Die grüne Jungfer - Bernhard Setzwein - E-Book

Die grüne Jungfer E-Book

Bernhard Setzwein

4,9

Beschreibung

Der böhmischer Ort Hlavanice, einst nahe der Sperrzone des Eisernen Vorhangs gelegen, rückt durch die Ereignisse des Herbstes '89 wieder in die Mitte Europas. Über 40 Jahre vergessen von der Geschichte wird er plötzlich wieder zum Schauplatz turbulenten Geschehens. Ein einziger, schwül-heißer Juni-Sommertag wird erzählt, doch an ihm passiert viel: Ein Spitzel der "Geheimen", über Nacht arbeits- und orientierungslos geworden, versucht sich an seinem Opfer, einem alternden Dissidentenschriftsteller, zu rächen. Ein Baulöwe aus Bayern taucht auf, um ausgerechnet auf dem Gelände eines verfallenen Schlosses illegal eine Hühnerfabrik zu errichten. Dazu braucht er einen Strohmann, den er im seltsamen Onkel Venda seines Hilfsarbeiters Jirí auch findet. Der schlägt sich noch immer mit den geisterhaften Luftmenschen der Vergangenheit herum. Überhaupt wird an diesem auf ein allzu ausgelassenes Dorffest zusteuernden Tag noch einmal die Historie Hlavanices lebendig: die Blütezeit des Schlosses, die Okkupationsjahre unter den Nazis, die Deportation der Juden, die Vertreibung der Sudetendeutschen. Spannend, aber auch amüsant erzählt Bernhard Setzwein in diesem facettenreichen Panorama einer Grenzlandschaft eine typisch mitteleuropäische Geschichte, in der die Akteure von immer neuen Schicksalsschlägen gehörig gebeutelt werden.

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Bernhard Setzwein

Die grüne Jungfer

Roman

Haymon

 

Etwaige Ähnlichkeiten lebender Personen mit den beschriebenen dieses Romans wären rein zufällig.

Sämtliche Figuren und Handlungen sind nämlich vom Autor frei aus der Luft gegriffen.

Wie sie allerdings zuvor dorthin gelangen konnten, wüsste er auch nicht zu erklären.

Ungekürzte E-Book Ausgabe 2014

© 2003

HAYMON verlag

Innsbruck-Wien

www.haymonverlag.at.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7713-2

Cover: Benno Peter

Satz und Umbruch: Haymon Verlag

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

 

»Der Schauplatz: Mittel-Europa.«

Andor Endre Gelléri, B.

»Meine Seele wandert auf und ab, logiert im einen Jahrhundert in einer Kneipe, im andern in einem Schloß.«

Jean Paul, Selina oder Über die Unsterblichkeit der Seele

»Diese angenehmen Gespräche, bei denen uns der Tag verging! Diese mit der Angelrute verbrachten Abende, da Sie, dann und wann nach dem Schwimmer lugend, den schönen und geschliffenen Sätzen des Herrn Doktor lauschten! Diese tröstlichen und reizenden Geschichten, die immer gut ausgingen.«

Vladislav Vančura, Launischer Sommer

Hlavanicer Lebensgespräche

»Der Ort, an dem wir uns befinden, ist gar nicht nur der Ort, an dem wir uns befinden. Er ist auch der Ort, der schon war ohne uns, verstehen Sie, Gnädigste? Und der sein wird, wenn wir schon lange nicht mehr sind. Wenn man genau hinhorcht und genau hinschaut, dann öffnet er sein Fenster, so ein Ort. Und ein Anhauchen trifft uns ...«

Es war elf Uhr zweiunddreißig mitteleuropäischer Zeit. Ladislav Vančura saß bereits vor seinem zweiten Seidel Bier im Gasthaus Zur grünen Jungfer in Hlavanice, was ziemlich genau in der Mitte des Kontinents liegt, als er nach einer längeren Pause des Schweigens Bohumila, die Wirtin, mit dieser auch über ihn jäh hereingebrochenen Erkenntnis überraschte. Das Fenster zum Marktplatz stand offen, was von draußen hereindrang, war allerdings kein Anhauchen, sondern das langgezogene Freuden-Gehupe eines Pkws, das erst nur ganz leise zu hören war, dann aber unzweifelhaft immer näher kam. Jetzt mußte es schon in der rückwärtig gelegenen Küche zu hören sein, denn Kadlec, der Wirt der Jungfer, der seine Vorbereitungen für das Auskochen des Mittagstisches traf, kam durch die Schwingtür in die Gaststube und fragte: »Was ist denn hier für ein Radau?«

Bohumila sann noch immer dem Satz des Doktorchens nach, von wegen diesem Dingsda, diesem Anhauen, ehrlich gesagt, hatte sie das Gehupe gar nicht bemerkt. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich schau mal, was da los ist«, sagte Kadlec, knüllte das Geschirrtuch, das er in der Hand hielt, zusammen, warf es auf die Schanktheke und ging nach draußen auf den Marktplatz. Die Grüne Jungfer lag nämlich, wie könnte es auch anders sein, mitten im Zentrum von Hlavanice, direkt gegenüber der Pestsäule.

Vančura und Bohumila waren jetzt allein in der Gaststube. Er in seinem Eck hinterm Bier, sie an der Theke hinterm Zapfhahn. Mit dieser Grundaufstellung begann seit zwanzig Jahren in der Grünen Jungfer beinahe jeder Tag. Erst nach und nach würden die ersten Gäste kommen, die Arbeiter und Handwerker, die Rentner und durchreisenden Handelsvertreter: Bohumilas Kundschaft. Und dann würde es langsam anheben, das Palaver in der Gaststube, das über kurz oder lang in philosophischen Betrachtungen endete.

Zur Jungfer muß man wissen: Man saß dort an einem der abgelaugten Tische im behaglich strengen Küchengeruch, den Kadlec mit Hilfe von fünf Tage altem Friteusefett und den Rezepten aus dem Kochkünsteschatz seiner Großmutter, die auch schon am Herd in der Jungfer gestanden war, fabrizierte, und stellte sich unwillkürlich die großen Fragen: Wo komme ich her? Wozu bin ich hier? Und wenn ich das da auf meinem Teller esse, werde ich dann immer noch da sein? Der Gasthof Zur grünen Jungfer wird oft von gastritisch Veranlagten und auch von Vielfraßen aufgesucht, Leuten, die ihren Bäuchen, wer weiß aus welchen Gründen, Übles wollen und die sie deshalb mit schärfsten Kalibern bombardieren, ein solches Kaliber war zum Beispiel der Lungenbraten nach Hlavanicer Art, eine unbedingt abzuratende Spezialität des Hausherrn, die sich als Zeitbombe herausstellte, auf terroristische Art und Weise in die Mägen der Gäste eingeschmuggelt, wo sie erst etwa eine Stunde nach Verlassen des Lokals detonierte, sonst hätte man ja auch wegen der Leichenberge hier keinen der Resopaltische mehr erreichen können.

