Schmeckt's noch? - Jörg Blech - E-Book

Schmeckt's noch? E-Book

Jörg Blech

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der engagierte Gesundheitsaufklärer und Wissenschaftsjournalist Jörg Blech hat ein Plädoyer dafür verfasst, wieder zum echten Essen zurückzukehren. In ›Schmeckt's noch?? Die falschen Versprechen der Lebensmittelindustrie und wie wir einfach gesund essen können‹ stellt der Bestseller-Autor Jörg Blech fest, dass rund drei Viertel unserer Lebensmittel aus Industrieprodukten bestehen. Multinationale Konzerne kontrollieren den globalen Nahrungsmittelmarkt. In Supermärkten gibt es abertausend verschiedene Produkte, viele haben mit echten Lebensmitteln nichts mehr gemein. Ihre Zutaten sind ultraverarbeitet, angerührt aus hydrierten Fetten, hydrolysierten Proteinen, modifizierten Zuckern. Diese Nahrung macht sechzig Prozent unserer Energiezufuhr aus – und trotzdem nicht satt. Bloß dick. In seinem fundiert recherchierten Buch deckt Jörg Blech die Machenschaften der Lebensmittelkonzerne und die Regeln, nach denen das große Fressen abläuft, auf. So findet er zurück zum echten Essen – und damit ganz unverhofft zu mehr Genuss und weniger Kilos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 294

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Blech

Schmeckt's noch?

Die falschen Versprechen der Lebensmittelindustrie und wie wir einfach gesund essen können

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort1. Kapitel Wer soll das essen?Es ist das Problem des vollen Magens: Wie bringt man satte Verbraucher dazu, noch mehr zu essen?Echtes Essen, wie unsere Großeltern es kannten, wird seltener2. Kapitel Aus Omas KücheWie die Industrialisierung unsere Nahrungsgewohnheiten veränderteFindige Geschäftsleute verlegten das Kochen in die FabrikWie die Fertignahrung erfunden wurdeWie die Überernährung zum Normalfall wurdeVon frisch bis industriell gefertigt: die vier Gruppen der NahrungsmittelDie schrittweise Veränderung der ErnährungsweiseDer Salzverbrauch heute ist widernatürlich hochHeute sind viele gängige Nahrungsmittel artfremd für den Menschen3. Kapitel NimmersattWarum essen Menschen weiter, obwohl sie schon mehr als genug haben?Durch bestimmte Nahrung kann man satte Individuen zum Fressen verführenNicht nur die Augen, auch die Ohren essen mitWie Essen einen süchtig machen kann4. Kapitel Du darfst nicht alles glaubenDie Nahrungsindustrie arbeitet mit Tricks wie die TabakindustrieWerbung für Nahrungsmittel führt die Verbraucher in die IrreDie Zucker-Mafia spielt mit der Gesundheit der VerbraucherWes Cola ich trink, des Lied ich singWie Nahrungsmittelhersteller den Verbrauchern die Schuld in die Schuhe schiebenWarum der Körper so am Fett hängtManche Wissenschaftler singen das Lied der NahrungsmittelindustrieWie Lobbyarbeit die Aufklärung der Verbraucher torpediert5. Kapitel Rezepte für die UmweltWie lassen sich Nahrungsmittel nachhaltig herstellen?In den Schwellenländern wächst der Hunger auf FleischJe mehr Pflanzen die Menschen essen, desto besser ist das für die Umwelt6. Kapitel Komplott aus Zucker und FettDas Märchen vom »bösen« und »guten« FettWie die Butter von Margarineherstellern ihr Fett wegkriegteZucker ist in den meisten Nahrungsmitteln verstecktWarum die Zuckerflut Gift für den Stoffwechsel istBotenstoffe aus Fettpolstern können die Gelenke entzündenDie Leber wächst leider nicht immer mit ihren AufgabenFalsche Ernährung fördert die falschen MundbakterienWarum weiche Industrienahrung zu schiefen Zähnen führen kann7. Kapitel Was der Darm begehrtEin fehlbesiedelter Darm kann viele Erkrankungen hervorrufenJe ausgewogener der Speiseplan ist, desto vielfältiger ist die DarmfloraDarmkrebs durch falsche Bakterien?Emulgatoren stören das Gleichgewicht im DarmWarum Zuckerersatz einen dick machen kannBallaststoffe sind keine LastFahndung im Darm indigener Menschen8. Kapitel Klug essenWestliche Industrienahrung macht Kinder hyperaktivMittelmeerkost hellt die Stimmung aufZucker lässt das Gehirn alt aussehenDer Darm kann beim Denken mithelfenKluge Ernährung kann das Gehirn schlauer machenEine Zaubersubstanz aus dem Rotwein wurde überschätztVier Ernährungstipps gegen Depressionen9. Kapitel Reinen Tisch machenDie Menschen wachsen nicht mehr in die Höhe, sondern in die BreiteÜberernährung lässt die mittlere Lebenserwartung sinkenNeue Nahrungsprodukte werden die alten Probleme kaum lösenDas jüngste Gericht kommt aus dem LaborWerden die Rezepte der Industrie gesünder?Der Staat muss seine Einwohner besser vor falscher Ernährung schützen10. Kapitel Einfach gesundSuperfood ist nicht immer super gut, aber immer super teuerDer Blick für die natürliche, ausgewogene Ernährung geht verlorenViele Zutaten aus dem Kochbuch gelten heute als verdächtigZu Besuch im Dorf der HundertjährigenDer Methusalem isst nichts aus der DoseTorheiten und Trugschlüsse rund ums EssenFasten wirkt auf den Körper wie ein JungbrunnenVerschiedene ausgewogene Diäten führen zum ZielErnährung ist mehr als die Summe der einzelnen NährstoffeDank

Vorwort

Hippokrates zufolge sollen unsere Nahrungsmittel unser Heilmittel sein, und unsere Heilmittel sollen unsere Nahrungsmittel sein. Heute wird die Lehre des griechischen Arztes jedoch ins Gegenteil verkehrt: Die Ernährungsindustrie tischt uns neuartige Nahrungsmittel auf, die uns nicht mehr gesund machen, sondern krank. Hinter den geschlossenen Türen der Industrie verwandeln Forschungsköche echte Lebensmittel in Kunstprodukte voller Zucker, Salz und Fett. Ultraverarbeitete Nahrungsmittel sind aus sich selbst heraus unverträglich und unerträglich. Wir aber sollen mehr davon essen, als uns guttut, nur damit die Gewinne der Nahrungsmittelindustrie immer weiter steigen.

