Die guten Frauen von Safe Harbour - Bobbi French - E-Book
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Die guten Frauen von Safe Harbour E-Book

Bobbi French

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Beschreibung

»Eindringlich, lebendig, überraschend, warm und klug.« Carrie Snyder

Frances Delaney kehrt nach vielen Jahren an den Ort ihrer Kindheit zurück. Doch das idyllische neufundländische Fischerdorf Safe Harbour ist nicht nur ein Ort guter Erinnerungen.

Vor allem der Verlust der Freundschaft zu ihrer engsten Freundin Annie, erschütterte Frances zutiefst.

Zusammen mit ihrer Freundin Edie stellt sich Frances den Schatten der Vergangenheit und kann sich nun endlich mit ihrem Leben aussöhnen und bei sich ankommen.

Sie hat nicht mehr viel Zeit.

Atmosphärisch eingebunden in die Kulisse der kargen Landschaft Neufundlands handelt diese kraftvolle Geschichte über Freundschaft und Vergebung. Das Debüt der Psychiaterin Bobbi French erzählt von einer Frau, die sich selbst die Chance gibt zu lieben und geliebt zu werden.

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Seitenzahl: 430

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Inhalt

»Eindringlich, lebendig, überraschend, warm und klug.«

Carrie Snyder, Autorin

Am Ende ihres Lebens macht sich Frances Delaney zusammen mit ihrer jungen Freundin Edie auf zum kleinen Fischerort Safe Harbour. Dort sieht sie nach Jahrzehnten Annie wieder, ihre alte Freundin aus Kinder- und Jugendjahren. Atmosphärisch eingebunden in die Kulisse der kargen Landschaft Neufundlands handelt der Roman von Freundschaft und Vergebung.

Das bemerkenswerte Debüt der kanadischen Psychiaterin Bobbi French erzählt von einer Frau, die sich selbst die Chance gibt, zu lieben und geliebt zu werden.

Autorin

Bobbi French ist in Neufundland und Labrador geboren und aufgewachsen. Die ehemalige Psychiaterin hat ihren Beruf aufgegeben, um sich dem Schreiben zu widmen.

Die guten Frauen von Safe Harbour ist ihr erster Roman. Bobbi French lebt in Halifax, Nova Scotia.

Bobbi French

Dieguten

Frauen

von

Safe

Harbour

Roman

Aus dem Englischen von Carina Tessari

Diederichs

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2022 Bobbi French

Der Originaltitel The Good Women of Safe Harbour ist erschienen bei HarperCollins, Kanada. Herausgegeben nach Vereinbarung mit Westwood Creative Artists Ltd.,

Copyright © 2022 Diederichs Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © Marie Carr/Arcangel Images

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29749-7V001

www.diederichs-verlag.de

Für die Frauen von Neufundland und Labrador – warmherzig, blitzgescheit und unverwüstlich

Prolog

Ende August 2019

Zögernd machte ich ein paar Schritte vorwärts, meine Füße glitten und rutschten über die abgerundeten Steine. Das Meer drückte gegen meine Knie, und glibberiges Seegras wickelte sich um meine Knöchel. Ich watete bis zur Taille weiter. Noch ein Schritt und eine Welle gegen meine Brust. Salz spritzte an meine Lippen. Als die nächste Welle auf mich zukam, atmete ich tief ein und ließ mich fallen. Ich tauchte unter, kraft- und wehrlos, bis sich mein Körper an die Bewegungen erinnerte, die er machen musste, um mich vorwärts durch das dunkle grüne Wasser zu tragen, über den felsigen Grund hinweg, hinaus in das tiefe klare Wasser. Ich hob die Arme über den Kopf und ließ mich in die kühle Stille hinabsinken, wartend und lauschend, bis ich keine Sekunde länger den Atem anhalten konnte, dann schoss ich an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Ich drehte mich zum Horizont, schloss die Augen und lauschte. Ich hörte nichts außer meinen keuchenden Atemzügen und dem Kreischen der Möwen.

Ich war überwältigt von der allgegenwärtigen Schönheit – der belebenden Kälte, dem schimmernden Sonnenlicht, dem rhythmischen Hin- und Herschaukeln, während ich auf dem Rücken lag und in den Himmel lächelte. Rings um mich herum Wasser, das einen unglaublichen Durst stillte, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich ihn hatte. Ich hatte dem Ozean die Stirn geboten und gewonnen, mein Preis diese Heimkehr, von der ich jetzt wusste, dass ich sie verdiente. Ich konnte mich nicht erinnern, mich jemals im Leben so lebendig gefühlt zu haben, so überglücklich. Ich hatte keine Sorgen und war an nichts gebunden. Schwerelos.

Ich ließ mich treiben, bis ich spürte, wie mir das Salz und die Sonne im Gesicht brannten, dann paddelte ich zurück zum Strand, an dem zwei Frauen standen – die eine jung und schlank und blond, die andere älter, wohlgeformt mit dunklen Locken. Sie lachten und winkten und riefen meinen Namen. Sie sahen glücklich aus, wer immer sie waren.

1

Drei Monate zuvor

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, orientierungslos und schweißgebadet. Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte Viertel vor sechs an. Ich lag in meine feuchten Laken verknotet, mein Herz trommelte, und ich wusste, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Ich wartete, bis sich das benommene Gefühl in meinem Kopf etwas klärte, dann stand ich auf, um die Aufgabe anzupacken, die vor mir lag. Ich nahm ein heißes Bad und trank einen Becher starken, süßen Tee in der Hoffnung, meine Nerven damit etwas zu beruhigen, doch es half nichts. Ich ging zum Schrank und zog den Reißverschluss eines Plastikkleidersacks auf, in dem ein neuer grauer Blazer, eine dazu passende Hose und eine zarte, lavendelfarbene Bluse hingen, alles eine Woche zuvor im Sonderangebot gekauft. Die erste schicke Garderobe meines Lebens – mit achtundfünfzig Jahren. Während ich die Bluse zuknöpfte und den Reißverschluss der Hose zuzog, war es, als würde ich in ein besseres Leben schlüpfen. Ich stellte mir vor, ich wäre wiedergeboren, endlich von aller Unscheinbarkeit befreit. Der Spiegel jedoch belehrte mich eines Besseren. Ein mageres Hühnchen, das sich mit ein paar hübschen Federn geschmückt hatte. Und wenn schon. Schönheit würde mir heute nichts nützen. Was ich brauchte, waren Rückgrat und ein klarer Verstand. Jetzt beeil dich, alter Kauz. Ich wandte mich vom Spiegel ab und sah auf meine Hände hinunter, die aus den Ärmeln des Blazers herausschauten. Hände wie eine Bäuerin, dachte ich immer. Spröde Knöchel, raue Haut, durchsetzt von dünnen, blutigen Rissen. Permanent gerötet von den Fingerkuppen bis zu den Handgelenken, als hätte man sie in Farbe getaucht. Ich betrachtete sie als das, was sie waren: meine Existenzgrundlage, das unschätzbare Handwerkszeug einer Putzfrau. Heute jedoch würden sie eine wohlverdiente Pause unter einer dicken Schicht Handcreme machen dürfen.

Ich ließ den Bus sausen und gönnte mir stattdessen ein Taxi – ein weiterer seltener Luxus. Der Fahrer redete zum Glück nicht viel, während er den Wagen ins Zentrum von St. John’s steuerte, durch die engen, von bunten Reihenhäusern gesäumten Straßen, den dichten Verkehr in der Duckworth Street, vorbei an den Geschäften und Cafés und dem Kriegerdenkmal, hinter dem sich flüchtig das kalte, in der Sonne funkelnde Meer auftat, bevor er vor einem Hochhaus aus Metall und Glas zum Stehen kam.

Drinnen drängten sich Menschen in modischen Mänteln und mit Aktentaschen in den Händen vor den Aufzügen. Bei der Vorstellung, mich mit lauter Fremden in einen Stahlkasten zu quetschen, zog sich mir der Magen zusammen, und ich entschied, die Treppe zu nehmen.

