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Marie steht kurz vor ihrer Hochzeit mit Victor, dem reichsten und begehrtesten Junggesellen der Stadt, als sie ihn in flagranti ertappt. In einem kleinen Hotel am Meer, wohin sie von ihrer Freundin Ella geschleppt wird, kann sie sich langsam von ihrem Schock erholen. Nicht zuletzt durch den Fischer Nikolaos, der selber mit einem unendlich traurigen Schicksal zu kämpfen hat, kann Marie sich wieder öffnen und lernt ihm zu vertrauen. Doch eines Tages steht plötzlich Victor vor ihr und bittet sie um Verzeihung. Ein dummes Missverständnis führt dazu, dass Nikolaos sich von Marie abwendet und sie deshalb bitter enttäuscht mit Victor nach Deutschland zurückgeht. In den Wirren der Hochzeitsvorbereitungen zwingt ein dramatisches Ereignis Marie jedoch dazu, nach Griechenland zurückzukehren. Doch Victor folgt ihr ein weiteres Mal. Können nun endlich die Hochzeitsglocken läuten oder hält das Schicksal noch weitere Überraschungen bereit?
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für alle Romantiker,
die der Liebe eine
Chance geben.
Marie stand vor dem Spiegel im Badezimmer und schaute in ihr verheultes Gesicht. Mein Gott, Marie, dachte sie, wie siehst du nur aus? Die Augen rot und aufgequollen und die Haare klebten ihr fransig im Gesicht. Die Lippen waren aufgesprungen und total rissig, weil sie ständig darauf herum gebissen hatte. Ihr Blick war leer und emotionslos und sie sah in ein Gesicht, das ihr fremd war, denn sie erkannte sich kaum wieder. Sie versuchte sich zu erinnern, was gestern passiert war. Kaum dass sie die Erinnerung wiedergefunden hatte, liefen ihr auch schon wieder Tränen über das Gesicht. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und konnte nicht aufhören zu weinen. Das Herz in ihrer Brust klopfte wie wild. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Aber immer noch wirbelten die Gedanken wild durcheinander und wollten ihr keine Ruhe gönnen. Die Erinnerung an den gestrigen Tag war unglaublich schmerzvoll.
Dabei hatte alles so schön angefangen. Sie war morgens mit ihrer Freundin Ella verabredet gewesen, denn sie wollten zusammen ihr Hochzeitskleid aussuchen. Sie war total aufgeregt und freute sich sehr darauf. Man heiratet schließlich nicht jeden Tag, und deshalb sollte das nun einmal der schönste Tag in ihrem Leben werden. Es musste einfach perfekt sein - und zwar alles, nicht nur das Kleid. Aber damit wollte sie beginnen und dafür brauchte sie ihre Freundin. Und zwar nicht irgendeine, sondern ihre beste - und das war nun einmal Ella. Ella war ein Wirbelwind, dessen Energie schier unendlich war und ihre permanent gute Laune riss jeden mit. Mit ihr wollte sie sich also auf machen und das schönste Hochzeitskleid im Lande finden. Dafür hatten sie den ganzen Tag eingeplant, denn das konnte ja schließlich dauern. Ella hatte sich dafür extra frei genommen und Marie abgeholt. Sie hatte eine ganz bestimmte Vorstellung, wie das Kleid aussehen sollte. Es musste zwar ziemlich schlicht gehalten sein, denn das ganze pompöse Rüschenzeug mit Röcken von unendlichem Durchmesser und drei Meter Schleppen und Schleiern gefiel ihr nun einmal überhaupt nicht. Aber es musste trotzdem eben das gewisse „Etwas“ haben. Was dieses „Etwas“ sein sollte, wusste Marie im Moment noch nicht, aber sie war sicher, dass sie es finden würden. Mit dieser festen Überzeugung zogen sie los. Ella war fast noch aufgeregter als Marie und freute sich tierisch darauf, sie einzukleiden. Sie hatte auch schon einen genauen Plan, wo sie anfangen wollten und in welcher Reihenfolge sie welche Geschäfte abklappern würden. Marie verließ sich da ganz auf sie, denn wozu hatte man schließlich eine beste Freundin?
Und so kamen sie bei dem ersten Geschäft an. Es war ein sehr nobler Laden. Schon von außen konnte man sehen, dass alles sehr exklusiv und bestimmt auch teuer war. Aber das spielte keine Rolle, denn Maries Verlobter Victor Egon von Woltersberger war ein stinkreicher Geschäftsmann. Ein Immobilienmogul und landauf, landab die beste Partie. Und den hatte sie sich geangelt. Sie waren seit zwei Jahren ein Paar und als er ihr vor drei Monaten einen Heiratsantrag gemacht hatte, war das Glück für Marie perfekt. An seiner Seite stand ihr ein traumhaftes Leben bevor, denn es würde ihr an nichts fehlen. Er lebte in einer mehr als eleganten Villa am See und was es dort alles gab, war an Luxus kaum zu übertreffen. Sie hielt sich dort auch schon die meiste Zeit auf, obwohl sie ihre eigene Wohnung noch nicht aufgegeben hatte, aber Victor wollte es so und er legte ihr wirklich die Welt zu Füßen. Sie bekam alles, was sie sich wünschte, und sie lebten, wie man so schön sagt: in Saus und Braus.
Victor war ein angesehener Mann in der Gesellschaft und es gab auch so manchen offiziellen Anlass, zu dem sie ihn begleitete. Er führte Marie als seine Verlobte natürlich in die Gesellschaft ein und sie wurde sehr freundlich aufgenommen, obwohl eigentlich jeder wusste, dass sie aus sehr einfachen Verhältnissen stammte, wohin sie wahrscheinlich auch die eine oder andere Dame zurückwünschte, denn Victor war lange Zeit ein begehrter Junggeselle, den sich manch eine gerne geschnappt hätte. Maries Anwesenheit zerstörte wohl den Traum so mancher Dame. Aber Victor interessierte das überhaupt nicht, denn er hatte sich nun einmal für sie entschieden und sie waren glücklich. Und so stand sie jetzt mit Ella hier vor diesem sündhaft teuren Geschäft und traute sich kaum hineinzugehen.
Doch Ella nahm ihre Hand und sagte: „Komm!“, und sie betraten das Geschäft.
Beim Öffnen der Tür ertönte ein leiser, dezenter Ton und im gleichen Augenblick kam eine sehr elegant gekleidete Dame auf sie zu. Sie wurden sehr freundlich begrüßt und die Dame fragte nach ihren Wünschen.
