Die Heilkraft der Bewegung - Jörg Blech - E-Book

Die Heilkraft der Bewegung E-Book

Jörg Blech

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Beschreibung

Die Heilkraft der Bewegung - das Wundermittel der Medizin - jetzt mit neuem Vorwort Depressionen. Arthrose. Krebs. Diabetes. Rückenschmerzen. Chronische Müdigkeit. Osteoporose. Herzinfarkt – körperliche Bewegung hilft, Krankheiten zu besiegen. Der Bestsellerautor Jörg Blech präsentiert den Wendepunkt in der Medizin: Immer mehr klinische Studien weisen die Bewegung als verträgliches Heilmittel aus, das bessere Erfolge verzeichnet als Pillen und Apparatemedizin. Niemand muss Leistungssport treiben, um von der Heilkraft der Bewegung zu profitieren, denn bereits maßvolle Aktivität hält den Geist wach und verlängert das Leben. Und es ist nie zu spät – man kann in jedem Alter beginnen! Jörg Blechs Klassiker ›Heilen mit Bewegung‹ wurde in dieser Neuausgabe um ein neues Vorwort aktualisiert!

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Jörg Blech

Die Heilkraft der Bewegung

Wie Sie Krankheiten besiegen und Ihr Leben verlängern

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]VorwortKapitel 1 Heilen mit BewegungGlücklicher Geist in bewegtem KörperVon der Schonung zur AktivitätModerate Bewegung verlängert das LebenWie man nicht alt aussiehtÜberkommener Rat zur RuheKapitel 2 Von den Gefahren, zu Bett zu gehenIm Weltall verkümmertGelenke und BindegewebeKnochenHautMuskelnHarnwegeLungenHerz-Kreislauf-SystemFortpflanzungVerdauungPsyche und WahrnehmungSchmerzempfindenVergreisen durch NichtgebrauchKapitel 3 Wir schonen uns zu TodeKapitel 4 Fit wie in der SteinzeitZum Laufen geborenDas beste Medikament gegen Diabetes ist die BewegungKapitel 5 Muskeln machen mobilDer GrundumsatzFettanteil des KörpersDie aerobe KapazitätDie BlutzuckertoleranzDie KnochendichteDie Regulation der KörpertemperaturZusammensetzung der BlutfetteBlutdruckBiomarker offenbaren das biologische AlterKapitel 6 Was das Herz begehrtSport als HerzmittelBewegung bringt die Gefäße in SchwungNeue Adern durch StammzellenRaucherbeine laufen wiederFrische Kraft für müde HerzenKapitel 7 Knochenarbeit bringt SegenTraining statt ProthesenRennen ohne ReueRastlos gegen RheumaMit Fitness gegen FibromyalgieMüde werden wieder munterMuskelkraft macht den Knochen starkKapitel 8 Sanfter Sport kuriert den RückenHeute Hexenschuss – morgen invalide?Rückenweh durch MuskelschwundAerobic macht den Rücken fitKapitel 9 Lernen braucht BewegungBewegung statt PharmaKapitel 10 Die Seele wird munterVon der Couch aufs LaufbandSportlich gegen Panik, Platzangst und SuchtReger Körper, wacher GeistTraining – die bessere TabletteKapitel 11 Jungbrunnen im GehirnMythos vom unveränderbaren GehirnLernen formt das GehirnGeistige Bewegung – Rüstzeug für gesunde GehirneKapitel 12 Krebs – einfach weglaufen?Ungute Hormone aus dem FettBelebung fürs ImmunsystemZuckerkranke bekommen häufiger KrebsDer Zustand des KörpersDirekte Wirkung auf den TumorSport verbessert die LebensqualitätÜberleben nach KrebsKapitel 13 Länger leben und gesund bleibenNeuer Schwung fürs LiebeslebenDen Stress ins Leere laufen lassenMehr gesunde TageKapitel 14 Zaubermittel für jeden TagWenig hilft vielFit ist wichtiger als fettAnhangListe der verwendeten AbkürzungenWeiterführende InformationenDanksagung

Für Anke, Hannah, Antonia und Leo

Zu unserer Natur gehört die Bewegung,

die vollkommene Ruhe ist der Tod.

 

 Blaise Pascal

Vorwort

Durch Enthaltsamkeit und Ruhe werden viele Krankheiten geheilt – so sagte es Hippokrates vor mehr als 2000 Jahren. Doch der Lehrsatz des Arztes aus der griechischen Antike wird gerade in Frage gestellt: Forscher setzen die körperliche Bewegung wie ein Heilmittel gegen unterschiedlichste Erkrankungen ein – und erzielen damit reihenweise bessere Erfolge als mit herkömmlichen Behandlungsversuchen.

Der Wandel von Schonung hin zur körperlichen Aktivität ist jedoch noch nicht vollzogen. Die Bewegung hat bis heute keinen eigenen, geschweige denn einen zentralen Platz in der Medizin gefunden, die Berichte über ihre erstaunlichen Erfolge stehen verstreut in der Fachliteratur – und sind aus diesem Grund vielen medizinischen Laien, aber auch etlichen Ärzten verborgen geblieben. Aus Unkenntnis setzen sie noch auf Produkte der Pharmaindustrie, auf Apparatemedizin – und auf körperliches Nichtstun.

Mein Ziel war es, das Wissen um die Heilkraft der Bewegung in einem Buch zusammenzuführen, das einen informiert und unterhält. Ich wollte ganz einfach wissen: Was geschieht mit Leib und Seele, was passiert in Geweben und Zellen, wenn ein Mensch körperlich aktiv ist? Dazu habe ich mich bei Ärzten und Wissenschaftlern kundig gemacht, die wichtigen Studien zusammengetragen und das Material für diese neue Auflage gründlich überarbeitet.

