Die Psychofalle - Jörg Blech - E-Book

Die Psychofalle E-Book

Jörg Blech

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Beschreibung

Müde und ausgebrannt? Anstrengende und aggressive Kinder? Zerstreut und vergesslich? Lassen Sie sich nicht irre machen – Gefühle und Wünsche sind keine Krankheiten. Immer mehr Menschen mit Alltagsproblemen werden als psychisch krank abgestempelt – zu Unrecht! Immer öfter werden gesellschaftliche Probleme wie Arbeitsbedingungen oder das Schulsystem zu Psychomacken Einzelner gemacht – zu Unrecht! Hier ist ein Buch, das sich wehrt! Der Bestsellerautor Jörg Blech enthüllt, wie die Grenze zwischen psychisch gesund und gestört von Ärzten, Psychologen und Pharmafirmen zunehmend verschoben wird, und zeigt einen Ausweg aus der Psychofalle. Diagnose: unbedingt lesenswert.

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Jörg Blech

Die Psychofalle

Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]Vorwort Keine Seele ohne MakelKapitel 1 Die Normalen werden wahnsinnigJahrmarkt der SeelenleidenOligarchen der PsychiatrieDie neuen Leiden der SeelenheilkundeRein rechnerisch sind alle psychisch krankGläser etikettieren, nicht MenschenArbeitslosigkeit geht unter die HautKapitel 2 Vorsicht, Diagnose!Normal in verrückter UmgebungDiagnosen sind keine WahrheitenLeiden als RealsatireUnfreiwillig komischOnline-Hilfe gegen InternetsuchtIrre PharmaindustrieVorprogrammierte FehldiagnosenDiagnostizieren, wie es passtKapitel 3 Irren mit ZahlenMit dem Leben immer zufriedenerDie gefühlte Psycho-WelleNur die Diagnosen der leichten Fälle boomenZwei Psychiater, drei MeinungenKapitel 4 Seelsorge für die IndustrieBruch mit der IndustrieKarriere mit PharmakontaktenLeitlinien unter EinflussDer Irrglaube an die eigene UnabhängigkeitKapitel 5 Die Natur der SeeleWie der aufrechte Gang das Sozialverhalten prägteWie die Evolution den Geist formteDie Psyche ist ein KontinuumWenig Wissen, viel VerständnisSchlechte Gene, gute GeneAuch Friedfertige haben das »Krieger-Gen«Umwelt wichtiger als GeneKapitel 6 Das letzte normale KindKrank durch ZufallVon der Unart zur KrankheitErziehung mit PsychopharmakaBesuch in der ADHS-HochburgEine Pille verschreibt sich schnellWie verändern ADHS-Mittel das Gehirn?Zappelphilipp wird erwachsenDie neuen Seelenleiden der KinderGefährliche NeuroleptikaKrank vor WutDMDD, ODD und ADHS – jedem Kind seine diagnostische HeimatKapitel 7 Manisch pubertärExplosive Veränderungen im GehirnUnwucht im Gehirn?Krank ohne SymptomeKapitel 8 Vom Segen der AngstAllergisch gegen Leute?Der Triumph der StillenKapitel 9 Erschöpfende ErschöpfungAufgebauscht zur ModekrankheitGelegentliche Überforderung gehört zum LebenKapitel 10 Die gute Seite der DepressionDer Sinn der SchwermutDas Gute am GrübelnTraurig und klugLob der schlechten LauneOhne Schmerz würde man nicht lange lebenSelbsthilfe durch SchreibenPillen lösen keine ProblemeUnnötige Konflikte schmerzen am stärkstenKapitel 11 Zwischen Wahn und WechselSkalpell gegen PsychosenFrauen trifft die MenopauseGefahr durch HormoneAndere Länder, andere LeidenDie Tage vor den TagenVerrückt, böse – PMS?Frohe Tage vor den TagenMänner im KlimakteriumKapitel 12 Kommt Zeit, kommt IrrsinnAus schusselig wird gestörtGehirnscans für den KundenfangPillen zum VergessenWas nicht stimmt, wurde hingetrimmtVerwirrt durch MedikamenteUrlaub von den MedikamentenGehirn auf SparflammeKapitel 13 Was die Seele stark machtVon der Trauer zur MelancholieMeditation als MedizinVom Kloster ins Neuro-LaborGelassen gegen AngstRuhe und GedankenstilleDen Geist besänftigenDer Vagusnerv als TausendsassaKapitel 14 Wohl dem, der eine Macke hatVom Vergnügen, anders zu seinZwischen Genie und WahnsinnMein Freund, der ComputerIm Tal der AutistenKapitel 15 Nicht irremachen lassenDie Utopie der SelbstoptimierungBei aller Kritik darf man reales Leid nicht übersehenLeichter Fall, großes StigmaDie Grenzen der PsychiatrieAuch die Umwelt ist des Glückes SchmiedEin neuer Blick auf die PsycheDankRegister

»Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.«

 

Shakespeare (Hamlet)

VorwortKeine Seele ohne Makel

Die Psychiatrie ist so weit fortgeschritten, dass es kaum mehr Normale gibt. In einer Studie erfüllten mehr als 80 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen die Kriterien für eine psychische Störung.[1] In jeder Grundschulklasse sitzt statistisch gesehen ein Kind, das Tabletten gegen seelische Erkrankungen verschrieben bekommt. Jeder fünfte Schüler geht zur Therapie. Mit einer Flut immer neuer Diagnosen werden gewöhnliche Menschen in psychische Patienten verwandelt. Diese zweifelhafte Fürsorge der Nervenheilkunde, das werden wir in den einzelnen Kapiteln sehen, begleitet uns ein Leben lang, von der Kindheit bis ins Greisenalter. Irgendein Makel findet sich immer. Ein Normaler ist heute bloß ein Mensch, den der Therapeut noch nicht gründlich genug untersucht hat.