Als ich die größte Ernährungsmesse der Welt, die Anuga in Köln, besuchte, fiel mir auf, dass in den Hallen keine echten Lebensmittel gezeigt wurden. Das gab mir den Anstoß, mehr darüber zu erfahren, wie die Industrie mein Ernährungsverhalten beeinflusst. Hersteller bieten allein in Deutschland 170000 Nahrungsmittel an, viele davon wurden in den Laboren nur einiger weniger Großkonzerne erfunden. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hat sich Big Food auf der ganzen Welt ausgebreitet und verdrängt zusehends traditionelle Lebensmittel. Die Deutschen greifen immer häufiger zu Fertiggerichten, das offenbarte der neueste Ernährungsreport. Bis zu achtzig Prozent der heute angebotenen Nahrungsmittel bestehen aus industriell verarbeiteten Produkten; sie machen mancherorts schon sechzig Prozent unserer täglichen Energiezufuhr aus. Sie zielen auf das Belohnungssystem in unserem Gehirn und verleiten uns dazu, auch dann weiterzuessen, wenn wir schon satt sind. In reichen Ländern nehmen Durchschnittsbürger 500 Kilokalorien mehr zu sich, als sie benötigen – und das jeden Tag. Ich war auf ein Thema gestoßen, das ich gleichermaßen fesselnd wie erschreckend fand.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist die Überernährung ein größeres medizinisches Problem als die Unterernährung. Während eine Milliarde Erdenbürger zu wenig zu essen haben, bekommen zwei Milliarden zu viel. In der Schweiz, in Deutschland und offenbar auch in Österreich verändert das gerade das äußere Erscheinungsbild der Menschen. In den vergangenen hundert Jahren sind die Generationen immer größer geworden, aber nun ist das Ende der Fahnenstange erreicht: Die Menschen wachsen nicht mehr weiter in die Höhe, sondern gehen in die Breite. Für viele ist das ein kosmetisches Problem, für manche birgt es eine gesundheitliche Gefahr. Starkes Übergewicht, also Fettleibigkeit, erhöht das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs. Die Zahl der Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 hat sich in vierzig Jahren vervierfacht. In einigen Ländern der westlichen Welt wird die mittlere Lebenserwartung in wenigen Jahren erstmals nicht mehr steigen, sondern sinken.

Ärzte lernen immer mehr über den schädlichen Einfluss verarbeiteter Nahrungsmittel und warnen immer eindringlicher vor Big Food. Doch die Politik behandelt das Thema stiefmütterlich und veröffentlicht Ernährungsreporte, die das Problem schönreden. Und so fährt die Lebensmittelindustrie unbehelligt Gewinne ein, von denen andere Branchen nur träumen können. Die Folgekosten für Krankheiten, die sie verursacht, tragen andere. Ich finde, das darf nicht so bleiben.

Mein naturwissenschaftliches Studium mit Spezialisierung in Biochemie hilft mir zu erkennen, was die neuen Lebensmittel mit uns anstellen, und ermöglicht mir, die vielen, sich zum Teil widersprechenden Behauptungen und Fachpublikationen zur Ernährung einzuordnen. Als Wissenschaftsautor ist es mein Beruf, an schwer zugängliche Informationen zu kommen und diese verständlich zu erzählen.

Ein Buch allein wird das Zucker-Fett-Salz-Komplott vielleicht nicht zu Fall bringen. Aber ich kann mein Wissen teilen und sagen, nach welchen Regeln das große Fressen abläuft. Je mehr ich persönlich darüber gelernt habe, desto mehr ist mir der Appetit auf ultraverarbeitete Nahrungsmittel vergangen. Und so verhilft mir dieses Buch zu etwas, das ich mir anfangs nicht auszumalen gewagt hätte: mehr Genuss und weniger Kilos.

1. KapitelWer soll das essen?

Die Köstlichkeiten funkeln wie Trophäen in den Vitrinen. Eine Flasche enthält eine Flüssigkeit, die vor lauter Chlorophyll grün leuchtet. Der aus Algen angerührte Trank soll gesund sein. Im nächsten Schaukasten glitzert eine Buddel voll 100-prozentigem Kokosnuss-Sprudelwasser. Es kommt aus Thailand und soll das Fernweh stillen. Toni’s Smoothei wiederum ist ein Smoothie, der die guten Eigenschaften vom Ei vereinigt und als Brain-, Power- und Beautyfood wirken soll. Hoffentlich schmeckt es besser als ein rohes Ei, das man stattdessen schlürfen könnte …

Ins Auge springen die bunten Yollies, das sind Joghurts am Stiel. Und ein rechteckiges Paket, auf dem »bake your own« steht, macht jeden zum Bäckermeister: Den vorgefertigten Sauerteig können auch Leute, die noch nie gebacken haben, in den Ofen schieben; nach nur 18 Minuten ist das Brot fertig. Man könnte in eine rein vegetarische Currywurst beißen. Oder eine besondere Pizza essen: eine süße, deren Boden mit Schokoladensoße bestrichen und mit weißen Schokoladensplittern präpariert ist. Schließlich könnte man sich Gemüseeiscreme aus Italien auf der Zunge zergehen lassen, Geschmacksrichtung Kürbis-Essig.