Doch bevor Marie den Mund aufmachen konnte, um zu antworten, plapperte Ella neben ihr schon los. „Wir brauchen für meine Freundin das ausgefallenste Hochzeitskleid, das dieser Planet jemals gesehen hat.“
Die Verkäuferin schmunzelte etwas und sagte: „Sehr wohl die Damen, dann folgen sie mir doch bitte.“
Sie gingen in den hinteren Teil des Geschäftes, wo sie gebeten wurden, an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen. Die Dame bot ihnen einen Kaffee an, den sie gerne annahmen, denn sie ahnten, dass das eine längere Angelegenheit werden würde. Die elegante Dame rief etwas nach hinten und wie aus dem Nichts tauchten drei junge, hübsche Verkäuferinnen auf. Sie erklärte ihnen, dass die Kundin hier etwas ganz Ausgefallenes suchte und sie gingen lächelnd davon. Kurz darauf kamen sie wieder zurück und jede von ihnen schob einen riesigen Kleiderständer vor sich her. Diese waren so groß, dass man die Mädels dahinter kaum noch sehen konnte. Die Kleiderständer waren voll beladen mit Hochzeitskleidern und Marie wurde ganz schwindelig, wenn sie daran dachte, dass sie die jetzt alle anprobieren sollte. Aber so schlimm kam es dann doch nicht, denn nicht sie musste probieren, sondern die drei Mädels präsentierten ihr die Modelle, die sie sich aussuchte - sozusagen eine private Modeschau nur für sie. Marie kam sich vor wie Pretty Woman. Die Mädels machten ihre Sache sehr gut und bemühten sich unglaublich um sie. Unermüdlich wurde ihr ein Kleid nach dem anderen vorgeführt, bis Marie plötzlich fast vom Stuhl fiel, als Mary, so hieß eine von den Dreien, in einem weißen, schulterfreien Overall vor ihr stand. Der war atemberaubend schön und ihr blieb fast die Luft weg. Das war es!
Ella sah sie mit großen Augen an: „Das?“, fragte sie.
Marie sah sie an und nickte: „Genau das!“
Die Verkäuferin lächelte.
„Ja“, sagte sie, „das kann ich mir sehr gut an Ihnen vorstellen.“ Sie sah Marie an und fragte: „In Größe 38?“
Marie nickte.
Eine der Mädels ging nach hinten und kam kurz darauf mit der besagten Größe zurück. Marie nahm es und verschwand in der Umkleidekabine. Wobei es mehr als Umkleidezimmer bezeichnet werden konnte, so groß war es. Marie schlüpfte hinein und war sprachlos. Das Ding passte ihr wie angegossen. Alles war perfekt, bis auf die Länge. Da sie nicht besonders groß war, waren, wie bei allen Hosen, die Beine zu lang. Sie ging nach draußen, um sich ihrer Freundin zu zeigen, und sah in zwei freudige Gesichter, denn nicht nur Ella sah sie ziemlich ungläubig an, sondern auch die Verkäuferin.
„Mein Gott, Marie“, rief Ella, „das ist ja der Wahnsinn! Du siehst umwerfend aus.“
Und die Verkäuferin sagte: „Dem kann ich nur zustimmen, das ist wirklich wie für Sie gemacht.“
Marie drehte sich vor dem Spiegel hin und her und besah sich von allen Seiten. Sie gefiel sich selbst auch sehr und fühlte sich darin pudelwohl. Sie sah die Verkäuferin an und fragte: „Und welche Schuhe?“
Wieder wurde ein ganzes Regal an Schuhen herangeschoben und sie machte sich auf die Suche. Es dauerte nicht sehr lange und sie wurde auch hier fündig. Und obwohl die Schuhe hohe Absätze hatten, waren die Hosenbeine noch immer zu lang. Doch auch das war kein Problem, denn darum würde sich die hauseigene Schneiderin kümmern, die auch sogleich gerufen wurde. Die steckte die Hosenbeine auf die richtige Länge ab und verschwand wieder. Marie drehte sich noch einmal vor dem Spiegel hin und her. Jetzt, wo die Hose die richtige Länge hatte, sah das Ganze noch einmal ganz anders aus und es gefiel ihr wirklich ausgesprochen gut. So konnte sie sich das absolut vorstellen. Aber sie brauchte nun auch noch etwas auf den Kopf. Ein typischer Schleier kam nicht in Frage und sie sah sich um. Im Schaufenster hatte sie vorher einen Hut gesehen und danach fragte sie die Verkäuferin. Und wie konnte es anders sein, auch hier wurde ein Regal hereingebracht, das voller Hüte war. Es waren auch viele schöne dabei, aber der aus dem Fenster gefiel Marie am allerbesten. Also wurde dieser kurzerhand geholt und sie setzte ihn auf. Wie für sie gemacht. Es passte alles perfekt.
Ella war ganz aus dem Häuschen und rief: „Oh, Marie, du bist die schönste Braut, die das Land je gesehen hat.“
Auch die Verkäuferin nickte wohlwollend. Aber bei ihr war ja auch klar, dass sie zufrieden war, denn dieser Fummel hier würde ihre Kasse ordentlich klingeln lassen. Deshalb gab Marie auf ihre Meinung zu diesem Outfit auch nicht ganz so viel wie auf Ellas. Aber die war total happy und sie selbst schließlich auch. Nun wurden ihr noch schnell einige dazu passende kleine weiße Taschen gezeigt, wovon ihr auch eine ganz besonders gut gefiel und perfekt zu diesem Outfit passte. Und so war das, wofür sie eigentlich den ganzen Tag eingeplant hatten, in gut drei Stunden erledigt. Sie besprachen die Formalitäten und Marie gab an, wohin alles - natürlich inklusive der Rechnung - geschickt werden sollte. Sie wurden überaus freundlich verabschiedet und verließen das Geschäft.
Marie stand draußen und strahlte Ella an. Sie konnten es beide nicht fassen, dass sie das so schnell geschafft hatten.
Ella sagte: „Das ist unglaublich. Ich dachte, wir brauchen dafür den ganzen Tag, und ich hatte schon meine Mutter, die momentan bei mir zu Besuch ist, gebeten auf Benny aufzupassen.“
Ja, es war wirklich unglaublich, dass sie den ganzen Einkauf in so kurzer Zeit erledigt hatten und Marie war superglücklich. Sie überlegten, was sie nun tun könnten. Da sie ja eigentlich den ganzen Tag eingeplant hatten, blieb ja jetzt noch eine Menge Zeit übrig. Sie entschieden sich für ihr Lieblingslokal, das etwas außerhalb an dem See lag, an dem auch Victors Villa stand. Marie war deshalb schon sehr oft dort, und sie beschlossen, hinauszufahren und essen zu gehen. Es war wunderschönes Wetter und gerade ein „Muss“, draußen zu bleiben. Sie parkten das Auto und betraten die Terrasse.