Das Regiment in der Küche führte unstrittig Kadlec ... oder sagen wir besser: von Zeit zu Zeit doch auch strittig. Denn im Grunde war es Bohumila vorbehalten, mit ihrem traumwandlerischen Wesen den Speisen die entscheidende Nuance hinzuzufügen, vorausgesetzt ihr Mann ließ sie einmal an die Kochtöpfe, was selten genug vorkam. Bohumila ließ dann, wie zufällig, unabsichtlich, im Vorbeigehen, eine Prise von Irgendwas in die offenen Kochtöpfe fallen, und selbst ihr mürrischer Ehemann, der, mit einem Kaffeelöffelchen hinter der Bohumila herwieselnd, Gustoproben aus den Töpfen entnahm, mußte zugeben, verdammt noch mal, jetzt erst hatten sie den richtigen letzten Dreh bekommen: die Suppen, die Soßen, der schon seit Stunden köchelnde Eintopf. Nehmen wir zum Beispiel die berüchtigte Kohlsuppe ... Kohlsuppe nach indischer Art, wie die Gäste gerne des unleugbaren süß-sauer pikanten Geschmacks wegen frotzelten. Bohumila würzte die Kohlsuppe, in der die Strünke im ganzen und Kartoffeln mitgekocht waren, mit ein wenig Knoblauch und süßte sie mit dem feinsten Weinessig (mit Estragon), da auch für die Kohlsuppe der Spruch gilt, einen Hundebiß heile man durch das Auflegen eines Hundehaares. Wenn der Kohl sauer ist (und das ist ja seine Beschäftigung), muß man ihm mit noch Saurerem zu Leibe rücken, damit er Vernunft annimmt. Jedenfalls war das die feste Überzeugung Bohumilas. Unwirsch komplimentierte ihr Gatte sie jedesmal zur Küche hinaus, wenn sie ihm mit solchen Ratschlägen und Bauernweisheiten kam (er wußte nur zu gut, sie hatte ja recht). Sie solle sich lieber um die Gäste kümmern. Das sei schließlich ihre Aufgabe.

Gast gab es um diese Tageszeit, bevor die Mittagstischesser kamen, allerdings meist nur einen einzigen: und das war eben Vančura. Der saß an seinem Tisch (immer derselbe, im Eck am Fenster). Man hätte ihn für einen Rentner halten können, was vom Alter her ja auch zutraf. Daß er keiner war, dem hätte jeder in Hlavanice beigepflichtet, aber was war er dann? Gewissen der Nation? (so was geht nicht in Rente), Lebenskünstler bis zum Tod hin?, vielbeschäftigter Champion im Nichtstun?, Abwarter?, Stillhalter?, der große Schweiger?

Bohumila war noch um einiges jünger als ihr treuer Stammgast, zweiundfünfzig, was man ihr aber nicht im geringsten ansah. Die Wirtin der Grünen Jungfer machte den Eindruck, als hätte nicht sie die zweiundfünfzig Jahre gelebt, sondern die zweiundfünfzig Jahre hatten sich die Bohumila vorgenommen, und zwar so, daß man auch was davon sieht: Von den Falten im Gesicht wollen wir jetzt gar nicht reden, auch nicht von den eulenhaften Augenringen, eher schon von der Schulter-Hals-Partie, das heißt, Hals hatte sie eben fast keinen mehr, der war im Laufe der Zeit ganz verschwunden, unter den hochgezogenen Schultern, die Wirtin machte den Eindruck, als gehe sie ständig in Deckung, man fragte sich: vor welchen Schlägen des Lebens eigentlich?

Und nun also, nachdem jeder seinen ihm zugewiesenen Platz eingenommen hatte, Vančura im Eck, Bohumila hinter der Theke, in der kopfeinziehenden Haltung, konnten sie beginnen, die Hlavanicer Lebensgespräche, die über die Theke und die unbesetzten Tische hinweg geführt wurden. Ganze Vormittage lang geführt wurden. Seit zwanzig Jahren geführt wurden.

»Was hast du nur immer zu reden mit dem? Mit mir redest du auch nix!«

Eine Vorhaltung des Wirts an seine Frau, die diese stets mit dem Satz konterte: »Es gibt zuwenig Worte auf der Welt, um zweiunddreißig Jahre lang zu reden.« So lange nämlich waren sie verheiratet.

Den Satz hatte sie sich natürlich nur geborgt. Bei Vančura. Es war fast einer seiner Schlüsselsätze, der schon mehrfach im Laufe ihrer Hlavanicer Lebensgespräche gefallen war. Diese Gespräche aber waren es ja genau, die die Richtigkeit des Satzes von den zu wenigen Wörtern widerlegten. Das bekam sie auch prompt vom Wirt als Retourkutsche hingerieben:

»Ah ja, interessant! Aber bei dem gehen sie natürlich nie aus, die Worte. Seit zwanzig Jahren bla-bla-bla!!«

Und weg war er unter heftigem Türenschlagen. Verschwunden in seiner Küche oder im Keller. Das Feld war wieder geräumt für Bohumila und Vančura. Es konnte also wieder anheben, das Hlavanicer Lebensgespräch. Meist hob es völlig unvermittelt und nach langer Schweigepause an. In vollkommener Beiläufigkeit und größtmöglicher Unaufgeregtheit. Ungefähr so wie eben: Der Ort, an dem wir uns befinden, ist gar nicht nur der Ort, an dem wir uns befinden. Vančura hätte auch sagen können: Das Bier heute schmeckt nicht so, wie das Bier gestern geschmeckt hat. Bohumila verzog – egal was für eine Erkenntnis da auch ans matte Licht der Wirtsstube kam – nie die geringste Miene. Und auch Vančura zeigte keine Regung bei dieser plötzlichen Erleuchtung, die ihn unvorbereitet und jäh getroffen hatte, so wie eine Ladung Taubenscheiße, die einem auf den Hemdkragen fällt, heruntergesandt aus einem heiter-bösartigen Himmel. Er ist auch der Ort, der schon war ohne uns. So mußten sie sein, die Hlavanicer Lebenserkenntnisse: unfreiwillig, unbeabsichtigt, aber fundamental. Er hielt sich an seinem Bierglas fest, sie rauchte ihre Zigarette. Dabei hielt sie den Arm abgewinkelt vor die Brust gepreßt, so daß der qualmende Stengel stets nur wenige Zentimeter vom Gesicht entfernt war. Es mußte qualmen um ihren Kopf herum, der Qualm mußte sie umhüllen, die vollkommene Blöße, die sie war, bedecken, nur so fühlte sie sich wohl. Nur unter ihrem Nikotinzelt bekam sie ausreichend Luft. Ab und zu polierte sie mit einem Lappen über die kupfernen Zapfhähne. Ein Bild von ewiger Dauer und stiller Schönheit. Der Tiger, im Sprung erstarrt.