In der Praxis roch es nach frisch gebrühtem Kaffee. Ein schlichter, moderner Raum mit weißen Wänden und gedämpfter Beleuchtung, in dem eine junge Frau hinter einem geschwungenen Schreibtisch saß und laut auf einer Computertastatur tippte. Sie hielt inne und fragte mich nach meinem Termin.

»Frances Delaney. Neun Uhr.«

»Auf die Sekunde genau«, sagte sie. »Nehmen Sie Platz, ich sage Bescheid, dass Sie da sind.«

Ich ließ meinen Blick über die Zeitschriften schweifen, die vor mir auf dem niedrigen Glastisch auslagen, die üblichen veralteten Blätter, bis auf ein Exemplar, dessen Titelseite eine bunte Zeichnung von einem Gehirn zierte. Ich nahm es in die Hand, nachdem ich ein Wort darauf entdeckt hatte, das ich vorher noch nie gelesen hatte: Neurotransmitter. Ich griff in meine Tasche und schrieb es in mein kleines Spiralnotizbuch, notierte es für später, wenn ich mein abgegriffenes, über und über mit Eselsohren versehenes Lexikon durchblättern würde, so wie ich es immer tat, wenn ich auf ein Wort stieß, das ich nicht kannte. Ich hatte diese Marotte seit meiner Kindheit. Ich schlug das unbekannte Wort nach und unterstrich es, übte es laut ein, bis es sich wie ein Wort anfühlte, das zu mir gehörte. Wörter, die mir besonders gut gefielen, markierte ich mit Sternchen. Wie Firlefanz oder szintillieren. Unzählige hatte ich inzwischen gesammelt. Mein Kopf war voller Wörter, von denen ich die meisten noch nie zu einer Menschenseele gesagt hatte und es vermutlich auch nie tun würde. Und doch waren sie wie treue Begleiter, die mir nicht von der Seite wichen.

Dieses Mal jedoch genügten Neurotransmitter und seine Geheimnisse nicht, um mich davon abzulenken, warum ich inmitten der weißen Mauern dieser Festung saß. Die Luft in dem Raum schien plötzlich dünner zu werden, und ich spürte ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Ich starrte zur Tür und begann, das Für und Wider einer Flucht abzuwägen.

»Frances Delaney? Ich bin Dr. Shirley Bell.«

Ihre Stimme ließ mich hochschrecken. Sie war jünger, als ich erwartet hatte, vermutlich nicht einmal vierzig. Sie hatte glatte, dunkle Haut, hohe Wangenknochen und schwarze Haare, die in dünnen Zöpfen ihre Schultern streiften. Sie streckte mir eine Hand mit kurzen, lackierten Nägeln entgegen.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie. »Wollen wir anfangen?«

Sie drehte sich um und lief den mit Teppichboden ausgelegten Flur hinunter in ihr Sprechzimmer, wo sie zwei Gläser Wasser aus einer Karaffe auf ihrem Schreibtisch einschenkte und mich bat, Platz zu nehmen. Sie griff nach einem Stift, einem Block und einer blauen Mappe, dann setzte sie sich mir gegenüber auf einen Stuhl.

»Frances, Ihre Ärztin hat Ihnen ja erklärt, warum sie Sie zu einem Psychiater überwiesen hat, richtig?«

Ich nickte.

»Sie wirken nervös.«

»Vielleicht ein bisschen.«

»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Vermutlich, weil ich die einzige Neufundländerin bin, die nicht gerne redet.«

Sie lächelte. »Ich werde versuchen, unser Gespräch so kurz und schmerzlos wie möglich zu machen. Ich habe bereits viele Informationen über Sie erhalten.«

Dr. Bell klappte die Mappe auf und überflog die darin befindlichen Unterlagen. Ich befürchtete, sie würde nur allzu schnell zu einem Urteil über mich kommen: ein bedauernswertes altes Dummerchen, verwirrt und professioneller Überzeugung bedürfend. Sie würde damit völlig falschliegen.

Sie klappte die Mappe wieder zu. »Nun, Frances, erzählen Sie mir doch bitte, was Sie über Ihre Diagnose wissen.«

Es war genau einen Monat her, seit eine andere junge Ärztin an meinem Krankenhausbett gesessen und mir zwei neue Wörter für mein Notizbuch mitgeteilt hatte. Ich hatte sie gebeten, mir die Wörter auf ein Stück Papier zu schreiben, nachdem sie mir ihr Bedauern ausgedrückt hatte. Der Name der Ärztin war mir abhandengekommen, aber ihr Gesicht und ihre Stimme hatten sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Die arme Frau wirkte vollkommen verstört, und ich nahm an, dass sie noch recht unerfahren darin war, Hiobsbotschaften zu überbringen. In den darauffolgenden Tagen hörte ich die Wörter noch viele Male, aber ich hatte sie bisher noch nie laut gesagt. Ich trank einen Schluck Wasser.

»Glioblastoma multiforme.« Ich wusste, dass ich es richtig ausgesprochen hatte, und war zufrieden.

»Und was verstehen Sie unter Ihrer Diagnose?«

»Ein aggressiver Hirntumor. Zehn bis zwölf Monate, bestenfalls.«

Sie sah mich mitfühlend an. »Das tut mir sehr leid.« Sie machte eine kurze Pause. »Nun, hier und heute geht es um Ihre Weigerung, sich der empfohlenen Behandlung zu unterziehen. Erzählen Sie mir davon.«

Ich hätte ihr von allem berichten können: von dem stämmigen Chirurgen, bei dem ich in der Woche zuvor gewesen war und der mir den Kopf aufsägen und so viel herausschnippeln wollte, wie er nur konnte, und von dem anderen Arzt, der mir Gift in die Venen pumpen wollte, um mir ein paar Monate zu schenken. Monate, die ich krank, verängstigt, allein und, was vielleicht am wichtigsten war, ohne Einkommen verbringen würde. Ich stellte es mir nicht gerade einfach vor, einen Staubsauger vor mir herzuschieben, während ich mit einem Fuß im Grab stand, was bedeutete, dass Sterben in meinem Budget lag, Dahinsiechen nicht. Doch je weniger Worte ich darüber verlor, desto besser. Prägnanz.

»Es würde das Unabwendbare lediglich hinauszögern«, sagte ich. »Ich möchte die Zeit, die mir bleibt, in einem Zustand verbringen, in dem ich sie genießen kann.« Ich war zufrieden, wie ruhig und gefasst ich klang. Sogar noch besser als am Abend zuvor, als ich die Worte vor dem Spiegel geübt hatte.

»Ihnen ist bewusst, dass sich Ihre Lebenserwartung ohne Behandlung aller Voraussicht nach verkürzen wird?«

»Ja.«

Sie notierte etwas auf ihre gelben Blätter. »Frances, ich habe die Ergebnisse Ihrer kognitiven Tests vorliegen, und ich habe den Befund des Psychologen, mit dem Sie im Krankenhaus gesprochen haben – das alles sieht für mich sehr gründlich aus. Wie ich sehe, wurden alle gängigen psychischen Erkrankungen ausgeschlossen. Laut Ihrer Unterlagen haben Sie keine psychiatrische Vorgeschichte, allerdings finde ich hier kaum etwas über Ihre Familie. Gibt es Verwandte, die schon einmal Probleme mit ihrer seelischen Gesundheit hatten?«

Mir wurde schlagartig heiß. Ich spürte, wie sich meine neue Bluse an meinen Rücken zu kleben begann, und fragte mich, was wohl die Reinigung kosten würde. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Würden Sie mir etwas über Ihre Vergangenheit erzählen? Über Ihre Kindheit vielleicht?«

Mit einem Mal fand ich die Vorstellung, jemandem von meinem einfachen Leben zu erzählen, aufregend. Gleichzeitig machte mir der Gedanke, mich einer fremden Person zu offenbaren, Angst, vor allem einer Person, die in der Position war, meine Pläne scheitern zu lassen. Ich versuchte, ruhig zu atmen, und zwang mich zu einem Lächeln, von dem ich hoffte, dass es gelassen wirkte. »Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

»Ziehen Sie es vor, bei der Gegenwart zu bleiben?«

»Ja.«

Sie stellte mir eine Reihe von Fragen, die ich inzwischen kannte. Welches Datum haben wir heute, welche Jahreszeit, wie heißt diese Straße. Buchstabieren Sie das Wort Welt rückwärts. Merken Sie sich folgende drei Begriffe: Ball, Stift, Telefon. Malen Sie dieses, benennen Sie jenes. Ihr Stift kratzte über das Papier, Haken, Haken, Haken.