Es sind Köstlichkeiten, die offenbaren, wie die Zukunft schmecken wird. Der Algentrunk, das Kokoswasser, der Eier-Smoothie und die anderen Delikatessen gehören zu den preisgekrönten Neuigkeiten auf der weltweit größten Messe der Ernährungsindustrie, der Anuga in Köln. Die Mitglieder einer Jury aus Fachjournalisten bewerteten 2000 neuartige Lebensmittel und kürten 61 von ihnen zu Top-Innovationen. Sie werden auf einem zentralen Gang präsentiert und von Messebesuchern begutachtet, die in Trauben vor den Vitrinen stehen.

Den bestaunten Neuheiten wird das zuteil, was jeder Hersteller auf der Anuga, jeder Anbieter in der Nahrungsmittelindustrie sucht: Aufmerksamkeit. Um auf dem im wahrsten Sinne des Wortes gesättigten Markt der Lebensmittel in den Industriestaaten den Absatz weiter und weiter zu steigern, sind die Hersteller dazu verdammt, immer neue Produkte zu erfinden. Und so entwerfen sie Dinge, die zwar essbar sein mögen, die unsere Großeltern jedoch nicht als Lebensmittel erkannt hätten. Heute scheint alles erlaubt, was der Kunde isst.

Um den neuesten Trend zu erkennen, strömen alle zwei Jahre mehr als 150000 Fachbesucher auf die Anuga, einen Ernährungsweltgipfel. Mehr als 7000 Anbieter aus mehr als hundert Ländern zeigen ihre neuartigen Produkte und kämpfen darum, ihnen einen Platz im Supermarkt zu sichern. Doch Aldi, Lidl, Rewe, Edeka haben schon heute ein übervolles Sortiment. Von Ammoniumcarbonat bis zur Ziehmargarine sind Abertausende von Artikeln in Deutschland zugelassen. In einem kleinen Supermarkt finden sich im Durchschnitt mehr als 8500 verschiedene Nahrungsmittelprodukte, in einem großen Supermarkt sind es 15740 und in einem Hypermarkt mehr als 16000 unterschiedliche Artikel im Food-Bereich.

Es ist das Problem des vollen Magens: Wie bringt man satte Verbraucher dazu, noch mehr zu essen?

Die Versorgung ist damit gesichert, könnte man meinen. Dennoch kommen immer neue Nahrungsmittelprodukte hinzu. Das Unternehmen Innova Market Insights mit Sitz in den Niederlanden hat ein Netz von Mitarbeitern, die einen Traumjob haben, zumindest wenn man gerne den Einkaufswagen durch die Gänge schiebt und dafür auch noch Geld bekommt. Diese Leute sind Trendscouts in der Lebensmittelbranche. In mehr als 70 verschiedenen Ländern gehen sie an mindestens zwei Tagen der Woche in Tante-Emma-Läden, Supermärkte und Discounter und suchen in den Auslagen und Regalen gezielt nach neu gelisteten Artikeln. Sie kaufen jedes ihnen noch nicht bekannte Produkt, fotografieren es und beschreiben auf einem Formblatt dessen Eigenschaften. Diesen Steckbrief schicken sie an die Firmenzentrale in den Niederlanden. Jedes Jahr stoßen die Food-Trendscouts in der ganzen Welt auf mehr als 250000 neue Produkte, auch NPL genannt, »new product launches«.

Die Meldungen über neue NPL werden von Mitarbeitern bei Innova Market Insights in eine Datenbank eingepflegt und ausgewertet. Diese Information ist das Kapital der Firma: Sie weiß, was gerade in der Lebensmittelbranche in Mode kommt und wo ein neues Produkt eine Nische im Markt erobert. Die Datenbank der Firma hat inzwischen Millionen von Einträgen. Gegen eine Gebühr kann man in dem riesigen Archiv recherchieren. Wenn ein Hersteller beispielsweise eine Gemüsewaffel oder ein Steinzeitbrot entwickeln will, dann kann er vorab herausfinden, ob eine andere Firma diese grandiose Idee nicht schon vor ihm gehabt hat. Oder er macht es sich einfacher. Er sucht in dem Archiv nach einer erfolgreichen Produktneuheit – und bringt eine Kopie davon auf den Markt.

Ein neuer Artikel kann uns an einem Aldi- oder Lidl-Tag begegnen, wenn wir mit der Masse der anderen Kunden zu den Körben und Tischen mit den aktuellen Angeboten strömen. In Aktionen wird getestet, inwiefern ein neues Produkt überhaupt den Geschmack der Kundschaft trifft. Eine Supermarktkette nimmt beispielsweise eine halbe Million Einheiten probeweise in die Filialen und schaut dann, was passiert. Nur was sofort einschlägt und binnen weniger Tage ausverkauft ist, hat eine Chance, dauerhaft ins Sortiment zu kommen. Doch viele Neuheiten verkaufen sich nur schleppend – und man hört nie wieder etwas von ihnen. Rund neunzig Prozent aller Innovationen entpuppen sich als Flop.

Eine erfolgreiche Einführung dagegen kann ein Trendsetter sein; sie beweist, dass es auf dem übersättigten Markt eben doch noch eine Nische gibt. In diese drängen bald konkurrierende Unternehmen mit Nachahmerprodukten.

Megatrends sind nach wie vor »biologische« und »natürliche« Nahrungsmittel, was einer gewissen Ironie nicht entbehrt. Eigentlich sollten wir ja erwarten dürfen, dass jedes Mittel, das wir zum Leben brauchen, biologisch und natürlich ist. Doch im Supermarkt begegnen wir zunehmend industriell verarbeiteten Produkten. Die Worte »Bio« und »natürlich« prangen auf den Packungen – um uns daran zu erinnern, dass es sich bei deren Inhalt sehr wohl um etwas handelt, das man essen kann?

Ein anderer großer Trend ist »Convenience«. Der Begriff lässt sich mit Dienlichkeit, Einfachheit, Nutzen übersetzen. In welche Richtung das zielt, zeigt der Begriff »Convenience Food«: Dieser bezeichnet die vorgefertigten Gerichte aus der Großküche der Lebensmittelindustrie. Diese haben vielleicht nicht das beste Image, aber sie finden gerade großen Absatz, weil Menschen entweder keine Zeit haben zu kochen oder mitunter gar nicht mehr wissen, wie das geht.