Je mehr Studien ich las, desto schwerer fiel mir allerdings das Sitzen am Schreibtisch. Noch nie hat uns die Wissenschaft bessere Argumente geliefert, sich körperlich zu bewegen. Eine umfassende Analyse mit Daten aus weltweit mehr als 300 Studien hat gerade ergeben, dass bei der Behandlung von Herzerkrankungen, Schlaganfall und Zuckerkrankheit (Typ-2-Diabetes) regelmäßige Bewegung Medikamente überflüssig machen kann.[1] Ihr therapeutisches Potential ist der Analyse zufolge noch viel zu wenig erforscht und bleibt im klinischen Alltag viel zu häufig ungenutzt. Auch Menschen mit Krebserkrankungen profitieren von körperlicher Aktivität.[2] Ärzte empfehlen sie oftmals zurückhaltend, doch die Patienten sind belastbarer als bisher angenommen.

Für gesunde Menschen hat die Bewegungsforschung ebenfalls großartige Neuigkeiten: Diese haben von körperlicher Aktivität noch mehr, als sich die meisten von ihnen vorstellen können. Gerade Menschen im mittleren Alter können durch moderate Bewegung Krankheiten auf Distanz halten und nebenbei einen Körper haben, der nicht sonderlich alt aussieht, aber alt werden kann. Eine Studie mit Daten von fast 650000 Menschen über 40 Jahren hat es bestätigt: Wer jede Woche 150 Minuten flott spazieren geht, der verlängert sein Leben durchschnittlich um drei bis vier Jahre.[3]

Es ist nie zu spät, in Bewegung zu kommen. Menschen, die erst im hohen Alter zur körperlichen Ertüchtigung finden, erkranken fortan viel seltener an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Diabetes und Krebs.[4] Und schließlich, so lautet eine andere neue, erfreuliche Erkenntnis, können wir die Bewegung schon mit vergleichsweise wenig Aufwand für uns wirksam werden lassen. 75 Minuten flottes Spazierengehen in der Woche verbessert die Gesundheit bereits messbar.[5]

Die geringe Schwelle mag darauf zurückgehen, dass der Mensch von Natur aus nicht ganz so viel Aktivität braucht, wie die Evolutionsmediziner bisher vermuteten.[6] Gleichwohl wird nicht nur der Körper, sondern auch der Geist entscheidend durch den natürlichen Bewegungsdrang geprägt. Wer sich körperlich betätigt, der stellt bestimmte Proteine her, die neue Nervenzellen wachsen lassen. Im Laufe der Generationen ist unsere Spezies auf diese Weise womöglich zu ihrem großen Gehirn gekommen – die Bewegung hat den Menschen zum Menschen gemacht.[7]

Es spricht also nichts mehr dagegen, ein Rezept für Bewegung auszustellen. Zu Beginn meiner Recherchen habe ich unweigerlich damit angefangen, mich viel häufiger als früher aus eigener Kraft zu bewegen.[8] Heute fahre ich mit dem Fahrrad ins Büro (eine Strecke 17 Kilometer) und gehe jeden Sonntag in der Frühe mit einem Freund laufen (11 Kilometer). Wenn ich mich verausgabe, dann spüre ich etwas, das ich mir nicht anlesen kann: Es ist ein großartiges Gefühl, sich zu bewegen.

 

Berlin im Februar 2014

Kapitel 1Heilen mit Bewegung

Auf den ersten Blick entspricht der Arbeitsplatz des kalifornischen Psychiaters Wayne Sandler dem Klischee: An der Wand hängen Bilder von Sigmund Freud, in einem Glasschrank liegen Lehrbücher der Hirnanatomie, und eine Couch gibt es natürlich auch.

Doch dann ist da noch etwas, das hier gar nicht hinzugehören scheint: zwei Laufbänder.

»Immer wieder haben mir Patienten gesagt, wie wohl sie sich fühlen, wenn sie sich einmal richtig bewegen«, erzählt Sandler, dessen Praxis im neunten Stock eines Hochhauses im reichen Century City District von Los Angeles liegt. Doch, so klagten die Gemütskranken, sie fänden keine Zeit oder fühlten sich einfach zu labil, um Sport zu treiben. Aus diesem Grund hat Sandler beschlossen, seine Gesprächstherapie mit körperlicher Ertüchtigung zu kombinieren.

Etwa die Hälfte der depressiven oder angstgestörten Patienten bringen mittlerweile Laufschuhe mit, wenn sie einen Termin bei Doc Sanders haben. Der drahtige Arzt, der selbst jeden Tag Gewichte stemmt oder auf dem Fahrrad-Ergometer strampelt, schlüpft dann in seinen schwarzen Sportdress. Die Laufbänder hat Sandler einander gegenüber aufgestellt, so dass er seinem Patienten ins Gesicht blicken kann. Zwei Startknöpfe klicken, die Therapie im Traben kann beginnen.

Zwar verschreibt Sandler einigen seiner Patienten nach wie vor Medikamente wie die Modedroge Prozac. Jedoch ist er davon überzeugt, dass Bewegung eine gestörte Gehirnchemie häufig besser ins Gleichgewicht bringt als Arzneimittel. Seine Lauf-Kundschaft jedenfalls sei begeistert, berichtet der Psychiater, der das Training mittlerweile wie eine Arznei verschreibt: »Bewegung wird jetzt Ihre Medizin sein – und Sie brauchen davon jeden Tag mindestens 30 Minuten.«[9]

Auch Carolyn Kaelin glaubt an die Heilkraft der Bewegung. Die Mutter zweier Kinder lebt in Boston. Im Sommer vor einiger Zeit erkrankte sie an Brustkrebs. Da war sie gerade 42 Jahre alt. Eine Chemotherapie, fünf Operationen einschließlich der chirurgischen Entfernung der Brüste haben die Frau nicht davon abhalten können, so häufig wie möglich ins Fitnessstudio zu gehen und jeden Tag zur Arbeit zu laufen: »Es ist die eine Sache, die ich für mich tun kann, von der ich weiß, dass sie nützlich ist.«

Kaelin kennt sich aus. Sie gehört zu den bekanntesten Brustkrebs-Chirurginnen der USA und ist Direktorin an der Harvard Medical School. Wer ihr strahlendes Lächeln sieht und ihre Vitalität spürt, mag nicht glauben, welchen Leidensweg sie gegangen ist. Doch gerade das nährt die Hoffnung ihres Publikums. Stets tragen in ihren Vorträgen einige der Zuhörerinnen Tücher, um den während einer Chemotherapie kahl gewordenen Kopf zu bedecken.

