Gene sind kein Schicksal - Jörg Blech - E-Book

Gene sind kein Schicksal E-Book

Jörg Blech

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Beschreibung

Wir sind nicht die Marionetten unserer Gene. Gene bestimmen unser Leben weit weniger, als wir glauben und als uns nur zu gerne suggeriert wird. Das Mathe-Gen, das Glücks-Gen, das biologisch vorbestimmte Übergewicht: alles Mythen. Wir selbst haben den größten Einfluss auf unser Leben und unsere Gesundheit. Tatsächlich bestimmen unsere Gene nur zum Teil unsere Geschicke. Größeren Einfluss haben Erfahrungen, Gedanken, soziale Beziehungen und Umweltfaktoren. So werden unsere Gene durch unseren Lebensstil wie Ton geknetet und geformt. Der Bestsellerautor und Biologe Jörg Blech zeigt, wie wunderbar wandelbar unsere Gene sind und wie sehr wir selbst unser Leben und unsere Erbanlagen steuern können. Seine Schlussfolgerungen, die sich aus dem neuesten Zweig der Genforschung, der Epigenetik, ergeben, sind revolutionär und werden erstaunliche Auswirkungen auf unsere persönliche wie auch gesellschaftliche Lebensweise haben.

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Jörg Blech

Gene sind kein Schicksal

Wie wir unsere Erbanlagen und unser Leben steuern können

Fischer e-books

VorwortDas Geheimnis der Seenomaden

Meist sind es sechs bis zehn Holzboote, die am Horizont der Andamanensee auftauchen. Die Menschen an Bord sind schlank und haben dunkle Haare. Ihr gesamtes Leben spielt sich auf den Booten ab, sogar ihre Kinder kommen dort auf die Welt. Das Volk der Moken ist vor Jahrtausenden aufs Meer gezogen und gehört zu den letzten Seenomaden. Sie kreuzen über den Ozean und ernähren sich von Fischen und anderem Meeresgetier. Die Kinder schwimmen, noch bevor sie laufen können. Ihr Spielplatz sind die warmen Fluten. Muscheln und Seegurken klauben sie problemlos vom Meeresgrund. Denn wenn die kleinen Fischmenschen in ihrem Element sind, dann sehen sie scharf. Eine Taucherbrille brauchen sie nicht.

Dabei ist das menschliche Auge eigentlich für das Sehen an Land konzipiert. Die Lichtstrahlen aus der Luft werden durch die Linse und den Augapfel so gebrochen, dass auf der Netzhaut ein scharfes Bild entsteht. Unter Wasser funktioniert das nicht. Weil das Wasser fast die gleiche Dichte hat wie die Flüssigkeit im Innern des Auges, wird das eintreffende Licht kaum mehr gebrochen und nicht scharf auf die Netzhaut geworfen. Es entsteht ein verschwommenes Bild.

Das gilt für die meisten Menschen, aber nicht für die Kinder der Moken. Als die Biologin Anna Gislén in Schweden davon hörte, entschloss sie sich, das Geheimnis der Seenomaden zu lüften. Mit ihrer sechs Jahre alten Tochter flog sie von Kopenhagen ins thailändische Phuket, reiste im Bus weiter und fuhr mit einem Boot aufs azurblaue Meer hinaus. Nach vielen Stunden erreichten die beiden die Koh-Surin-Inseln, einen paradiesischen Archipel. Hier trafen sie auf einige Moken-Familien, die als Halbnomaden lebten: Wenn sie nicht draußen auf dem Meer waren, hielten sie sich in Bambushütten auf, die auf Stelzen am Strand standen.

Die Moken waren entzückt von dem blonden und blauäugigen Mädchen aus Schweden, das da mit seiner Mutter ankam. Wohl deshalb fassten sie Vertrauen und erlaubten zwei Jungen und vier Mädchen die Teilnahme an einem Sehtest in der See. Anna Gislén versenkte ein Gestell mit einer Kopfstütze im flachen Wasser und positionierte einen halben Meter entfernt Scheiben, die entweder waagerecht oder senkrecht gestreift waren. Auf ihren Tauchgängen legten die kleinen Seenomaden nun den Kopf auf das Gestell und verrieten der Schwedin anschließend, was sie gesehen hatten. Die Forscherin zeigte ihnen immer feinere Muster, bis die Kinder nichts mehr erkennen konnten. Auf diese Weise konnte sie die Sehschärfe bestimmen.

Als Vergleichspersonen rekrutierte Anna Gislén 28 Mädchen und Jungen aus Europa, die dort und auf den Nachbarinseln Urlaub machten. Die Touristenkinder waren zwar begeistert bei der Sache, starrten aber halb blind durch das Meerwasser. Die jungen Seenomaden konnten mehr als doppelt so scharf sehen und Muster im Bereich von 1,5 Millimetern erkennen. Der Unterschied lag an einer Besonderheit, die Anna Gislén erst mit einer Unterwasserkamera entdeckte. Die kleinen Europäer bekamen unter Wasser größere Pupillen (2,5 Millimeter im Durchmesser), weil das Licht schwächer wurde. Die Moken-Kinder dagegen zogen ihre Pupillen unter Wasser zusammen, so dass deren Durchmesser nur noch 1,96 Millimeter betrug, was anatomisch gar nicht möglich schien. Sie können ihre Linse zu einer kugeligen Form zusammendrücken. Wie bei einer Fotokamera mit kleinerer Blendeneinstellung verbessern sich dadurch Auflösung und Tiefenschärfe.