Wer die Grenze zwischen gesund und krank verschiebt, der kann viel Geld verdienen. Pharmazeutische Firmen erschließen ihren Pillen neue Märkte. Der Verbrauch von Antidepressiva hat sich binnen zehn Jahren mehr als verdoppelt – bereits 5 Prozent aller Menschen in Deutschland schlucken Tabletten gegen Depressionen.[2] Ganz gleich, ob Psychiater, Psychologe, Therapeut oder Coach – in der Helferindustrie arbeiten mehr Menschen als in der Automobilindustrie.[3]

Viele, die etwas gegen die Abschaffung der seelischen Gesundheit unternehmen könnten, sind merkwürdig still. Die meisten Direktoren der Kliniken für Psychiatrie an den Universitäten betreiben eine Seelsorge für die Industrie. Sie bessern ihr Professorengehalt auf und arbeiten als bezahlte Redner und Berater für pharmazeutische Firmen. Einige von ihnen könnten der Versuchung erliegen, die Kritik an der Abschaffung der Seelengesundheit zu übersteigern und auf diese Weise ins Unglaubwürdige zu ziehen. Nach dem Motto: Wer gegen die Ausweitung der Psychiatrie spricht, der wird am Ende behaupten, es gäbe gar keine Menschen mit seelischen Erkrankungen. Dieser rhetorische Trick – argumentum ad absurdum – wäre die schwächste Antwort auf dieses Buch. Niemand bestreitet die Existenz psychischer Leiden. Seelisch kranken Menschen muss geholfen werden. Die anderen jedoch soll die Psychiatrie in Ruhe lassen – und sie dürfen von ihr nicht erst krank gemacht werden.

Die Deutungshoheit über die Seelengesundheit haben wir zu lange den Interessengruppen überlassen. In meinem Buch Die Krankheitserfinder habe ich mich damit beschäftigt, wie medizinische Verbände und pharmazeutische Firmen natürliche Wechselfälle des Lebens systematisch in krankhafte Zustände umdeuten – auf diese Weise machen sie Krankheiten zu einem Industrieprodukt.

Viele Reaktionen, Zuschriften, Hinweise und Gespräche sowie neue Recherchen bei unabhängigen Medizinern und Fachleuten offenbaren, wie sehr diese Pathologisierung nun die Seele erfasst hat. Die Inflation der psychiatrischen Diagnosen ist zu einem Megatrend der Gesellschaft geworden.

Soziale Probleme wie Erschöpfung im Beruf, Jobverlust, ständige Erreichbarkeit, Erziehungskonflikte und mangelnde Förderung werden als psychische Störungen dargestellt. Unsere Gesellschaft lädt ihre Sorgen gleichsam auf die Couch des Therapeuten und reicht noch einen pharmakologischen Stimmungsaufheller dazu.

Damit können nicht nur die in der Seelenindustrie beschäftigten Menschen hervorragend leben. Wenn die Psychiatrie scheinbar für alles eine Erklärung hat, dann müssen die Politiker und die Gesellschaft sich den mannigfaltigen Problemen wie Arbeitslosigkeit, prekäre Jobverhältnisse, Verlust der traditionellen Familie nicht stellen. Zu wenige übernehmen Verantwortung für soziale Missstände; zu viele gehen in Therapie. Der Grundschüler wird nicht gefordert und gefördert, sondern er wird als Sorgenkind zum Kinder- und Jugendpsychiater geschickt. Der Arbeitslose bekommt keinen Job, sondern er erhält ein Medikament gegen Depressionen. Zum seelisch gestörten Menschen abgestempelt, kann der Einzelne keinen Protest mehr gegen jene gesellschaftlichen Zustände organisieren, die ihn in die Psychofalle getrieben haben.

Dabei sind wir gar nicht so anfällig für seelische Erkrankungen, wie uns die Krankheitserfinder der Seele glauben machen wollen. Das sagt eine Gruppe von kritischen Psychologen und Psychiatern, die in diesem Buch zu Wort kommen. Diese fühlen sich den Menschen mit wahren psychischen Problemen verpflichtet und pathologisieren keine bloßen Alltagsschwierigkeiten. Viele angeblich kranke Verhaltensweisen sind natürliche Anpassungen, die sich im Zuge der Evolution entwickelt haben und zur Natur des Menschen gehören. Wer das scheinbar Gestörte und Störende wegmachen will, der unterdrückt Kreativität, vernichtet Vielfalt und erzeugt eine seelische Monokultur.

Kapitel 1Die Normalen werden wahnsinnig

Vor vielen Jahren wollte ein Arzt namens Simão Bacamarte endgültig bestimmen, wo die Grenze zwischen der Vernunft und dem Wahnsinn verläuft. »Die Vernunft verbürgt das vollkommene Gleichgewicht aller Fähigkeiten. Was darüber hinaus liegt, ist Wahnsinn, Wahnsinn und nur Wahnsinn«, erklärte der Mann, ein Sohn adliger Eltern, der als bedeutendster Arzt Brasiliens, Portugals und Spaniens galt.