»Gab es je Phasen, in denen Sie sich sehr niedergeschlagen oder deprimiert gefühlt haben?«

Ich tat so, als würde ich darüber nachdenken. »Nein.«

»Wie sieht es seit Ihrer Diagnose aus?«

»Nein.«

»Irgendwelche Veränderung bezüglich Ihres Schlafs, Antriebs, Appetits?«

»Keine nennenswerten.«

»Hören Sie Stimmen oder sehen Sie Dinge, die andere Menschen nicht zu sehen scheinen?«

»Bestimmt nicht.«

»Wie sieht es mit Sorgen oder Ängsten aus?«

»Meine einzige Sorge ist, dass ich gezwungen werde, mich dieser Operation zu unterziehen.«

»Niemand kann Sie dazu zwingen. Solange Sie geistig dazu in der Lage sind, haben Sie das Recht, die Behandlung zu verweigern.«

»Und hier kommen Sie ins Spiel.«

»Richtig. Frances, ich weiß, dass Sie diese Frage in den vergangenen Tagen mehr als einmal beantwortet haben, aber ich muss Sie das erneut fragen. Haben Sie jemals über Selbstmord nachgedacht?«

An einem anderen Tag hätte ich sie gefragt, ob lebensmüde das Gleiche war, aber ich schüttelte nur den Kopf.

Sie machte eine kurze Pause, und ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. »Sie haben angegeben, dass Sie allein leben, daher würde ich gern wissen, wie es mit Unterstützung aussieht. Gibt es Menschen, die Ihnen in dieser Situation beistehen?«

»Oh ja. Alle Mann an Deck.«

Sie hielt meinem Blick einige Sekunden lang stand. Etwas in ihren Augen ließ Skepsis erkennen, und mir wurde flau im Magen. Meiner Zählung nach hatte ich sie mindestens drei Mal angelogen, und bis zu diesem Punkt hatte ich geglaubt, vollkommen überzeugend gewesen zu sein. Plötzlich jedoch befürchtete ich, sie könnte in jeden Winkel meines Lebens hineinschauen, als wäre es ein Film, der über meinem Gesicht ablief. Ich blickte auf meine ineinander verkrampften Hände hinunter, dann sah ich wieder auf und zwang mich erneut zu lächeln.

Sie machte sich eine letzte Notiz und legte dann den Stift weg. »Sie sind zweifelsfrei in der geistigen Verfassung, die Behandlung abzulehnen. Aber Sie können Ihre Meinung jederzeit ändern. In diesem Fall stehen Ihnen Ihre Ärzte zur Verfügung, um Ihnen auf jede erdenkliche Weise zu helfen, ich eingeschlossen. Sollten Sie bemerken, dass sich Ihre Stimmung verändert, oder etwas anderes Besorgniserregendes feststellen, zögern Sie nicht, mich aufzusuchen. Okay?«

Ich spürte, wie sich mein Körper zu entspannen und herunterzukühlen begann. Das Klingeln in meinen Ohren verstummte, und ich konnte spüren, wie mein Herz und meine Lungen in ihren regelmäßigen Rhythmus zurückfanden.

»Dann stempeln Sie mich also als zurechnungsfähig ab?«

Sie lachte und schlug mit der Faust auf die Mappe. »Zurechnungsfähig!«

Wir standen auf, und sie begleitete mich hinaus. Als sie mir die Hand reichte, fragte sie: »Was haben Sie jetzt vor?«

»Oh, es ist vieles liegen geblieben.«

»Ich weiß, es wird nicht einfach werden, aber ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Ich sah ihr nach, während sie fortging, und mir wurde bewusst, dass sie mich im Laufe des Gesprächs nicht ein einziges Mal aus den Augen gelassen hatte, nicht einmal, während sie sich Notizen auf ihre gelben Zettel gemacht hatte. Ich fragte mich, ob sie wirklich Anteil nahm. Vielleicht hatte sie einfach vor dem Spiegel geübt, wie man Mitgefühl zeigte, hatte es zu einer besonderen Fähigkeit perfektioniert, so wie sie gelernt hatte zu schreiben, ohne hinunterzuschauen. Und ich fragte mich, ob ich ehrlich zu ihr gewesen wäre und ihre Hilfe angenommen hätte, wenn wir uns nicht heute, sondern vor vielen Jahren getroffen hätten.

Ich drückte die Glastüren auf und trat hinaus auf den belebten Bürgersteig. Der Trubel im Stadtzentrum machte mir immer zu schaffen – das Gedränge der geschäftigen Menschen, der Verkehr, der endlose Lärm des Stadtlebens. Ich hatte mich nie wirklich an die Hektik der Stadt gewöhnt. Im Grunde war ich immer ein Küstenkind geblieben. Meer und Himmel und schroffe Klippen entsprachen mehr meinem Tempo. Platz zum Umherstreifen und um mit der Schönheit der Insel eins zu sein. Der Ort hier im Schatten dieses hohen Gebäudes unterschied sich vermutlich nicht allzu sehr vom Zentrum Torontos.

Ich ging zwei Blocks weiter, fand eine Bank und setzte mich, um meine schmerzenden Füße von den unbequemen neuen Schuhen zu erlösen. Ich knetete meine Fußsohlen und jeden einzelnen Zeh, bis ich das Blut wieder darin fließen spürte, dann holte ich ein paar abgetragene weiße Arbeitsturnschuhe aus meiner Tasche.

Es war Ende Mai, und die prallen Knospen an den Ästen sprangen endlich auf. Einer meiner ersten Gedanken, nachdem mir die Ärztin die Nachricht überbracht hatte, war, was für ein Glück ich hatte, nun ein für alle Mal den Winter hinter mir zu lassen. Nie mehr würde ich mich an der Bushaltestelle gegen den Nordwind stemmen müssen, würde mir der peitschende Schnee die Wangen aufritzen und würden sich Eiskristalle an meiner Nase bilden. Meine letzten Tage auf dieser Welt wären Tage voller grünem Gras und frischer Brisen, kühlem Sprühregen und salzigem Nebel und, mit etwas Glück, zwischendurch ein klein wenig Sonnenschein. Wenn es ein Leben nach dem Tod gab, was ich bezweifelte, dann bitte im immerwährenden Frühling.

Mein Telefon läutete und erinnerte mich daran, meine Medikamente zu nehmen. Mein Schutzschild gegen einen erneuten Anfall, mit dem vor ein paar Monaten alles angefangen hatte. Das erste Anzeichen, dass mit mir etwas ganz und gar nicht stimmte. Die Tabletten waren groß und hatten eine raue Oberfläche, und ich hatte nichts zu Trinken dabei. Ich stand von der Bank auf und ging zu einem kleinen Lebensmittelgeschäft am Ende der Straße. Ich stellte mich hinter einem uralten Mann an, der Lotterielose kaufte. Er schien dem Tod näher zu sein als ich. Was gedachte der Narr nur zu tun, wenn seine Losnummer gewinnen würde? Vielleicht hatte er für ordentlich Nachwuchs gesorgt, dem er seinen Gewinn vermachen konnte, oder vielleicht war es einfach eine Gewohnheit, die er nicht ablegen konnte. Der alte Mann bat den Verkäufer um zwei Schachteln Camel. Ich stellte mir vor, wie er jahrelang eine brennende Zigarette zwischen seinen nikotingelben Fingern gehalten hatte, und ich beneidete ihn. Ich schloss die Augen und konnte das Entzünden eines Streichholzes hören, spürte das heiße Stechen des ersten Zuges und sah den weißen Rauch ausströmen, während ich den Kopf nach hinten legte. Über zwei Jahrzehnte war es her, seit ich das Rauchen aufgegeben hatte. Die Menschen beglückwünschten mich zu meinem konsequenten Entschluss, gesünder zu leben, aber ganz ehrlich, hätte ich mir die steigenden Tabakpreise weiter leisten können, ich hätte bis zu meinem letzten Atemzug zwei auf einmal geraucht.