Das Schälen von Kartoffeln von Hand ist in den vergangenen Jahren jedenfalls nicht beliebter geworden, erst recht nicht in Gaststätten, Hotels und Restaurants. Kartoffeln, die erstaunlich schnell auf den Tisch kommen, sind vorgeschält und vorgegart und werden flott aus dem Kühlschrank geholt, wenn Kundschaft kommt. Sogar der Aufwand, die Kartoffeln zu kühlen, ist vielen Großküchen noch zu teuer. Auf der Anuga kann ihnen geholfen werden. Am Stand einer Firma aus Niedersachsen stapeln sich durchsichtige Plastiksäcke, in denen jeweils drei Kilogramm geschälte und fertiggekochte Kartoffeln eingeschweißt sind. Stolz erklärt der junge Firmenbesitzer, was es mit diesen »Delikatess-Kartoffeln« auf sich hat. Dank einer neuartigen und streng geheimen Fabrikationsmethode könne man diese vorgegarten Erdäpfel ganz ohne Kühlung lagern, und zwar 13 Monate lang. Das ist für Restaurants praktisch und kann für deren ahnungslose Gäste bedeuten: Die Kartoffeln, die ihnen schnell und scheinbar frisch serviert werden, lagen womöglich ein ganzes Jahr lang in einer muffigen Vorratskammer.

»Convenience ist angesagt«, erzählt auf der Anuga auch der Verkaufsleiter eines international tätigen Lebensmittelunternehmens mit Sitz in der Schweiz. Seine Firma entwickelt Trockenmischprodukte aus dem Beutel: Verrührt man selbige mit heißem Wasser, erhält man eine fertige Mahlzeit. Das klinge einfach, sei aber in Wahrheit keineswegs trivial, erklärt der Verkaufsleiter. Konsumenten finden es nämlich eklig, wenn sie den Beutel aufreißen und sehen, dass an den Nudeln Geschmackspulver klebt. Deshalb müssten in einem Pasta-Fertiggericht Nudeln sein, die man vorher auf einen Wassergehalt von sieben Prozent heruntergetrocknet hat. Dieser industrielle Aufwand kann aber nicht verhindern, dass Fertiggerichte aus der Tüte nicht mehr so gehen wie früher. »Der Trockenmarkt ist seit Jahren rückläufig«, seufzt der Verkaufsleiter. Dafür wachse der Flüssigbereich: Hier hat die Firma schon alles vorgekocht und vermengt, der Kunde braucht nur noch die Packung öffnen und den Inhalt ins Mikrowellengerät schieben.

Als Nächstes will die Firma des Verkaufsleiters das Backen revolutionieren. Und der Anlauf dazu auf der Anuga war schon ganz vielversprechend: Ein neu entwickelter Napfkuchen, genannt »Microwave-Cup-Cake«, wurde zu einer der eingangs erwähnten Top-Innovationen gekürt. Der Prototyp, den der Verkaufsleiter jetzt zeigt, hat einen einfachen Aufkleber und enthält in der Geschmacksrichtung »Schoco« ein braunes Pulver. Er steckt in einem durchsichtigen Plastikbecher. Man muss nur die weiße Folie abziehen, vier Esslöffel Wasser auffüllen, die Mischung 120 Sekunden in der Mikrowelle erhitzen und kann dann servieren. Kosten würde der Microwave-Cupcake 0,89 Euro.

»Es ist schnell und bequem«, schwärmt der Verkaufsleiter. »Sie können das monatelang im Schrank haben. Und wenn die Gäste kommen, dann können sie einen Kuchen anbieten.« Blöd ist allerdings: Man kann immer nur einem Gast einen »frisch gebackenen« Napfkuchen anbieten, weil man immer nur einen davon ins Mikrowellengerät stellen darf. Oder aber man kauft sich gemäß der Gästezahl entsprechend viele Mikrowellengeräte.

Netterweise habe ich so einen Kuchen auf der Anuga geschenkt bekommen. Die Herstellung gestaltet sich ein wenig aufwendig, weil wir zu Hause keine Mikrowelle haben. So benutze ich das Gerät in der kleinen Küche auf der Arbeit, wo sich Kollegen manchmal etwas warm machen. Beim Aufreißen verteilt sich braunes Pulver auf meinem Ärmel. Beim Verrühren mit Wasser entsteht im Becher eine braune, klebrige Soße. Ich stelle sie in die Mikrowelle, es riecht seltsam verschmort, nach den 120 Sekunden nehme ich den heißgewordenen Becher aus der Mikrowelle und warte drei Minuten. Die Soße verwandelt sich in eine Masse. Diese Masse ist pappig, hat kein Aroma (schon gar nicht eins von Schokolade) und schmeckt chemisch süß. Der Trend zur Convenience strapaziert die Geschmacksnerven – und soll die Gewinne der Nahrungsmittelhersteller maximieren. In Fertiglebensmitteln werden billige Zutaten wie Salz, Fett und Zucker vermischt – und dann zu einem Vielfachen des Rohstoffpreises verkauft.

Ein Beispiel sind Haferflocken. Man kann sie sich mit verdünnter Milch aufkochen, quellen lassen und den fertigen Haferbrei mit einer zerquetschten Banane oder ein klein wenig Haushaltszucker süßen und schließlich mit Milch übergießen. Das ist der gute alte Haferschleim.