Die Leitung einer angesehenen Universität schlug Doktor Bacamarte aus und ließ sich lieber in der Provinz nieder. Seine Praxis eröffnete er in Itaguaí, einem Städtchen im Westen von Rio de Janeiro. Als Erstes ging er an den Bau eines Hauses, in der schönsten Straße der Dorfes. Es hatte 50 Fenster auf jeder Seite, einen Hof in der Mitte und zahlreiche Zellen für die Insassen. Dem Asyl wurde der Name »Casa Verde« gegeben, wegen der grünen Fenster. Die Einweihung wurde mit sieben Festtagen begangen; aus den umliegenden Dörfern und Städten und sogar aus Rio de Janeiro strömten die Menschen herbei.

Nachdem die öffentlichen Festlichkeiten vorüber waren, machte der Psychiater sich an die Arbeit. Doktor Bacamarte erklärte: »Mir kommt es bei meinem Werke, der Casa Verde, in der Hauptsache darauf an, gründlich den Wahnsinn zu studieren, seine verschiedenen Grade zu beobachten, seine Fälle zu klassifizieren, endlich die Ursache des Phänomens und das allgemeine Heilmittel dafür zu finden.«

Nach vier Monaten bildete die Casa Verde eine Ortschaft für sich. Weil die ersten Quartiere nicht mehr ausreichten, ließ Doktor Bacamarte einen Flügel mit weiteren 37 Zellen anbauen. »Der Wahnsinn, der Gegenstand meiner Studien, war bis heute eine verlorene Insel im Ozean der Vernunft«, sagte er versonnen. »Ich beginne anzunehmen, dass er ein Kontinent ist.«

Immer mehr Bürger wurden eingeliefert. Der Schrecken wuchs. Schon wusste niemand mehr, wer bei Verstand war und wer nicht. Die Kette der Einlieferungen riss nicht ab. Ganz gleich, ob einer Lügen in die Welt setzte, sich als Lästermaul hervortat, gerne Rätsel löste, die Nase in fremde Töpfe steckte oder sich voller Eitelkeit herausputzte. Egal, ob einer verschwenderisch war oder geizig – sie alle wanderten in das Asyl. Es gab keine Anhaltspunkte mehr dafür, wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Vier Fünftel der Bevölkerung lebten in dem Haus mit den grünen Fenstern.

Jahrmarkt der Seelenleiden

Die Geschichte des Doktor Simão Bacamarte erzählt Joaquim Maria Machado de Assis (1839 bis 1908), einer der berühmtesten Schriftsteller Brasiliens, in seiner Novelle Der Irrenarzt.[4] Sie scheint in einer fernen Zeit zu spielen, doch ist sie gegenwärtiger denn je. Psychiater und Psychologen sind gerade dabei, die Grenze zwischen normal und krank zu verschieben. Eine der vielen, vielen neuen seelischen Störungen, die dabei entstehen, hat am 9. November 1989 in Ostberlin ihren Lauf genommen. Auf ihrem Balkon hörte die Frau, die als eine der ersten Personen daran erkranken sollte, Rufe von der rund 200 Meter entfernten Grenze: »Tor auf!« Ungläubig sah sie, wie Tausende Menschen durch den geöffneten Schlagbaum des Übergangs Bornholmer Straße nach Westberlin strömten.

Gabriele Müller und ihr Mann verbrachten die Nacht, in der vor ihren Augen die Berliner Mauer fiel, zu Hause. Sie lag lange wach. »Die Wende habe ich als ein Glück empfunden«, erinnert sie sich. Aber zugleich zogen Sorgen durch ihren Kopf. »Mir war sofort klar, dass unser Wirtschaftssystem zusammenbrechen wird.«[5]

Ihre dunkle Vorahnung erfüllte sich: Ein Jahr später ging ihr Arbeitgeber pleite, ein Volkseigener Betrieb für Freizeitartikel. Zelte und Faltboote aus dem Ostsortiment wollte niemand mehr haben. Gabriele Müller war jetzt ohne Arbeit.

Sie absolvierte ein Aufbaustudium zur Marketingfachwirtin, aber sie fand keinen festen Job mit Perspektive. Die bis dahin letzte Stelle als Arbeitsvermittlerin in einem Berliner Jobcenter hätte sie sehr gerne behalten, jedoch endete sie »durch Befristungsablauf«.

Es war jener Augenblick, wo die pflichttreue Gabriele Müller morgens einfach liegen blieb – und damit zum Fall für die Psychiatrie wurde.

Nach einer Kur in Bad Pyrmont kam sie ins Rehabilitationszentrum Seehof im brandenburgischen Teltow, das an den Berliner Südwesten grenzt. Die dreigeschossigen Gebäude stehen nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze, in einem Park mit Kirschbäumen. Die Ärzte stellten bei ihr eine »posttraumatische Verbitterungsstörung« fest.

Von dieser Krankheit hatte Gabriele Müller noch nicht gehört.

Am Ende eines langen Flurs wartet der Erstbeschreiber des Leidens. Michael Linden ist Psychiater, Psychologe und ärztlicher Direktor des Rehabilitationszentrums. Er hat in Westberlin studiert, wo er bis heute wohnt. Jeden Tag pendelt er nach Teltow in die ehemalige DDR, jenen untergegangenen Staat, dem er seine interessantesten Fälle verdankt.