Eine wachsende Zahl von Studien, berichtet Kaelin ihrem gebannten Publikum, zeige: Körperliche Bewegung kann das Leben von Brustkrebspatientinnen verlängern und die Wahrscheinlichkeit von Rückfällen verringern. Werde ein Brustkrebs diagnostiziert, empfiehlt die attraktive Professorin, solle die betroffene Frau so schnell wie möglich mit einem Fitnessprogramm beginnen: »Ihnen mag überhaupt nicht danach zumute sein. Aber ich glaube, es kann wahrlich Ihr Leben retten.«[10]

Bisher empfahlen Ärzte körperliche Aktivität und sanften Sport meist als Prophylaxe, um den Ausbruch von Krankheiten und Leiden zu vermeiden. Doch nun kommt die Bewegung in die ganze Medizin. Psychiater und Onkologen, ebenso Orthopäden, Demenzforscher und Kardiologen erkennen: Den Körper in Gang zu setzen hilft Menschen auch dann, wenn sie schon längst krank sind.

In vielen Fällen ist dosiertes Training eine Ergänzung bewährter Therapien. Häufig, so zeigen neue Studien, wirkt Bewegung sogar besser als teure Tabletten und Hightech-Medizin. Sie kann neue Gefäße und heilende Zellen in erkrankten Geweben wachsen lassen und Krankheitsverläufe regelrecht umkehren.

Glücklicher Geist in bewegtem Körper

Es ist der Geist, befand einst der Dichter Friedrich Schiller, der sich den Körper baut. Den umgekehrten Fall hielt die Medizin lange für ausgeschlossen. Die meiste Zeit war in den Lehrbüchern der Neurologie zu lesen, körperliche Arbeit könne das Gehirn in keiner Weise beeinflussen. Ein ominöses »Automatiezentrum« würde Durchblutung und Stoffwechsel des Denkorgans immerfort konstant halten, ganz gleich, ob der dazugehörende Leib gerade eine Steilwand erklimmt oder im Schatten eines Obstbaumes döst.[11] Überdies galt der Lehrsatz, das Gehirn eines Erwachsenen könne sich nicht verjüngen: Weil nach der Geburt keine neuen Nervenzellen mehr wüchsen, seien Stillstand und Niedergang sein Schicksal.

Nun revidieren Hirnforscher das vernichtende Urteil: Es ist auch der Körper, der sich den Geist baut. Wer seine Muskeln trainiert, der flutet seine grauen Zellen geradezu mit frischen Nähr- und Wuchsstoffen. Dadurch wachsen neue Nervenzellen. Diese Neulinge sind leicht erregbar und besonders lernfähig. Sie sterben allerdings nach einigen Wochen wieder ab, wenn man sie nicht benutzt. »Körperliche Aktivität ist für die Bildung neuer Nervenzellen notwendig«, erklärt Josef Bischofberger vom Departement Biomedizin der Universität Basel. »Geistige Aktivität ist wichtig für das Überleben dieser Zellen.« Denn durch diese Beanspruchung fügen die Neuronen sich dauerhaft in das Denkorgan und erhöhen offenbar dessen Vermögen, Neues zu lernen.

Das bedeutet: Wir können das Gehirn wie einen Muskel trainieren, und zwar in jedem Alter. »Fitnesstraining verbessert die Wirksamkeit und Leistung von Nervenzellen«, sagt auch der Psychologe Arthur Kramer. »Ältere Gehirne sind viel anpassungsfähiger und formbarer, als man es uns beigebracht hat.«[12]

Niemand muss groß in Schweiß ausbrechen, um die heilenden Effekte zu ernten: Wer dreimal in der Woche eine halbe Stunde lang schnell geht oder joggt, so entdeckten beispielsweise Forscher der amerikanischen Duke University in einer Vergleichsstudie, der schützt sich genauso wirksam gegen Missmut und Trauerattacken wie Menschen, die jeden Tag Stimmungsaufheller schlucken.[13]

Wie es eigentlich sein kann, dass Ertüchtigung zu guten Gefühlen führt, das hat der Psychiater Ronald Duman von der Yale University entdeckt: Mäuse, die nach Herzenslust auf Laufrädern rennen, produzieren im Gehirn ein Protein, das pharmakologisch gesehen wie ein Medikament gegen Depressionen wirkt. Dieses körpereigene Protein heißt VGF und verbessert die Verschaltungen der Nervenzellen, wodurch das Gehirn offenbar gegen krankmachenden Stress geschützt wird.[14]

Von der Schonung zur Aktivität

Die ermutigenden Erkenntnisse werden bekannt, weil überall auf der Welt Ärzte dazu übergehen, den Einfluss von körperlicher Bewegung in Studien zu messen und ihren Nutzen zu bewerten. Das häufige Ergebnis: Moderates Training ist als eigenständiges Heilmittel anzusehen, das wir wie ein bewährtes Medikament dosieren können. Ein Wendepunkt der Heilkunde sei erreicht, konstatieren Mediziner der Universität Kopenhagen: Das Wissen um den Segen der Bewegung »ist jetzt so umfangreich, dass dieses angewendet werden muss«.[15]

Der Paradigmenwechsel von Schonung zu Aktivität betrifft gerade die großen Volkskrankheiten: Osteoporose, rheumatischer Gelenkverschleiß, chronische Rückenschmerzen oder etwa Zuckerkrankheit (Typ-2-Diabetes) – sie alle lassen sich durch Bewegung zurückdrängen und sogar besiegen. Zappeligen Schulkindern wird körperliche Ertüchtigung verschrieben, anstatt ihnen, wie bisher, zum Pausenbrot Psychopharmaka zu reichen. Tabletten vom Schlage des Potenzmittels Viagra kann man getrost ersetzen – durch moderate Bewegung. Denn eine Langzeituntersuchung an mehr als 1000 Männern hat ergeben: Das einzige Verhalten, das impotenten Patienten aufhilft, ist regelmäßige körperliche Aktivität.