Vor einiger Zeit ist es einem Hersteller in Baden-Württemberg gelungen, diese Speise neu zu erfinden, und zwar als Fertiglebensmittel, das nur noch mit heißem Wasser angerührt werden muss. Es ist in Beuteln portioniert und enthält neben Haferflocken noch Milchpulver, Zucker, Maisstärke, Sojafett- und Milchfettpulver, Salz sowie Aroma. Des Weiteren übernahmen die Hersteller einen Namen aus Großbritannien – Porridge klingt schon besser als Haferschleim, blöderweise verstehen viele Menschen in Deutschland den englischen Begriff nicht. Das haben Tests mit Studenten der Universität Ulm ergeben: Achtzig Prozent kapierten nicht, was Porridge sein soll. Und so entstand die Bezeichnung »Porridge Hafermahlzeit«. Eine scheinbar ausgewogene Kost – die in Wahrheit zu 19 Prozent aus Zucker besteht. Zwischenzeitlich nahm Aldi Nord ein auffallend ähnliches Produkt ins Sortiment. Die »Porridge Hafermahlzeit« (in der Aldi-Aktion zum Preis von 4,58 Euro für ein Kilogramm) ist nur ein Beispiel dafür, wie die Industrie eine bewährte Speise in ein verarbeitetes Produkt verwandelt, das nicht nur kalorienreicher, sondern auch teurer als das echte Vorbild ist.

In eine ähnliche Richtung geht der Bio-Spargel, den ein Feinkosthersteller aus Hessen auf der Anuga ausstellt. Es sei der erste Bio-Spargel aus dem Glas, der gar nicht sauer schmecke, erklärt der sympathische Firmenchef voller Stolz. Die Innovation ist denkbar einfach: Er und seine Mitarbeiter haben dem Spargel so lange Zucker zugesetzt, bis er unwiderstehlich schmeckte. Und so enthält jedes Glas ungefähr 4,9 Prozent Zucker. Dieser hat übrigens einen weiten Weg hinter sich. Er stammt nämlich nicht aus der in Deutschland wachsenden Zuckerrübe, sondern von einer brasilianischen Zuckerrohrplantage. Warum nur der ganze Aufwand? Der Bioanbau in Deutschland ist so teuer, dass er sich nicht rentiert. Und so importiert der Firmenchef Bio-Zucker aus Brasilien, damit auf dem Etikett groß das Wort »Bio« stehen kann. »Einigen Kunden ist das sehr wichtig«, erklärt der Firmenchef und fügt hinzu: »Bio ist genauso Industrie wie der normale Anbau.«

Auf der Anuga macht der Ire William an seinem Stand Werbung für eine Packung, auf der »Heart Up+« steht. Der Beutel enthalte ein wundersames Nahrungsmittel, das ihn selbst wieder gesund gemacht habe. Er habe früher Statine gegen erhöhte Blutfettwerte und Diabetes mellitus Typ 2 schlucken müssen und sich dann als Versuchskaninchen für jenes Granulat gemeldet, das er in die deutschen Supermärkte bringen will. »Heart Up+ ist ein innovatives, Niedrig-GI-Vollkornprodukt, das hohe Mengen an Ballast und Beta-Glucan liefert«, steht in englischer Sprache auf der Packung. Es sei »wissenschaftlich erwiesen«, dass das Produkt den Cholesterinspiegel senke, den Blutzucker reduziere und die Darmtätigkeit anrege. »Es ist ein Superfood«, schwärmt William. Man könne es sich ganz einfach in die Suppe schütten oder über das Abendessen streuen. Er selbst rühre vier Löffel davon mit einem Viertelliter Wasser an und schiebe es in die Mikrowelle. »Mein Diabetes ist weg, ich muss keine Statine mehr nehmen.« Das ist großartig, doch woraus besteht denn nun dieses Superfood? Nun ja, es handelt sich um Gerstenkörner, die geschält, gereinigt und zerkleinert wurden, mit einem Wort, um die gute alte Gerstengrütze, versetzt mit einem Schuss Rosmarinextrakt, um die Haltbarkeit zu erhöhen. William hofft, einen Vetriebshändler in Deutschland zu finden und dann viele Konsumenten zu überzeugen. Das dürfte nicht ganz leicht werden. Er will seine Gerstengrütze für 7,79 Euro pro 250-Gramm-Beutel verkaufen – damit wäre sie mehr als 17-mal so teuer wie bereits im Handel befindliche Gerstengrütze in Deutschland. Das weiß William noch nicht, und so kann es seine gute Laune nicht trüben. Er ist zum ersten Mal auf der Anuga in Köln und ganz hingerissen von der Messe wie auch der Stadt. Zielsicher hat er am Vorabend ein Brauhaus angesteuert. Er hat ziemlich viel Kölsch getrunken und eine deftige Schweinshaxe verschlungen. Diese Sünden darf William sich bestimmt erlauben – solange er jeden Tag brav seinen Teller Gerstengrütze löffelt.

Corinna dagegen schwört darauf, auf Kohlenhydrate, also Zuckermoleküle, möglichst zu verzichten. Sie zeigt mir eine weiße Packung mit bunten Kreisen. Die Packung enthält eine völlig neuartige Form von italienischer Pasta, und zwar Primawell-Eiweißnudeln, in Italien für eine deutsche Firma hergestellt. Die bräunlichen Spiralen sind nicht etwa aus Hartweizengrieß, sondern wurden aus elf verschiedenen Zutaten zusammengepresst: aus Weizen-, Soja- und Reisproteinen, getrocknetem Roggensauerteig, Haferfasern, Vollkornmehl, einem Emulgator, einem Verdickungsmittel, Rapsöl und nicht zuletzt Salz. Im Vergleich zu Nudeln aus Hartweizengrieß enthalte das Primawell-Produkt mindestens 75 Prozent weniger Kohlenhydrate, also weniger Zucker, verspricht Corinna. Ein Kunde aus Australien habe dank der Eiweißnudeln 25 Kilogramm abgenommen.

Mit einem ähnlichen Versprechen haben Primawell und andere Hersteller bereits Backmischungen für Eiweißbrote auf den Markt gebracht. Diese enthalten zwar weniger Kohlenhydrate als ein übliches Brot, aber dafür umso mehr Proteine und Fett – nicht viel anders als ein bayerischer Fleischkäse. Allein vom Eiweißbrot nimmt deshalb niemand ab, es ist eher ein Marketing-Gag. Und da es teurer als übliches Brot aus Weizen- und Roggenmehl ist, sollte man wohl nicht zu viel davon essen, es sei denn, man möchte arm und dick werden.