Die Welle der verbitterten Menschen sei mit einer Verzögerung von etwa zehn Jahren nach der Wiedervereinigung gekommen. Viele von ihnen hätten den Übergang in die neue Arbeitswelt nicht geschafft. Andere erfuhren nach der Wende, dass der eigene Partner sie bespitzelt hatte. Linden sagt: »Zu mir kamen Menschen mit schwerwiegenden reaktiven psychischen Auffälligkeiten.«

Doch die gängigen Diagnosen hätten nicht gepasst. »Da verließ einer das Haus nicht mehr – aha, das klang doch wie eine Agoraphobie. Dann sagte er, er schlafe nicht mehr und denke an Suizid – aha, eine Depression. Dann stellte ich fest, dass er ohne jeden Grund mit seiner Frau stritt – aha, das ist eine Persönlichkeitsstörung«, sagt Linden. »Das stellte mich nicht zufrieden. Dann sah ich den nächsten Patienten – und bei dem passte das auch nicht. Ich entwickelte Instrumente, um das Nichtpassende zu erfassen. Und dann merkte ich: Aha, da gibt es eine Untergruppe von Patienten, die ich auf diese Art einheitlich beschreiben kann.«

Linden hat seine Beobachtung zuerst in einem Vortrag kundgetan und danach in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt erläutert. Bestimmte Menschen, schreibt Linden, entwickelten nach einem negativen Lebensereignis »einen ausgeprägten und langanhaltenden Verbitterungsaffekt, weshalb von einer posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED) gesprochen werden kann«.[6] Etwa 2 Prozent der Bevölkerung seien betroffen.

Es ist das höchste Ziel eines jeden Psychiaters, eine Störung zu entdecken, die an seinen Namen gekoppelt ist. Das ist im echten Leben nicht anders als beim literarischen Irrenarzt Simão Bacamarte.

»Wir sind ja nicht dazu da, alte Dinge wiederzukäuen, sondern wir versuchen, Neuland zu betreten«, sagt Michael Linden. »Und hin und wieder erweist sich das Neuland als tragfähig.«

Um die posttraumatische Verbitterungsstörung in der Fachwelt bekannt zu machen und sie gleichsam als offizielles, amtliches Leiden zu verankern, wandte Michael Linden sich an die größte Psychiatervereinigung der Welt: an die American Psychiatric Association (APA) in Arlington (US-Bundesstaat Virginia), die 36000 Mitglieder zählt.

Wer eine neue psychische Krankheit in die Lehrbücher bringen will, der kommt an dieser Fachgesellschaft nicht vorbei. Die APA gibt eine Art Bibel der Psychiatrie heraus, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM). Was in diesem dicken Handbuch steht, das darf als anerkannte seelische Krankheit gelten. Das Handbuch beeinflusst Psychiater und Psychologen in der ganzen Welt und nimmt häufig Änderungen in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation vorweg. Die ICD wird gerade überarbeitet und soll in der elften Ausgabe erscheinen.

Die Klassifikationssysteme bestimmen nicht nur, was noch normal ist und was schon verrückt. Sie beeinflussen die Marketingstrategien von pharmazeutischen Firmen, das Verschreibungsverhalten von Ärzten, die Ausgaben der Gesundheitssysteme, und sie prägen die Art und Weise, wie die Öffentlichkeit über psychische Störungen denkt.

Psychologen und Psychiater üben einen großen Druck aus, die Klassifikationssysteme immer stärker auszuweiten. Ehrgeizige Wissenschaftler wie Michael Linden bombardieren die Gremien mit Vorschlägen für immer neue Syndrome. Sie berichten von alten Menschen, die Krempel in der Wohnung horten, von Frauen, die mit Pinzetten an ihrer Haut zupfen, von Menschen, die jederzeit Sex haben wollen, von Leuten, die zu viel Kaffee trinken.

Das erzeugt einen gewaltigen Sog, um sogar gewöhnliche und in der Bevölkerung weitverbreitete Verhaltensweisen in Störungen zu verwandeln. Vieles, was heute noch als normales Verhalten durchgeht, könnte morgen als seelische Krankheit klassifiziert sein. Aus Eigenbrötelei ist auf diese Weise bereits die »schizoide Persönlichkeit« geworden, aus Schüchternheit schon die »soziale Phobie«, aus der schlechten Laune die »Dysthymie«, an der allein in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen erkrankt sein sollen.

Oligarchen der Psychiatrie

Die Entscheidung, ob eine vermeintlich neue psychische Störung den Segen der APA erhält und damit quasi amtlich wird, ist einem Kreis von nur etwa 160 Frauen und Männern vorbehalten. Sie sind so etwas wie die Oligarchen der Psychiatrie. Sie sind durch nichts legitimiert, wenn man davon absieht, dass sie sich hochgedient haben in die Machtzirkel, sprich Arbeitskreise der APA. Hinter den Kulissen stimmen sie darüber ab, welche neuen psychischen Krankheiten in die nächste Ausgabe des DSM aufgenommen werden – der Wahnsinn entsteht durch Kungelei. Es ist diese Gruppe von Medizinern und Psychologen, die darüber befindet, wer Psychopharmaka nehmen, sich auf die Couch des Therapeuten legen oder gar in die Psychiatrie eingewiesen werden soll.