»Für die Dame nur das Wasser?«

»Ja. Nein. Moment. Bitte geben Sie mir noch eine Schachtel Rothmans und eine Packung Streichhölzer.«

Ich lief zurück zur Bank und wickelte die Schachtel aus der Folie. Ich nahm einen fest zusammengepressten Zylinder heraus, steckte mir das orange gesprenkelte Ende zwischen die Lippen, zündete ein Streichholz an und atmete den herrlich kratzigen Rauch ein. Es war, als beträte man einen wohlig warmen, mit Kaminfeuer beheizten Raum, nachdem man zwanzig Jahre lang vor der Tür in der Kälte ausgeharrt hatte. Ich rauchte die Zigarette bis auf den Filter hinunter und genoss das damit einhergehende schwummerige Gefühl. Mein Telefon meldete sich wieder, und ich holte die Tabletten heraus.

Eine weitere Zigarette, dann ein weiteres Taxi. Ich ließ mich tief in den Rücksitz sinken. Durch das Fenster sah ich die Hausdächer vor dem strahlenden Blau des Himmels vorbeifliegen. Ich fühlte mich unbeschwert, geradezu energiegeladen. Ich bat den Fahrer, zwei Straßen vor meiner Wohnung zu halten, und ging den Rest des Weges zu Fuß.

Meine Wohnung war von Sonnenlicht durchflutet, und ich stellte fest, dass ich sie nie zuvor mitten an einem Werktag gesehen hatte. Sie wirkte größer, geradezu geräumig. Vielleicht war geräumig etwas übertrieben, selbst im gleißendsten Licht. Sie bestand aus nichts weiter als ein paar Schuhkartons von Räumen mit hier und da einem zugigen Fenster. Ein sauberer Unterschlupf hinter einer verbeulten Metalltür am obersten Ende einer steilen Treppe. Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine zweckmäßige Küche und ein ebensolches Bad, alles vom Billigsten, und trotzdem die beste Wohnung, die ich als Erwachsene je ein Zuhause genannt hatte. Verglichen mit den vielen armseligen Behausungen, in denen ich vorher gewohnt hatte, war diese praktisch luxuriös. So viel Heizung und warmes Wasser, wie ich wollte. Ein funktionstüchtiger Kühlschrank und ein intakter Herd. Eine weiße Badewanne inmitten weißer Fliesen, die ich stets auf Hochglanz polierte. Versteckt im obersten Stock eines mit grünen Schindeln verkleideten Hauses in einer ruhigen Straße in der Nähe der Universität, die günstige Miete ein Zeichen der Anerkennung dafür, dass ich zehn Jahre lang das riesige viktorianische Haus von Mrs Heneghan, der betagten Mutter meines Vermieters, geschrubbt hatte. Sie war nun seit fast fünf Jahren tot.

Ich hatte viele Dinge von Arbeitgebern bekommen: abgetragene Kleidung, angeschlagenes, nicht zusammenpassendes Geschirr, angegraute Bettwäsche, Kisten voller Bücher, sogar einen Fernseher – alles benötigt und höchst willkommen. Besonders die Bücher, meine Schätze. Doch diese Wohnung war eine Geste, die ihresgleichen suchte und für die ich Mrs Heneghans wohlgeratenem Sohn unendlich dankbar war. Das gesamte erste Jahr, nachdem er mir die Schlüssel überreicht hatte, hatte ich in der ständigen Angst gelebt, dass er seine Meinung ändern und mich wieder hinauswerfen könnte. Jedes Mal, wenn ich den Scheck für die Miete unterschrieb, zitterten meine Hände, und ich bat stumm: Lass diesen Monat nicht der letzte sein. Inzwischen verschickte ich die Miete per Handy, das ich ebenfalls gebraucht bekommen hatte. Es war ein nutzloses, altmodisches Ding für den Teenie, durch dessen Saustall von Zimmer ich mir mehrmals pro Woche meinen Weg bahnte, aber ein Wunderwerk der Technik für mich.

Ich schälte mich aus meiner zerknitterten Kleidung, duschte, dann stellte ich mich in ein Handtuch gewickelt an das offene Schlafzimmerfenster, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Glas Whisky, mein erster Drink seit sehr langer Zeit. Die Flasche war Teil eines Geschenkkorbs gewesen, den mir Mr Heneghan vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und hatte seitdem ungeöffnet in meinem Küchenschrank gestanden. Ein kühler Windstoß streifte mich. Meine Haut kribbelte, und die Haare an meinen Armen stellten sich auf. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster, schloss die Augen und atmete tief ein. Ich roch den Frühling, dahinter einen Hauch von Gebratenem. Butter und Zwiebeln. Geräusche drangen von der Straße zu mir hinauf – das Weinen eines Babys, klassische Musik aus einem Radio, ein Motor im Leerlauf, in der Ferne das Heulen einer Sirene. Es war schier überwältigend. Vielleicht hatte dieses Ding in meinem Kopf meine Sinne geschärft, oder vielleicht hatte ich früher einfach nicht darauf geachtet. Ich fragte mich, was ich sonst noch alles verpasst hatte. Ich machte das Fenster zu und drückte die Zigarette auf einer angeschlagenen Untertasse aus.

Ich zog mir eine Jogginghose und ein bequemes T-Shirt an, dann setzte ich mich gedankenverloren vor den Fernseher. Wie seltsam und irritierend es war, zu dieser Tageszeit so untätig zu sein. Ich streifte durch die Wohnung und entdeckte allerlei Hausarbeit, die erledigt werden sollte, doch ich war zu müde, um mich für eine bestimmte zu entscheiden. Stattdessen schenkte ich mir ein weiteres Glas Whisky ein und streckte mich auf dem Sofa aus. Mein Körper war für eine Runde Schlaf, doch mein Kopf hatte andere Vorstellungen davon, wie man sich einen freien Nachmittag vertrieb. Seit dem Moment, als ich von dem Tumor erfahren hatte, hatte ich mich praktisch ausschließlich damit beschäftigt, wie ich diese Welt verlassen wollte, doch nun wanderten meine Gedanken in die Zeit zurück, als ich auf sie gekommen war, klopften vorsichtig Risse in die Vergangenheit wie ein Löffel auf einem Ei.

2

Mein Leben war vom Meer geprägt – dem eisigen Nordatlantik, der Neufundland umgibt. Hier wurde ich geboren, und hier werde ich sterben. Tatsächlich habe ich die Insel nicht ein einziges Mal verlassen.

Ich stamme aus einer Familie von Fischern, die sechs Generationen zurückreicht, direkt bis zu den frühen Siedlern von Safe Harbour, einem kleinen Ort an der Südküste. Mein Vater verbrachte seine Tage damit, den Ozean nach Kabeljau zu durchkämmen, und die Hände meiner Mutter kannte ich praktisch nur voller silberner Schuppen und Fischinnereien. Es waren Georgina und Patrick Delaney, die mir beibrachten, die Schönheit des Ozeans zu würdigen, für seine Schätze dankbar zu sein und vor seiner Kraft Respekt zu haben. Den Ozean zu fürchten und zu verachten, lernte ich allein.