Ja, Tiger! Denn eigentlich hieß sie ja und war sie auch, zumindest ihrer eigenen festen Überzeugung nach, der Tiger von Äschnapur. Nichtsdestotrotz nannten sie die Männer von Hlavanice alle nur Bohumila. Die Kadlecová Bohumila. Das taten sie nur, um sie zu ärgern. Und sie vergolt es ihnen auch prompt mit einer Kratzbürstigkeit, die sie an ihr so liebten. Wenn sie ihnen die Krügel auf den Tisch knallte, daß die Hälfte vom Bier nur so herausspritzte, dann säuselten sie, »aber Bohumila, warum zürnst du uns?«, und brachen anschließend in schallendes Gelächter aus. (Nur Vančura besaß genügend Takt, den Tiger in Bohumila nicht unnötig zu reizen und ihn vorsorglich mit Gnädigste anzusprechen.) Wenn sich jedoch wieder einmal, was selten genug vorkam, ein Fremder in die Gaststube der Jungfer verirrte, dem wurde es dann aber gesagt, in aller Deutlichkeit, mit wem er es zu tun habe, spätestens nach dem dritten Seidel Bier wurde ihm das gesagt, dem dritten Seidel für die Wirtin wohlgemerkt!, die hatte nämlich neben dem Zapfhahn ihr Glas stehen, von dem sie immer nur nippte, das aber mit schöner Regelmäßigkeit, ja, ich schwör’, es war auf eine besondere Art schön, dieses damenmäßige Nippen der Wirtin an ihrem Bierglas. Jedenfalls, der solchermaßen aufgeklärte Fremde staunte nicht schlecht, wenn er hörte, daß in der Jungfer in Hlavanice der Tiger von Äschnapur hinter dem Zapfhahn stehe, lauere eigentlich, aber das den Hlavanicern begreiflich zu machen, sei völlig sinn- und nutzlos. So die Wirtin. Wie oft habe sie es ihnen schon erklärt, aber es interessiere sie nicht. Nicht im geringsten. Doch der Fremde, dem dies alles offenbart wurde, der staunte, schüttelte ungläubig den Kopf und spornte somit die Wirtin zum Weitererzählen an, zumindest so lange, bis sie wieder hinter ihrer Theke verschwand und anderes zu tun hatte, als diesen fremden Gast zu belästigen, der sich nun mit den übrigen Gästen verständigen konnte, leise, mit Gesten nur, mit dem Tippen des Zeigefingers gegen die Stirn zum Beispiel.

Der einzige, der dann das Tippen an die Stirn nicht mitmachte, war Vančura. Er nahm das sichtlich ernst mit dem Glauben der Wirtin, daß sich in ihr der Tiger von Äschnapur verborgen halte. Manchmal kam er ja auch für einen ganz kurzen Augenblick zum Vorschein. Zum Beispiel wenn einer der Stammgäste die Wirtin wieder den ganzen Abend lang damit aufgezogen hatte, wo er denn sei, der Tiger, und ob er denn gerade Gassi geführt werde, weil man so gar nichts von ihm sehe und höre. Dann konnte es passieren, daß Bohumila den Lästerer plötzlich anfauchte (ein raubtierhafter Biergestank entstieg ihrem Rachen) und ihm mit ihren rotlackierten Fingernägeln eine vierspurige Strieme quer übers Gesicht zu verpassen drohte ..., aber zuletzt kratzte sie doch nur ein bißchen an der Luft und kraulte allenfalls mit ihrer rotlackierten Pranke das Gelächter der Männer neckisch unterm Kinn, worauf es immer noch keckriger wurde und durch die Wirtsstube kollerte wie ein leeres Bierfaß. Nur Vančura lachte nicht mit und dachte sich: Sieh mal einer an, da war er zu sehen, eben, für Sekunden, der ansonsten verborgene Tiger von Äschnapur.

Das gehörte übrigens zu den Lieblingsthemen ihrer Hlavanicer Lebensgespräche: Nachmittagelang konnten sich Vančura und Bohumila darüber austauschen, was alles sich in wem auf welche rätselhafte Weise verberge.

»Der Lovec zum Beispiel, in dem verbirgt sich eigentlich ein Dichter«, hatte Vančura vor zwei, drei Wochen eine höchst abenteuerliche These aufgestellt, und das auch nur, weil mittlerweile zweifelsfrei feststand, daß dieser Lovec zwanzig Jahre lang Spitzelberichte für die Geheimpolizei in Prag geliefert hatte, und zwar Spitzelberichte, deren Gegenstand einzig und allein Vančura gewesen war. »Die würd’ ich gern einmal lesen«, hatte Vančura gesagt und dabei ein bei ihm oft zu beobachtendes Grinsen aufgesetzt, das es jedem schwermachte zu entscheiden, wie ernst er es wirklich meinte mit dem, was er da eben gesagt hatte.

»Der und ’n Dichter«, war Bohumila entsetzt. Das konnte sie nun nicht verstehen, warum ausgerechnet Vančura so etwas sagte, wo er es doch gewesen war, der von Lovec zwanzig Jahre lang bespitzelt worden war. Wenn einer ein Dichter war, in ihren Augen, dann der Doktor. Nach seinem Auftauchen in Hlavanice gingen Gerüchte um, Vančura habe Jurisprudenz studiert oder vielleicht sogar auch Philosophie, er sei ein Doktor der Philosophen, erzählte die Wirtin allen, die es nicht hören wollten, weil sie es eh schon dutzende Mal gehört hatten, der Doktor habe alles gelesen, die Griechen, Seneca, Seneca vor allem, von dem hatte er immer einen Spruch parat, auf engen Raum muß man sich zurückziehen, wenn die Geschosse ins Leere gehen sollen, war zum Beispiel so ein Vančura- und damit letztlich Philosophensatz, und alle rätselten dann, was mit Geschosse gemeint sein könnte, wer sie abfeuerte und vor allem: ob Hlavanice ein enger Raum war.

»Doch, doch, in diesem Lovec hat sich jahrzehntelang ein Dichter verborgen«, blieb Vančura starrsinnig, »ich werd’ ihm das mal sagen müssen.«

»Unterstehen Sie sich!« hatte die Bohumila da gerufen, vor zwei, drei Wochen, als das Hlavanicer Lebensgespräch von Vančura auf Lovec gelenkt worden war, dieses Aas, »mit dem reden Sie kein Wort, was der Ihnen angetan hat.«

Immer mußte sie auf den Doktor aufpassen, sonst machte er nur Unsinn. Er hatte oft so Einfälle, die völlig absurd waren. Kindisch direkt. Zum Beispiel mit dem Lovec zu reden. Einer wie der Doktor konnte doch nicht mit einem wie dem Lovec reden. Das war doch ..., einfach undenkbar war das. Lovec, ein solcher Granatsidiot, und der Doktor studierter Philosoph. Der Lovec war so blöd, in dessen Sliwowitz-Dunstkreis verwandelte sich sogar ein Universitätsprofessor augenblicklich in einen stammelnden Dorfdeppen, so sehr färbte die Blödheit von diesem Lovec ab. Fand zumindest Bohumila.

»In der Gegenwart von Lovec weiß der Apfel am Baum nicht mehr, in welche Richtung er zu fallen hat«, hatte die Bohumila zu Vančura gesagt, »von den Ausdünstungen die ses Menschen werden sogar die Gravitationsgesetze benebelt. Einer wie der hört nie auf, Spitzel zu sein. Es gibt Menschen, die kommen mit einem Storchenbiß auf die Welt, anderen hängt die Nabelschnur um den Hals und sie sind schon ganz blau angelaufen, wieder andere haben ein Blutgerinnsel an der Schläfe, ein zerknautschtes Gesicht von wegen der Enge des Geburtskanals, aber eines Tages, er war genau vorherbestimmt, dieser Schicksalstag, vorherbestimmt von da oben, da kam dieser Lovec auf die Welt, grinste aus seiner Käseschmiere heraus die Hebamme und den Frauenarzt an, und denen blieb die Spucke weg, weil sie auf der Stirn dieses Würmlings geschrieben sahen: Ich bin der Spitzel, wo ist Vančura? Nein, wirklich, Doktor, lachen Sie nicht! Der suchte nicht die Mutterbrust, wie das normalerweise alle Babys tun, der nicht!, der suchte sein Opfer. Und das waren Sie! Wenn einer schon Lovec heißt.«