Das Verrückte an der Anuga ist: Obwohl sich hier alles ums Essen drehen soll, sind so gut wie keine echten Lebensmittel zu sehen. Es gibt Ausnahmen: Am Stand eines Händlers aus Antwerpen sind 23 Schalen mit richtigen Reiskörnern verschiedener Sorten ausgestellt. Bei einem Hersteller von Pommes frites stehen ein paar Eimer mit echten Kartoffeln. Aber sonst fallen Verpackungen ins Auge. Im Pavillon der US-Hersteller leuchten die Kartons und Tüten von Macaroni and Cheese oder Crunchy Cheez Curls in grellen Farben wie bei einem Silvesterfeuerwerk.

Echtes Essen, wie unsere Großeltern es kannten, wird seltener

Als ich mit meiner Frau und unseren Kindern vier Jahre lang in den USA lebte, hatte ich einen Freund, der das elitäre College der Harvard University absolviert hatte, aber nicht in der Lage war, Möhrengemüse zu kochen. Bei einem Fest der Grundschule blieb der von uns gespendete Sandkuchen als einziger unberührt – er war selbstgemacht. Angesagt waren dagegen Kuchen aus der Backmischung mit fingerdickem, buntem Frosting. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht, im Gegenteil, die Europäer folgen den Amerikanern. Die Deutschen nehmen sich immer weniger Zeit zum Kochen. Frische Lebensmittel kommen jedoch meistens bei Mahlzeiten auf den Tisch, zu denen sich die Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen zu bestimmten Tageszeiten versammeln.

Die aus viel Zucker, Fett, Salz und künstlichen Aromen komponierten Appetitbeschleuniger der Industrie dagegen werden oftmals als Snack verzehrt, und zwar da, wo es gerade passt, und dann, wann es einem beliebt. Bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konsumierten wenige Erwachsene Snacks. Aber inzwischen stellen Snack-Produkte in Ländern wie den USA, Kanada, Mexiko, Brasilien und China bis zu einem Viertel sämtlicher Kalorien, die konsumiert werden.

Die Hersteller predigen den Menschen, was eine echte Zwischenmahlzeit ist: nicht etwa eine Frucht, sondern ein fruchtig gemachter Riegel aus Zucker und Fett. Nestlé versuchte sich an einem Bananenimitat. »Peelin’Pops« ist ein gefrorenes Material mit Bananengeschmack. Das Produkt ist zwar nicht krumm, aber dafür kann man die Schale mitessen. Die globalen Hersteller sind dafür, dass wir noch mehr künstlich zusammengebastelte Nahrungsmittel essen. In den kommenden Jahrzehnten dürften der Weltbevölkerung mehr verarbeitete Lebensmittel und Getränke zur Verfügung stehen als jemals zuvor.

Die zucker-salz-fettgetränkten Kompositionen schädigen die körpereigenen Regelkreisläufe und machen es einem schwer, sich satt zu fühlen. Das Essen rund um die Uhr versetzt Leib und Seele in einen metabolischen Jetlag, weil es beim Essen kein Timing und schon gar keine Pause mehr gibt. Die Folge ist permanenter Überkonsum von Kalorien, der sich unweigerlich auf das Gewicht auswirkt und ungeliebte Speckpolster wachsen lässt. So geht es derzeit Millionen von Babyboomern in der Schweiz, Österreich und Deutschland: Nach jahrzehntelangem Konsum von Industrienahrung fällt es ihnen immer schwerer, etwa durch körperliche Aktivität oder befristete Hungerkuren, ihr Körpergewicht unter Kontrolle zu halten. Natürlich ist leichtes Übergewicht (auch Adipositas genannt, die von einem gewissen Alter an die meisten Bürger haben) keine Erkrankung. Viele Menschen würden dennoch gerne auf das eine oder andere Kilo zu viel verzichten. Denn starkes Übergewicht, also Fettleibigkeit oder Fettsucht, erhöht das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs. Aber Abnehmen ist ein Kunststück, wenn man von energiedichten Fertigprodukten geradezu umzingelt ist. Wir spüren das, wenn wir hungrig einkaufen gehen. Wer an den vollen Regalen und Auslagen vorbeimuss, der bewegt sich in einer gefährlichen, »adiposigenen« Umwelt, in einer toxischen Nahrungsumgebung.

Das weiß vielleicht keiner besser als Patrick, der Chef der Firma Innova Market Insights. Er ist seit 30 Jahren im Geschäft und sammelt zur Lebensmittelindustrie so viele Daten wie kein Zweiter. Er spürt es auch am eigenen Körper: Er habe früher 78 Kilogramm gewogen, dann sei es auf 112 Kilogramm gegangen, derzeit liege er bei 100 Kilogramm.

Auf der Anuga steht Patrick vor seinem Pavillon und betrachtet, wie sich die Leute, darunter viele übergewichtige Vertretertypen, durch den Gang schieben. Auf einmal sieht er nachdenklich aus und beginnt zu reden. Die Industrie sorge sich in Wahrheit nur um eines, sagt Patrick: »Dass wir mehr und mehr Nahrungsmittel essen. Lebensmittelkonzerne sind da, um Nahrungsmittel zu verkaufen. Das Ziel ist, dass die Leute mehr essen, damit die Umsätze steigen.« Es ist das Problem des vollen Magens. Die Industrie entwickelt immer neue Produkte, damit sogar satte Konsumenten immer mehr essen. Sie hat in Wahrheit gar kein Interesse, gesündere Produkte auf den Markt zu bringen. »Die Hersteller wollen ihre Fabriken so stark auslasten wie möglich«, erklärt mir Patrick. Sie würden einen bewährten Herstellungsprozess nicht ändern, um ein weniger schädliches Produkt herzustellen. Eine veränderte Rezeptur könnte das ganze System durcheinanderbringen, deshalb bleibe es bei der bewährten Formel aus Salz, Fett und Zucker. Doch lange werde es so nicht mehr weitergehen, hofft er. Die Epidemie der Fettsucht in den westlichen Ländern sei einfach nicht mehr zu übersehen. Er sagt: »Wir haben einen Wendepunkt erreicht.«