Meine früheste Kindheitserinnerung ist die an die Stimme meiner Mutter. In den ersten zehn Jahren meines Lebens hörte ich sie öfter singen als reden. Kirchenlieder und Seemannslieder, Volksweisen und aktuelle Hits aus dem Radio. Ich bat sie immer, »Lukey’s Boat« zu singen, dessen Rhythmus und sich ständig wiederholende Zeile »Aha, me boys a-riddle-i-day« mich verzückte, egal ob sie mich damit lautstark zum Essen rief oder sanft in den Schlaf sang, wenn ich krank war. Sie war die Solistin in unserer Kirche und der Mittelpunkt jeder Zusammenkunft: Taufen und Beerdigungen, Gartenfeste und Hochzeiten – ihre eigene eingeschlossen. Meine Großmutter schwärmte immer von der Hochzeit meiner Eltern, besonders von dem Moment, als meine Mutter sich die Seele aus dem Leib sang, während mein Vater sie über den Bogen seiner Geige hinweg anstrahlte. Meine Großmutter schwärmte außerdem immer davon, dass es die Musik gewesen war, die meine Eltern zusammengeführt hatte. In seinem Elternhaus, direkt gegenüber von dem meiner Mutter, begann mein Vater, bereits über die Saiten seiner Geige zu kratzen, da konnte er sie mit seinen kleinen Händchen kaum halten, und als seine Finger flinker wurden, stellte er sich ans offene Fenster und spielte und lockte meine Mutter damit zu sich wie eine Sirene.

Sie heirateten mit gerade einmal achtzehn Jahren – wie es 1960 für gläubige Katholiken üblich war. Doch anders als ihre Nachbarn, die Scharen von Kindern hatten, war ich ihr einziges Kind. Ich wusste nie genau warum, doch jedes Mal, wenn ich nach einem Geschwisterchen fragte, konnte ich selbst mit meinen Kinderaugen erkennen, dass ihnen meine Frage Schmerz verursachte. Eines Tages machten sie mir unmissverständlich klar, dass es nie weitere Kinder geben würde. Die Erklärung meiner Mutter lautete, dass es Gottes Wille sei, und dieser sei nicht infrage zu stellen. Abgesehen von einem Schwester- oder Brüderchen bekam ich alles, wovon ein Kind träumen konnte. Frittiertes, vor Butter triefendes Brot zum Frühstück. Selbstgestrickte Fäustlinge und Socken in allen Farben des Regenbogens. Geigenunterricht und täglich ein Gute-Nacht-Lied. Samstagnachmittage auf dem Boot meines Vaters. Ungestörte Stunden, in denen ich mit meiner besten Freundin Annie Malone bei Ebbe nach Muscheln stochern durfte. Ich wusste nicht, dass wir arm sind. Woher sollte ich das auch, wenn auf meinem Teller frischer, gebratener Kabeljau mit Kartoffeln und Karotten aus unserem Garten lag, wenn in dem schwarzen, gusseisernen Ofen in der Ecke ein Feuer brannte und am Haken an der Tür ein warmer Mantel hing. Alles wirkte verlässlich und sicher, geschützt und beständig.

Zwei Wochen nach meinem elften Geburtstag ertrank mein Vater beim Fischen auf stürmischer See, wurde zusammen mit seinen beiden Brüdern von dem eisigen, schwarzen Wasser verschluckt. In einer feierlichen Beisetzung wurde ihnen die letzte Ehre erwiesen – drei leere Kiefernholzsärge, die nebeneinander in den felsigen Boden gelassen wurden, während meine Mutter »The Parting Glass« sang, das Lieblingslied meines Vaters. Ihre Stimme war leise und klang seltsam kratzig. Ich starrte auf den Ozean hinaus, während sie sang, und hoffte, dass ihre Stimme die Kraft besaß, ihn zu uns zurückzubringen. Nach der Beerdigung stand sie im dichten Nebel am Ufer, mit angespannter, düsterer Miene, und schleuderte seine Geige in die Wellen. Sie verließ wochenlang ihr Bett nicht, starrte aus dem Fenster und schickte alle Besucher weg. Ich flehte sie an, aufzustehen, sich zu waschen und zu essen, mit mir an die Küste zu gehen, mir vorzusingen, doch sie legte mir nur die Hand an die Wange und rollte sich von mir weg. Als sie schließlich wieder aufstand, fürchtete ich mich vor dieser gebeugten, ausgezehrten Fremden.

Bevor mein Vater starb, stand ich jedes Jahr am Weihnachtsmorgen bei Tagesanbruch auf und schlich auf Zehenspitzen hinunter, um eine rote, mit Orangen und Schokolade und Pfefferminzbonbons befüllte Wollsocke zu plündern. Ich bekam auch immer ein kleines Geschenk – ein Buch oder ein Kartenspiel, Haarspangen oder Duftseifen. Meine Mutter stand tagelang in der Küche, machte Pasteten und Kuchen und einen goldfarbenen Truthahn mit samtiger Soße über Steckrüben und zartem Kohl. Mir taten die Zähne weh von den zuckrigen Plätzchen und dem frisch gebackenen, vom Sirup ganz klebrigen Brot. Am Abend kam jeder aus dem Ort, der ein Instrument spielen, einen Ton halten oder eine schöne Geschichte erzählen konnte, bei uns vorbei und drängte sich um unser Feuer. An diesem ersten Weihnachtsfest ohne ihn kamen die Leute auch, jedoch nur um in Geschirrtücher gewickelte Teller mit kaltem Essen und mitfühlende und ermutigende Worte zu bringen. Es gab keine Musik. Die rote Socke war weiterhin gefüllt, und es gab auch ein Geschenk von meiner Mutter (ein rosafarbener Schal, gestrickt von Mrs Malone), aber ich empfand keine Freude darüber.

Wir hatten außer uns beiden keine Familie. Wie ich war auch meine Mutter ein Einzelkind. Als sie geboren wurde, war ihre Mutter Anfang vierzig und ihr Vater fast fünfzig. Ihre Mutter starb an Krebs, als ich noch ein Baby war, und ihr Vater erlitt ein paar Jahre später einen tödlichen Herzinfarkt. Die Mutter meines Vaters, ebenfalls verwitwet, verzehrte sich vor Kummer und starb weniger als ein Jahr, nachdem ihre Söhne beerdigt worden waren. Die Menschen von Safe Harbour sprangen ein, um sich um uns zu kümmern. Mrs Malone versorgte uns mit warmen Abendessen, Mädchen gaben mir Kleidung, die ihnen nicht mehr passte, andere Mütter brachten Brot und Pasteten, andere Väter Fisch, andere Ehemänner erledigten Reparaturen im Haus. Ich trauerte still um meinen Vater. Ich vergrub mein Gesicht in seinem kratzigen Wollpullover, bis er mit Tränen durchtränkt war, und sah jeden Tag in der Hoffnung aufs Meer hinaus, dass seine Geige zurück an die Küste geschwemmt werden würde. Abends lag ich in meinem Bett und ging meine Erinnerungen an ihn durch, immer auf die eine zusteuernd, die mir mehr als alles andere bedeutete.

Ich war fünf Jahre alt, als der Pfarrer, vor dem ich stand, einen mit Asche geschwärzten Daumen ausstreckte und mir das Kreuzzeichen auf die Stirn malte. Er sagte: »Denn Staub bist du und zum Staub zurück kehrst du.« Später an diesem Abend, als ich mit meinen Eltern am Esstisch saß, jeder von uns mit dem Zeichen unseres Glaubens auf der Stirn, fragte ich sie, warum Pfarrer O’Leary mich Staub genannt hatte. Meine Mutter sagte, er habe vom Kreislauf des Lebens gesprochen, was für mich keinen Sinn ergab. Ich sah meinen Vater an, und er erklärte mir, dass es um den Aufstieg in den Himmel ginge. Alles, was ich über den Himmel wusste, war, dass es irgendein weit entfernter Ort war, in den »gute Menschen« wie meine Granny und mein Grandpa gekommen waren, nachdem sie gestorben waren.