Deutlich feststellbar ist auch der gute Effekt aufs Herz. Wer seinen Kalorienverbrauch erhöht, der senkt die Wahrscheinlichkeit, dass seine Herzkranzgefäße verkalken. Der Kardiologe Rainer Hambrecht vom Herzzentrum Bremen studiert das Phänomen auf Ebene der Zellen. »Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit«, erklärt er, »können ihre Lebenserwartung erhöhen, wenn sie beginnen, Sport zu treiben.«

Je mehr die Forscher erfahren und verstehen, desto entschiedener fordern sie die Abkehr vom klassischen Rat, demzufolge der Kranke das Bett zu hüten habe. »Viele Ärzte empfehlen (immer noch) bei verschiedenen Krankheiten körperliche Schonung oder raten von jeglicher körperlicher Aktivität ab«, klagte der Remscheider Internist und Kardiologe Herbert Löllgen im Deutschen Ärzteblatt.[16] Doch gerade bei Stoffwechselerkrankungen und Gelenkverschleiß sei Nichtstun »meist kontraindiziert« und verschlechtere sogar die Lebensqualität.

Besonders Krebspatienten werden mitunter noch vielfach zu körperlicher Untätigkeit angehalten – aus dem ärztlichen Glauben heraus, sie verkrafteten dadurch die Strapazen der Behandlung besser. Doch tatsächlich ist eher das Gegenteil wahr, berichtet die Deutsche Zeitschrift für Onkologie in einer Schwerpunktausgabe. In ihr steht zu lesen, wie manche Ärzte dazu übergehen, selbst schwerkranken Patienten Fahrrad-Ergometer aufs Krankenzimmer zu stellen. Körperliche Bewegung hellt demnach das Gemüt der Patienten auf und schenkt ihnen verloren geglaubte Kraft. Sie vermag die körpereigene Krebsabwehr zu stärken – und kann sogar das Leben verlängern.

Diese aufregenden Befunde haben sich merkwürdigerweise wenig herumgesprochen. In Deutschland, klagten Mitarbeiter vom Lehrstuhl für Sport und Gesundheitsförderung der Technischen Universität München, »ist der therapeutische Wert des Sports in der Krebsnachsorge noch vergleichsweise unbekannt und wird zum Teil sehr stiefmütterlich behandelt«.[17]

Generell dürfte ärztlicher Rat zur Ruhe das Ableben etlicher Patienten befördern. Beispiel Herzmuskelschwäche: Die krankmachenden physiologischen Vorgänge, die zum Schwund des Pumpmuskels führen, verschlimmern sich nur, wenn der Betroffene sich auf falsche Anordnung hin nicht mehr bewegt. Gut informierte Mediziner verordnen inzwischen das Gegenteil: Einer aktuellen Übersichtsstudie zufolge kann Sport bei stabiler chronischer Herzinsuffizienz die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, um etwa 35 Prozent senken.[18]

Moderate Bewegung verlängert das Leben

Den Einfluss von Inaktivität auf gesunde Menschen haben Forscher ebenfalls neu bewertet. Der unter Büroangestellten so verbreitete Minimalgebrauch der Muskeln kann demnach fast so schädlich sein wie das Rauchen von Zigaretten. Die Sterblichkeitsrate träger Menschen liegt bis zu einem Drittel höher als jene reger Vergleichspersonen. Ein Senior, der jeden Tag eine Meile (1,6 Kilometer) weniger spazieren geht als sein gleichaltriger Nachbar, wandert – bei sonst gleichen Risiken – sieben Jahre früher ins Grab.

Für jeden auf dem Erdenrund gilt: »Wer sich systematisch körperlich aktiv betätigt und Belastungsreize setzt, löst positive gesundheitswirksame Anpassungsprozesse aus«, so Heinz Mechling, Emeritus an der Universität Bonn und der Deutschen Sporthochschule Köln. Die Formel bezieht sich nicht nur auf Sport, bei dem es um Höchstleistungen, um Gewinnen und Verlieren geht. Vielmehr gilt sie für jede Bewegung, die wir durch die Arbeit unserer Muskeln hervorbringen. Dazu zählen schon moderater Sport wie Wandern und Aktivitäten des Alltags wie Treppen steigen, Gehen, Rad fahren, Unkraut jäten oder der Hausputz. Gerade diese Art von Gesundheitssport hält jung und verlängert, im Alter clever dosiert, das Leben: Wer jede Woche 500 bis 2000 Kilokalorien zusätzlich verbrennt, wird mit einer verringerten Sterblichkeit belohnt: um 28 Prozent sinkt sie bei 60 bis 69 Jahre alten Menschen, um 37 Prozent bei 70- bis 84-Jährigen.[19]

Die Hoffnung, körperliches Nichtstun sei nicht weiter abträglich, sofern man nur das Gewicht halte und sich vernünftig ernähre, halten Evolutionsmediziner wie Frank Booth von der University of Missouri in Columbia für einen Trugschluss. Die modernen Menschen seien noch immer auf das Leben als Jäger und Sammler programmiert, weil ihre genetische Ausstattung sich in den 10000 Jahren seit der Steinzeit kaum verändert hat.

Damals vollbrachten die Menschen Tag für Tag athletische Leistungen, wenn sie Nahrung suchten, wilden Tieren nachstellten und Unterkünfte bauten. Diejenigen, die aufgrund ihrer Gene dazu nicht fähig waren, starben aus. So entstand in den Genen der Überlebenden im Laufe der Jahrtausende ein biologisches Rüstzeug, das immer weiter vererbt wurde. Es bürgt für optimale Abläufe im Körper – aber eben nur, solange ein Mensch sich regelmäßig bewegt.

Auf eines ist das Erfolgsmodell Homo sapiens gar nicht eingestellt: Bewegungsarmut. Heute jedoch findet sich ein großer Teil der Weltbevölkerung in Industriegesellschaften wieder, für die niemand vorgesehen war: Milliarden Menschen verbringen die meiste Zeit des Lebens im Sitzen oder im Liegen.