Das kleine Lokal lag direkt am Jachthafen und man hatte einen tollen Ausblick auf die herrlichen Jachten, die hier vor Anker lagen. Auch Victor hatte seine Jacht hier liegen und damit hatten sie schon viele tolle Ausflüge gemacht. Sie lag am Ende des Hafens und man konnte sie von hier aus nicht sehen. Ella konnte kaum aufhören, von diesen tollen Jachten hier zu schwärmen und lag Marie wieder einmal in den Ohren, dass sie doch Victor überreden sollte, dass sie mitkommen dürfte, wenn sie wieder einmal damit hinausfahren. Marie hatte es ihr schon vor längerer Zeit versprochen, aber irgendwie hatte es bis jetzt noch nicht geklappt. Aber das würde es schon noch irgendwann.
Sie aßen eine Kleinigkeit zu Mittag und verplauderten den halben Nachmittag, als plötzlich Ellas Handy klingelte. Sie fingerte es aus ihrer Tasche und meldete sich. Die aufgeregte Stimme, die sich am anderen Ende befand, konnte Marie bis zu sich hin hören. Ella versuchte diese Stimme zu beruhigen, da sie anscheinend nicht verstand, was dieser Jemand ihr mitteilen wollte.
Sie sagte: „Mama, jetzt beruhige dich doch bitte und sage mir, was passiert ist.“
Aha, ihre Mutter war das also. Sie schien Ella nun noch einmal zu erzählen, was passiert war, und je mehr sie davon verstand, desto blasser wurde Ella und Marie hörte sie nur sagen: „Oh, mein Gott, ich komme sofort.“ Sie legte auf und sah Marie leichenblass an.
„Was ist los?“, fragte Marie besorgt. Denn dass etwas nicht stimmte, war ganz offensichtlich.
Ella sprang vom Stuhl und sagte: „Marie, ich muss sofort ins Krankenhaus, mein Sohn hatte einen Unfall.“
„Benny?“, rief Marie total entsetzt. „Was ist denn passiert?“
Ella sah sie mit großen Augen an und sagte: „Ich weiß es nicht genau, aber er war mit dem Fahrrad unterwegs und wurde von einem Lastwagen erfasst. Er ist im Krankenhaus. Entschuldige bitte, Marie, aber ich muss sofort los.“
„Ja, natürlich“, antwortete sie, „das ist doch logisch, dass du da sofort hin musst.“
Marie winkte den Kellner her und bezahlte in Windeseile die Rechnung. Dann rannten sie wie von der Tarantel gestochen zu Ellas Auto. Marie sagte: „Ella, lass mich fahren, du bist viel zu aufgeregt.“
Ella sah sie hilflos an und reichte ihr den Autoschlüssel. Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie stieg wortlos ein.
Da das Seehaus ziemlich außerhalb der Stadt lag, brauchten sie eine gute halbe Stunde, bis sie beim Krankenhaus ankamen. Marie parkte das Auto, schnappte Ella am Arm und rannte hinein. An der Information fragten sie nach, wohin sie denn mussten. Die freundliche Dame erklärte ihnen den Weg und sie rannten in die angegebene Richtung. Als sie um eine Ecke bogen, sahen sie das Schild „Notaufnahme“, wussten dass sie richtig waren, und rannten weiter. Es gab so viele Türen hier und sie wussten nicht, hinter welcher sich Benny befand. Sie waren so eilig unterwegs, dass sie fast einen Arzt umgerannt hätten, der aus einem Zimmer kam.
Ella hielt ihn reflexartig am Ärmel fest und schrie ihn an: „Wo ist mein Sohn?“
Der arme Mensch verstand natürlich nicht, was Ella von ihm wollte und sah sie unverständlich an. Da Ella nicht in der Lage war, auch nur einen vernünftigen Satz über die Lippen zu bringen, sagte Marie ihm kurz, worum es ging. Er konnte nun zwar Ellas Reaktion verstehen, aber da er nicht der behandelnde Arzt war, natürlich auch keine Auskunft geben und verwies sie zur Anmeldung, die sich einige Türen weiter befand. Marie bedankte sich, nahm die völlig konfuse Ella an der Hand und eilte mit ihr dorthin. Es standen einige Leute vor ihnen, aber das interessierte Marie im Moment überhaupt nicht. Sie entschuldigte sich mehrfach und drängte sich mit Ella an der Hand an den Wartenden vorbei. Nicht alle hatten dafür Verständnis, aber das war ihr im Moment auch ziemlich egal, und sie ignorierte einfach alle bösen Worte, die sie trafen. Ella registrierte das sowieso nicht, denn sie war völlig neben der Spur. Die Dame an der Anmeldung war über ihr Auftreten auch nicht sehr erfreut und sah sie nicht gerade wohlwollend an. Aber bevor sie auch nur überhaupt etwas hätte sagen können, bombardierte Marie sie mit Fragen zu Benny.
„Sind Sie die Mutter?“, hörte Marie sie fragen.
„Nein“, antwortete sie, „aber sie hier“, und sie deutete dabei auf Ella.
Hinter ihnen waren alle bösen Worte verstummt, denn die Menschen hatten nun verstanden, worum es hier ging und hatten nun eher Mitleid mit der armen Ella, die tränenüberströmt an Maries Hand hing, unfähig, irgendetwas zu tun. Wortlos nahm die Dame das Telefon und wählte eine Nummer. Kurz darauf sagte sie: „Die Mutter vom Fahrradunfall ist hier, kannst du jemand schicken, um sie abzuholen?“ Dann legte sie den Hörer wieder auf und sagte zu Ella: „Es bringt sie gleich jemand zu Ihrem Sohn.“
Ihre Stimme klang nun etwas milder als am Anfang.
Über Ellas Wangen liefen noch immer Tränen, aber sie hatte ihre Sprache wiedergefunden und fragte mit dünner Stimme: „Wie geht es ihm?“
Die Dame sah sie mitleidig an und sagte, dass sie das nicht wüsste. Dann bat sie Ella und Marie, etwas zur Seite zu treten, damit die anderen jetzt drankommen könnten.
Marie schob Ella zu ein paar Stühlen am Rand und sie setzten sich. Ella war fix und fertig und ständig am Weinen. Sie nahm sie in den Arm und hielt sie fest: „Komm“, sagte sie, „es wird schon nicht so schlimm sein, beruhige dich.“
Aber das war natürlich leichter gesagt als getan. Auch für Marie, denn sie merkte, dass auch sie ziemlich aufgeregt war und bei Weitem nicht so ruhig und gelassen, wie sie sich das gewünscht hätte, um Ella Kraft geben zu können. Sie machte sich auch große Sorgen um Benny. Er war Ellas Ein und Alles und die Vorstellung, dass ihm etwas passiert sein könnte…
Oh, mein Gott, nein, diesen Gedanken wollte sie gar nicht zu Ende denken.