Nur wenige deutschsprachige Experten haben es in den erlauchten Kreis der DSM-5-Autoren geschafft. Einer von ihnen ist Hans-Ulrich Wittchen, der das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden leitet. Der Mann reist von Kongress zu Kongress, ist bezahlter Berater von pharmazeutischen Firmen und gehört überdies zu den Herausgebern der deutschen DSM-Ausgabe. Allein dafür erhält er jedes Jahr Tantiemen in Höhe von einigen Tausend Euro.

In den vergangenen Jahren leerte Wittchen viele Schachteln »Lord Extra« an seinem Schreibtisch. Nach dem Tagwerk begann nämlich die Spätschicht am DSM-5. Wittchen bildete mit einem Australier, einem Südafrikaner, einer Holländerin und zehn US-Amerikanern die Gruppe für Ängste, Zwangsstörungen und Dissoziative Störungen.

Es sei »eine Ehre, eine große Ehre,« am Standardwerk DSM mitarbeiten zu dürfen, sagte Wittchen, als der Redaktionsschluss für den neuen DSM-5 herannahte. Seine Arbeit in der heißen Phase sah so aus: Er las Hunderte wissenschaftliche Publikationen und tauschte mit den Kollegen unzählige Textfassungen per E-Mail aus. Die Ausdrucke füllten einen ganzen Schrank. Zuletzt hatte Wittchen jede Woche zwei, drei Telefonkonferenzen, jeweils zwischen 20 Uhr und Mitternacht.

Hans-Ulrich Wittchen ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Ein mächtiger Institutsdirektor, der dem Fach seinen Stempel aufdrücken konnte. Wittchen bezeichnet sich als einen der wissenschaftlichen Väter der Panikstörung. Das von Sigmund Freud erfundene Konzept der Angstneurose habe er auseinandergenommen, so dass es durch die Panikstörung und die generalisierte Angststörung ersetzt werden konnte. Das alles, erzählte ein strahlender Wittchen, habe bereits Eingang in das DSM-IV gefunden und stehe auch im DSM-5. Viele Passagen trügen seine Handschrift.

Ist das der Grund dafür, dass Wittchen im Gespräch eher wie ein Hüter der alten Werte erscheint, wenn er von den Scharmützeln in seiner DSM-5-Arbeitsgruppe erzählt? Ein ums andere Mal sei einer der Kollegen mit einem angeblich neuen Seelenleiden angekommen. »Also jede deviante kleine Verhaltensweise, die in der Tat manchmal hochdramatische spezielle Interventionen erfordert, wurde an irgendeiner Stelle diskutiert als eigenständige, neue Identität«, sagte er. »Richtig gespalten war unsere Gruppe bei der ›Hoarding‹-Störung und der ›Skin Picking‹-Störung.«

Am Ende unterlag Wittchen: Beide Störungen stehen in der Bibel der Psychiater als eigenständiges Krankheitsbild. Mit jeder neuen Ausgabe des DSM sind bisher neue Krankheiten hinzugekommen. Aus einem Heft von anfangs 130 Seiten ist ein Buch geworden, das zwei Kilogramm wiegt und knapp 1000 Seiten hat.

Die neuen Leiden der Seelenheilkunde

Insbesondere für Kinder ist es schwierig geworden, als normal durchzugehen. Für aufbrausende Schüler mit Neigung zu Wutanfällen haben die DSM-Autoren gerade eine zusätzliche Kategorie erschaffen: die »disruptive Launenfehlregulationsstörung« oder DMDD (nach der englischen Wortschöpfung »Disruptive Mood Dysregulation Disorder«).

Der Anteil der Kinder, die offiziell als psychisch krank eingestuft werden, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika in einem Zeitraum von 20 Jahren auf das 35-fache gestiegen. Mehr als jeder vierte Schüler zwischen sechs und 18 Jahren hat eine Sprachtherapie bekommen. Eins von zehn Kindern war in psychotherapeutischer Behandlung. Viele schlucken Psychopharmaka.

Die Vergesslichkeit im Alter hat es ebenfalls in den Rang einer amtlichen psychiatrischen Krankheit geschafft und den Namen »milde neurokognitive Störung« erhalten.

Das »Trauerjahr« mag dem Volksmund geläufig sein, weil es die Menschen als normal empfinden, wenn ein Mensch Zeit braucht, um den Verlust eines nahen Angehörigen oder guten Freundes zu verwinden. Diese Frist war im DSM-IV bereits auf zwei Monate begrenzt, nun hat die zuständige Arbeitsgruppe im DSM-5 sie abermals verkürzt, auf zwei Wochen. Das bedeutet: Wer vierzehn Tage nach dem Tod eines Verwandten noch schwer niedergeschlagen ist, der kann als psychisch gestört eingestuft werden.

Der Heißhunger schließlich hat ebenfalls sein Debüt als psychische Krankheit gegeben. Die Fressattacken-Störung (im englischen Original »Binge Eating Disorder«) soll jene Menschen betreffen, die nicht immer kontrollieren können, wie viel oder wie schnell sie essen. Um als seelisch gestört zu gelten, reicht es, wenn diese Art der Nahrungsaufnahme einmal in der Woche vorkommt, und zwar über einen Zeitraum von drei Monaten.