Zwar haben wir dank verbesserter Hygiene und Geburtsmedizin sowie Antibiotika eine deutlich längere Lebenserwartung als unsere Vorfahren. »Aber der Durchschnittsangestellte in einem Büro wäre sehr viel gesünder«, sagen die amerikanischen Evolutionsmediziner Randolph Nesse und George Williams, »verbrächte er seine Tage damit, nach Muscheln zu tauchen oder Früchte auf hohen Bäumen zu ernten.«[20]

Weil im bewegungsfaulen Körper die biochemischen Kreisläufe stocken, ballen sich beispielsweise die Blutfette vermehrt zu Gallensteinen: Trägen Personen wird häufiger als dem Rest der Bevölkerung die Gallenblase entfernt. Und weil im lahmen Leib die Verdauung schleppend abläuft, vergrößert sich die Kontaktzeit mit krebsauslösenden Stoffen aus der Nahrung: Inaktive Menschen haben ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko, vom Dickdarmkrebs heimgesucht zu werden.

Die meisten Zivilisationskrankheiten führt Evolutionsmediziner Booth darauf zurück, dass der Stoffwechsel wegen allzu großer Untätigkeit aus dem Ruder läuft. Als Minimalanforderung sehen er und andere Forscher 30 Minuten moderate Bewegung an mindestens fünf Tagen in der Woche an – etwa Walking oder Schwimmen. Als »inaktiv« definieren sie alles, was darunter liegt. »Ohne dieses Mindestmaß an körperlicher Aktivität, die unsere Genome von uns erwarten«, sagt Booth, »ist es wahrscheinlich, dass eine pathologische Genexpression zu chronischen Krankheiten führt.«[21]

Das lässt befürchten: Im Körper eines jeden Menschen, der sich nicht regelmäßig täglich mindestens eine halbe Stunde lang ertüchtigt, herrscht Ausnahmezustand. In den Zellen und Geweben laufen krankmachende Vorgänge ab, und es scheint nur eine Frage der Zeit, ehe sich diese in Beschwerden äußern.

Das alte Konzept körperlicher Aktivität muss den Evolutionsmedizinern zufolge überdacht werden: Bewegung ist keineswegs eine nützliche Zugabe, um die Gesundheit zu verbessern. Vielmehr ist sie die Voraussetzung, die das normale Gedeihen des Menschen erst ermöglicht.

Das gilt von klein auf: Kinder können ihre geistigen Fähigkeiten nur dann richtig entfalten, wenn sie auch ausreichend turnen und toben. Denn Motorik und Kognition entwickeln sich gemeinsam und befruchten einander im Gehirn. Forscher des Bereichs Neuroanatomie der Universität Bielefeld bringen die Lehre daraus auf den Punkt: »Lernen braucht Bewegung.«

Wie man nicht alt aussieht

Mit den neuen Befunden erscheinen auch die vielfältigen Veränderungen des Körpers, die sich mit den Jahren einstellen, in anderem Licht. »Was oft als Alternsvorgang verstanden wird«, erklärt der Sportwissenschaftler Heinz Mechling, »ist in hohem Maße das Resultat von Inaktivität.«[22]

Viel Geld geben die Menschen aus für die Produkte der Anti-Aging-Industrie; doch bisher haben alle Pillen, Hormone, Frischzellspritzen, Vitaminkuren und orthomolekulare Verfahren kläglich versagt. Aber immerhin: Es gibt einen Jungbrunnen, und ein jeder kann davon trinken – er braucht sich nur ein wenig anzustrengen. »Nachweislich«, so der Remscheider Internist und Kardiologe Löllgen, »vermag nur regelmäßige körperliche Aktivität den biologischen Alterungsprozess aufzuhalten.« Aus dem Institut für Sportwissenschaft der Universität Regensburg heißt es ebenfalls: »Sport ist die einzige Möglichkeit, gesund alt zu werden.«

Der Grund: Wir altern nicht chronologisch, sondern biologisch. Wer seine Körperfunktionen erhält, der verzögert oder stoppt den biologischen Alterungsprozess – und zwar viele Lebensjahrzehnte lang. Das ist ein wunderbares Naturgesetz – und wir können es für uns arbeiten lassen.

Gewiss, körperliche Bewegung kann dem Einzelnen nicht garantieren, dass Erkrankungen ausbleiben. Der Amerikaner James Fixx taufte einst den Dauerlauf in »Jogging« um und machte ihn auf der ganzen Welt populär – dann brach der Lauf-Guru, 52 Jahre jung, beim Joggen auf einer einsamen Landstraße leblos zusammen.[23] Der Tod in Turnschuhen ereilte auch den Fitness-Anhänger Noel Carroll aus Irland. Der mehrfache Europameister über die 800-Meter-Strecke hielt sich nach seiner aktiven Karriere weiter fit und von Alkohol und Zigaretten fern – dennoch fiel er eines Tages auf seinem mittäglichen Läufchen durch Dublin tot um: im Alter von 56 Jahren.

Niemand stellt die leichtsinnige Behauptung auf, man könne Krankheiten buchstäblich davonlaufen. Die Norwegerin Grete Waitz hat neunmal den New-York-Marathon gewonnen und erkrankte an einem Krebsleiden.

Jeder kennt das Gefühl: Wann immer eine Krankheit ausbricht, suchen wir nach Erklärungen, nach Gründen, warum es so weit gekommen ist. Dabei haben Ärzte längst Hinweise dafür gefunden, dass Krankheitsverläufe nicht nur durch Gene und Umwelt, sondern auch durch puren Zufall beeinflusst werden können.[24]

Vor allem gilt aber auch, dass sich die Aussicht auf viele gesunde Jahrzehnte durch ein aktives Leben systematisch erhöhen lässt. Viele epidemiologische Studien verweisen auf ein und denselben Faktor: Tägliche körperliche Aktivität ist verbunden mit einem verringerten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Gedächtnisschwund, Depression, Typ-2-Diabetes, Fettleibigkeit und verlängert das Leben. Das Risiko für Brust- und Darmkrebs wird ebenfalls gesenkt.