Diese Gabe schien biologisch verdrahtet zu sein, vermutete die Biologin. Weil die Seenomaden »Tausende von Jahren am und im Wasser gelebt haben, könnte die Evolution diejenigen begünstigt haben, die besser darin waren, unter Wasser zu akkomodieren«, notierte sie nach ihrer Rückkehr ins schwedische Lund. »Die Fähigkeit, unter Wasser gut sehen zu können, könnte zu einer genetischen Veranlagung geworden sein.«[1]

Anna Gislén veröffentlichte ihre Vermutung in einer Fachzeitschrift, doch irgendwie spürte sie: Das war noch nicht die ganze Geschichte. Sie entschied sich, das Unterwasser-Gucken mit vier schwedischen Mädchen zu üben, und zwar in einem Hallenbad im heimischen Lund. Während andere Kinder die Wasserrutsche hinuntersausten, absolvierten die Mädchen innerhalb von 33 Tagen elf Trainingseinheiten. Vier Monate später gab es noch ein Training, und nach vier weiteren Monaten, der schwedische Sommer war endlich da, gingen die vier Mädchen an einem strahlenden Tag in ein Freibad in Lund. Es war der Tag des großen Sehtests unter Wasser. Aufgrund des gleißenden Sonnenlichts waren die Pupillen der jungen Schwedinnen schon sehr klein (Durchmesser von 2,1 Millimeter), als sie am Beckenrand standen. Doch auf ihren Tauchgängen verengten sich ihre Pupillen noch weiter (auf 1,9 Millimeter), und sie konnten somit genauso gut sehen wie die Kinder der Seenomaden.[2]

Die Biologin musste ihre anfängliche Vermutung zurücknehmen. Durch das Training hatten die Kinder aus Lund die optische Wahrnehmung verändert und sich gleichsam einen zusätzlichen Sinn erschlossen. »Wir können lernen, unter Wasser zu sehen«, sagt Anna Gislén. »Der Körper ist viel wandlungsfähiger, als wir uns das vorstellen konnten.«

Es gibt noch mehr Geschichten wie die vom Geheimnis der Seenomaden, und sie werden hier erzählt. Die Gene sind gar nicht die Marionettenspieler, für die wir sie gehalten haben, und wir sind keine Marionetten. Die Gene steuern uns – aber auch wir steuern sie.

IDie neue Lehre von den Genen

Kapitel 1X ist ein Gen für Y

Mehr als 2000 Männer haben sich vor einiger Zeit in Schweden zusammengetan, weil sie wissen wollten, warum es ausgerechnet sie getroffen hat. Sie waren an Krebs erkrankt; die Vorsteherdrüse eines jeden der Männer war bösartig entartet und damit zu einer tickenden Zeitbombe geworden. Mal bricht die Erkrankung gar nicht oder erst in vielen Jahren aus, mal kommen die Metastasen in wenigen Wochen. Keiner der Männer wollte die Ungewissheit hinnehmen. Sie wollten etwas tun, sie meldeten sich als Testpersonen und ließen sich von ihren Ärzten Blut abnehmen.

Niemals zuvor haben Mediziner das Erbgut so vieler Patienten mit Prostatakrebs so gründlich untersucht: Aus den weißen Blutkörperchen isolierten sie das genetische Material, die DNA, fahndeten nach auffälligen Erbfaktoren, entwarfen die genetischen Profile von insgesamt 2149 Männern und verglichen sie mit Profilen von 1781 gesunden Männern gleichen Alters. Das angesehene New England Journal of Medicine vermeldet das Ergebnis auf zehn Seiten, weil es von einer bis dahin nicht vorstellbar großen Erblast kündet: Wer vier verschiedene Risikogene von seinen Eltern geerbt hat, der hat eine fast fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass seine Vorsteherdrüse zu einem Krebsherd mutieren wird.

Die erkrankten Männer macht der Befund zwar nicht mehr gesund, jedoch können die Väter unter ihnen erfahren, ob sie das bedrohliche Erbe an ihre Kinder gegeben haben. Einen Test auf die Krebsgene haben die Ärzte bereits zum Patent angemeldet und wollen ihn mit einer privaten Firma vermarkten. Da Frauen keine Vorsteherdrüse haben, erkranken sie selbst nicht an dem Leiden. Gleichwohl dürfte der Test sie ebenfalls interessieren, weil auch sie die vermeintlichen Risikogene für Prostatakrebs tragen und an Söhne vererben können.

Es vergeht kaum eine Woche, in der Forscher nicht die Entdeckung neuer Krankheitsgene verkünden. Mehr als 300 Forschungsinstitute auf fünf Kontinenten haben, in der bisher weltweit größten Studie dieser Art, das Erbgut von mehr als 100 000 Menschen analysiert – und fünf veränderte Gene als Ursache für die Entstehung von Typ-2-Diabetes mellitus identifiziert.[3] Mediziner von der Technischen Universität München wiederum haben mit Kollegen von 48 Forschungszentren das Erbgut von mehr als 28 000 Menschen europäischer Abstammung gemustert – und wollen auf neun Gene gestoßen sein, die uns anfällig für Vorhofflimmern machen. Wer die Erkrankung hat, dem drohen Herzrasen und Schlaganfall.

Die Suche nach Genen erobert die Medizin. Die treibende Kraft sind die enormen Fortschritte der Labortechnik, fraglos eine Revolution: Das Erbmaterial DNA können Genetiker heutzutage schneller und preisgünstiger entziffern als jemals zuvor. Nach dem Humangenomprojekt, der Entzifferung des menschlichen Erbguts, zu Beginn des neuen Jahrtausends haben Wissenschaftler die Ära der personalisierten Medizin eingeläutet. In Vergleichsstudien wollen sie die Gene für alle erdenklichen Volksleiden finden. Der Ansatz beruht darauf, dass es im Genom Millionen Stellen gibt, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden können. Diese »SNPS« (sprich Snips, für single nucleotide polymorphisms) sind wie Wegmarken in den Weiten des Genoms.

Forscher suchen nun in riesigen Reihenuntersuchungen systematisch nach SNPS, die gehäuft bei bestimmten Erkrankungen auftreten. Findet sich ein auffälliges SNP, so die Überlegung der Molekularbiologen, dann müsste in der Nähe dieser Wegmarke ein Gen liegen, das mit der jeweiligen Erkrankung zusammenhängt. Diese mathematischen Häufungen nennen sie »Assoziationen«. Die Erwartung ist, dass auf assoziierten DNA-Abschnitten Gene liegen, die für Volkskrankheiten wie Herzinfarkt, Alzheimer, Krebs und krankhaftes Übergewicht verantwortlich sind. Am Ende könnte man das Erbgut eines beliebigen Menschen testen und ihm mitteilen, welche Assoziationen er hat und inwiefern sie sein persönliches Krankheitsrisiko beeinflussen. Das ist die Vision der personalisierten Medizin: Wenn ein Mensch seine persönliche Erblast erst einmal kennt, dann können Ärzte mit maßgeschneiderter Vorsorge und zielgerichteter Therapie dagegen angehen.