Wenn Vančura diesen Kerl erschlagen hätte, das hätte Bohumila verstanden, aber doch nicht, daß er mit ihm reden wollte. »Kommt überhaupt nicht in Frage.«

Wenn es darum ging, den Doktor vor sich selbst zu schützen, konnte Bohumila rabiat werden. Sie redete dann mit ihm wie mit einem kleinen Kind. Das gefiel Vančura ganz besonders, weil Bohumila die einzige war, die ihn manchmal behandelte, als sei er ein kleiner dummer Bub, alle anderen taten immer, als sei er ein ganz gefährlicher Schwerverbrecher, im Grunde behandelten ihn nicht nur seine Gegner so, sondern auch seine politischen Freunde. Die allerdings verbanden es immer mit einem jovialen Schulterklopfen. »Ladislav, du hast es ihnen mal wieder gezeigt. Großartig!«

Dabei hatte er doch gar nichts getan. Jedenfalls nichts, was ihm als eine Heldentat erschienen wäre. Nach Hlavanice zu gehen, was war daran eine Heldentat? Sie dagegen feierten ihn für seinen Mut, ins Hlavanicer Exil gegangen zu sein, wie sie es nannten. Dabei hatte er nur Senecas Rat befolgt. Auf engen Raum muß man sich zurückziehen, wenn die Geschosse ins Leere gehen sollen.

»Alle Welt hört, wie du in Hlavanice sitzt und schweigst«, sagten seine Prager Freunde, die ihn früher oft besucht hatten. Streng konspirativ besucht. (Ganz Hlavanice wußte dann: der Doktor hat wieder konspirativen Besuch. Nur Lovec rätselte, wie er den Vorgang einzuschätzen habe, daß eine ganze Kolonne von Pkws mit Prager Kennzeichen in Hlavanice einfiel.)

»Das dröhnt bis nach Amerika hinüber, dein Schweigen«, hatte Vera, die schöne Vera, Schauspielerin aus Prag, bei solchen Gelegenheiten schon mehrfach gesagt und ihn dabei furchtbar angehimmelt (da war er noch ein gutes Stück jünger gewesen, aber im Grunde himmelten sie ihn desto mehr an, je älter und grauhaariger er wurde). Gleichzeitig hob sie, die schöne Vera, und auch all die anderen ihre leeren Weingläser, denn darauf mußte angestoßen werden, daß selbst in Amerika das Schweigen Vančuras gehört wurde, und so baten sie alle um ein weiteres Schlückchen von dem vorzüglichen Ribiselwein, den Vančura jeden Sommer aus den Früchten seines Gartens selbst ansetzte. Ehrlich gesagt, wäre es ihm lieber gewesen, es hätte in Amerika drüben etwas weniger gedröhnt, sein Schweigen, und sie hätten ihm dafür nicht seine ganzen Obstweinvorräte aus dem Keller zusammengesoffen, diese sogenannten Prager Freunde, die mit gesetzmäßiger Zuverlässigkeit jeden Sommer zu exakt jenem Zeitpunkt auftauchten, wenn in Hlavanice die Ribiselweingärung an ihr Ende gekommen war und Vančura die kostbaren Tropfen auf Flaschen gezogen hatte.

»Großartig!« sagten seine Prager Freunde dann und fügten hinzu, daß sie damit natürlich sein moralisches Gewicht in Amerika meinten, in Wirklichkeit aber, so Vančuras Verdacht, galt dieses Urteil leider, leider seinem Ribiselwein.

Er war froh, wenn sie wieder weg waren, verschwunden nach Prag. Er lief dann gleich zu Bohumila in die Jungfer und klagte sein Leid. »Jetzt waren sie schon wieder da, drei Tage lang.«

»Sie sind halt deren Kopf, Dokterchen. Der Kopf der Bewegung. Ohne Ihr Urteil unternehmen die nichts.«

Bohumila war stolz auf Vančura. So stolz.

»Und nichts übriggelassen von den Schmalzgläsern«, konnte sich Vančura immer noch nicht beruhigen. »Das eingeweckte Schweineschmalz vom letzten Schlachttag. Das nächste Mal, wenn sie wieder kommen, lieg ich hinterm Fenster mit der Schrotflinte.«

Bohumila mußte lachen. Und denken: Alle Welt weiß es, daß er der große Vančura ist, nur er selber will es nicht wahrhaben. Er hat nicht den Glauben an sich. Dann muß ich ihn halt haben. Irgendwo muß so ein Glaube an einen Menschen Quartier machen können, sonst weiß er nicht wohin und verflüchtigt er sich. Dann soll er halt bei mir wohnen.

Und so nahm der Glaube an Vančura in Bohumila seine Heimstatt. Und der Glaube an den Tiger von Äschnapur nistete sich beim Doktor ein. Man könnte fast sagen, sie waren so etwas wie ein Paar. Ein Glaubenspaar. Was zwar der Kadlec, der Wirt, den wir nicht ganz vergessen wollen, nur ungern mit ansah, aber was hätte er tun sollen. Daß irgend etwas vorfiel, was ihn legitimiert hätte einzuschreiten, war ja nicht der Fall, und grundlos machte man sich nicht zum Kaspar, nicht in Hlavanice, noch dazu, wenn man der Wirt der Grünen Jungfer war. Das mit dem Glauben bei den, beiden blieb ja auch rein platonisch, was andererseits wieder, wäre der Wirt rücksichtslos ehrlich gewesen zu sich selbst, noch viel beunruhigender war, als wenn man vom Gegenteil auszugehen gehabt hätte. Eine verzwickte Sache, das! Der Wirt beschloß, sie einfach zu ignorieren.

»Ein was trifft uns?«

Hatte der Doktor vorhin nicht gerade irgend etwas gesagt? Irgendwas von wegen Anhauen. Das Wesen der Hlavanicer Lebensgespräche war es ja, daß sie mit langen, langen Pausen zwischen den einzelnen Wortbeiträgen der beiden einzigen Teilnehmer an diesen Symposien geführt wurden. Der Geist brauchte Zeit ..., nicht zum Nachdenken, nein, zum Ausschweifen. Mal war einer Stubenfliege zu folgen, die sich verlor in der für sie unüberblickbaren Weite der holzgetäfelten Gaststubenwand, wie ein Verdurstender in der Wüste irrte sie matter und matter umher; mal mußte die Wirtin dem Spiralen drehenden Wirbel des Wassers im Spülbecken nachsinnen, der im Abgußrohr verschwand; mal bildete der Rauch der Zigarette einen makellos kreisrunden Ring; mal knackte es im Holz, dann wieder in den Gelenken, morsch, irgendwie wurde langsam alles morsch.