Es besteht kein Zweifel: Könnte man die guten Effekte moderater Bewegung in Form eines Trunks verabreichen, dann würde sich jeder von uns jeden Morgen einen Becher davon genehmigen. Vor einiger Zeit meldeten kanadische Ärzte, das Elixier sei noch stärker und wirkmächtiger als bisher angenommen. Aktuelle Untersuchungen haben eine »sogar noch größere Risikoverringerung für die allgemeine Sterblichkeit sowie für Tod durch Herz- und Gefäßkrankheiten ergeben. Fit oder aktiv zu sein war beispielsweise mit einer Risikoverminderung von mehr als 50 Prozent verknüpft«.[25]

Neunzig Prozent der über 50-Jährigen würden von regelmäßigem Training profitieren – und erfreulicherweise gerade dann, wenn sie es geruhsam angehen. »Es muss nicht immer Joggen sein«, sagt der Remscheider Arzt Herbert Löllgen, der selbst regelmäßig trainiert. »Schon Nordic Walking und schnelles Spazierengehen haben einen nachweisbaren Effekt.«

Überkommener Rat zur Ruhe

Während ein Teil der Ärzteschaft nun eine Ära der »schonungslosen Medizin« für geboten hält, begegnen etliche Mediziner der Bewegung noch mit Skepsis, wie die Ärztin Annette Becker mit Befremden zur Kenntnis nimmt. Inzwischen gebe es doch »höchste Evidenz für die Effektivität von Bewegung in der Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten beziehungsweise für die Unwirksamkeit oder sogar negativen Folgen von Bettruhe«, sagt die Allgemeinmedizinerin von der Universität Marburg. »Trotzdem raten viele Ärzte ihren Patienten vielfach noch zur Einhaltung von längerer Bettruhe, was – wie in der Behandlung chronischer Schmerzen – die Prognose der Patienten verschlechtern kann.«[26]

In seltener Deutlichkeit kritisierte der Internist und Kardiologe Löllgen diese Missstände. Patienten in den Krankenhäusern würden viel zu oft ins Bett gelegt und »erleiden so durch Inaktivität iatrogene (ärztlich verursachte) Nachteile oder auch Schäden«, warnte er. Beim Hausarzt sehe es leider kaum besser aus, erklärte Löllgen weiter: »Auch im niedergelassenen Bereich wird noch zu oft Ruhe und Schonung verordnet, wo Bewegung und Aktivität vonnöten wäre.«[27]

Der Arzt Rüdiger Reer von der Universität Hamburg findet es ebenfalls »verwunderlich, wie wenig verbreitet das Wissen über diese Zusammenhänge auch in Medizinerkreisen ist«.[28] Aufgrund dieser Unkenntnis werden Patienten – zu jeder gegebenen Zeit mögen es Tausende sein – schlichtweg falsch behandelt. Als Beispiel führt Rüdiger Reer Menschen mit Rückenschmerzen an. Geflissentlich führen Ärzte an ihnen teure Diagnoseverfahren wie Computer- und Kernspintomographie durch. Die ergeben fast immer einen unauffälligen Befund, bringen den Medizinern aber satte Einkünfte. Schließlich werden die Patienten mit Rezepten für Medikamente fortgeschickt. »Die eigentlich notwendige krankengymnastische Bewegungstherapie beziehungsweise Hilfe zur langfristigen Lebensstilveränderung unterbleibt.«

Falsch behandelt werden oftmals auch Bundesbürger, denen Ärzte einen leichten Bluthochdruck attestieren. Die Leute bekommen in aller Regel teure Medikamente verschrieben; an die »Verordnung eines moderaten Ausdauertrainingsprogramms wird in den seltensten Fällen gedacht«.[29]

Den betreffenden Ärzten muss man zugute halten: Sie haben es im Hörsaal noch genau andersherum gelernt. Was heute falsch ist, galt in ihren Studententagen als richtig. Dem Maladen Bettruhe zu verordnen war schon damals eine Maßnahme, die alle Beteiligten zufriedenstellte. Das ganze Denken, die ganze Forschung, der ganze Medizinbetrieb wurden von der Grundüberzeugung geprägt, des Patienten Heil liege in körperlicher Schonung.

Viele Ärzte, die heute große Praxen betreiben oder Abteilungen in Krankenhäusern leiten, haben die Lehrbücher zu einer Zeit gepaukt, in der Herzinfarkt-Patienten noch vier bis sechs Wochen absolute Bettruhe verordnet bekamen. Damit die kranken Menschen stillhielten, wurden manche von ihnen an Armen und Beinen festgewickelt. Einige Mediziner vertraten die Ansicht, unsere Herzen verfügten nur über eine begrenzte Zahl von Schlägen. »Verbrauche diese Schläge, indem du dein Herz durch Bewegung hetzt, und du verkürzest deine Lebensdauer.«[30]

In dem Klassiker Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen erklärt der amerikanische Historiker Thomas Kuhn, warum es neue Erkenntnisse in der Wissenschaft immer so schwer haben, die alten Vorstellungen zu verdrängen.[31] Fundamentale Neuerungen werden zunächst unterdrückt, da sie das bisherige Tun der Wissenschaftler untergraben und als falsch oder gar töricht entlarven. Während manche der Gelehrten zu der neuen Lehrmeinung überlaufen, halten die meisten trotzig an der überkommenen Sicht fest. Letztere gehören zur alten Denkschule, die allmählich ausstirbt und eines Tages vergessen sein wird.

Bezogen auf Training und Bewegung ist dieser Wendepunkt noch nicht überschritten; der »Paradigmenwechsel ist im Fluss, konnte jedoch innerhalb dieser kurzen Zeitspanne noch nicht realisiert werden«.[32] Und es gibt Anzeichen dafür, dass der Umbruch noch Zeit brauchen wird. Ein Medizinstudium dauert viele Jahre, doch nur wenige Stunden davon sind der Lehre darüber reserviert, wie regelmäßige Aktivität, Fitness und Gesundheit eigentlich zusammenhängen.