Das Erbgut von Abertausenden Menschen haben die Genforscher bereits durchgesehen, und es sind die Früchte dieser Großanstrengung, die gegenwärtig die medizinischen Fachblätter füllen und den Eindruck erwecken, die Genforscher hätten ihr Heilsversprechen einlösen können. Mehr als 850 DNA-Assoziationen haben sie ausgemacht, die angeblich mit mehr als 70 häufigen Krankheiten zusammenhängen.[4] »Eine erfolgversprechende Methode hält weltweit Einzug in die Labore der Humangenetiker und genetischen Epidemiologen«, sagen Mitarbeiter der Technischen Universität München, die an der Suche nach den Genen für Vorhofflimmern beteiligt sind. »In genomweiten Assoziationsstudien identifizieren sie Gene, die das Risiko für Volkskrankheiten erhöhen« – für die Gelehrten »ein Forschungsansatz mit Erfolgsgarantie«.[5]

Mit Erfolg kann klinischer Nutzen allerdings nicht gemeint sein, sondern wohl eher die Kunst, das Datenmaterial so lange zu bearbeiten, bis ein statistisch relevant erscheinender Zusammenhang herauskommen mag. Es ist nur eine Frage der Mathematik, eine Assoziation herbeizuzaubern, die dann in der Öffentlichkeit das Gen der Woche abgibt. Ein Blick in Tageszeitungen und Nachrichtenportale offenbart, wie lustvoll Journalisten mitmachen, wenn es gilt, die vermeintlichen Fundstücke der Genforscher im Volk bekannt zu machen. So gibt es angeblich das Gen

für Herzinfarkt,

für Übergewicht,

für unruhige Beine,

für Legasthenie,

für ADHS,

für Haarausfall,

für vorzeitiges Altern,

für weiblichen Bauchspeck,

für Schweißgeruch,

für Narkolepsie (Schlummersucht),

für das biologische Altern,

für Gallensteine,

für Verfolgungswahn,

für Transsexualität,

für Treue,

für Langzeitgedächtnis,

für drei Prozent Intelligenz,

für Starrsinn,

für schlechtes Autofahren.

Es ist eine Liste, die sich nach einer einfachen Formel verlängern lässt: »X ist ein Gen für Y.« Für das X setzte man einen Abschnitt aus dem menschlichen Erbgut ein; für das Y greife man sich ein Syndrom aus dem Füllhorn der Erkrankungen und Verhaltensweisen heraus, wie etwa Fettsucht, Depression, Untreue, sexuelle Vorlieben, Stressanfälligkeit, Alkoholsucht oder Schizophrenie.

Im Laienpublikum treffen die simplen Erklärungen aus den Laboratorien der Genetiker einen Nerv. Eine bekannte TV-Moderatorin und erfolgreiche Autorin führt die kreative Neigung in ihrer Familie auch auf biologische Faktoren zurück. Offenbar »werden die Gene irgendwie doch weitergegeben«, sagt sie in einem Zeitungsinterview und bekräftigt: »Aber ich glaube schon, dass da auch Vererbung dazukommt, dass da bestimmte Talente weitergegeben werden.«[6] In der Sportpsychologie werden Sieg und Niederlage immer häufiger mit angeborenen Eigenschaften erklärt. »Ich habe aber vor dem Spiel gespürt, dass jeder das Sieger-Gen in sich hat«, sagt der Trainer der Fußballnationalmannschaft nach einem wichtigen Sieg.

Gene werden aufgebauscht

Wenn Ihnen bei dem einen oder anderen Beispiel vielleicht doch Zweifel gekommen sein sollten, dann stehen Sie nicht alleine da. Wissenschaftlern ergeht es mittlerweile ähnlich, und sie haben sich die Mühe gemacht, die ein oder andere Behauptung der Genforscher gründlich zu prüfen. Einer von ihnen arbeitet an der Harvard School of Public Health. Der Mann heißt Peter Kraft. Er verdankt seinen Namen Vorfahren aus Deutschland und hat an der University of Michigan in Ann Arbor Deutsch und Mathematik studiert. An seine Tür hat er das Brecht-Gedicht Der Zweifler gehängt. Das passt ausgezeichnet zu der Art und Weise, wie Kraft seinen Beruf als Biostatistiker ausübt. Er weiß nur zu gut, wie man mit Statistik lügen kann – das hat den jungenhaft wirkenden Forscher zum Skeptiker gemacht.

Als er auf der ersten Seite der New York Times einen Artikel über die Studie zu den 2149 schwedischen Männern mit Prostatakrebs entdeckte, war das Misstrauen des Peter Kraft geweckt, und er las sich die Originalarbeit im New England Journal of Medicine durch.

Dass die Daten redlich erhoben wurden und so weit stimmen, daran mag Kraft gar nicht zweifeln. Aber aufgefallen ist ihm, wie geschickt die Autoren ihre Zahlen präsentieren – damit die von ihnen gefundenen Gene für Prostatakrebs als besonders bedeutsam und bedrohlich erscheinen. Dazu haben sie diejenigen schwedischen Männer, die gar keine der angeblichen Risikogene tragen, ganz bewusst mit jenen Männern verglichen, die vier oder fünf Assoziationen haben. Nur indem sie diese beiden extremen Gruppen miteinander vergleichen, kommen die Forscher auf die Risikoerhöhung um den Faktor vier bis fünf.

Über die Männer mit ein, zwei oder drei Assoziationen breiten sie dagegen den Mantel des Schweigens – dabei fallen die allermeisten Männer in der Normalbevölkerung genau in diese Kategorie. Rund 90 Prozent der männlichen Europäer haben nämlich eine, zwei oder drei dieser Assoziationen – und die Risikounterschiede zwischen diesen Gruppen sind denkbar gering. Umgekehrt macht die angebliche Risikogruppe – also Männer mit vier oder fünf der Genvarianten – gerade einmal zwei Prozent aller untersuchten schwedischen Männer aus. »Auf die übergroße Mehrheit der Männer trifft das erhöhte Risiko also gar nicht zu«, sagt Peter Kraft.