Plötzlich stand eine Schwester vor ihnen und fragte: „Frau Schuler?“
Ella hob den Kopf und sagte: „Ja!“
Die Schwester sagte: „Ich bin Schwester Elisabeth, bitte kommen Sie mit.“
Sie standen auf. Die Schwester sah Marie an und fragte: „Sind Sie auch eine Verwandte?“ Marie schüttelte den Kopf.
„Dann müssten Sie bitte hier warten.“
Ella sah sie hilflos an und Marie sagte: „Ich warte hier auf dich.“
Sie nickte stumm und folgte wortlos der Schwester.
Marie lehnte sich im Stuhl zurück und atmete einmal tief durch. Der Gedanke, dass Ellas Sohn ernsthaft etwas passiert sein könnte, machte sie fast wahnsinnig. Ella lebte seit ihrer Scheidung mit Benedikt, den sie liebevoll Benny nannte, alleine, und er war einfach alles für sie. Wenn er jetzt… Nein, so wollte sie gar nicht denken, das wäre eine Katastrophe, das würde Ella nicht überleben.
Sie hing ihren Gedanken nach und dachte an ihre eigene Situation. Sie würde in zwei Monaten Victor, den reichsten Junggesellen der Gegend, heiraten und war total happy. Sie hatte sich heute ein superschönes Hochzeits-Outfit gekauft, bei dem sie sich sicher war, dass es auch Victor gefallen würde, und sie hatte einen wunderschönen Tag mit ihrer Freundin draußen am See verbracht, der dann allerdings ein jähes Ende genommen hatte. Wie nah doch Glück und Leid zusammenlagen, dachte Marie. Ihr tat Ella in der Seele leid. Was wohl jetzt gerade passierte? Wo war sie? Wie ging es Benny? Ihr gingen so viele Gedanken durch den Kopf, sodass sie nicht mehr wusste, wie lange sie so dagesessen hatte, als plötzlich Ella neben ihr stand. Sie war leichenblass im Gesicht und zitterte am ganzen Körper.
Marie erschrak total, als sie sie sah, und fragte völlig entsetzt: „Und was ist mit Benny?“, und Sie rechnete schon mit dem Schlimmsten.
Ella nahm ihre Hand und sie setzten sich. Dann sagte sie: „Benny ist auf dem Nachhauseweg von der Schule von einem Lastwagen erfasst und mitgeschleift worden. Er hat so ziemlich jeden Knochen im Körper gebrochen, aber er lebt. Vorhin, als mich die Schwester hier abgeholt hatte, kam er gerade aus dem OP und wurde auf die Intensivstation gebracht. Er ist vom Kopf bis zu den Füßen eingegipst und völlig bewegungsunfähig. Aber so langsam erwacht er aus der Narkose und ich konnte schon kurz mit ihm sprechen, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder völlig klar ist. Im Moment schläft er und meine Mutter ist bei ihm. Die Ärzte sagen, dass er großes Glück gehabt hat, dass das so ausgegangen ist. Er ist zwar schwer verletzt, und es wird sicher lange Zeit dauern, bis er wieder hergestellt sein wird, aber er lebt. Ich werde jetzt nach Hause fahren, um ein paar Sachen zu holen, denn ich bleibe heute Nacht auf jeden Fall hier, das habe ich gerade mit den Ärzten besprochen. Ich dachte, ich bringe dich schnell nach Hause und dann regle ich meine Sachen und fahre danach schnellstmöglich wieder zurück ins Krankenhaus.“
„Oh, mein Gott, Ella“, sagte Marie und nahm sie in den Arm, „was bin ich froh, dass Benny lebt. Aber du musst mich jetzt nicht nach Hause fahren, sondern kümmerst dich zuerst einmal um deine Sachen. Ich komme schon irgendwie heim. Das heißt, ich könnte ja zu Victor ins Büro laufen, das ist ja ganz in der Nähe, dann kann er mich ja später nach Hause fahren oder ich übernachte bei ihm.“
„Na ja“, sagte Ella, „wenn du zu Victor ins Büro möchtest, kann ich dich dort absetzen, da fahre ich ja mehr oder weniger daran vorbei.“
Das stimmte natürlich, da hatte sie recht. Daran hatte Marie in der Aufregung gar nicht gedacht. Das passte ja prima und so machten sie sich auf den Weg.
Ella hatte sich mittlerweile etwas gefasst und auf Maries Frage, ob sie sich denn in der Lage fühlte, Auto zu fahren, kam ein klares: „Ja, natürlich!“
Und so fuhren sie los.
Victors Büro lag zwei Straßen weiter und Ella ließ sie direkt vor dem Eingang aussteigen. Sie verabschiedeten sich und sie versprach, Marie morgen anzurufen und ihr zu sagen, wie es Benny geht.
„Und wenn du Hilfe brauchst, dann ruf mich an“, sagte Marie, „hörst du, egal wann!“
Ella nickte und sagte: „Das ist lieb von dir, danke.“
Marie schloss die Autotür und Ella brauste davon. Sie stand noch eine ganze Weile und sah ihr nach, dann machte sie sich auf zu Victors Büro. Es war ein riesiger Gebäudekomplex und Victors Büro lag im obersten Stockwerk. Es waren supermoderne Büroräume mit einer tollen Dachterrasse, an deren Ende es sogar einen Pool gab. Marie war zwar noch nicht sehr oft hier gewesen, denn Victor hielt sie aus dem geschäftlichen Dingen raus, da sie, wie er immer betonte, sein Privatleben wäre und er dieses gerne vom Geschäftlichen trennen möchte, was ihr sehr recht war, denn ihr genügten schon die Anlässe, zu denen sie ihn begleiten musste. Diese ganze snobistische Geschäftswelt war nun einmal nicht ihres und sie konnte mit diesen Menschen nicht viel anfangen. Aber Victor zuliebe begleitete sie ihn halt manchmal, wenn er das wünschte.