»... ein Anhauchen, Gnädigste«, Vančura mußte es ihr noch einmal erklären, genauer erklären, »ein Anhauchen trifft uns, von dem wir nicht wissen, wo es herkommt, aber wir spüren, daß es da ist, dieses Anhauchen, auf der Gesichtshaut spüren wir es, zum Beispiel, wenn man empfänglich ist ..,, empfindlich. Empfindlich sein muß man schon, ohne das geht es nicht. Wenn es überhaupt ein Mysterium gibt, dann das des Ortes. Das Mysterium des Ortes!«

Er war jetzt für einen Moment selbst begeistert von dieser plötzlichen Offenbarung, die sich gewissermaßen ohne sein Zutun eingestellt hatte. Es war keine riesengroße Offenbarung, aber immerhin. Vančura hatte sozusagen eine Erleuchtung vom Grad eines Glühwürmchens. Es hatte 6937 Vormittage in der Jungfer und 23.593 Seidel Bier dazu gebraucht, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Den letzten Anstoß dazu allerdings hatte die Frage der Wirtin grad vorhin gegeben: »Wie lange sind Sie jetzt schon bei uns am Ort, Doktor?«

Bohumila hatte das fragen müssen. Weil sie nämlich schon seit Wochen die Sorge umtrieb, das könnte sich nun von einem auf den anderen Tag ändern, das Dasein Vančuras an diesem Ort. Ganz Hlavanice wußte doch, daß sich Vančura hier nicht ganz freiwillig aufhielt. Es war mehr so eine Verbannung, was Vančura nach Hlavanice gebracht hatte, vor exakt einundzwanzig Jahren. Eigentlich hätte er nach Sibirien gehört, fanden damals die Herren in Prag, die von der Staatssicherheit aus der Bartolomějská, aber natürlich auch die auf dem Hradschin, die von den Geheimen ständig mit Dossiers versorgt wurden, Dossiers über Vančura, in denen zu lesen stand, wie gefährlich er war. So gefährlich, daß im Grunde nur Sibirien in Frage komme, für so einen. Zu ihrer großen Verwunderung aber mußten die Herren vom Hradschin und aus der Bartolomějská feststellen: Böhmen besaß ja gar kein Sibirien (wenn man von Česká Sibiř, dieser gottverlassenen Gegend im Böhmerwald, einmal absah). Was machte man nun also mit so einem? Man schickte ihn nach Hlavanice. Vančuras Sibirien hieß Hlavanice.

Doch jetzt auf einmal, so jedenfalls fürchtete Bohumila, könnte die Verbannung aufgehoben werden. Die Zeiten nämlich hatten sich geändert. Und wie. (Von Lovec, dem Schattenmann Vančuras, erzählte man sich sogar, der sei völlig aus dem Gleis geraten, seit ihm die Geheimen in der Kreisstadt gesagt hatten, mit der Beschattung Vančuras sei es jetzt vorbei, und zwar mit sofortiger Wirkung, von einem Tag auf den anderen.) Jetzt blies ein anderer Wind, soviel hatte man selbst in Hlavanice mitbekommen die letzten Wochen und Monate, wo man normalerweise in Hlavanice wenig mitbekam, man lag nämlich nicht nur absolut in der Mitte des Kontinents, sondern sozusagen im stillen, auch nachrichtenstillen Auge des Taifuns. Ringsherum allerdings stürmische Zeiten. Alles wirbelte durcheinander. Und vielleicht, wer weiß, wirbelte es Vančura plötzlich aus Hlavanice hinaus. Das aber fände Bohumila, der Tiger von Hlavanice, über die Maßen bedauerlich.

Es war wegen der Seelenverwandtschaft. Die spürte Bohumila ganz deutlich. Nicht nur wegen der Lebensgespräche, die man nur mit einem Mann wie Vančura führen konnte. Es war noch etwas anderes. Vančura war Dichter. Ein Dichter, der nicht mehr schrieb. Genau wußte das die Wirtin zwar nicht, aber sie schloß es aus dem Umstand, daß man so gar nichts hörte und las von den Dichtungen des Doktors. Wenn er aber welche schrieb, dann müßte man doch davon hören und lesen, so wie bei dieser Majerová Marie, von der hatte die Bohumila andauernd etwas gehört und gelesen, früher, als sie noch jung war und die Gedichte in der Zeitung gelesen hatte. Nicht so bei Vančura. Von ihm war ihr, wenn sie es recht überlegte, überhaupt noch nie etwas untergekommen. Seinen Namen hatte sie noch nirgendwo gelesen. Also war er offensichtlich ein Dichter ohne Werk. Andere hätte das gestört. Die Bohumila nicht. Andere hätten, so wie es in ihrer Gaststube manchmal geschah, behauptet, dieser Vančura sei überhaupt kein Dichter, sondern allenfalls ein Hochstapler, vielleicht sogar ein Umstürzler, weshalb sonst war er unter der Beobachtung von Lovec. Bohumila aber verstand das: ein Dichter ohne Werk. Natürlich. Sie war ja auch ein Tiger ohne Äschnapur. Nie hatte es für sie ein Äschnapur gegeben, so wie es für Vančura von einem gewissen Tag an nichts mehr zu schreiben gegeben haben muß. Das war durchaus zu vergleichen und da waren sie sich ganz und gar ähnlich. Fand die Bohumila. Er in Hlavanice ohne Werk, sie in Hlavanice ohne Äschnapur. Was war das nur für ein verfluchter Ort, und warum waren sie dazu verurteilt, hier zu leben?

Durchaus eine Frage mit Berechtigung, fand auch Vančura, und dennoch hielt er jetzt dagegen: »Der Ort, an dem wir uns befinden, ist eben gar nicht nur der Ort, an dem wir uns befinden.« Spürte die Bohumila ihn denn nicht, den Lufthauch. Den Windstoß. Der offene Fensterflügel hatte sich ein klein wenig bewegt. War noch weiter aufgegangen. Ein Anhauchen. Kühl traf es Vančura an der Stirn. Auf der Haut, die über seinen Schädel gezogen war. Eine Sekunde -vielleicht waren’s aber auch fünfhundert Jahre – durchs Hirn. Oder, wie man so sagt in Mitteleuropa: Kroloscho su krolo su su suuuuu huih iiihh! die Ewigkeit! in die Ewigkeit!

Herauf vom Grund der Pivoňka

Huih i-i-i-iihh, huih i-i-i-iihh: eine offensichtlich noch nicht durch den Stimmbruch gekommene Autohupe war es, die das Herannahen eines Pkws auf der Dorfstraße schon von weitem ankündigte. Ein altersschwacher Skoda bog eben in die letzte Kurve vor dem Marktplatz ein und hielt schnurgerade auf die Pestsäule zu. Für einen Augenblick hob das Fahrzeug mit dem Reifenpaar der Beifahrerseite vom Boden ab und eierte auf nur zwei Rädern das Bogensegment der Kurve aus. Der Wagen plumpste zurück auf alle viere, dabei riß zwar die rechte, vordere Aufhängung der Stoßstange ab, die linke aber hielt noch, jedenfalls so lange, bis der Skoda, die Chromstange über die staubige Dorfstraße mit sich schleifend, genau vor den Steinstufen des Dorfbrunnens, der neben der Pestsäule stand, etwas abrupt anhielt, das heißt, er stieß dort leicht gegen die erhöhte Bordsteinkante. Der Aufprall würgte den Motor ab.

Aus dem Auto heraus drang ein Gejohle, begleitet vom asthmatischen Genudel der Hupe, die langsam ihren Geist aufzugeben schien. Mittlerweile hatte sich ein Grüppchen von Hlavanicern eingefunden, allen voran der Wirt der Grünen Jungfer, der als erster auf den Marktplatz herausgelaufen war. Sie umringten den immer noch leicht sich auswippenden Skoda und zogen den Kreis nach und nach enger um ihn.