Die Geschichte von den Prostatakrebs-Genen klingt jetzt nicht mehr nach einer Enthüllung über den Fluch der Biologie, sondern sie erinnert eher an das Märchen »Des Kaisers neue Kleider« des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen. Darin versprechen zwei Betrüger dem Kaiser Gewänder, die nicht nur wunderschön sind, sondern auch eine geheimnisvolle Eigenschaft haben: Sie seien jedem Menschen unsichtbar, der nicht für sein Amt tauge oder unverzeihlich dumm sei. Der eitle Kaiser verschweigt, dass er die Gewänder gar nicht sehen kann, weil er nicht als Dummkopf dastehen will. Ebenso verhalten sich sein alter Minister und andere Untertanen. Am Ende ist es ein Kind, das ausruft: Aber er hat ja gar nichts an!

Mit Blick auf die X-ist-ein-Gen-für-Y-Forschung werden jetzt Stimmen laut, die da rufen: An den Befunden ist in Wahrheit ja nichts dran!

Die Kritik richtet sich freilich nicht gegen die Erforschung der sogenannten monogenen Leiden. Keine Frage, bei ihnen hängt ein bestimmter Gendefekt eindeutig mit zum Teil schweren Symptomen zusammen. Es gibt mehr als 7000 dieser monogenen Erbkrankheiten, wobei ihre Verbreitung in der Bevölkerung (Prävalenz von etwa vier Prozent) gering ist.

Nein, die Rufer stoßen sich an den Ergebnissen aus der Erforschung der sogenannten polygenen Krankheiten; Volksleiden, die mit einer ganzen Fülle von Faktoren zusammenhängen. Die allermeisten Assoziationen, die der Öffentlichkeit als Krankheitsgene dargeboten werden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als jedoch geschickte und klinisch unbedeutende Hervorbringungen der Statistik. Dass Forscher Risikogene gefunden hätten, die diese Bezeichnung auch verdienen, beschränkt sich auf wenige Beispiele, die man an einer Hand abzählen kann.

Noch einmal: Niemand bestreitet die Rolle der Gene. Bei den monogenen Leiden führt der Ausfall oder die Mutation eines bestimmten Gens zum Ausbruch einer Krankheit. Um diese Erbleiden geht es hier ebenso wenig wie um jene wenigen Risikogene, die diese Bezeichnung verdienen: brca1 oder brca2 erhöhen das relative Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um das Drei- bis Siebenfache. Und das apoe4-Gen erhöht das Alzheimer-Risiko um das 3- bis 15fache.

»Die Forscher gingen davon aus, noch viel mehr Gene mit einer ähnlich großen Bedeutung zu finden«, sagt Peter Kraft in seinem Büro und nippt an seinem Kaffee. Stattdessen hätten sie bloß einen Wust von vielen hundert Assoziationen zusammengetragen, die statistisch kaum nachweisbar sind: Die relative Risikoerhöhung liegt nicht in der Größenordnung von 10 – sondern meist nur bei 1,1. Diese äußerst schwachen Assoziationen werden oft als »Gene« bezeichnet, obwohl sie nur Abschnitte im Erbgut beschreiben, auf denen möglicherweise Gene liegen könnten. Das Hochspielen der mauen Befunde geschieht dann etwa mit dem statistischen Trick, die winzigen Effekte zu einem großen Effekt zu verrechnen: So kommt man auf das berüchtigte Gen für Y.

Die Gründe für dieses Aufbauschen lägen auf der Hand, sagt Peter Kraft mit einem Anflug von Resignation: »Wissenschaftler sind nicht gegen Druck gefeit, ihre Ergebnisse übertrieben darzustellen, um häufiger zitiert zu werden und Forschungsgelder einzutreiben.«

Den gleichen Eindruck hat John Ioannidis von der Universitätsklinik im griechischen Ioannina gewonnen. Der schnauzbärtige Epidemiologe durchschaut die Rechentricks der Statistik und kommt so zu erhellenden Erkenntnissen wie der, dass »die meisten entdeckten Assoziationen aufgeblasen« sind. In einer seiner kritischen Bestandsaufnahmen hat John Ioannidis sämtliche verfügbaren genomweiten Assoziationsstudien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgewertet. Bis zum Stichtag (20. September 2008) hatten Forscher 95 verschiedene Assoziationen angehäuft. Ioannidis prüfte davon nun jene 28 Zusammenhänge, die statistisch noch am besten abgesichert waren. Es ging um genetische Assoziationen, die Forscher für Herzinfarkt, Arteriosklerose, Körpergewicht, Blutfette, Typ-2-Diabetes mellitus und die Nikotinsucht gefunden haben wollten.

Die Zusammenhänge mochten mathematisch »signifikant« sein – einen praktischen Nutzen haben sie nicht. John Ioannidis drückt es so aus: »Verbesserungen in der Vorhersage, die auf den derzeit verfügbaren Markern beruhen, sind klein, wenn sie denn überhaupt vorhanden sind. Ein klinisches Omen ist noch nicht ausreichend abgesichert. Obwohl man sich über die neuen Möglichkeiten für mehr Entdeckungen begeistern könnte, kann man es gegenwärtig nicht rechtfertigen, diese Marker in der täglichen klinischen Praxis und in der Gesundheitsvorsorge einzusetzen.«

Vor kurzem war es das Kettenraucher-Gen, das Aufsehen erregte. In gleich drei Studien mit mehr als 140 000 Menschen glauben Forscher eine biologische Wurzel für das Qualmen gefunden zu haben: Die Gene würden entscheiden, wie viele Zigaretten sich ein Mensch am Tag ansteckt.[7] Rauchen sei ein »genetisch bedingtes Laster«, »Gene geben den Rauchern den Takt vor«, »Forscher finden Kettenraucher-Gen« und »Gene schuld an Rauchverhalten« – diese Schlagzeilen haben die Runde gemacht. Nachfragen bei einem der beteiligten Wissenschaftler, beim Mediziner Hans-Jörgen Grabe von der Universität Greifswald, ergeben ein anderes Bild. Entscheiden die Gene, ob ein Mensch zum Raucher wird? »Bei aller Liebe«, räumt Grabe ein, »da hat man wohl nichts gefunden.« Was ist mit dem Einfluss der Gene auf die Menge der täglich gerauchten Zigaretten? Hier verweisen die Forscher auf einen »signifikanten« Effekt: Wer zwei bestimmte Genvarianten (von Mutter und Vater) hat, der raucht am Tag 0,75 Zigaretten mehr als ein Mensch mit einer dieser Varianten und 1,5 Zigaretten mehr als ein Mensch ohne »Risiko-Varianten«. Dieses Ergebnis ist ein Witz: Zwei Raucher haben in der Kneipe jeweils zwei Schachteln weggequalmt. Der eine drückt die letzte Kippe aus, der andere hingegen öffnet eine weitere Schachtel, zündet noch Zigarette Nummer 41 an, raucht sie und sagt entschuldigend: »Was soll ich machen? Ich habe doch dieses blöde Kettenraucher-Gen.«