So betrat sie also dieses Bürogebäude. Wenn man durch den großen Eingang trat, gab es genau gegenüber einen sehr großen und extravaganten Informationsbereich, wo man sich bei sehr elegant gekleideten Damen anmelden musste. Aber heute war weit und breit niemand zu sehen. Gut, dachte Marie, kein Problem, ich weiß ja, wo Victors Büro zu finden ist. Sie ging direkt zum Aufzug und drückte auf den Knopf für die oberste Etage. So supermodern wie das ganze Gebäude war natürlich auch der Aufzug, denn man merkte darin überhaupt nicht, dass man fuhr, so leise bewegte er sich. Nur eine kleine Erschütterung signalisierte, dass man angekommen war, bevor sich die Tür leise öffnete.
Sie stieg aus. Diese ganze obere Etage gehörte Victors Firma Und sein Büro lag am Ende des Flures. Also ging sie diesen entlang. Als sie ankam, stand die Tür zum Vorzimmer offen und sie trat ein. Da niemand da war, ging sie direkt zu Victors Bürotür und klopfte sachte an die Tür. Sie stellte sich schon Victors überraschtes Gesicht vor, wenn sie plötzlich vor ihm stehen würde, denn damit würde er heute garantiert nicht rechnen, da er sie ja auf Einkaufstour vermutete. Nachdem auf ihr sachtes Klopfen keine Reaktion kam, klopfte sie noch einmal etwas fester. Aber wieder geschah nichts. Nanu, dachte sie, sollte Victor etwa gar nicht hier sein? Das wäre seltsam, da er ihr doch gesagt hatte, dass er heute einen langen Bürotag haben würde.
Nachdem sich auch auf ihr zweites Klopfen niemand gemeldet hatte, öffnete sie vorsichtig die Tür und steckte den Kopf hinein, aber das Zimmer war leer. Sie sah nur sein Jackett am Stuhl hängen, was bedeutete, dass Victor auf jeden Fall hier sein musste. Na ja, dachte sie, dann würde er wohl auf der Toilette sein. Um die Überraschung perfekt zu machen, setzte sie sich hinter seinen Schreibtisch in den „Chefsessel“, sodass er sie gleich sehen würde, wenn er hereinkam. Sie hatte eine diebische Freude daran, wenn sie sich sein Gesicht vorstellte, wie er hereinkommen und sie sehen würde.
Sie hatte sich gerade hingesetzt und einen Blick auf seinen Schreibtisch geworfen, der von Papieren übersät war, als sie plötzlich von draußen ein leises Lachen hörte. Es war ein schöner, sonniger Tag, und deshalb stand die Tür zur Dachterrasse offen. Sie stand auf, ging hinaus und folgte dem Lachen. Es schien vom Pool zu kommen. Sie ging weiter, und je näher sie kam, desto weniger wollte sie glauben, was sie da sah. Das Lachen, das sie hierher gelockt hatte, war eindeutig ein Frauenlachen, das, je näher sie kam, immer lauter wurde, und als sie angekommen war, blieb ihr fast die Luft weg. Da lag ihr Verlobter - Victor Egon von Woltersberger - splitterfasernackt in einem Liegestuhl, ein Champagnerglas in der einen und eine dicke Havanna in der anderen Hand und ließ sich von zwei vollbusigen, mehr als spärlich bekleideten „Damen“ verwöhnen. Er steckte sich gerade die Havanna in den Mundwinkel, um mit seiner freigewordenen Hand die Möpse einer der beiden Damen zu betatschen, als sein Blick in Maries Richtung ging und er sie stehen sah. Er riss die Augen auf, die Havanna verließ seinen Mund und fiel zu Boden, die Möpse der Dame wurden beiseitegeschoben, während er mit einem Satz vom Liegestuhl hochsprang und entsetzt ihren Namen rief. Marie drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon. Sie rannte, als wenn der Teufel persönlich hinter ihr her wäre, durchquerte Victors Büro mitsamt dem Vorzimmer, das, wie sie feststellte, noch immer leer war, und gelangte schließlich zum Aufzug. Sie hämmerte auf die Knöpfe und als sich endlich die Tür öffnete, sprang sie hinein und fuhr nach unten. Dort angekommen, rannte sie nach draußen. Marie wusste im Moment nicht, wohin sie wollte, sie wusste nur: Weg von hier! Da sie ja kein Auto hatte, musste sie überlegen, was sie jetzt tun sollte. Ella konnte sie nicht anrufen, die hatte gerade selber genug Probleme. Nachdem sie zwei Straßen weiter gelaufen war, blieb sie das erste Mal stehen, da sie völlig außer Atem war. Ihr Handy klingelte in ihrer Tasche, aber es war ihr gerade egal, wer da jetzt etwas von ihr wollte, denn sie hatte keine Lust, mit wem auch immer zu reden, und wollte nur noch nach Hause. Sie nahm ihr Handy, sah, dass es Victor war, der sie angerufen hatte, ignorierte es und rief sich ein Taxi. Sie musste auch nicht lange warten, bis das Taxi vorfuhr. Sie öffnete die hintere Tür, ließ sich auf die Rückbank fallen und sagte dem Fahrer die Adresse.
Er sah sie an und fragte: „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“
Sie nickte stumm und konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen.
Als sie merkte, dass er sie noch immer ansah und keine Anstalten machte loszufahren, sagte sie: „Mir geht es gerade nicht so gut, aber sonst ist alles in Ordnung, bitte fahren Sie.“
„Na gut“, sagte er, und fuhr los.
Marie war froh, dass sie sich nicht länger unterhalten musste, denn das fiel ihr im Moment ziemlich schwer, da sie sowieso schon mit den Tränen zu kämpfen hatte. Sie sah, dass er oft in den Rückspiegel blickte. Irgendwie schien ihm diese heulende Lady auf seiner Rückbank nicht ganz geheuer zu sein, aber er sagte nichts und dafür war sie ihm sehr dankbar.
Die Fahrt dauerte nicht sehr lange und sie freute sich, als sie endlich vor ihrer Wohnung standen und sie aussteigen konnte. Sie bezahlte die Rechnung, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und verschwand im Haus. Tränenüberströmt kam sie in ihrer Wohnung an, wo sie ihre Tasche an die Garderobe warf und sich auf ihr Bett fallen ließ. Ihr Handy klingelte fast ununterbrochen, was sie ziemlich nervte. Da sie sah, dass Victor es war, der sie zu erreichen versuchte, schaltete sie es kurzerhand aus, denn sie wollte nichts von ihm hören und sehen schon gar nicht. Sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt und war nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wie durch einen Nebel sah sie immer das gleiche Bild vor sich: ihr nackter Verlobter im Liegestuhl, umringt von zwei spärlich bekleideten Damen. Wie konnte ihr Victor das antun? Bisher hatte sie gedacht, ihre Beziehung wäre glücklich und sie könnte Victor vertrauen. Wie hatte sie sich nur so täuschen können? Warum hatte sie ihm so blind vertraut? Wie lange das wohl schon so ging?, dachte sie. Marie hatte wieder dieses Bild vor Augen, wie er zufrieden grinsend im Liegestuhl lag. Ihr wurde ganz schlecht und sich musste sich fast übergeben.