Einer der Gaffer, ein junger Kerl, versuchte, ins Innere des Wagens zu schauen, er neigte den Kopf zur Scheibe herunter und schirmte mit der Hand an der Schläfe spiegelnde Sonnenstrahlen ab. Zeit für Pepin Vondráček aus seinem Wagen auszusteigen. Den Zirkusdirektor spielend, mit übertrieben herausgedrückter Brust, drängte er den Neugierigen von der Autoscheibe zurück: Mit nur drei Fingern auf der Brust des Frechlings – ein Bürschchen von nicht mehr als dreizehn Jahren vielleicht – schob er ihn weg.

»Wißt ihr«, Vondráček ließ seinen ausgestreckten Zeigefinger den Halbkreis der Neugierigen entlangwandern, »wo wir beide, ich und mein Freund Jožo, heute morgen waren? Ganz frühmorgens, als ihr alle noch in den Betten gelegen seid?«

Jožo Blačič war jetzt auch ausgestiegen, legte seine Arme auf das Autodach, bettete den Kopf darauf, schaute sich die Leute an, mit der Herablassung eines Triumphators.

»Unten bei der Pivonka waren wir natürlich«, machte Pepin weiter. »Ihr wißt doch, jeden Freitag sind wir da unten am Wasser. Ab vier Uhr in der Früh. Und auf wen warten wir da, hä?«

Von den Umstehenden wußte jetzt grad keiner so genau, was Pepin meinte, auf was er hinauswollte.

»Na, auf was warten wir? Seit zwanzig Jahren, hä? – – Auf den großen Fang natürlich warten wir!«

»Und was haben wir heute gemacht?« fragte Jožo. Das heißt, er fragte nicht wirklich, denn die beiden wollten die Antwort ja unbedingt selber geben. Ein kurzer Blick übers Autodach hinüber zu Pepin genügte als Verständigungszeichen: Jožo nahm den Griff der rückwärtigen Beifahrertür, zögerte eine Sekunde, riß sie dann auf und – schwupp -schnellte mit einem Klatschen eine riesige Schwanzflosse aus dem Wageninneren heraus. Gleichzeitig hatte Pepin den Griff der Tür hinter dem Fahrer in die Hand genommen, er öffnete sie einen Spalt, linste gespielt furchtsam in den Wagen, um sie dann mit einem Ruck aufzuziehen. Ein gewaltiger Fischkopf fiel ihm entgegen. Er wollte ihn auffangen, aber er glitschte ihm aus den Händen, Pepin strauchelte ein, zwei Schritte zurück. Die Hlavanicer, die den Mund nicht mehr zukriegten, starrten auf den Skoda, auf diese blecherne Fischsemmel, und sahen: Links und rechts, fast je einen Meter, schauten Kopf und Schwanzflosse eines gigantischen Wallers aus dem Wagen heraus. Wie hatten sie den nur da hineingebracht?

Es dauerte ein, zwei Sekunden, dann hob ein Gejohle und Klatschen an, ein Schulterklopfen und ein Mensch-Jožo-, Mensch-Pepin-Rufen. Vondráček ertrug es geduldig, so wie ein Tormann es erträgt, daß er nach drei Gehaltenen beim Elfmeterschießen von seinen Mannschaftskameraden in den Schwitzkasten genommen und in die Luft geworfen wird. Ohne ein Wort zu sagen, winkte er Jožo zu sich herüber, gemeinsam packten sie den Waller, indem sie ihm ihre Pranken wie Fleischerhaken unter die Kiemenlappen rammten, und zogen und zerrten, bis das Tier aus dem Skoda herausrutschte und vor den staunenden Hlavanicern auf den Boden fiel. Sofort bedeckte sich die immer noch feuchte, glänzende Haut mit einer Staubpanade.

»Wart einen Augenblick, ich bin gleich wieder da«, sagte Jožo zu Pepin, teilte den nun eng um sie herumstehenden Kreis der heftig diskutierenden Gaffer, indem er wie ein Brustschwimmer mit den Händen in die Menge eintauchte, und verschwand.

Pepin wandte sich derweil an die Hlavanicer, zu denen sich mittlerweile auch der Bürgermeister gesellt hatte, der junge Mucha. Vom geöffneten Fenster seines Amtszimmers im Rathaus aus hatte er den Radau mitbekommen. Was ’n jetzt los, schoß es ihm im ersten Moment durch den Kopf, schon wieder eine Revolution? Dem Lärm nach zu urteilen, mußte etwas wirklich Großartiges passiert sein, im Herbst vor zwei Jahren jedenfalls, im November, da war es nicht einmal halb so laut gewesen.

Mucha war die Rathaustreppe hinuntergestürzt, hatte den erstbesten Passanten angehalten und gefragt, was denn los sei. Zufällig hatte er den alten Svoboda erwischt. Der hatte schon so viel erlebt, daß ihn das nicht mehr aufregen konnte. Mehr oder weniger gelangweilt sagte er: »Vondráček und Blačič, unsere Großwildjäger ..., die kommen grad von ihrer Safari zurück.«

»Ah ja«, hatte Mucha gesagt und nichts verstanden. Er drängelte sich durch den Menschenauflauf vor bis in die erste Reihe, wo er neben dem Wirt der Grünen Jungfer stehenblieb. Vondráček war grad mächtig in Fahrt.

»Es war ein Kampf, Leute, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, ein dreistündiger Kampf auf Leben und Tod. Ich und der Jožo, zu zweit mußten wir uns gegen diese Bestie stemmen, schaut ihn euch doch an, was das für ein Apparillo war. Wir haben uns verkrallt, eingegraben in den Uferschlamm, wie haben ’nen Schützengraben gebraucht, damit uns der nicht in die Pivonka mit hineinzieht, verdammt noch mal, der hätt’s versucht, der hätt’ uns gekillt, ehrlich! Aber schaut her, wer am Ende der Sieger war! Drei Stunden hat es gedauert, bis wir ihn zum Greifen nah am Ufer hatten. Und da haben wir zum ersten Mal die genauen Umrisse unter dem Wasserspiegel gesehen. Ich sag’ noch zu Jožo: für den brauchen wir aber einen Sattelschlepper. Aber erst mußten wir ihn ja mal haben. Der Drill bis an den Strand dauerte drei Stunden, ich hielt zuletzt die Angel, dem ging schön langsam die Puste aus, und dann hat ihn Jožo gepackt, mit dem Wallergriff: so daß der Daumen nach innen zwischen die Zähne greift, und mit den anderen Fingern außen an der Unterlippe! Der hat um sich geschlagen wie ein Alligator, als wir ihn an Land hatten. Mit einem solchen Prügel«, Vondráček zeigte den Umfang: abflußrohrdick!, »mit einem solchen Prügel dermaßen eine aufs Dach, der hat sich nur geschüttelt, ich sag’s euch, als ob ihm einer eine leichte Kopfnuß gegeben hätte. Jožo hat sich auf ihn geworfen, er ist förmlich geritten auf ihm, wie beim Rodeo, das war ein Ritt auf dem Waller, das Vieh hat sich gewunden, ihr stellt euch das nicht vor, aber ich hab’ ihn dann gekillt, mit einem einzigen Messerstoß«, Vondráček zeigte die Stelle am Kopf des Wallers, »hier, Jožo hat gehalten, ich hab’ zugestoßen, seht her: so!«

Einen Moment nur war es mucksmäuschenstill, dann stürmten alle ein auf Vondráček mit hunderterlei Fragen auf einmal. Ein fachmännisches Debattieren begann vor allem unter den älteren Hlavanicern, in denen die Erinnerungen jetzt hochstiegen wie irgend so ein Flußungeheuer, vom Grund des Bewußtseins.