Auf der Suche nach der fehlenden Erblichkeit

Dass die jeweiligen Assoziationen so gut wie keine praktische Bedeutung für unsere Gesundheit haben, hat zwei Gründe: Zum einen hängen etliche Krankheiten und Eigenschaften mit überraschend vielen biologischen Faktoren zusammen, d.h. mehrere Assoziationen könnten für ein bestimmtes Leiden verantwortlich sein. Bei Morbus Crohn, einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung, glauben Forscher inzwischen mehr als 30 Assoziationen gefunden zu haben, für Typ-2-Diabetes mellitus sind es 20, für die Körpergröße reicht die Zahl mittlerweile an die 50, für die Schizophrenie könnten es Hunderte sein. Doch mit der Zahl der Assoziationen nimmt ihre biologische Bedeutung ab: Je mehr es von ihnen gibt, desto kleiner ist ihre jeweilige Rolle. Umgekehrt steigt die Bedeutung der Umwelt. Auch das zeigt, wie irreführend die Bezeichnung »Krankheitsgene« für diese Assoziationen ist. Im Gegenteil: Sie sind nämlich derart häufig in der Bevölkerung verbreitet, dass die hinter diesen Assoziationen vermuteten Gene wohl eher zur genetischen Normalausstattung des Menschen gehören.

Zweitens können die bisher gefundenen Assoziationen nur einen winzigen Teil der erblichen Veranlagung erklären. Beispiel Fettsucht: Auf der unermüdlichen Suche nach dem vermeintlichen Dickmacher-Gen haben Forscher das Erbgut von Menschen europäischer Abkunft untersucht, und zwar an 350 000 verschiedenen Abschnitten.[8] Das Ergebnis: Zwei Gene (das fto-Gen und das mc4r-Gen) scheinen in Varianten vorzukommen, die mit einem leicht höheren Körpergewicht zusammenhängen. Wer beide der Varianten trägt, dessen Body-Mass-Index ist statistisch gesehen geringfügig erhöht: um den Wert 1,17. Doch nur ein Prozent der Bevölkerung trägt beide »Risiko-Varianten«. Zusammengenommen erklären das fto-Gen und das mc4r-Gen weniger als zwei Prozent des erblichen Anteils von Übergewicht.

Nicht aufzutreiben sind die biologischen Faktoren für die Körpergröße. Große Eltern bekommen große Kinder, kleine Eltern bekommen kleine Kinder. Der erbliche Anteil des Körperwuchses liegt bei 80 bis 90 Prozent. Wenn zwischen den größten und kleinsten Mitgliedern einer Gesellschaft dreißig Zentimeter liegen, dann ist die Genetik also für 27 Zentimeter zuständig. Doch die 50 bisher bekannten genetischen Varianten, die mit der Körpergröße zusammenhängen, erklären nur etwa fünf Prozent des genetischen Anteils an der Körpergröße. Womöglich beeinflussen viele tausend genetische Varianten, wie groß ein Mensch wird – von einem Gen für Körperwuchs könnte also keine Rede sein.

Diese Ergebnisse stehen in einem merkwürdigen Widerspruch zu den Jubelmeldungen über die Entdeckung immer neuer Krankheitsgene, die wir im Wochentakt zu hören bekommen. Doch hinter vorgehaltener Hand wird das Problem der fehlenden Erblichkeit eingeräumt, es treibt viele Genjäger zur Verzweiflung, weil es offenbart, wie sehr sie die Macht der Gene überschätzt haben. Zerknirscht fragen sie sich: Wenn die Gesundheit und das Verhalten des Menschen genetisch vorbestimmt sind, warum finden wir diese Gene dann nicht? In der auf Konferenzen üblichen englischen Sprache ist das Phänomen der fehlenden Erblichkeit schon zu einem geflügelten Wort geworden: missing heritability problem.

Gentests ohne klinischen Nutzen

Einer der Wissenschaftler, der den Finger in die Wunde legt, ist der Genetiker David Goldstein von der Duke University in Durham (North Carolina). Der Lockenkopf, der an diesem heißen Apriltag in Flipflops über den Campus läuft, hat selber Studien an tausenden Patienten durchgeführt – und kaum etwas gefunden. »Nachdem wir umfassende Studien zu häufigen Krankheiten gemacht haben, können wir den genetischen Anteil dieser Leiden nur zu ein paar Prozent erklären«, sagt Goldstein, der das Center for Human Genome Variation leitet. Während etliche seiner Kollegen angesichts dieser katastrophalen Bilanz herumdrucksen, redet Genetiker Goldstein Klartext. Das ganze Gewese um die personalisierte Medizin, genetische Risikoprofile und maßgeschneiderte Medikamente sei nichts anderes als Wunschdenken.