Rein rechnerisch sind alle psychisch krank

Die Zahl der Diagnosen im neuen, dicken DSM liegt bei 250. Hinter jeder dieser Diagnosen soll sich eine eigenständige, gesonderte, einzigartige Krankheit verbergen, ein angebliches biologisches Merkmal, das man genauso eindeutig diagnostizieren könne wie etwa das Merkmal, angewachsene Ohrläppchen zu haben. Und so wie ein bestimmter Anteil der Menschheit angewachsene Ohrläppchen hat, so soll ein bestimmter Prozentsatz der Menschen an den jeweiligen seelischen Störungen leiden. Allein für die DMDD, die frisch erfundene disruptive Launenfehlregulationsstörung, haben Psychiater eine natürliche Verbreitung, eine Prävalenz, von mehr als 3 Prozent beschlossen. Wenn man die ganzen psychischen Störungen, die in den Klassifikationssystemen aufgeführt sind, hernimmt und ihre jeweilige angebliche Verbreitung zusammenrechnet, dann stellt man fest: Rein rechnerisch müssten wir alle diverse psychische Störungen haben. Der Wahnsinn wird normal – die Normalen werden wahnsinnig.

Der Psychiater Allen Frances von der Duke University im US-Bundesstaat North Carolina war Vorsitzender der Kommission, die das DSM-IV zu verantworten hat. Er sagt selber: Psychische Störungen seien aus »praktischer Notwendigkeit, Zufall, allmählicher Verwurzelung, Präzedenz und Trägheit« in das DSM gelangt. Es sei also kein Wunder, dass »die Störungen nach dem DSM ein ziemliches Sammelsurium ohne innere Logik sind und sich teilweise gegenseitig ausschließen«.[7]

Gläser etikettieren, nicht Menschen

Mehr als 14000 Mediziner, Psychologen und andere besorgte Menschen haben eine Petition im Internet gegen die Inflation der psychischen Diagnosen unterschrieben. Mehr als 50 internationale Fachgesellschaften der Psychologie und angrenzender Gebiete unterstützen den Protest. Auf einem Jahrestreffen der APA in San Francisco demonstrierten Hunderte Bürger gegen die anwesenden Psychiater und Psychologen. Einige von ihnen hielten Plakate hoch, auf denen stand: »Etikettiert Gläser, nicht Menschen.«

Auch in Deutschland melden sich kritische Stimmen zu Wort. Andreas Heinz, der die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité leitet und als einer der wenigen unabhängigen Psychiater gilt, sagt: »Mir fehlt da eine Beschränkung. Die Leidenszustände werden pathologisiert. Es ist falsch, alle möglichen Befindlichkeitsstörungen mit einem Krankheitsbegriff zu belegen.« Und sogar die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sieht eine Grenze überschritten und lässt über ihren Präsidenten mitteilen: »Die Einführung neuer Diagnosen psychischer Störungen und die Vermehrung und Ausweitung der Grenzen psychischer Störungen kann zu einer Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft und aller psychischer Leidenszustände führen.«[8]

Der erfahrene Psychiater und Medizinsoziologe Asmus Finzen warnt davor, Leute vorschnell zu Patienten abzustempeln und mit Medikamenten zu versorgen. Manche Menschen würden auf diese Art und Weise regelrecht erst ins Kranksein gelockt. »Wenn man eine neue Diagnose anbietet, stürzen sich die Leute darauf. Und wenn sie dann noch eine Pille verschrieben bekommen, werden sie sehr direkt ermuntert, sich krank zu fühlen«, sagt Asmus Finzen. Auf fatale Weise werde übersehen, wie wehrhaft die Psyche von Natur aus ist.

Ein weiteres Problem des Aufblähens der Psychiatrie ist, dass Menschen mit schweren, behandlungswürdigen seelischen Leiden gar keine Hilfe erfahren oder sehr lange auf eine Therapie warten müssen, weil die psychiatrischen Scheinpatienten ihnen die Behandlungsplätze wegnehmen. Der Psychiater und Theologe Manfred Lütz schreibt in seinem Buch Irre!: Durch »das imperialistische Ausweiten des Reiches der Psychiatrie um irgendwelche mehr oder weniger banale Befindlichkeitsstörungen nimmt man den wirklich kranken Menschen die notwendigen Therapiemöglichkeiten«.[9]

Die Explosion der Diagnosen verfolgt Klaus Dörner, der ebenfalls zu den streitbaren Psychiatern des Landes zählt, mit zunehmender Sorge. Mit »katastrophalen Folgen wird der Bereich des Gesunden auch bei Befindlichkeitsstörungen immer mehr verkleinert und damit seiner motivierenden Stacheln beraubt. Der Bereich des Krankhaften wird immer weiter aufgebläht. Dafür nur wenige Beispiele: Umgang mit Schlafstörungen, Essstörungen, Angst, Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern, aber auch unerwünschte Kinderlosigkeit oder Schönheitsmängel«, warnte Dörner.[10] Seine Kollegen hätten es geschickt verstanden, Alltagsschwierigkeiten als psychische Krankheiten zu deuten, urteilt Dörner heute mit leichter Resignation. Die Leute nähmen den Trost der Psychiater nur allzu gern an. Auch wenn ihre Befindlichkeitsstörungen nicht besser würden, so hätten die Menschen doch eine Erklärung.

Die vom Psychiater Michael Linden beschriebene posttraumatische Verbitterungsstörung hat gewiss das Zeug dazu, als Erklärung zu dienen. Die DSM-Autoren jedoch haben das von ihm entdeckte Neuland für nicht tragfähig befunden.