Marie wusste nicht, wie lange sie so in ihrem Bett gelegen hatte, aber irgendwann bemerkte sie, dass es draußen schon dunkel war und erschrak total, denn eigentlich hatte sie noch Ella anrufen und nach Benny fragen wollen, aber dazu war es jetzt zu spät. Und davon abgesehen, wäre sie dazu auch nicht in der Lage gewesen. Sie war im Moment einfach zu gar nichts fähig. Ihre Gedanken kreisten immer um die gleiche Situation - Victor im Liegestuhl. Sie bekam dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf und dementsprechend flossen bei ihr auch fast ohne Unterbrechung die Tränen, und so weinte sie sich in den Schlaf. Sie wachte unzählige Male auf in dieser Nacht und kaum, dass sie wach war, liefen schon wieder die Tränen, bis sie wieder eingeschlafen war. So ging das die ganze Nacht.
Der nächste Tag begann, wie der letzte aufgehört hatte, nämlich weinend. Eigentlich hätte sie aufstehen und zur Arbeit gehen müssen, aber sie war dazu nicht in der Lage, hatte aber auch absolut keine Idee, wie es jetzt weitergehen sollte. Sowie sie an Victor dachte, begann sie zu heulen. Sie fühlte sich unendlich leer und absolut unfähig, irgendetwas zu tun. Auch wenn ihr Kopf sagte: „Aufstehen, arbeiten…“ sie hatte keine Energie und es war ihr auch total egal. So blieb sie im Bett und zog die Decke über den Kopf, was so viel bedeutete wie – „Ich will nichts hören und nichts sehen!“
Sie wusste nicht, wie lange sie sich so vergraben hatte, denn sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als sie durch ein Gepolter an ihrer Tür aufgeschreckt wurde. Jemand klingelte und schlug gleichzeitig an ihre Wohnungstür.
Gleich darauf hörte sie Victors Stimme: „Marie, mach auf, wir müssen reden.“
Marie erschrak, als sie Victors Stimme hörte, aber gleichzeitig huschte auch ein kleines Lächeln über ihr Gesicht und sie sagte leise vor sich hin: „Victor!“ Aber das Lächeln verschwand sofort wieder, denn im gleichen Moment kamen die Bilder von gestern vor ihre Augen und damit liefen auch schon wieder die Tränen. Trotzdem kroch sie aus dem Bett und ging mit leisen Schritten zur Tür. Die Tränen liefen und liefen und nahmen kein Ende. Draußen stand der Mann, den sie fast geheiratet hätte, und schrie nach ihr. Sie setzte sich vor der Tür auf den Boden und hörte seine Stimme, die immer lauter wurde.
„Marie, mach auf, lass uns reden“, hörte sie ihn schreien.
Marie sank in sich zusammen und schluchzte. Was gab es da noch zu reden?, dachte sie. Was wollte er noch von ihr? Sie saß zusammengesunken auf dem Boden, hatte den Kopf auf ihre Knie gelegt und weinte leise vor sich hin, während Victor draußen tobte. Irgendwann hielt sie sich einfach die Ohren zu, weil sie ihn nicht mehr hören wollte, aber er ließ sich nicht so einfach ignorieren. Er rief immer wieder nach ihr, aber sie antwortete nicht. Sie hasste ihn, aber trotzdem fühlte sie sich ihm auch nahe, denn sie waren nur durch diese Tür getrennt. Es wäre ein Leichtes gewesen aufzustehen und die Tür zu öffnen, aber sie konnte nicht. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Was hätte er ihr sagen können? Dass es ihm leidtat, dass es ein einmaliger Ausrutscher gewesen ist, dass er nur sie liebte? Sie wollte nichts davon hören, denn sie hätte ihm nichts geglaubt. Sie war einfach zutiefst enttäuscht und verletzt und keine Entschuldigung von Victor hätte daran etwas ändern können.
Plötzlich hörte sie ihn fragen: „Marie, ist dir etwas passiert?“ Seine Stimme klang auf einmal ziemlich besorgt.
Sie saß auf der anderen Seite, aber sie konnte nicht antworten, selbst wenn sie gewollt hätte, denn ihr Hals war wie zugeschnürt. Danach war es für einen Moment mäuschenstill. Marie hielt den Atem an und hoffte inständig, dass er endlich verschwinden würde, aber den Gefallen tat er ihr nicht, denn einen Moment später hörte sie seine Stimme: „Marie, mach die Tür auf, oder ich rufe die Polizei.“
Sie erschrak an seinen Worten, denn es klang ziemlich ernst und Marie kannte Victor gut genug, um zu wissen, dass er das auch wirklich tun würde. Was also sollte sie tun? Wenn sie die Tür öffnen würde, hätte sie Victor vor sich, und das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen. Aber wenn sie die Tür nicht öffnete, würde er die Polizei rufen und die Tür würde geöffnet werden und sie hätte das gleiche Problem, denn auch dann wäre Victor vor der Tür. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, wenn sie ihn nicht sehen wollte - und das wollte sie auf gar keinen Fall - musste sie etwas unternehmen. Sie stand schwerfällig auf und legte das Ohr an die Tür.
Victor musste ein Geräusch gehört haben, denn sie hörte seine Stimme ganz nah: „Marie, bist du da?“
Marie nahm allen Mut zusammen und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Verschwinde und lass mich in Ruhe!“
Victor war plötzlich wie ausgewechselt. Er schrie und tobte nicht mehr, sondern sprach mit leiser, fast zärtlicher Stimme zu ihr. „Marie, mach bitte die Tür auf und lass uns reden.“
Marie begann wieder zu weinen und er musste ihr Schluchzen durch die Tür gehört haben, denn er sagte ganz leise: „Marie, bitte, mach auf.“
Aber Marie schrie nur: „Nein, hau ab und lass mich in Ruhe!“
Irgendwann hörte sie dann, wie sich seine Schritte entfernten und war erleichtert. Sie kauerte noch immer auf dem Boden vor der Tür und weinte vor sich hin. Das ging auch noch ziemlich lange Zeit so, denn sie war zu nichts fähig. Ihr fehlte einfach die Kraft aufzustehen.