In deutlichen Worten warnt Goldstein vor Gentests, die angeblich das allgemeine Risikoprofil ermitteln und mit diesem Angebot verstärkt auf den Massenmarkt drängen. Einer der Anbieter ist das Unternehmen 23andMe mit Sitz in Kalifornien. Wer der Firma 399 Dollar zahlt, darf eine Speichelprobe einschicken und kann schon wenig später sein genetisches Profil auf einer Internet-Seite einsehen. Das Problem ist nur: Der Test erfasst ebenjene genetischen Assoziationen, deren Aussagekraft so erstaunlich gering ist. Goldstein verzieht das Gesicht. »Für mich ist das reines Entertainment, weil es derzeit aus dem Angebot dieser Genom-Firmen nichts gibt, was ich für klinisch verwendbar hielte«, sagt er und fügt hinzu: »Glauben Sie nur ja nicht, dass Sie mit einem solchen Test etwas tun, das wichtig für Ihre Gesundheit wäre!«

Das Schicksal liegt nicht in den Genen

Im Science-Fiction-Film Gattaca aus dem Jahr 1997 entscheidet ein Gentest gleich nach der Geburt über die Zukunft der Menschen. Binnen Sekunden wird das komplette Erbgut eines Kindes entziffert; das Risiko für Dutzende von Anlagen flammt auf einem Bildschirm auf. Nur Menschen mit einwandfreiem Erbgut dürfen sozial aufsteigen. Mittlerweile ist ein Teil der Fiktion Realität geworden: Es ist möglich, das vollständige Erbgut eines Menschen zu entziffern (auch wenn es derzeit noch einige Wochen dauert). Weniger als 100 000 US-Dollar verlangt die Firma Knome in Boston für den Service, den sie von einem Vertragslabor in China ausführen lässt. Anschließend erhalten die Kunden ein silbernes Kästlein mit einen USB-Stick: Auf dem ist die Sequenz des Erbguts gespeichert.

Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers hat diese Dienstleistung in Anspruch genommen. Powers findet Genetik spannend und hat sogar einen Roman geschrieben, der auf einem Glücksgen basiert.[9] Deshalb war der Autor gleich interessiert und schließlich auch einverstanden, als ihm die Zeitschrift GQ anbot, sein Erbgut Baustein für Baustein entziffern zu lassen und darüber zu schreiben. Doch kaum erhielt Powers erste Informationen zu seinem Genom, kam er an Ungereimtheiten und Widersprüchen gar nicht mehr vorbei. Auf seinem Erbgut finden sich zum Beispiel mehr als ein Dutzend genetischer Assoziationen, die angeblich die Wahrscheinlichkeit für Fettleibigkeit erhöhen. Richard Powers wundert sich: »Mein ganzes Leben lang habe ich einen Body-Mass-Index von um die 19 gehabt, gerade an der Grenze zum Untergewicht, und ich kann essen, so viel ich will, und werde trotzdem nicht dick. In meiner Familie haben sie mich immer das Strichmännchen genannt. Offenbar steckt die Untersuchung der Rolle von Umwelteinflüssen noch ganz in den Anfängen.«[10]

Was die Aussagekraft der Gene angeht, tun sich zwischen der Vision im Zukunftsthriller Gattaca und den biologischen Fakten himmelweite Unterschiede auf. Das Schicksal steht nicht in den Sternen, aber eben auch nicht in den Genen. Das hat Craig Venter ebenfalls erfahren, jener amerikanische Biochemiker und Unternehmer, der sein Erbgut sozusagen im Selbstversuch entziffert hat. Manche Experten lesen aus Venters Erbgut ein erhöhtes Risiko für »asoziales Verhalten« heraus, weil er eine bestimmte Variante des Monoaminoxidase-Gens trägt. Andere Genetiker freilich deuten den Befund ganz anders: Demnach senkt das Gen das Risiko für asoziales Verhalten.

Analysen des Erbguts sind so aussagekräftig wie Kristallkugeln zum Wahrsagen. Kritische Genetiker haben das Erbgut von fünf Individuen an die kalifornischen Gentest-Firmen 23andMe und Navigenics geschickt und die jeweiligen Ergebnisse verglichen.[11] Obwohl die Proben jeweils von ein und derselben Person stammen, ergaben die Gentests häufig völlig unterschiedliche Risiken: Nicht einmal zur Hälfte stimmten die Vorhersagen für sieben der insgesamt 13 untersuchten Erkrankungen überein. Beim Risiko für Schuppenflechte waren die Abweichungen besonders eklatant: Eine der Testpersonen bekam von der Firma 23andMe ein relatives Risiko von 4,02 bescheinigt, während Navigenics einen Wert von 1,25 ermittelte – ein mehr als dreifacher Unterschied!

Da verwundert es kaum, dass manche der Genjäger die eigenen Befunde für sich selbst gar nicht gelten lassen wollen. Ein Gen für Einfühlungsvermögen will die Psychologin Sarina Rodrigues von der Oregon State University in Corvallis entdeckt haben.[12] Sie hat 200 Studentinnen und Studenten Fotos von Gesichtern vorgelegt und sie gebeten, jeweils den Gemütszustand zu lesen. Dies ist ein psychologischer Test, um das Einfühlungsvermögen zu messen. Des Weiteren ließ Rodrigues die Testpersonen Fragebögen ausfüllen. Schließlich wertete sie alle Daten aus und legte fest, welche der 200 Teilnehmer sich gut in andere hineinversetzen konnten, also empathisch waren, und welche eher als kaltherzig gelten konnten.

Sodann untersuchte Rodrigues das Erbgut der Probanden. Es gibt demnach zwischen den Gruppen genetische Unterschiede im Stoffwechsel des körpereigenen Hormons Oxytocin. Das ist der Stoff, der für gute Stimmung sorgt und soziale Beziehungen regelt. Wenn eine Mutter ihr Baby schreien hört, dann schüttet sie Oxytocin aus. Das führt zum Milcheinschuss und flutet ein Gefühl der Wonne durch die stillende Frau. Zudem spielt Oxytocin eine Rolle für die großen Gefühle wie Liebe, Vertrauen und Gelassenheit. Die wohlige Wirkung wird über den Oxytocin-Rezeptor vermittelt – und dieses Gen war es, das die Psychologin Rodrigues untersucht hat. Das Gen kommt in der Bevölkerung in drei Kombinationen vor – AA, AG oder GG –, und Rodrigues wollte wissen, ob die jeweiligen Varianten mit dem Einfühlungsvermögen und der Kaltherzigkeit der Testpersonen zusammenhingen.

Generell waren die weiblichen Testpersonen einfühlsamer als die männlichen, aber auch Unterschiede in der erblichen Rezeptor-Ausstattung spielen Rodrigues zufolge eine Rolle. Man habe bei den Frauen wie auch bei den Männern jeweils »erhebliche Unterschiede gefunden, die auf der genetischen Variation beruhen«, sagt sie über ihre Ergebnisse, die sie im Wissenschaftsjournal Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichen konnte. Laut der Studie sind Menschen mit den Varianten AA und AG von Natur aus kaltherzig. Wer dagegen mit einer GG-Variante gesegnet ist, der kann die Gefühlsregungen der Mitmenschen viel besser erspüren.