2. KapitelAus Omas Küche

Blau-weiße Häuser und stählerne Milchtanks stehen in einer Landschaft mit Apfelbäumen und Kuhweiden. Willkommen in der Käserei Gillot in Saint-Hilaire-de-Briouze in der Normandie. Die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein. Wie vor hundert Jahren schöpfen die Arbeiter den Käse mit der Hand und tragen dabei keine Handschuhe. Die Bottiche sind offen, damit, wie seit Generationen, Bakterien aus der Luft in der Milch landen können. Den Reiferaum haben die Arbeiter vor einiger Zeit zwar renoviert, aber sie haben immer nur eine Wand gestrichen. Dadurch blieben die alteingesessenen Schimmelpilze erhalten und konnten die jeweils getünchte Fläche in Ruhe kolonisieren. Auch mit Seife halten sich die Arbeiter zurück. Zwar putzen sie die Räume, aber sie wissen, dass sie nicht zu reinlich sein dürfen. Der Camembert, den man im idyllischen Saint-Hilaire-de-Briouze noch nach guter, alter Tradition herstellt, schmeckt nur dann, wenn es nicht zu sauber ist. Er wird auch nicht aus pasteurisierter Milch hergestellt, sondern aus Rohmilch, die noch ihre ursprüngliche Flora an Mikroorganismen besitzt. Bakterien und Pilze können sich ungestört an ihr zersetzendes Werk machen. Die Winzlinge spalten Zucker und Proteine aus der Milch und verwandeln diese in unterschiedliche chemische Verbindungen. Was aus Sicht der kleinen Kreaturen Hinterlassenschaften sind, das bezeichnen Feinschmecker als »animalische Note«. Diese muss heranreifen, muss von der Rinde in die Mitte ziehen. Anfangs stinkt der Käse, schmeckt aber nicht. Nach einiger Zeit stinkt er noch immer, schmeckt aber endlich: nach Methanthiol und anderen fauligen Gasen. In Reiferäumen schimmeln schneeweiße, flauschige Scheiben vor sich hin, sie verströmen das Odeur von Ammoniak und Schwefelwasserstoff. Es ist eine umwerfend schmackhafte Delikatesse, der echte »Camembert de Normandie«.

Die Käseproduktion ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie segensreich das Verarbeiten von Lebensmitteln ist. Ohne Verarbeitung gäbe es viele Nahrungsmittel nicht, andere wären ungenießbar. »Verarbeitet« ist erst mal nichts Schlimmes. Ein Apfel, den man vom Baum pflückt, ist frisch, aber der Kompott daraus ist schon verarbeitet. Die meisten Lebensmittel sind demnach nicht »natürlich«. Schon 3100 vor Christi Geburt haben Menschen in Mesopotamien Käse hergestellt; die Germanen aßen Sauermilchkäse; Nero ließ sich von Sklaven Gletschereis bringen, und zwar im Stafettenlauf von den Alpen bis nach Rom, wo es mit Früchten zu einer Art Speiseeis angerichtet wurde – es war die erste Eisdiele Roms.

In vielen Fällen haben Menschen Speisen und Getränke nach strengen Regeln hergestellt, ohne die ihnen unterliegenden biochemischen Abläufe zu kennen. Die alkoholische Gärung etwa spielt sich in der Natur ab, aber erst durch gezieltes Eingreifen, durch Technik, wurden daraus nahrhafte Getränke, wie etwa Bier. Die mikroskopisch kleinen Hefen kommen auf Blüten, Blättern, Ästen, Rinden, in der Luft und damit fast überall vor. Gerne sitzen die Einzeller auf reifen Früchten, deren Zucker sie verwerten, wobei Ethanol entsteht. Dieser Alkohol hält übrigens andere Mikroorganismen fern. Im Zuge der alkoholischen Gärung können Hefen aber auch weit mehr als 500 Aromastoffe herstellen. Diese Stoffe sollen gezielt Fliegen anlocken, vermuten Forscher. Die Hefen haften an diesen Insekten und lassen sich von ihnen zur nächsten Frucht fliegen und können sich so ausbreiten. Vor mindestens 6000 Jahren begannen Menschen damit, die Hefe zu domestizieren, ohne von ihrer Existenz zu wissen. Sie setzten einen Sud aus Getreidemalz an, der sich wie von Zauberhand in ein berauschendes Getränk verwandelte. Das später üblich gewordene Zugeben von Hopfen schenkte dem Gebräu einen annehmbaren Geschmack. Die anfangs genutzten Bierhefen wurden bei einer Gärtemperatur von 15 bis 25 Grad Celsius vom Kohlendioxid an die Oberfläche des Bieres gehoben. Und so brauten die Menschen obergäriges Bier, heute zählen Weizenbier, Kölsch, Alt sowie Ale dazu. Vermutlich in Bayern kreuzte sich im 16. Jahrhundert durch Zufall ein anderer Stamm ein, so dass Hefen mit neuen Eigenschaften entstanden. Sie konnten auch bei Temperaturen von 5 bis 15 Grad Celsius gären und sanken auf den Grund des Braukessels. Und so lieferten die Braumeister untergärige Sorten. Export, Helles, Märzen, Pils, Lager- und Bockbier machen heute 90 Prozent der weltweiten Produktion aus.

Wie die Industrialisierung unsere Nahrungsgewohnheiten veränderte

Viele Nahrungsmittel müssen verarbeitet werden, damit wir sie überhaupt verdauen können, damit sie länger halten, damit sie besser schmecken. Aber als das Verarbeiten von Nahrung noch nicht im industriellen Maßstab durchgezogen wurde, konnten Menschen sich gesünder ernähren als heute. Vor hundert Jahren profitierten die Menschen von den Fortschritten der Lebensmittelchemie, aber das System war noch nicht auf den Ausstoß von Produkten getrimmt, die mit echtem Essen und Trinken nichts mehr zu tun haben. Die meisten Menschen hatten ausreichend Nährstoffe und Vitamine, aber die Kost enthielt weniger Kalorien – und verleitete nicht zum Überfressen.