Doch irgendwann zwang ihr Körper sie dazu sich aufzuraffen, denn sie musste zur Toilette. Langsam stand sie auf und merkte, dass sie ziemlich wackelig auf den Beinen war. Sie musste sich regelrecht ins Badezimmer schleppen. Auf dem Weg zur Toilette sah sie in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing und erschrak. Das Gesicht, das ihr da entgegensah, war kaum noch als ihres zu erkennen, denn sie sah einfach nur schrecklich aus. Sie hatte normalerweise ein sehr hübsches Gesicht, aber davon war im Moment nichts zu sehen. Ihre Augen waren dick und verquollen und ihre Haut war schlaff und fahl und um Jahre gealtert. Sie sah in ihr Spiegelbild und begann wieder einmal zu weinen. Weinend ging sie zur Toilette und verkroch sich danach im Bett, wo sie auch den ganzen Tag blieb. Auf dem Weg dorthin nahm sie sich ein Glas Wasser mit, denn ihr Körper signalisierte ihr, dass er Durst hatte, was kein Wunder war, denn sie hatte heute bisher weder etwas gegessen noch getrunken, aber Marie war das total egal, denn sie hatte überhaupt keinen Hunger. Sie verkroch sich einfach nur im Bett, und das sollte sich die nächsten Tage auch nicht ändern.
Das Spiel wiederholte sich jeden Tag aufs Neue. Victor stand noch ein paar Mal vor der Tür und versuchte sie dazu zu bewegen, ihm zu öffnen, um mit ihr zu reden, aber Marie schickte ihn jedes Mal weg. Das Telefon hatte sie nach wie vor ausgeschaltet und so konnte er sie auch auf diesem Wege nicht erreichen. Er hatte absolut keine Chance. Auch am vierten Tag versuchte Victor sein Glück, aber wieder ohne Erfolg. Er sprach durch die Tür mit Marie und hoffte, dass sie endlich nachgeben und ihn hereinlassen würde. Marie hörte zwar, was er sagte, aber außer dass sie ihn anschrie, dass er verschwinden sollte, hörte er nichts von ihr.
Aber Marie hörte plötzlich etwas anderes und zwar eine Frauenstimme, die sagte: „Was ist denn hier los?“, und sie erkannte, dass es Ella war.
Dann hörte sie, wie Victor zu ihr sagte: „Oh, mein Gott, Ella, dich schickt der Himmel. Du musst mit Marie reden, dass sie die Tür aufmacht. Ich muss mit ihr reden.“
Ella fragte noch einmal: „Was ist denn los?“
Marie hörte wie Victor herumdruckste, bevor er sagte: „Ich habe Mist gebaut und sie will mich nicht sehen.“
Ella schien misstrauisch zu werden. Sie konnte Victor ohnehin nicht besonders gut leiden und irgendwie schien sie irgendetwas zu ahnen.
„Was hast du gemacht?“, hörte Marie sie fragen, aber sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern klopfte an die Tür und rief: „Marie, ich bin es Ella, mach bitte auf.“
„Schick Victor weg, ich will ihn nicht sehen, nie mehr!“, sagte Marie.
„Okay“, antwortete Ella, und zu Victor sagte sie: „Du hast gehört, was sie gesagt hat, also verschwinde!“ Dann klopfte sie noch einmal: „Marie, mach bitte auf, ich verspreche dir, dass er nicht mit reinkommt.“
Marie öffnete vorsichtig die Tür. Nur einen ganz kleinen Spalt. Ella stand direkt vor der Tür und sah Marie voll Entsetzen an. Dann schob sie die Tür ein Stück mehr auf und drängte sich hinein. Victor stand in einiger Entfernung und sah Marie genauso entsetzt an, denn sie sah aus wie ein Gespenst. Ella verstand sofort, dass zwischen den beiden etwas Furchtbares geschehen sein musste.
Sie drehte sich zu Victor um und sagte: „Bist du für ihren Zustand verantwortlich?“
Marie sah kurz in Victors Richtung und begann zu weinen, was bei Victor völlige Hilflosigkeit auslöste. Er machte ein paar Schritte auf sie zu und sagte: „Marie…!“
Weiter kam er nicht, dann Ella knallte ihm die Tür vor der Nase zu und rief: „Verschwinde, du Idiot!“
Dann schob sie Marie vor sich her ins Wohnzimmer und drückte sie auf die Couch. Sie sah sie an und fragte: „Was ist los?“ Doch bevor Marie antworten konnte, sagte sie: „Lass mich raten, es hat etwas mit Victor zu tun, oder?“
Marie sah Ella an, doch sie konnte nicht sprechen, denn sie weinte schon wieder, aber sie nickte leicht.
„Was hat dieser Idiot mit dir gemacht?“, tobte Ella.
Aber sie erwartete nicht ernsthaft eine Antwort, denn sie sah, dass Marie dazu momentan nicht in der Lage war, da sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Ella nahm sie einfach in den Arm und hielt sie fest.
Es dauerte ziemlich lange, bis Marie sich etwas beruhigt hatte und mit Ella sprechen konnte, aber dann erzählte sie ihr, was passiert war.
Ella sah sie fassungslos an und sagte: „Dieser Vollidiot, ich könnte ihn umbringen.“
Marie weinte schon wieder leise vor sich hin. Ella strich ihr liebevoll über das Gesicht und fragte: „Warum zum Teufel hast du mich nicht angerufen? Dann hätte ich diesem Mistkerl gleich den Hals umdrehen können. Marie, der ist es nicht wert, dass du ihm nachweinst. So ein Kerl hat dich nicht verdient.“
Aber Ella wusste natürlich, dass diese Worte Marie im Moment nicht viel nützten, denn sie war verletzt und kreuzunglücklich, da half alles nichts. Und auch wenn Maries Kopf ihr sagte, dass Ella recht hatte, ihr Herz trauerte.
Marie sagte: „Du hast doch genug eigene Probleme, da wollte ich dich nicht auch noch mit meinen belasten. Warst du im Krankenhaus, wie geht es denn Benny?“
„Benny geht es den Umständen entsprechend ganz gut. Er hat zwar so ziemlich alle Knochen gebrochen und kann sich kaum bewegen, aber es ist nichts Lebensgefährliches. Es wird dauern, bis die Knochen wieder heil sind, aber er wird keine Schäden zurückbehalten, meinen die Ärzte.“
„Na, Gott sei Dank“, sagte Marie, „das klingt doch schon einmal gut.“
„Ja“, sagte Ella, „darüber bin ich auch sehr glücklich. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn er nicht mehr da wäre.“
Marie nahm Ellas Hand und sagte: „Daran wollen wir gar nicht denken! Ich bin so froh für dich, dass alles so glimpflich ausgegangen ist.“
Plötzlich sah Ella Marie an und fragte: „Wann hast du denn das letzte Mal etwas gegessen?“
Die Frage kam so unvermittelt, dass Marie ganz überrascht antwortete: „Ich weiß nicht.“
„Ja“, sagte Ella, „das kann ich mir bei dir sehr gut vorstellen.“
Damit stand sie auf und verschwand in der Küche. Kurze Zeit später hörte man sie mit Töpfen und Geschirr klappern und es verbreitete sich ein leckerer Geruch in der ganzen Wohnung.