Aber es sind nicht nur medizinische Profis, denen die Heilkraft der Bewegung verborgen bleibt. Es sind auch wir medizinischen Laien, die ihren Segen verkennen. Noch zu den Kindertagen unserer Großeltern war es in den Industriestaaten so, dass die meisten Menschen ihr Lebenspotential niemals ausschöpfen konnten, weil die körperliche Arbeit in Haushalt und Fabrik so hart war. Ihre Enkelkinder bilden in den Industrieländern nun Gesellschaften, die durchweg als sesshaft zu bezeichnen sind. Ihre Mitglieder gehören zur ersten Menschengeneration, die einer gegenläufigen Herausforderung gegenübersteht: Ein Mensch kann auch früh vergreisen und vor der Zeit sterben, wenn er zu wenig Bewegung bekommt.

Kapitel 2Von den Gefahren, zu Bett zu gehen

Bettruhe ist häufig der erste Schritt einer medizinischen Behandlung. Einige von uns kennen das Ritual aus persönlicher Erfahrung. Kaum ist man in einem Krankenhaus aufgenommen, legt man die Straßenkleider ab, zieht Nachthemd oder Pyjama an und geht ins Bett. Die Bedeutung eines Hospitals spiegelt sich in der Bettenzahl wider. Die Schwere einer Krankheit bemisst sich nach der Zahl der im Bett verbrachten Tage. Und eine Ärztin oder einen Arzt beurteilen wir nach den Manieren am Krankenbett. Ein guter Doktor setzt sich auf die Bettkante und hört zu. Manche Mediziner haben heute keine Zeit mehr dafür.

Eine nur noch selten zu findende Dezenz am Bettrand legt der bärtige Doktor an den Tag, den Pablo Picasso vor mehr als 100 Jahren in seinem Bild »Wissenschaft und Barmherzigkeit« gemalt hat. Mit seiner Linken fühlt der Arzt den Puls seiner Patientin, drängt sich ihr aber nicht auf. Er vertritt die Wissenschaft. Auf der anderen Seite steht eine Ordensschwester. Sie wendet sich der im Bett liegenden, kranken Frau zu – und verkörpert die Barmherzigkeit. Für die Marburger Allgemeinärztin Annette Becker verbildlicht das Werk die Aspekte richtig verstandener Bettruhe. Schonung bedeute »mehr als nur die medizinisch verstandene Ruhigstellung, sondern auch Fürsorge, Behutsamkeit und Schutz einer durch Krankheit belasteten Person«.[33]

Eine besonders strenge und freilich nicht barmherzige Spielart der Bettruhe hat der Neurologe Silas Weir Mitchell (1829–1914) jenen Frauen und Männern angedeihen lassen, denen er eine Nervenschwäche (»Neurasthenie«) bescheinigte. Die Patienten wurden sechs bis acht Wochen ins Bett gesteckt, und manchen war es während dieser nur quälend langsam verrinnenden Zeit nicht einmal erlaubt, sich ohne fremde Hilfe zu drehen. Eine solche Ruhigstellung erfreute sich alsbald in der ganzen Medizin großer Beliebtheit, zumal für die Behandlung von Menschen, die als krankhaft hysterisch galten. Die im Bett festgehaltenen Seelen durften viele Wochen lang keinen Besuch empfangen und bekamen stets dieselbe Krankenschwester zu Gesicht, die sie massierte und wusch. Die eigenen Hände dafür zu verwenden war den Patienten untersagt. Als Diät wurden ihnen besonders fette Milchprodukte verabreicht. Aus den Krankenlagern des Doktors Mitchell werden bemerkenswerte Genesungen berichtet: Als der Arzt seine Patienten nach wochenlanger Abschirmung bat, sich wieder ganz normal in das Alltagsleben zu integrieren, flohen diese mehr als bereitwillig aus den Betten.

Der Internist Richard Asher (1912–1969), der am Central Middlesex Hospital in England Dienst tat, entdeckte eines Tages auf der Station eine Dame, die bereits 17 Jahre lang im Bett lag. Die einst wegen nervöser Erschöpfung eingewiesene Frau war offenbar vergessen worden, hatte sich aber in das Dasein im Liegen gefügt. »Sie hat diesen bemerkenswerten Winterschlaf ohne großen Schaden überlebt«, berichtete Asher im British Medical Journal, »und obwohl sie zunächst entsetzt war, als ich sie zum Aufstehen aufforderte, wurde sie ein völlig anderer Mensch, als sie ambulant betreut wurde.«[34]

Menschen zur Bettruhe zu verdammen war schon immer ein Mittel ärztlicher Macht. Als Hans Castorp im Internationalen Sanatorium Berghof anlangt, erfährt er das am eigenen Leib. »Sie gehen nun erst einmal in die Klappe, Castorp; wir müssen sehen, ob wir Sie durch ein paar Wochen Bettruhe nüchtern kriegen«, weist ihn der Hofrat Behrens in Thomas Manns Roman Der Zauberberg zurecht. »Als ob Stillgelegen nicht ein ebenso gutes Kommando wäre wie Stillgestanden!«[35]

Der französische Schriftsteller Jules Romains wiederum erzählt in dem Dreiakter »Knock oder Der Triumph der Medizin« die Geschichte des Landarztes Knock, der ein ganzes Bergdorf in ein Lazarett verwandelt, indem er den Bewohnern absonderliche Leiden andichtet. Seiner ersten Patientin gibt dieser Krankheitserfinder Folgendes auf: »Wenn Sie zu Hause sind, gehen Sie gleich zu Bett. Am besten in einem Zimmer, wo Sie so weit wie möglich ungestört liegen. Schließen Sie die Vorhänge und Jalousien, damit Sie das Licht nicht irritiert. Vermeiden Sie jeden Kontakt.« Eine ganze Woche müsse die Frau so ausharren, gebietet Dr. Knock, dann werde man sehen. »Wenn Sie sich gestärkt fühlen, wenn Kraft und Zuversicht sich wieder eingestellt haben, ist die Krankheit weniger schlimm als befürchtet, und ich werde der Erste sein, der Entwarnung gibt. Wenn Sie allerdings weiterhin allgemeine Müdigkeit und einen schweren Kopf verspüren, wenn Sie Mühe haben aufzustehen, dann sollten wir keine Minute verlieren und mit der Behandlung beginnen.«[36]

Im weiteren Verlauf der Komödie wird die Dame ein Fall für die Medizin – und die Forschung im echten Leben erklärt, warum das so kommen muss: Schon nach wenigen Tagen im Bett schrumpfen die Muskeln, und im Körper nehmen ungute Prozesse ihren Lauf. Diese Folgen der Schonung können der Gesundheit stärker abträglich sein als jene Beschwerden, derentwegen man ins Bett befohlen wurde. Die Bettruhe ist längst nicht so harmlos, wie der großzügige Umgang damit vermuten lässt.