»Komme ich auch in den Himmel?«

Mein Vater streckte eine Hand aus und streichelte mir über die Wange. »Gewiss wirst du das. Aber das dauert noch ganz, ganz lange.«

»Wird es da staubig sein?«

Das dröhnende Lachen meines Vaters hallte durch die Küche. »Nein, mein Mädchen. Es wird dort genau so sein, wie du es haben möchtest.«

»Woher weiß ich, wie ich es haben möchte?«

»Denke einfach an den Ort, an dem du am glücklichsten bist, und dorthin wirst du kommen.«

Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, entschied ich mich für einen Tag im Sommer zuvor, der Tag, an dem mein Vater mir das Schwimmen beigebracht hatte. Ich ritt auf seinem Rücken über den felsigen Grund hinweg, dann paddelte ich zurück in Richtung Küste, wo meine Mutter stand, in die Hände klatschte und mich anfeuerte. Am Abend, als mein Vater zu mir ans Bett kam, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, sagte ich ihm, dass ich nach meinem Tod im Ozean leben wolle. Er lachte und sagte, dass ich eine gute Wahl getroffen hätte. Dann fragte ich ihn, an welchem Ort er am glücklichsten sei. »Überall dort, wo du bist«, antwortete er und knipste das Licht aus.

Meine Mutter fand allmählich ins Leben zurück, doch sie blieb mir fremd. Ich wartete darauf, dass sie sich in die Frau zurückverwandelte, die sie einst gewesen war, doch das tat sie nie. Sie bewegte sich lautlos und langsam und blieb für sich, und wir lebten in einem Haus, das so still und leise war, dass ich mir oft wünschte, wir wären zusammen mit meinem Vater verschollen. Ich fand ein wenig Trost in Büchern. Jeden Donnerstagnachmittag lief ich zum Büchereiwagen und packte alles ein, was mich die alte Mrs McCarthy tragen ließ, dann verlor ich mich wieder und wieder in den Seiten von Anne auf Green Gables und Der geheime Garten. Tatsächlich aber war es die Schule, die mir durch diese Zeit hindurchhalf. Nette und aufmerksame Lehrer, Fleißbienchen und die Note 1 in roter Schrift oben auf Klassenarbeiten. Die Schule und Annie Malone.

Tage, nachdem ich von dem Tumor erfahren hatte, begann Annie, aus den Tiefen meiner Erinnerung an die Oberfläche zu steigen. Zunächst als zufällige Rückblende (wir zwei eng aneinander gekuschelt auf einem roten Schlitten, während uns ihr Bruder Gordie an Weihnachten durch einen Schneesturm zog) oder als lebhafter Traum (Annie als Jugendliche, die mit verbundenen Augen über einen Friedhof läuft und meinen Namen ruft). In den letzten Wochen jedoch schien sie mir zu folgen wie ein Schatten. Phantom.

Ich griff nach einer alten, gebundenen Ausgabe von Kleine Frauen auf dem Beistelltisch neben dem Sofa und fand den kleinen, blauen Umschlag, den ich zwischen den Buchseiten aufbewahrte. Ich nahm das körnige Schwarz-Weiß-Foto heraus. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich es das letzte Mal angesehen hatte. Vor zehn Jahren, vielleicht war es noch länger her. Es war zerknickt und verblasst, doch das Motiv war immer noch deutlich zu erkennen. Ein unendlicher, aufgewühlter Ozean, eine kiesige Küste und zwei Knirpse mit zartem Flaum auf den Köpfen, die sich hinter den Knien ihrer Mütter versteckten. Auf der Rückseite eine blasse, blaue Handschrift: »Frances und Annie, 1965.« Der klare Beweis, dass meine gute Freundin aus längst vergangenen Zeiten kein Hirngespinst war. Der eindeutige Beleg, dass wir einen gemeinsamen Anfang gehabt hatten, egal, wie sich die Dinge zwischen uns entwickelt hatten. Monolithisch.

Ich wachte auf, das Foto immer noch in der Hand. In der Wohnung war es dunkel und still. Mir tat von dem durchgesessenen Sofa der Rücken weh, und die wachgerufenen Erinnerungen lagen mir schwer auf der Seele. Ich schenkte mir einen Schluck Whisky ein und kletterte ins Bett.

Was haben Sie jetzt vor? hatte Dr. Bell mich gefragt. Ja, was genau hatte ich jetzt eigentlich vor? Das Haus der Clearys würde am nächsten Morgen auf mich warten. Sie würden meine letzten Kunden sein. Ich musste ihnen etwas sagen und zwar bald, aber was genau, hatte ich noch nicht entschieden. Dr. Cleary war wie ein Schatten in seinem eigenen Haus und würde vermutlich gar nicht mitbekommen, dass ich weg war. Mrs Cleary würde mühelos jemanden finden, der in meine ausgetretenen Fußstapfen trat. Doch dann war da noch Edith. Was für ein nüchterner Name für ein so fröhliches Mädchen. Ich konnte mir nicht erklären, wie eine so moderne, dynamische Mutter auf diesen Namen für ihre Tochter gekommen war, bis sie mir kurz nach meiner Einstellung zu Weihnachten Das Haus der Freude und Zeit der Unschuld von Edith Wharton geschenkt hatte. Da verstand ich es. Die kleine Edie Cleary, inzwischen sechzehn, war seit ihrem elften Lebensjahr unter meinen wachsamen, bewundernden Augen aufgewachsen. Mich von ihr trennen zu müssen, daran wollte ich nicht einmal denken.

Am nächsten Morgen kam ich zwanzig Minuten zu spät zur Arbeit. Ich raste in die Waschküche, schmiss die erste Maschine an, dann eilte ich weiter in die Küche. Überall Reste des Frühstücks. Halb volle Kaffeebecher auf der Kücheninsel, zwei leere Schüsseln und benutzte Löffel auf dem Tisch, Krümel auf der Arbeitsplatte vor dem Toaster, jedoch keine Spur von Edies morgendlichem Milchshake. »Smoothie, Frances, es heißt Smoothie«, sagte sie immer und verdrehte die Augen. Ich sorgte rasch für Ordnung, dann setzte ich Teewasser auf. Ich ließ mich am Tisch nieder und nahm mir einen Muffin. Für gewöhnlich fühlte ich mich in der Küche der Clearys nicht wie zu Hause, aber nach einer Nacht wie der vorherigen und dem hektischen Morgen, der darauffolgte, ging das schon mal in Ordnung.

Es hatte in den frühen Morgenstunden begonnen, ein dumpfes Hämmern in meinem Kopf, das sich jäh in einen stechenden Schmerz verwandelte, als hätte jemand ein Beil durch meinen Schädel gejagt. Ich wankte ins Bad, nahm eine der Tabletten, die man mir im Krankenhaus gegeben hatte – die, von denen ich steif und fest behauptet hatte, sie nicht zu brauchen –, und presste mir einen kalten Waschlappen auf die Augen. Ich legte meinen Kopf auf das Kissen und atmete tief ein und aus, bis der Schmerz begann nachzulassen. Ich döste ein, schreckte aber um halb vier schweißgebadet wieder hoch. Es war, als konnte ich spüren, wie der Tumor pulsierte und größer wurde, während er sich in meinem Gehirn ausbreitete wie ein großer hässlicher Tintenfisch. Ich habe einen riesengroßen Fehler gemacht, dachte ich. Ich hätte einlenken und ihnen erlauben sollen, ihn rauszuschneiden. Ich rang nach Luft, und ich spürte, wie sich der dunkle Raum um mich herum zuzog. Ich war überzeugt, dass ich nun sterben würde, und alles, woran ich denken konnte, war, dass ich dabei allein sein würde. Ich rollte mich in meinem Bett zu einer Kugel zusammen, schluchzte wie ein Kind, sehnte mich nach meiner Mutter und wünschte, ich würde noch an Gott glauben.

Dann hörte ich einen Vogel zwitschern. Ich öffnete die Augen. Im Zimmer war es hell, und mir ging es besser. Ich schrieb meinen nächtlichen hysterischen Anfall dem Whisky und diesen verdammten Tabletten zu, die ich außerdem dafür verantwortlich machte, dass ich vergessen hatte, den Wecker zu stellen, etwas, das mir noch nie passiert war. Ich sprang aus dem Bett, kämpfte kurz gegen den Schwindel an, duschte und stürmte aus der Wohnung, ohne auch nur einen Schluck Wasser getrunken zu haben. Es grenzte an ein Wunder, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft hatte.