»So ein Waller, der schnappt sich Enten, wenn’s sein muß.«

»Was heißt Enten! Schweine! In Studenec soll sich einer mal ein Schwein, das zu nah am Fluß stand, geschnappt haben.«

»Klar. Das hat man alles schon gesehen. Sogar schon, daß sie Pferde anfallen. Drunten an der Roßschwemme.«

»Das is’ aber schon lang her.«

»Aber passiert is’ es!«

»Der packt sich so ein Pferd, und zieht es unter Wasser, so ein Waller.«

»Hör auf!«

»Wenn ich’s dir sag!«

»Die hatten bestimmt eine tote Plötze als Köder.«

»Karauschen sind besser.«

»Ihr hattet ’ne Plötze, oder, Pepin?«

Vondráček hörte gar nicht, daß ihm jemand was zurief, so umringt und abgelenkt war er. Unterhielten sie sich halt alleine weiter, die Männer.

»Red keinen Quatsch. Man sieht doch, daß sie ihn mit einer Plötze gefangen haben.«

»Zufall. Normal geht so ein Waller nur auf Karauschen. Außerdem ist es eh ein Wunder, daß der bei dieser Hitze gebissen hat. Normal liegt der faul am Flußgrund und rührt sich nicht. Nicht bei so einer Affenhitze. Es kühlt ja kaum mehr ab in der Nacht.«

»Wird aber auch ’n Wetter geben, heut. Und was für eins.«

»Glaubst du?«

»Da kannst du Gift drauf nehmen.«

Mittlerweile hatte sich an die Seite von Vondráček eines von den alten Marktplatzweibern vorgearbeitet, sie schaute sich den immer noch auf dem staubigen Boden liegenden Fisch an, und es klang fast ein klein wenig Mitleid an in ihrer Stimme, als sie fragte:

»Wie alt der wohl ist?«

Die wildesten Spekulationen wurden sofort laut. Vondráček mußte sich erst einmal Ruhe verschaffen.

»Mütterchen, das kann ich dir genau sagen, der hat vierzig Jahre auf dem Buckel, dreiundvierzig, vierundvierzig vielleicht, so lang hat der da drunten auf dem Grund der Pivoňka gestanden, immer ganz ruhig, immer in Lauerstellung, und hat uns tyrannisiert, uns Angler, weil der hat doch die ganze Brut aufgefressen, von den Forellen und den Plötzen, überhaupt von allen. Aber jetzt hat er einen Fehler gemacht, er hat sich gerührt, ist hoch gekommen von seinem Grund da unten, der hätte ...«

In diesem Moment kam Jožo zurück. Er hatte einen alten Handkarren dabei, wie sie früher die Händler auf dem Fischmarkt benutzten, mit zwei großen hölzernen Wagenrädern und einer planen Ladefläche.

»Mensch, Jožo, wo hast du den denn her?«

»Aufgehoben bei mir im Schuppen. Zwanzig Jahre lang. Ich hab gewußt: eines Tages brauchen wir ihn!«

Sie fingen an, den Waller aufzuladen. Die Umstehenden halfen mit: Der Handkarren wurde schräg gestellt, so daß seine Ladefläche sich wie eine Rampe zum Kopf des Wallers hin neigte, dann wieder der Griff unter die Kiemen und schon war er droben, angeschoben von hinten, von der Flosse her, alle langten jetzt zu, alle wollten diesen Fischleib einmal berührt haben, diesen massigen, jetzt Gott sei Dank leblosen Körper. Wie ein Reckturner stemmte sich Jožo an den Griffen des Karrens hoch, zwei-, dreimal, ehe Fisch und Karren endlich in die Horizontale zurückwippten.

Und wieder begann das Palaver.

»Wo bringt ihr den denn jetzt hin?«

»So ein Prachtexemplar gehört doch zum Tierpräparator!«

Kadlec versuchte, Vondráček am Arm ein Stück zur Seite zu ziehen, flüsterte ihm zu, er könne einen anständigen Preis anbieten, aber Vondráček sagte nur: »Laß mal, Jan, aber der Kerl«, und er zeigte auf den Waller, »der endet diesmal nicht in deiner berühmt-berüchtigten Dillsoße.«

Als nächster probierte es der Bürgermeister. Nahm sich Jožo und Pepin zur Brust, zur patriotischen Brust. »Vondráček, ich finde, so ein Jahrhundertfang, der gehört ins Rathaus. Die Kosten der Präparation übernimmt natürlich die Gemeinde. Vielleicht sollten wir sogar ein eigenes Fischzimmer einrichten, so als Anfang von einem Heimatmuseum. Was haltet ihr davon? Fischfang in Hlavanice, gestern und heute. Und das krönende Ausstellungsstück wird euer Waller. Gefangen am 14. Juni 1991. Da kommt ein Messingschild hin. Von Pepin Vondráček und Jožo Blačič. Das lesen dann die Schulkinder noch in hundert Jahren.«

»Nix da«, wehrte Vondráček ab, so laut, daß es alle hören konnten, »der wird verschnabuliert, Leute. Und zwar noch heute abend. Ihr seid alle eingeladen. Unten am Sportplatz. Waller vom Rost. Überm Grillfeuer. Vielleicht hat ja der eine oder andere noch ein Fläschchen Wodka daheim, das er mitbringen kann. Und sagt es den anderen. Daß der Schurke endlich hin ist, das muß doch gefeiert werden.«

Der Jubel war so groß, daß alle Einspruchsversuche des Bürgermeisters sinnlos wurden. Jožo schob den Handkarren an, und unter dem Geboller der ächzenden Holzräder zogen er und Pepin davon.

Lovec

Vom Fenster des Wohnzimmers aus konnte Lovec hinübersehen zum Eingang der Grünen Jungfer. Um kurz nach neun hatte Vančura das Gasthaus betreten. Und wieder verlassen hatte er es bis jetzt nicht. Auch vorhin nicht, als halb Hlavanice zusammengelaufen war, um den Fang von Jožo und Pepin zu bestaunen: Vančura war nicht herausgekommen aus seinem Loch.

Einundzwanzig Jahre lang verkriecht sich der jetzt schon in der Grünen Jungfer, dachte Lovec, das ist dem sein Dachsbau, wir hätten ihn schon längst ausräuchern sollen da drinnen. War ein Fehler, immer nur zuzuschauen. Eben hat sich die Gardine gerührt, das war bestimmt er. Wer sonst?