Wie sich die Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung veränderten, das haben der Historiker Hans Jürgen Teuteberg und der Volkskundler Günter Wiegelmann in ihrem Standardwerk untersucht. In den Jahrhunderten vor der Industrialisierung hatten die Menschen stets so gegessen, wie es dem Stand, in den man hineingeboren wurde, zukam. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die für ihn vorgesehene Nahrung in Frage zu stellen. »Der Gutsherr aß auf seinem Schloss und der hörige Tagelöhner in seiner Kate«, schreiben Teuteberg und Wiegelmann.[1]

Am Ende des Mittelalters lag der Fleischkonsum schätzungsweise bei hundert Kilogramm pro Kopf im Jahr und ging dann zunächst zurück, Wissenschaftler sprechen von einer Phase zunehmender »Entfleischlichung«. In den Braunschweigischen Armenanstalten kamen im Jahr 1790 folgende Speisen im Laufe der Woche auf den Tisch: am Sonntag dicke Gerstengraupensuppe, am nächsten Tag Mehlsuppe und Linsen, dienstags Erbsen, mittwochs Buchweizengrütze, donnerstags Rüben und Kohl, freitags Mehlbrei, samstags Linsen oder Buchweizengrütze. Abends gab es Brot und Bier. Zucker tauchte nicht auf. Im Jahr 1842 waren im Braunschweiger Armenhaus auf dem Klimt Kartoffeln angesagt, mittags gab es abwechselnd Weiße Bohnen, Graupen, Mohrrüben, Linsen, Erbsen – jeweils mit Kartoffeln. Im Jahr 1900 tauchte im Wochenspeiseplan des Hamburger Werk- und Armenhauses der Zucker auf, und zwar zwanzig Gramm zum Frühstückstee. Und mittags gab es häufig tierische Proteine: Rindfleisch (mit Reis), Schweineschmalz (mit Graupen und Kartoffeln), Hammelfleisch (mit Weißkohl und Kartoffeln) und am Freitag Hering mit Pellkartoffeln und Soße.

Natürlich gab es in den verschiedenen Kreisen der Gesellschaft und in den verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums unterschiedliche Ernährungsformen, aber mit der einsetzenden Industrialisierung wurde das Essen besser. Das Brei- und Mus-Essen sollte der Vergangenheit angehören. Die Basis der Ernährung in deutschen Landen bestand aus Kartoffeln, Brot und Hülsenfrüchten, zu denen Fleisch zunächst in moderaten Mengen kombiniert wurde. Im Jahr 1800 stammten in Preußen nur ein Viertel aller Nahrungsmittel von Tieren. Im folgenden Jahrzehnt verschoben sich in Deutschland und den anderen Ländern die Gewohnheiten. Getreidegrützen, Erbsenbrei und Kartoffeln wurden seltener gegessen, dafür gab es Obst (darunter die ersten Südfrüchte), Gemüse, Fleisch, Eier, Fette und eben auch den zuvor wenig bekannten Zucker. Entsprechend nahmen die Menschen nicht nur mehr Vitamine und Spurenelemente zu sich, sondern auch mehr Energie. Mit dem Beginn der Hochindustrialisierung, ungefähr von 1870 an, stieg die Kalorienaufnahme lange Zeit nicht weiter. Damals war die Nahrung zumindest für die gutgestellten Menschen ausgewogen. Der Generation der Urgroßeltern und Großeltern mangelte es an nichts, und die Aufnahme von Fett und insbesondere Zucker hielt sich in Maßen. Mehr noch: Obwohl die Einkommen stiegen, ging der Verbrauch von Schlachtfetten und Butter sogar zurück. Offenbar hatten damals viele Menschen das Bedürfnis, neben tierischen Fetten und Fleisch auch pflanzliche Öle sowie Obst und Gemüse zu essen. »Sicherlich hängt dies mit der bereits erwähnten omnivoren Eigenschaft des Menschen zusammen, der letztlich auf eine gesunde Mischkost aus ist«, urteilen Teuteberg und Wiegelmann.

Mit der Industrialisierung wurde auch klar, dass die Nahrung den Menschen nicht mehr einfach zuwuchs. Vielmehr musste sie geplant und beschafft werden. Die Obrigkeit ließ den Nährwertbedarf des Menschen ergründen, wohl wissend, dass satte Arbeiter produktiver sind als hungrige. Ein Ziel war es, die Hungersnöte für alle Zeiten zu überwinden. Solche Katastrophen waren zuvor üblich gewesen.

In der Stadt Spandau waren 1548 rund tausend Menschen und damit ein Drittel der Bevölkerung den Hungertod gestorben. Johann Grüwel (1638–1710) berichtet in einer Chronik über seine Geburtsstadt Kremmen von einem Ernteausfall und dessen Folgen in den Jahren 1637 bis 1639. Demnach haben Soldaten und Landbewohner Mäuse, Katzen, andere tote Tiere und Menschen gegessen. In der Stadt Brandenburg verlangten ausgehungerte Bürger nach verwesenden Tieren. In Wittenberg soll ausgelost worden sein, wer sterben sollte, um von den anderen verspeist zu werden. Hunger war damals ein Schicksalsschlag, gegen den auch Gold nicht half, weil es nichts Essbares zu kaufen gab. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts konnten die Menschen noch kaum auf Kartoffeln ausweichen, wenn es kein Getreide gab. Nachdem die Kartoffel als Hauptnahrungsmittel eingeführt worden war, half sie vermutlich, die schlimmsten Hungersnöte abzumildern. Allerdings führte die Kartoffelkrankheit 1842 und 1845 zu Krisen, in denen die Menschen am Hungertyphus litten.

Doch danach, von etwa 1850