Ich putzte seit fast fünf Jahren das Haus der Clearys. Es war der beste Job, den ich je gehabt hatte. Das Haus war groß, aber einfach zu handhaben, hell, modern, einstöckig, mit großen, offenen Räumen und wenig Möbeln. Keine überladenen Antiquitäten oder verspielten Kronleuchter, stattdessen Oberflächen, die mit einem einzigen Wisch glänzten. Alles elegant und reduziert. Selbst wenn es nicht sauber war, täuschte es vor, sauber zu sein, und hatte ich meinen Zauberstab geschwungen, funkelte es wie die Brillantringe von Mrs Cleary.

Sie zahlten mir das Doppelte meines üblichen Honorars und vergüteten mir damit zusätzliche Aufgaben wie das Abendessen vorbereiten, Besorgungen erledigen und ihre sanftmütige Tochter hüten, während sie ihre fünfzig bis sechzig Stunden pro Woche arbeiteten oder über die Wochenenden irgendwohin jetteten. Er war plastischer Chirurg, Gesichtsstraffungen, Brust-OPs und dergleichen, sie war Marketingchefin in einem Verlag, vermarktete hiesige Autoren, die neuerdings auf dem Vormarsch waren. Sie hatte ein Büro (sie nannte es ihr Lesezimmer) neben der Küche. Es war voller Bücherregale, die von oben bis unten gefüllt waren und aus denen ich mir ausleihen durfte, was immer ich wollte.

Ich hatte Mrs Cleary in meiner Bücherei kennengelernt, die in der Allandale Road, wo ich praktisch jede freie Minute verbrachte. Ich stand gerade vor der Ausleihe und wartete darauf, meine wöchentliche Buchration registrieren zu lassen, als eine große, schlanke, hübsch gekleidete Frau an mir vorbeilief und meine Bibliothekarin Hillary auf beide Wangen küsste. Ihr Gespräch schien ewig zu dauern, und ich wurde allmählich ungeduldig, als Hillary mich zu ihnen herüberwinkte. »Sagen Sie, nehmen Sie noch neue Kunden an?«, hatte sie gefragt. Kunden. Oh, wie ich den Klang dieses Wortes liebte, und ich beschloss, sofort zuzugreifen. Ich war zum damaligen Zeitpunkt mehr als offen für neue Kunden. Ich hatte mich fast zehn Jahre lang bei Mrs Heneghan abgerackert. Sie hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und starrte seit einem Monat stumm eine Krankenhausdecke an, die demnächst gegen die Decke eines Pflegeheims ausgetauscht werden sollte. Die arme Dame. Ich schlug mich seitdem mit Gelegenheitsjobs durch, fieberhaft auf der Suche nach etwas Festem, und zog bereits in Erwägung, wieder in Hotels anzuheuern.

Hillary stellte mich ihrer Freundin aus der Uni vor, deren Haushälterin sich aufs Festland abgesetzt und sie verzweifelt zurückgelassen hatte. »Vollkommen verzweifelt«, sagte Liz Cleary. Als ich ihr anbot, vorbeizukommen und mir ihr Haus anzusehen, griff sie nach meiner Hand, packte sie regelrecht und schüttelte sie stürmisch. Ihre Lippen formten ein breites Lächeln und gaben strahlend weiße Zähne frei. Suspekt.

Der Besuch bei Mrs Cleary dauerte keine zwanzig Minuten, in denen sie mich ein Mal durch das Haus führte. Meine Anstellung war für sie offenbar bereits beschlossene Sache. Sie entschuldigte sich mehrfach für die Unordnung, die nur ihr auffiel. Abgesehen vom Zimmer ihrer Tochter war es das ordentlichste Haus, das ich je gesehen hatte. Wir beendeten den Rundgang in der strahlend weißen Küche, in der ich zwei Geschirrspülmaschinen entdeckte. Du und ich werden bestens miteinander auskommen, sagte ich im Stillen zu dem Haus. Was Mrs Cleary betraf, so hielt ich mich mit einem Urteil über sie vorerst zurück.

So manches Mal war der Start mit den Frauen – und es waren immer Frauen –, die mich einstellten, glücklich verlaufen, doch dann liefen die Dinge oft aus dem Ruder, das sich einfach nicht mehr herumreißen ließ. Wie bei Mrs Whelan, deren Mann – dieser Schmierlappen – mir ständig lüsterne Blicke zugeworfen hatte. Eines Tages, ich schrubbte gerade auf allen vieren den Küchenboden, kam sie herein und traf ihn dabei an, wie er praktisch über mir lungerte und mein aufgerichtetes Hinterteil anstarrte. Ich wurde auf der Stelle gefeuert – zur Hintertür hinausgejagt, als wäre ich der Hund, der ihr Heim besudelt hätte. Ich war gedemütigt und wütend. Erst später an diesem Abend fiel mir ein, dass sie mir noch vierzig Dollar schuldete. Ich rief sie dreimal an und hinterließ drei höfliche Nachrichten, doch ich hörte keinen Ton von ihr. Sechs Monate hatte ich den dreckigsten Leuten hinterhergeputzt, denen ich jemals begegnet war, und das war der Dank. Ich sah sie ein paar Monate später im Supermarkt. Während ich zwei Kunden hinter ihr an der Kasse wartete, malte ich mir aus, wie ich jeden in Hörweite darüber ins Bild setzte, in welch ekelerregendem Zustand sich Mrs Whelans Haus befand. Sie hatte allerdings nichts dergleichen von mir zu befürchten – so war ich nicht, und ich brauchte mein Geld. Sie bezahlte und ging in Richtung Ausgang. Ich ließ meinen Einkaufswagen stehen und folgte ihr nach draußen. Als ich auf dem Parkplatz auf sie zuging, verstaute sie gerade ihre Einkäufe im Kofferraum. Ich nahm all meinen Mut zusammen und war kurz davor, sie anzusprechen, da warf sie mir einen vernichtenden Blick zu, und ich begriff, dass ich nicht taff genug war, um es mit ihr aufzunehmen. Ich hielt den Mund und ging weg. Würde ich sie heute treffen, würde ich mir nicht auf die Zunge beißen, ganz egal, ob es ihr gefiel oder nicht.

Der Tee schmeckte wunderbar. Ich hielt den Becher mit beiden Händen umschlossen und stellte mir vor, es wäre meine Küche, in der ich saß, meine Aussicht auf meinen gepflegten Garten. Das Haus wartete auf mich, und die Zeit verstrich, aber das Morgenlicht war zu schön und der Moment zu kostbar, um sich hetzen zu lassen. Dann klingelte mein Telefon, und der Moment war vorbei.

»Frances, sind Sie schon im Haus?«

»Ja, Mrs Cleary. Es tut mir leid, dass ich heute etwas später dran bin. Es kommt nicht mehr vor.«

»Hören Sie, ich stecke furchtbar in der Klemme. Mein Chef hat beschlossen, dass ich heute Abend zu einer Buchpräsentation in Halifax sein muss, und Robert ist heute Morgen zu einer Konferenz nach Vancouver geflogen. Jetzt bin ich ganz panisch, weil es Edie nicht gut geht. Sie lag noch im Bett, als ich gegangen bin.«

»Edie ist da?«, fragte ich, überrascht zu hören, dass sie die ganze Zeit im Haus gewesen war, ohne dass ich es wusste. »Es ist doch nichts Ernstes, oder?«

»Unter uns gesagt, sie hat wahrscheinlich nur einen Kater. Ich weiß, es ist unglaublich kurzfristig, aber besteht irgendwie die Möglichkeit, dass Sie heute bei ihr übernachten und auch morgen noch bleiben?«

»Ja, ja, natürlich. Ich kann bleiben. Kein Problem.«

»Frances, Sie sind meine Rettung. Ich komme morgen am späten Abend zurück. Ich lasse mein Handy an, für den Fall, dass Sie mich brauchen.«

Ich legte auf und trank schnell meinen Tee aus. Ich schenkte ein Glas Ginger Ale ein, nahm einen Putzeimer, kleidete ihn mit einer Plastiktüte aus und machte mich auf den Weg zu Edies Zimmer. Ein Kater. Sicher nicht. Jeder andere Jugendliche in der Stadt vielleicht, aber nicht Edie. Ich klopfte leise an ihre Tür und öffnete sie einen Spalt. Der Boden war mit Kleidungsstücken übersät, auf dem Nachttisch türmten sich Gläser und Teller, über die weiße Bettdecke zog sich irgendein dunkler Streifen. Es war mir ein Rätsel, dieses Mädchen, mit seinen endlosen Duschorgien und den gebügelten T-Shirts, seiner akkuraten Handschrift und den sorgfältig erledigten Hausaufgaben. Doch dieses Zimmer hatte ich schon vor langer Zeit aufgegeben.