»Bettruhe – eine potentiell gefährliche Behandlung, die einer vorsichtigeren Bewertung bedarf« überschrieben vor einiger Zeit australische Ärzte ihren Aufsatz im Fachblatt The Lancet.[37] Für ihre Übersichtsarbeit haben sie die medizinische Literatur gesichtet und nach Studien gesucht, in denen der Nutzen von Schonung erforscht worden war. Die Analyse von 24 Studien zur Bettruhe nach Operationen ergab: Bei keiner der Eingriffsarten verbesserte sich der Zustand der Patienten deutlich; in acht Fallreihen indessen wurde er schlechter – etwa nach Herzkatheter-Eingriffen, Entnahmen von Rückenmarkflüssigkeit per Hohlnadel (Lumbalpunktionen) oder Spinal-Anästhesie.

Es gab 15 Studien, in denen Bettruhe direkt als vermeintliche Therapie gegen eine Erkrankung eingesetzt wurde – hier fiel das Ergebnis noch ernüchternder aus: Richtig besser ging es dadurch keinem Einzigen; aber bei neun Diagnosen waren die Patienten deutlich schlechter dran. Das Liegen verschlimmerte die Beschwerden jener Menschen mit akuten Rückenschmerzen, akuter Hepatitis, Schwangerschaftsbluthochdruck, unkompliziertem Herzinfarkt oder Lungentuberkulose. Auch hochschwangeren Frauen bringt Bettruhe demnach keinen Vorteil.

Die Autoren des Übersichtsartikels wundern sich, warum große Teile der Ärzteschaft dennoch unverdrossen am Ritual der Ruhigstellung festhalten. Die von ihm ausgewerteten Bettruhestudien waren schließlich seit längerem veröffentlicht gewesen. »Die Vorstellung von Bettruhe scheint so eingeführt, dass die medizinische Praxis sich schwertut, etwas zu ändern, obwohl sie mit der Wirkungslosigkeit der Maßnahme konfrontiert wird.«

Besonders gravierend sind die Folgen für ältere Patienten, haben Forscher der Yale University (US-Bundesstaat Connecticut) in einer Studie nachgewiesen. Nach vier Wochen im Krankenhaus ist für einen 70 Jahre alten Menschen das Risiko, seine Selbständigkeit zu verlieren, um das Sechzigfache erhöht.[38] Der Zustand vieler Menschen verschlechtert sich im Krankenhaus so stark, dass manche von ihnen von hier aus direkt in ein Altenheim verlegt werden müssen. Angelika Zegelin von der Universität Witten/Herdecke gehört zu den wenigen Forscherinnen, die das Phänomen der Bettlägerigkeit erforschen. Sie hat zwölf Männer und 20 Frauen im Alter von 62 bis 98 Jahren befragt. Diese waren alle bei hellwachem Verstand, aber zum Teil schon seit vier Jahren bettlägerig – wie war es so weit gekommen?

Der Studie zufolge entwickelt sich die Bettlägerigkeit in fünf Stufen.[39] Das Unheil nimmt seinen Lauf in einer oftmals jahrelangen Phase der Instabilität. Die Menschen, eigentlich gesund, bewegen sich kaum – und stellen damit eine Weiche, dass sie dereinst im Altenheim gepflegt werden müssen. Eine Stichprobe unter 50 Bewohnern eines deutschen Altenheims ergab: 75 Prozent von ihnen berichteten, noch nie in ihrem Leben Sport getrieben zu haben.[40]

In aller Regel lässt dann ein plötzlich auftretendes Ereignis einen untätigen Menschen zu einem Bettlägerigen werden. Das kann ein Sturz sein oder auch die bloße Furcht davor, zu fallen. Aber häufig war der bloße Aufenthalt in einem Hospital der entscheidende Auslöser für den körperlichen Niedergang. Mehrere der befragten Frauen und Männer »sind im Krankenhaus einfach im Bett geblieben, schon nach einer Woche waren sie unfähig, aufzustehen«.[41]

Nun sind die betroffenen Menschen in der dritten Phase: in der Immobilität. Inzwischen werden sie zu Hause gepflegt oder bewohnen ein Zimmer in einem Heim. Die meiste Zeit des Tages verbringen sie im Sitzen oder Liegen, sie gehen nur noch wenige Schritte. Jetzt wäre Bewegung genau das Richtige – doch fehlt dafür meist die Zeit. Einer Studie der Universität Paderborn zufolge ist »Bewegungsmangel im Altenheim weit verbreitet«. Von knapp 70 befragten Heimbewohnern bewegten sich 66 Prozent weniger als zwei Stunden in der Woche, ein Drittel war sogar vollkommen inaktiv. Aus Rücksichtnahme auf das gerade an Wochenenden überlastete Pflegepersonal verzichteten manche der älteren Leute darauf, das Bett überhaupt zu verlassen. Umgekehrt glauben Schwestern und Pfleger, ihnen einen Gefallen zu erweisen, wenn sie ihnen »Sonntagsruhe« gönnen.

Jene, die zu Hause gepflegt werden, kommen ebenfalls kaum mehr aus dem Bett. Der Pflegedienst besucht sie zwei- bis dreimal am Tag, bleibt aber jeweils nur 20 bis 30