Rodrigues ließ ihr eigenes Blut ebenfalls untersuchen, und vielleicht hätte sie diesen Selbstversuch bleibenlassen sollen – sie selbst gehört nämlich in die Kategorie der Kaltherzigen. Es lässt nun tief blicken, dass die Genforscherin dieses wenig schmeichelhafte Ergebnis für sich nicht gelten lassen will. In einer wirren Pressemitteilung streicht sie einerseits die Bedeutung ihrer Ergebnisse für andere Menschen heraus und distanziert sich andererseits von ihrem persönlichen Befund. Sie trage zwar keinen GG-Rezeptor, sagt Rodrigues, aber: »Ich denke schon, dass ich ein sehr fürsorglicher Mensch bin, der viel Einfühlungsvermögen für andere besitzt.«[13] Die Aussage ist bemerkenswert. Nicht nur, weil die Wissenschaftlerin ihre eigene Forschung konterkariert, sondern auch weil sie preisgibt, was sie denkt: Gene sind kein Schicksal.

Molekularbiologen und Genforscher stellen es nach außen hin gern anders dar und verstricken sich in eine aberwitzige Suche nach den biologischen Wurzeln aller nur erdenklichen Leiden und Verhaltensweisen. Die einseitige Ausrichtung spiegelt sich auch in der Forschungspolitik wider. Wissenschaftler, die die »harten« genetischen Ursachen von Gewalt erforschen wollen, erhalten viel leichter und deutlich mehr Fördergelder als Kollegen, die eher die »weichen« Umwelteinflüsse erforschen möchten. Schon vor einiger Zeit haben die Autoren Ruth Hubbard und Elijah Wald geschrieben: »Es ist in Mode gekommen, nach genetischen Erklärungen für Gesundheit und Krankheit zu schauen.« Der Glaube, alles sei durch die Biologie vorbestimmt, der genetische Determinismus, macht sich in der Folge auch im Volk breit. Hubbard und Wald konstatieren: »Obwohl viele dieser Gene wie Trugbilder verschwinden, wenn man versucht, sie näher zu betrachten, ist eine Verwirrung um die Behauptungen und Gegenbehauptungen zwangsläufig. Es gibt so viele Geschichten, dass die Leute den Eindruck gewinnen: Die Gene kontrollieren alles.«[14]

Alles unter genetischer Kontrolle? Das muss nicht einmal stimmen, wenn ein Mensch an einer Erbkrankheit leidet. Stellen wir uns zwei fünf Jahre alte Kinder vor, deren Gen für das Enzym Phenylalaninhydroxylase mutiert ist und nicht mehr normal arbeitet. Aus diesem Grund können die Kinder die Aminosäure Phenylalanin nicht mehr chemisch umwandeln und aus dem Körper entfernen. Phenylalanin ist zwar ein lebenswichtiger Stoff, jedoch nur in kleinen Mengen. In dauerhaft erhöhten Dosen wirkt er wie ein Gift, vor allem im heranwachsenden Körper.

Nehmen wir nun an, bei einem der Fünfjährigen wurde das angeborene Leiden nicht entdeckt. Das Kind hat einen verkleinerten Kopf, leidet unter schweren geistigen Ausfällen und zeigt psychotisches Verhalten. Bei dem anderen Kind dagegen hat man die Mutation durch das Neugeborenenscreening frühzeitig gefunden und dem Knaben fortan spezielle Nahrung gegeben, die nur ganz wenig Phenylalanin enthält: Dieses Kind gedeiht im normalen Bereich.

Es sind mithin soziale Faktoren, die über das Schicksal der erbkranken Jungen entscheiden: Kümmern sich Ärzte darum, dass das Neugeborenenscreening durchgeführt wird? Sind die Eltern in der Lage, das Kind konsequent mit Lebensmitteln zu ernähren, die besonders wenig Phenylalanin enthalten?

Aus einer identischen genetischen Ausstattung können Menschen mit völlig unterschiedlichen Erscheinungsbildern entstehen. Was in den Genen geschrieben steht, diese Abfolge aus den DNA-Bausteinen Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin, bestimmt unser Leben in weit geringerem Maße, als wir annehmen.

Es ist nicht nur wichtig, was in den Genen geschrieben steht. Es kommt ganz entscheidend darauf an, wie die Gene abgelesen werden – und das können wir beeinflussen.

Kapitel 2Schlaue Zellen – wie Erfahrungen unsere Gene prägen

Im kanadischen Montreal gibt es einen Ort, an dem Mediziner die Gehirne von Menschen aufbewahren, die Suizid verübt haben: die in einem Krankenhaus untergebrachte Quebec Suicide Brain Bank. Vor einiger Zeit haben sich hier der Neurowissenschaftler Michael Meaney und der Pharmakologe Moshe Szyf von der örtlichen McGill University gemeldet, weil sie Kontakt zu Familien der Selbstmörder aufnehmen wollten. Ihrer Bitte wurde entsprochen, und so bekamen die Hinterbliebenen folgendes Anliegen zu hören:

Meaney und Szyf wollten aus den eingelagerten Gehirnen jeweils ein paar Gramm Gewebe aus dem Hippocampus herausschneiden, jener Struktur, in der Eindrücke aus der Außenwelt verarbeitet und ins Langzeitgedächtnis abgelegt werden. Zum anderen wollten sie eine psychologische Autopsie durchführen: die Angehörigen befragen und auf diese Weise versuchen, die Geschichten der Toten zu recherchieren, um zu verstehen, was sie in den Tod getrieben hat. Das Ansinnen war mehr als delikat, denn Meaney und Szyf ging es um einen Verdacht: Menschen, die als Kind vernachlässigt oder missbraucht werden, tragen biologische Spuren in den Nervenzellen davon, die sie anfällig machen für Depressionen und Selbstmord.

Ein Dutzend der Familien willigte ein.