Sie schlief auf dem Rücken, ihre schlaffen, dunkelblonden Haare lagen aufgefächert auf dem Kissen, und ihr Atem pfiff leise, während er in und aus ihrem geöffneten Mund strömte. Gewiss, sie war keine Schönheit, ihre Gesichtszüge wollten irgendwie nicht recht zueinanderpassen, aber das sagte genau die Richtige. Alles, was ich sah, waren ihre warmen, braunen Augen und ihr bezauberndes, schiefes Grinsen. »Sie ist so reizlos«, hatte ihre umwerfende Mutter eines Morgens zu ihrem attraktiven Vater gesagt, als ich gerade das Geschirr abräumte. Ich war fassungslos, wie grausam Mrs Cleary über Edie urteilte. Meiner Meinung nach hatte die Schönheit der Eltern Edies Schale einfach irgendwie übersprungen und ruhte irgendwo im Kern, von wo aus sie in ihrer Intelligenz und in ihrem Scharfsinn zutage trat, in ihrer Liebenswürdigkeit und in ihrer Fähigkeit, zu lieben und sich um andere zu sorgen. Worauf sonst kam es im Leben an? Jeder Mensch, in dessen Brust ein Herz schlug, konnte erkennen, wie herzensgut dieses Mädchen war, aber reizlos? Gott bewahre! Dann fragte Mrs Cleary ihren Mann, was seiner Meinung nach getan werden könnte, um Edies Nase »in Ordnung zu bringen«? Und was, bitte schön, ist mit Ihnen nicht in Ordnung, Mrs Cleary?

Ich hatte Edie nicht mehr so schlafen gesehen, seit sie ein Kind gewesen war. Jetzt war sie mehr Frau als Mädchen, und ihr Anblick berührte und ängstigte mich gleichermaßen. Ich würde sie nie älter kennen als so. Ich würde nie wissen, wie sie sich entwickelte, und der Gedanke löste einmal mehr den Drang in mir aus, den Chirurgen anzurufen und ihm zu sagen, er solle anfangen, sich die Hände zu schrubben.

Ich tauschte vorsichtig ein leeres Glas auf ihrem Nachttisch gegen das Glas mit dem Ginger Ale aus und ersetzte ihren Papierkorb mit dem Putzeimer, dann schloss ich die Tür. Außer Taschentüchern und Schokoriegelverpackungen war nichts im Müll. Ein gutes Zeichen, dachte ich, während ich alles in der Garage in die Tonne leerte. Ein Knäuel Taschentücher fiel auf den Boden, und ein blauweißer Stift schepperte über den Beton. Ich hob ihn auf und warf ihn zu dem anderen Müll in die Tonne. In dem Moment, als er meine Hand verließ, begriff ich, dass es überhaupt kein Stift war. Ich hatte die Werbespots oft genug gesehen – die mit den hübschen, jungen Frauen, die lachten und sich freuten. Die weinenden zeigte nie jemand. Ich holte ihn wieder aus der Tonne und hielt ihn gegen das Licht. Ein fettes, blaues Pluszeichen starrte mir entgegen. Ach, Edie, was für ein Schlamassel. Dieses gewissenhafte, kluge Mädchen war in die älteste Falle der Welt getappt. Es gab nichts, worüber ich in diesem Haus nicht Bescheid wusste, so wie ich in allen Häusern, in denen ich geputzt hatte, über alles Bescheid gewusst hatte, doch mir fiel nichts ein, das darauf hingedeutet hätte. Es gab keinen Jungen. Nun ja, offensichtlich gab es einen – nur keinen, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Schweißperlen begannen sich an meinem Haaransatz zu bilden.

Ich wickelte den Teststreifen in eine weiße Plastiktüte, dann sicherheitshalber in eine zweite und stopfte ihn tief unter den anderen stinkenden Müll. Ich ging zurück in die Küche, besann mich eines Besseren, lief zurück in die Garage, fischte die Tüte aus der Tonne und schlüpfte zur Hintertür hinaus. Ich lief die Straße hinunter, über einen Block weit, und entsorgte sie in dem Mülleimer vor dem kleinen Supermarkt. Als ich zurückkam, stand Edie vor der offenen Kühlschranktür.

»Guten Morgen, Edie. Geht es dir besser?«

»Hey, Frances. Ja, scheint was rumzugehen.«

»Ja, scheint so. Soll ich dir etwas zu essen machen?«

»Nein, hab keinen Hunger.«

Sie schlurfte vom Kühlschrank zu einem Hocker vor der Kücheninsel und sackte darauf zusammen, ihr Antrieb schien verflogen. Hektische Energie erfasste mich, das dringende Bedürfnis, aktiv zu werden und die Sache irgendwie in Ordnung zu bringen. Ich ahnte, dass selbst die kleinste Einmischung von mir uns beide verändern würde. Der Gedanke faszinierte und ängstigte mich. Scheideweg.

Ich legte ihr eine Hand auf den Hinterkopf. Sie griff nach oben und legte ihre Hand auf meine. Ein Kribbeln schoss mir den Arm hinauf. Ich wurde nur selten von anderen Menschen berührt, und die Berührung dieses Wesens stellte eine derart innige Freude dar, dass es fast wehtat. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, war Edie vom Fahrrad gefallen. Während ich ihr Knie säuberte und verband und dabei fieberhaft überlegte, was ich ihrer Mutter sagen sollte, beugte sie sich vor und legte mir ihre kleinen Hände auf die Schultern. Mir ging das Herz auf, sprudelte über, und ich befürchtete, in Tränen auszubrechen und das arme Kind zu Tode zu erschrecken. Inzwischen war es für sie ganz normal, die Arme um mich zu schlingen, wann immer ihr danach war, und ich ließ es gern geschehen. Müsste ich mich für eine einzige Sache entscheiden, die ich an diesem Leben wirklich vermissen würde, es wäre die Umarmung der kleinen Edie Cleary.

Ich schickte sie mit einem Toast und einer Orange zurück ins Bett, dann machte ich mir einen weiteren Tee, nahm den Becher mit nach draußen und zündete mir eine Zigarette an. Ich ging im Kopf die Aufgaben des Tages durch – Wäsche, Abwasch, Einkauf – nur um nicht permanent an diesen Test mit dem Pluszeichen denken zu müssen. Plötzlich hörte ich eine Stimme, als würde mir ein Fremder ins Ohr murmeln. Sie war kaum da, da war sie schon wieder weg, sodass ich nicht genau verstehen konnte, was sie gesagt hatte.

Ich drehte mich um und erwartete, Edie zu sehen, doch sie war nicht da. Nur ich und mein Tee und meine Zigarette, die bis zum Filter runtergebrannt war. Ich stellte den Becher im Gras ab und ließ meinen Blick ein weiteres Mal über den Garten schweifen. Es war einer dieser Vormittage, an dem das Versprechen auf Frühling förmlich in der Luft lag. Ein blauer Himmel durchzogen von flauschigen Wolken. Kein Lüftchen. Ein einzelner zwitschernder Vogel. Der Geruch von Erde und vom Rauch der Zigarette.

»Frances. Frances, bitte kommen. Erde an Frances.«

Ich fuhr herum, blinzelte und stellte Edie scharf.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie. »Du siehst komplett benebelt aus.«