Marie dachte nach und musste sich eingestehen, dass es heute tatsächlich schon der vierte Tag war, an dem sie nichts gegessen hatte. Aber das sollte sich nun ändern, denn Ella kam mit zwei Tellern dampfender Spaghetti ins Wohnzimmer und setzte sich zu Marie auf die Couch.
Sie hielt ihr einen Teller unter die Nase und sagte: „Iss! Und du stehst nicht auf, bevor der Teller leer ist.“ Dabei musste sie allerdings lachen.
Marie wusste, dass das lieb gemeint war, denn Ella machte sich wirklich Sorgen um sie. Also nahm sie den Teller und begann langsam zu essen. Alles andere hätte auch nichts genützt, denn Ella hätte nichts anderes geduldet. Sie hatte eine fantastische Soße aus Gemüse, das sie noch in Maries Kühlschrank gefunden hatte, gezaubert, und die schmeckte superlecker.
„So“, sagte Ella, nachdem sie gegessen hatten, „wie soll das jetzt weitergehen mit dir?“, dabei sah sie Marie etwas besorgt an.
Marie sah Ella mit traurigen Augen an. Sie sah wirklich sehr unglücklich aus und Ella machte sich richtig Sorgen um sie. Sie hatte Marie noch niemals zuvor in einem solchen Zustand gesehen. Was konnte sie nur tun? Sie hatte auch nicht den ganzen Tag Zeit, um bei Marie zu bleiben, denn sie musste zurück zu Benny ins Krankenhaus. Ihre Mutter war zwar momentan dort, aber sie konnte nicht auf Dauer bleiben und zudem wollte sie natürlich auch zu ihrem kranken Kind.
Als hätte Marie ihre Gedanken gelesen, sagte sie plötzlich: „Ella, du musst nicht hier bei mir bleiben, ich komme schon alleine klar.“
Ella sah sie an und runzelte die Stirn. „Da bin ich mir im Moment nicht so sicher.“
„Doch, ganz bestimmt“, versicherte Marie, „du musst dir keine Sorgen um mich machen, du machst dir schon genug um Benny, und der wartet im Krankenhaus bestimmt sehnsüchtig auf dich, also geh zu ihm!“
„Ja“, sagte Ella, „das muss ich dann auch wirklich, denn meine Mutter kann nicht den ganzen Tag bleiben. Aber ich finde auch nicht gut, wenn du alleine bleibst“, dabei sah sie Marie besorgt an.
„Doch, das passt schon“, antwortete Marie.
Ella war alles andere als überzeugt, aber was sollte sie tun?
„Marie“, sagte sie, „stell bitte dein Handy an, dass ich dich wenigstens anrufen kann, das würde mich einigermaßen beruhigen.“
„Also gut“, stimmte Marie zu, „ich werde es einschalten, in der Hoffnung, dass Victor es aufgegeben hat, mich anzurufen.“ Allein beim Aussprechen seines Namens hatte sie ein flaues Gefühl im Magen, aber sie ließ sich nichts anmerken, denn sie wollte Ella nicht schon wieder Anlass zur Sorge geben. Die musste jetzt schnellstmöglich zu ihrem Sohn.
Ella war sichtlich erleichtert, dass Marie einverstanden war, und nachdem sie ihr das Versprechen abgenommen hatte, sich sofort zu melden, wenn irgendetwas wäre, verabschiedeten sie sich. Sie nahm Marie in den Arm und drückte sie.
„Ich melde mich heute Abend noch einmal bei dir“, sagte sie liebevoll und hielt sie fest.
Marie musste schlucken, denn sie kämpfte schon wieder mit den Tränen.
Nun war Ella weg und Marie ging langsam durch ihre Wohnung. Sie konnte mit sich nichts anfangen und hatte auch keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Sie blieb am Fenster stehen und blickte in die Ferne. Ihr Blick war leer und Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie konnte sie nicht aufhalten und so ließ sie es geschehen. Ihre Gedanken kreisten, wie konnte es auch anders sein, um Victor. Wie in Zeitlupe zogen die gemeinsamen Jahre mit ihm an ihr vorbei. Sie hatte diesen Mann geliebt und war glücklich mit ihm, und bis vor ein paar Tagen hatte sie gedacht, dass er das auch wäre. Aber dem war wohl nicht so, wie sie ja mit eigenen Augen gesehen hatte. Wieder kam das Bild in ihr hoch, wie Victor nackt im Liegestuhl lag, umgeben von diesen beiden ebenfalls halb nackten Frauen. Sie schüttelte den Kopf, so als wollte sie diese Gedanken vertreiben, und das hätte sie auch liebend gerne getan, aber sie ließen sich nicht so einfach abschütteln. Warum?, hämmerte es immer und immer wieder in ihrem Kopf. Sie konnte es einfach nicht verstehen.
So verging auch dieser Tag. Am Abend meldete sich wie versprochen Ella noch einmal und fragte, wie es ihr ging, und obwohl Marie versicherte, dass alles in Ordnung sei, merkte Ella, dass das absolut nicht stimmte.
„Marie“, sagte sie, „du gehst jetzt besser schlafen. Ich komme morgen früh zu dir und dann schauen wir, was wir machen.“
Ella klang schon wieder besorgt, aber Marie war auch nicht in der Lage, ihr diese Sorge zu nehmen. Sie hatte einfach keine Kraft mehr.
Ella kam wie versprochen am nächsten Morgen vorbei, um nach Marie zu sehen. Sie rief Marie an, um ihr zu sagen, dass sie vor der Tür stand, da, wie Ella richtig vermutete, Marie auf ein Klingeln sowieso nicht geöffnet hätte. Marie ging ans Telefon und hörte Ellas Stimme. Sie öffnete die Tür und ließ sie hinein. Was sie da allerdings zu sehen bekam, beunruhigte sie sehr. Marie sah aus wie eine Drogensüchtige: blass, mit dunklen Augenringen und total verfilzten Haaren, so als hätte sie schon seit Tagen nicht geschlafen, was ja wahrscheinlich auch so war, wie sich Ella gut vorstellen konnte.
„Guten Morgen“, sagte Ella und sah Marie an.
„Guten Morgen“, antwortete Marie leise mit müder Stimme.
Ella fragte: „Hast du schon gefrühstückt?“