meinte auch, dass wenn ihm jemand so etwas an den Kopf werfen würde, er das noch lange nicht glauben würde, bevor nicht weitere Untersuchungen diesen Verdacht, und mehr war es ja eigentlich bisher auch nicht, bestätigen würden. Im Übrigen fände er das Verhalten dieses Professors unmöglich. Wie könnte man einem Menschen so etwas sagen und ihn dann einfach damit stehen lassen, meinte er. Und irgendwie fand ich das eigentlich auch. Ich wurde wieder etwas ruhiger. Er hatte doch Recht, dachte ich. Wer sagt denn, dass seine Aussage stimmte? Von meinen bisher behandelnden Ärzten, hatte noch keiner über diese Möglichkeit mit mir gesprochen. Was mich jetzt eigentlich doch ein bisschen wunderte, wenn ich es mir so recht überlegte. Jedenfalls machte mir dieser Taxifahrer doch ein bisschen Mut. Zurück in der Klinik wurde ich natürlich sofort gefragt wie es denn gewesen sei, dort in der anderen Klinik. Und so erzählte ich noch einmal die ganze Geschichte. Ich konnte in ungläubige Gesichter schauen, während ich so erzählte. Meine Ärzte wollten es fast nicht glauben, dass so etwas wirklich geschehen war. Aber es war.
Nun, nachdem sie diesen Brocken, den ich ihnen da hingeworfen hatte, so halbwegs verdaut hatten, begannen sie sofort mich umfassend darüber aufzuklären, dass das niemals bei mir zutreffen würde, weil ich eigentlich eher das genaue Gegenteil von einer Multiplen Sklerose hatte. Bei einer MS wird die Nervenummantelung zerstört und dies kann auch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der Körper kann es nicht mehr reparieren. Bei mir war ja aber nicht die Nervenummantelung zerstört, sondern die darin laufenden Nervenfasern und die könnte der Körper durchaus wieder reparieren. Er braucht halt eben Zeit dafür. Und wenn man eine Krankheit bei mir hundertprozentig ausschließen könnte, dann wäre es MS.
Das klang ja alles ganz logisch. Auch für einen Laien vollkommen verständlich. Ich beruhigte mich wieder. Bis zum Abend hatte ich die ganze Angelegenheit schon fast vergessen. An so schlimme Sachen wollte ich gar nicht denken. Auf die Biopsie-Ergebnisse mussten wir wieder ein paar Tage warten. Als sie dann endlich da waren, waren wir so schlau wie vorher auch. Sie brachten nämlich absolut kein Ergebnis. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, dass diese Biopsie auf meinem rechten Fußrücken gemacht wurde. So war auch diese Woche fast schon um, als der Professor eines Tages zu mir kam und mir mitteilte, dass ich Anfang nächster Woche nach Hause gehen dürfte, da sie, bis auf eine Untersuchung, die noch gemacht werden könnte, nicht mehr weiter wüssten. Ich durfte nach Hause - das war eine wunderbare Nachricht für mich. Fünf Wochen war ich jetzt hier, und das reichte, dachte ich.