Fragt man den Dresdner Hans-Ulrich Wittchen nach der Verbitterungsstörung, antwortet dieser: »Linden zeigt, dass der Prozess, über den Menschen eine psychische Störung ausdrücken, manchmal über etwas läuft, das wir als Verbitterung bezeichnen können. Das ist nicht genug, um daraus eine eigene Diagnose machen zu können.«

Fünf Wochen hat Gabriele Müller im Rehabilitationszentrum in Teltow verbracht. Dort habe man sich für ihre Probleme interessiert. Sie sagt: »Ich glaube aber nicht, dass ich irgendeine Störung im Gehirn habe.«

Das Psychopharmakon, das ihr die Ärzte verschrieben haben, schluckte Gabriele Müller nicht. Ihre Verbitterung sei anders heilbar, findet die Berlinerin: »Die beste Therapie wäre doch, ich würde eine Arbeit finden.«

Arbeitslosigkeit geht unter die Haut

Tatsächlich ist die Vermutung, dass Arbeitslosigkeit damit verknüpft ist, eine posttraumatische Verbitterungsstörung oder eine andere psychiatrische Erkrankung zu entwickeln, äußerst fragwürdig. Wer als Arbeitsloser eine psychische Diagnose bekommt, der wird auf diese Weise von der Gesellschaft ausgeschlossen. Er wird einer bestimmten Gruppe zugeordnet und muss mit dem Makel leben, ein persönliches Defizit im Gehirn zu haben – anfällig für psychische Probleme zu sein.

Dabei gerät aus dem Blick, dass arbeitslose Menschen eben keine psychische Macke haben, sondern völlig normale Menschen sind – die aufgrund der gesellschaftlichen Umstände auf einmal als »Minderleister« dastehen. Der Psychologe Benedikt Rogge von der Universität Bremen hat 60 arbeitslose Menschen interviewt und wissenschaftlich beschrieben, wie »uns die Arbeitslosigkeit unter die Haut geht«.[11] In seiner Untersuchung hat er herausgearbeitet, wie die Psychiatrie die öffentliche Meinung über Arbeitslose prägt: Menschen würden, wenn sie ihre Arbeit verlören, unweigerlich krank.

Der Psychologe Rogge dagegen konstatiert: »Viele Menschen leiden unter Arbeitslosigkeit zwar tatsächlich so stark, dass sie im Verlauf der Zeit klinisch relevante Belastungssyndrome entwickeln und sogar erkranken. Allerdings leiden viele einfach nur, ohne gleich als psychisch krank beschrieben werden zu können. Die Pathologisierung der Arbeitslosigkeit führt diese als krank etikettierten ›Normalen‹ jedoch der Behandlungslogik medizinischer, therapeutischer und anderer Interventionen zu. Dadurch wird Arbeitslosigkeit auf einmal primär zu einem Problem des Gesundheitssystems und der Gesundheitsförderung, und nicht mehr der Sozialpolitik.«

Dieser Vorgang spiegelt sich in den Krankheitsstatistiken. Menschen, die keine Arbeit haben, werden viel häufiger wegen psychischer Störungen in Krankenhäuser eingeliefert als vergleichbare Menschen, die Arbeit haben. Auch die Wahrscheinlichkeit, Medikamente gegen Depressionen verschrieben zu bekommen, liegt bei Menschen ohne Arbeit viel höher.

Der Psychologe Rogge erzählt die Geschichte eines arbeitslosen Mannes, den er für seine Studie befragt und untersucht hat. Der Mann war selbst erstaunt, wie sehr ihm der Jobverlust zusetzte. Eine unheimliche körperliche Unruhe erfasste ihn, er litt unter Herzrasen und zeigte Anzeichen einer »Major Depression«. Der Mann wurde aber plötzlich wieder gesund. Denn an dem Tag, an dem er »die Zusage für seine Wunschstelle erhält, sind sämtliche seiner Symptome wie weggeblasen. Und dieser Effekt hält an.« Es ist wichtig zu unterscheiden, dass arbeitslose Menschen unter ihrer sozialen Situation leiden – und nicht an psychischen Erkrankungen.

Wie die arbeitslose Berlinerin Gabriele Müller sind viele Menschen durch den Verlust der Arbeit »schlicht: verbittert – und eben nicht psychisch krank«, sagt Benedikt Rogge. »Die Erfindung der posttraumatischen Verbitterungsstörung verschiebt also den Schwerpunkt, weg von dem Versuch, das gesellschaftliche Problem der Arbeitslosigkeit zu beheben oder darüber nachzudenken, wie wir mit Arbeitslosen umgehen (Stichwort: Grundeinkommen), hin zur Diagnose psychischer Erkrankungen und zur psycho- und pharmakotherapeutischen Behandlung von vermeintlich ›kranken‹ Menschen.«[12] Gabriele Müller hat dies intuitiv gespürt, als sie das verschriebene Psychopharmakon einfach nicht nahm. Sie war gut damit beraten, wie wir noch sehen werden.

Die vorstehende Argumentation sollte dazu führen, das Konzept der posttraumatischen Verbitterungsstörung zu überdenken. Im echten Leben rücken Psychiater leider selten von ihren Theorien ab – doch in der Novelle Der Irrenarzt ist es so gekommen: Doktor Simão Bacamarte wurde auf dem Höhepunkt seiner Macht nachdenklich. Immerhin vier Fünftel der Stadtbevölkerung lebten in der Anstalt mit den grünen Fenstern. Hatte er es übertrieben? Bacamarte überprüfte seine Theorie über die Vernunft und den Wahnsinn – und verkehrte sie in ihr Gegenteil. Die neue Lage teilte der Psychiater der Stadtverwaltung mit: »Bei dieser Prüfung und aus dieser statistischen Tatsache heraus habe ich die Überzeugung gewonnen, dass die wahre Lehre nicht diese ist, sondern die entgegengesetzte, und man somit als normal und beispielhaft gerade das Fehlen jenes Gleichgewichtes der geistigen Kräfte ansehen muss, und als pathologische Hypothesen all die Fälle gelten, in denen dieses Gleichgewicht fehlerlos arbeitet.«

Mit anderen Worten: Der Doktor hatte die Falschen behandelt – die Vernünftigen waren das Problem.