Die Idee, dass Vernachlässigung die Gene im Gehirn verändert, ist Michael Meaney gekommen, als er das Verhalten von Laborratten studierte. Ähnlich wie Menschen pflegen die Nagetiere durchaus unterschiedliche Erziehungsstile. Manche Mütter umhegen ihre Babys besonders liebevoll und lecken ihnen ausgiebig das Fell, was dem Streicheln und Kuscheln beim Menschen entspricht. Wenn die weiblichen dieser Kuschel-Rattenkinder heranwachsen und selber Nachwuchs haben, sind sie ihrerseits besonders fürsorglich und lecken ihre Babys ausgiebig.

In manchen Ratten-Familien dagegen geht es ohne Liebe zu: Die Mütter lecken ihre Babys kaum. Wenn sich die weiblichen Kinder aus dem Wurf später fortpflanzen, werden sie ihrerseits zu lieblosen Müttern, die ihre Kinder nicht lecken.

Das Verhalten der Mutter nimmt auch Einfluss darauf, wie gut die Kinder später im Leben mit Stress fertig werden. Rattenbabys, die in den ersten zehn Lebenstagen von der Mutter ausgiebig geleckt und gepflegt wurden, sind später im Leben entspannt und gelassen. Wenn man sie beispielsweise zwanzig Minuten lang in ein schmales Plastikröhrchen steckt, dann schütten sie kaum Stresshormone aus. Diese Stressfestigkeit geben die weiblichen Kuschel-Ratten an ihre Kinder weiter.

Ganz anders entwickeln sich die Kinder liebloser Mütter. Sie sind ängstliche Erwachsene, die sich in der stillsten Ecke des Käfigs verkriechen. Steckt man sie in die enge Röhre, schütten sie viel mehr Stresshormone aus als die Kuschel-Ratten. Und wenn sich die weiblichen Tiere fortpflanzen, geben sie das Erbe weiter: Ihre Sprösslinge können Stress ebenfalls nicht ertragen.

Die Verhaltensunterschiede sind groß und werden in den jeweiligen Sippen der Nagetiere weitergegeben. Aus diesem Grund haben Forscher sie zunächst auf biologische Unterschiede zurückgeführt. Um die betreffenden Gene für die jeweiligen Erziehungsstile zu finden, überlegten sich Michael Meaney und seine Kollegin Darlene Francis Adoptionsexperimente.[15] Sie nahmen ein, zwei Babys aus dem Wurf einer lieblosen Mutter und gaben sie in den Wurf einer liebevollen Mama: Sowohl weibliche wie auch männliche Adoptivbabys wuchsen in der neuen Familie zu Erwachsenen heran, die genauso entspannt auf Stress reagierten wie ihre Geschwister, die genetisch von der liebevollen Mutter stammten. Auch wurden leibliche Töchter kaltherziger Mütter ihrerseits zu liebevollen Müttern, sofern sie von einer kuscheligen Mama adoptiert worden waren.

Die gute mütterliche Fürsorge und Stressfestigkeit werden also gar nicht von Genen weitergegeben. Nur, welche Art der Übertragung ist dann am Werk?

Michael Meaney hätte eigentlich jederzeit mit Moshe Szyf über die geheimnisvolle Frage reden können, da beide an derselben Universität forschten. Allerdings arbeiteten sie in verschiedenen Instituten und liefen sich jahrelang nicht über den Weg. Erst im fernen Madrid kamen die beiden Gelehrten aus Montreal ins Gespräch, als sie zufällig dieselbe Konferenz besuchten. Einen besseren Zuhörer als Szyf hätte Meaney sich kaum aussuchen können. Von Haus aus Pharmakologe, suchte Szyf damals nach neuartigen Substanzen zur Behandlung von Krebs. Und dabei war er auf ein merkwürdiges Phänomen gestoßen: In bestimmten Fällen bricht Krebs aus, weil die Steuerung der Gene verändert ist.

Methylierung – ein Abfallprodukt der Natur?

Szyf war ein biochemisches Detail aufgefallen, dem er größte Bedeutung beimaß. Manche Gene in den Tumorzellen trugen kleine chemische Kappen: sogenannte Methylgruppen. Durch diese Methylierung werden die betreffenden Gene in der Zelle ausgeschaltet, das war damals bekannt. Dieses Ausschalten bestimmter Gene müsse etwas mit dem Ausbruch von Krebs zu tun haben, davon war Szyf schon früh überzeugt. Seinem damaligen Professor durfte er damit aber nicht kommen. Die von Szyf auf Krebszellen entdeckte Methylierung tat der Chef ab: Die Methylierung sei nichts als ein »Abfallprodukt der Natur«.

Bis vor wenigen Jahren hielten Biologen die Methylierung für ein Phänomen, das ausschließlich in der frühesten Phase des Lebens eine Rolle spielt. Wenn der Samenfaden in die Eizelle eindringt und der Embryo entsteht, dann sind in den Zellkernen fast alle Methylgruppen entfernt – in diesem Zustand gleichen die Zellen unbeschriebenen Blättern. Doch während der Embryo heranreift, werden in den entstehenden Geweben bestimmte Gene ganz gezielt methyliert und auf diese Weise ausgeschaltet. Nur so kann das Wunder der Differenzierung gelingen. Manche Zellen werden zu Nervenzellen, andere zu Leberzellen, wieder andere zu Herzzellen – und das, obwohl sie alle das gleiche Erbgut haben. Keine Zauberhand regelt dieses Heranreifen, sondern eine molekulare Maschinerie für Methylgruppen.

Eine Methylgruppe kann nur an einen der vier DNA-Bausteine angehängt werden: an das Cytosin. Man könnte das Anheften einer winzigen Methylgruppe an den viel größeren DNA-Baustein Cytosin für eine unwesentliche Modifikation halten. Doch weit gefehlt: Durch die Methylierung kann sich entscheiden, ob ein Gen abgelesen wird oder nicht. Der Kölner Genetiker Walter Dörfler erklärt es seinen Studenten an einem Beispiel aus der Sprache: Das Wort »Achtung« verkehrt sich durch eine kleine Modifikation ins Gegenteil: in »Ächtung«.

Die Folgen können enorm sein. Wenn man die Ziffern der DNA mit einer Aneinanderreihung von Buchstaben vergleicht …