Beobachtungen wie diese hätte Lovec früher unverzüglich in seinen Bericht aufgenommen. Da waren sie ja auch noch gefragt gewesen, er und seine Berichte. Aber dann, mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen, wurde er nicht mehr gebraucht. Wie lang war das jetzt her? Gerade einmal ein Jahr ..., ein gutes Jahr, o. k. achtzehn Monate, handelte Lovec mit sich selber, da war noch alles in Ordnung gewesen. Bis zu dem Tag, an dem er in die Kreisstadt fuhr, das muß im März oder April neunzig gewesen sein, und Lánský ihm mitteilte, daß er nicht mehr gebraucht werde, daß er wieder heimfahren könne und daß er am besten auch dort bleiben solle, für immer: daheim. Sein monatliches Erscheinen in der Kreisstadt sei nicht mehr vonnöten. Ja, er müsse ausdrücklich davor warnen, daß Lovec weiterhin zu ihm komme, um seine Berichte abzugeben, hatte Lánský gesagt. Seitdem stand Lovec auf seinem Beobachtungsposten und hatte nichts mehr zu beobachten. Das heißt, zu beobachten gab es natürlich immer noch jede Menge (mehr im Grunde als jemals zuvor), nur es interessierte niemanden mehr. Sein Beobachten und damit eigentlich sein Leben hatten plötzlich ihren Sinn verloren. Es war ungefähr so passiert, wie wenn man plötzlich den Verstand verliert, man selbst merkt es erst gar nicht. Gut, es war kein sehr großer Sinn gewesen und keine sehr große Aufgabe, die man ihm zugedacht hatte, aber immerhin. Man hatte ihm gesagt, er solle diesen Vančura im Auge behalten.

Das war, kurz nachdem er nach Hlavanice gekommen war und sich das kleine Häuschen gekauft hatte. Kaum war er eingezogen, direkt gegenüber, schon waren sie bei Lovec aufgetaucht, die Geheimen. Ob sie nicht einmal mit ihm ein unverbindliches Gespräch führen könnten, zum Beispiel darüber, ob er nicht seinen neuen Nachbarn etwas im Auge behalten könne. Und dann könne er ja auch vielleicht hin und wieder mal berichten, was er da so behalten habe, im Auge. Die ersten paar Male nur mündlich, er hatte einfach nur erzählt, was ihm aufgefallen war. Später meinten sie dann, er könne doch auch das Beobachtete, zu seiner eigenen Entlastung, ein klein wenig aufschreiben, Gedächtnisstützen, sagten sie, für solche kleinen, schriftlichen Aufzeichnungen wären sie nicht nur recht dankbar, sondern würden sich auch erkenntlich zeigen. So hatten sie geredet, auf der Dienststelle in der Kreisstadt. Welche Form des Erkenntlichzeigens das denn sei? Lovec fragte dumm. Er war ja nicht erfahren in solchen Dingen? In einer solcher Zusammenarbeit mit der Kreisstadt. Das würde er dann schon sehen.

Zwanzig Jahre lang hatte er dann zur vollsten Zufriedenheit seiner Auftraggeber seine Aufgabe erfüllt. Aus den kleinen Gedächtnisstützen wurden mit der Zeit stattliche Berichte. Mit allergrößtem Interesse, so Lovec’ Eindruck, wurden sie jedesmal in der Kreisstadt entgegengenommen. Und dann das! Plötzlich waren seine Dienste nicht mehr vonnöten. Erfahren hatte er es von Lánský. Lovec war, wie jeden Monatsletzten, zur Dienststelle gefahren, um seinen Bericht abzugeben.

»Schön haben Sie das gemacht, Lovec. Schön und zuverlässig, wie all die Jahre.«

Lánský hatte den Schnellhefter entgegengenommen und war die wenigen Seiten noch einmal in aller Ruhe durchgegangen. Dann schlug er ihn zu und ließ ihn auf den Schreibtisch fallen.

»Es ist nur leider so, Lovec: Wir brauchen das jetzt nicht mehr. Verstehen Sie, die Berichte haben sich erledigt.« Lánský lachte plötzlich. »So ein Wahnsinn: zum jetzigen Zeitpunkt noch mehr Papier. Bringen Sie mir bloß keine Berichte mehr. Wie sollen wir das alles verschwinden lassen?«

»Wieso denn verschwinden lassen?«

Lovec war entsetzt bei dem Gedanken, seine ganze Arbeit der letzten zwanzig Jahre könnte umsonst gewesen sein. Lánský lächelte nur gequält über so eine das ganze Unwissen verratende Frage. Er überging sie einfach.

»Und zwar rückstandslos verschwinden lassen, damit da nicht wieder so ein Irrsinn passiert, daß man plötzlich Akten auf dem Müll findet. – Also bitte, verschonen Sie mich mit weiteren Lieferungen, Lovec. Verstehen Sie denn nicht: Das Spiel ist vorbei, Vančura hat gewonnen.«

Lovec traute seinen Ohren nicht. Hatte er eben tatsächlich Müll gehört? Hatte Lánský wirklich Spiel gesagt?! Zu seinem Auftrag Spiel? Zu seiner Lebensaufgabe? Das schier Unmögliche doch zu bewältigen: Vančura in Schach zu halten? Im Laufe der Jahre war Lovec in diese Aufgabe so sehr hineingewachsen, daß sie fast zu klein wurde für ihn, sie saß an ihm wie eine viel zu enge Jacke, spannte über dem Bauch, zwickte unter den Achseln. Eigentlich war er aus dieser Aufgabe längst herausgewachsen. Es wäre an der Zeit gewesen aufzustehen und zu fragen: So, und nun, wo ist sie, bitteschön, die nächste, die größere Aufgabe, wo?!

Statt dessen aber hatte er hören müssen, dies sei sein letzter Bericht gewesen. Er lag noch immer auf dem Schreibtisch. Eben war einer der Bediensteten Lánskýs ins Zimmer gekommen, zeigte seinem Chef irgendwelche Unterlagen. Lovec griff in einem, wie er glaubte, unbeobachteten Moment nach seinem Schnellhefter und ließ ihn in der Lederaktentasche verschwinden. Von wegen auf den Müll, dachte er sich, wenn er hier nicht mehr gebraucht wird, mein Bericht, dann nehme ich ihn wieder mit. Hastig hatte er sich von Lánský verabschiedet, der aber gar nicht aufschaute von den Papieren, die ihm da vorgelegt wurden, er murmelte nur ein »Ja, ja, is’ schon recht«. Erst als Lovec schon an der Tür war, hörte er noch einmal seinen Namen rufen. Er drehte sich um.

»Nichts mehr aufschreiben, haben Sie verstanden, Lovec, in Ihrem eigenen Interesse. Und lassen Sie sich hier nicht mehr blicken.«

Noch nie war Lovec in solcher Niedergeschlagenheit aus der Kreisstadt wieder nach Hlavanice zurückgefahren. Statt wie sonst aufgekratzt und übermütig als Held aus der Schlacht zurückzukehren, schlich er diesmal wie ein verprügelter Hund ins Wohnzimmer, wo seine Frau schon auf ihn wartete. Legte nur den Schnellhefter, den er aus seiner schäbigen Ledertasche zog, auf den Wohnzimmertisch. Und ging ans Fenster. Sah hinüber zu Vančura, dessen Haus dem Lovec’schen direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite lag. Ob dies der einzige Grund gewesen war, warum man ihn für diese verantwortungsvolle Tätigkeit ausgewählt hatte, nebst dem natürlich, daß er aufgrund seiner Invalidität ständig zu Hause war und seinen Observationsposten im Grunde rund um die Uhr einnehmen konnte, einer wie der Vančura nämlich war kein kleiner Fisch und unbedingt rund um die Uhr zu observieren, hatten sie das alles in ihre Überlegungen mit einbezogen, die in der Kreisstadt?