Kapitel 2Vorsicht, Diagnose!

Für die Art und Weise einer medizinischen Behandlung ist es erstaunlicherweise gar nicht so entscheidend, was genau einem erkrankten Menschen fehlt. In vielen Fällen hängt die Behandlung davon ab, in welcher Krankenhausabteilung der Patient landet, an welche Sorte von Facharzt er zuerst gerät.

Bei Rückenschmerzen etwa wird der Chirurg auf eine kaputte Bandscheibe tippen und vorschlagen, diese zu operieren. Ein Rheumatologe wird beim selben Patienten einen Labortest veranlassen und entzündungshemmende Medikamente verschreiben. Ein konservativ behandelnder Orthopäde wird Rückenschmerzen auf eine muskuläre Verspannung zurückführen und Massagen empfehlen.

Die Medizin hat einen Namen für das Syndrom: »Wen du siehst, ist, was du kriegst.« In der Psychiatrie ist es besonders weit verbreitet, weil es gerade in diesem Fach nicht an Theorien mangelt, alle möglichen Symptome auf seelische Störungen zurückzuführen.

Die Patientin Edna Wilburn hat es am eigenen Leib erfahren; ihr tragischer Fall ist zum Klassiker geworden. Die Amerikanerin fühlte sich eines Tages unwohl und begab sich vorsorglich in ein Krankenhaus. Das Personal in der Notaufnahme fertigte erst einmal ein Bild mit dem Computertomographen an, untersuchte das Blut, wusste nicht recht weiter und fragte sich: Wohin mit Frau Wilburn?

Im Zweifel in die Psychiatrie: Frau Wilburn wurde ans Cleveland Psychiatric Institute überwiesen, wo das Personal nicht so zaghaft war. Im Gegenteil, die Psychiater wurden gleich fündig und diagnostizierten eine »Anpassungsstörung«. Da Edna Wilburn aber kein sonderlich schwerer Fall sei, dürfe sie wieder nach Hause. Noch in derselben Nacht verschlechterte sich der Zustand der Frau, und sie begab sich wieder in die Notaufnahme des Krankenhauses. Diesmal verzichtete das medizinische Personal gänzlich auf eigene Untersuchungen und überwies die Frau abermals an die Kollegen in der Psychiatrie, zumal diese bereits eine Anpassungsstörung diagnostiziert hatten. Bei den Psychiatern erging es Edna Wilburn gar nicht gut. Sie stürzte häufig und konnte ihre Blasenfunktion nicht kontrollieren. Aber das machte die Nervenärzte nicht weiter stutzig. Geschlagene drei Wochen behielten sie die Frau bei sich und überwiesen sie dann an eine Tagesklinik für Patienten mit psychischen Störungen.

Nach 18 Tagen erlitt Edna Wilburn einen schweren Anfall. Mit Blaulicht wurde sie in ein anderes Krankenhaus gebracht. Die dortigen Ärzte erkannten endlich, was ihr fehlte. Die Frau war mitnichten psychisch gestört. Sie litt unter einer thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura, einer seltenen Erkrankung, bei der die Blutplättchen verklumpen und es zu Schlaganfällen kommt.

Die Geschichte von Edna Wilburn erzählt der Arzt und Psychologe Pat Croskerry von der Dalhousie University im kanadischen Halifax als mahnendes Beispiel.[13] Croskerry gehört zu den wenigen Medizinern, die wissenschaftlich erforschen, nach welchen Kriterien Ärzte Diagnosen stellen. Insbesondere Psychiater sind anfällig für Fehler. Denn sie neigen dazu, unterschiedlichste Symptome auf seelische Leiden zurückzuführen – und haben auf diese Weise schon viele Fehldiagnosen gestellt und schlimme Behandlungsfehler begangen. »Wenn sie die Gelegenheit haben, dann finden Psychiater überall Krankheit«, warnte auch die US-amerikanische Medizinjournalistin Lynn Payer – und gab ein eindrückliches Beispiel: Von 1000 Menschen, die in die Notaufnahme eines großen Krankenhauses in Montreal kamen und zuerst von Psychiatern untersucht worden waren, erhielten 98 Prozent eine psychiatrische Diagnose.[14]

Normal in verrückter Umgebung

Auf einen ebenso mutigen wie ungewöhnlichen Selbstversuch ließ es David Rosenhan ankommen, ein Psychologe an der Stanford University in Kalifornien. Im Alter von 40 Jahren wusch und rasierte er sich einige Tage lang nicht. Dann vereinbarte David Rosenhan unter falschem Namen einen Termin in einer psychiatrischen Anstalt und ließ sich von seiner Frau vor dem Haupteingang absetzen. Mit Bartstoppeln und in verdreckter Kleidung.

In der Aufnahme erzählte Rosenhan den Ärzten von wunderlichen Stimmen, die er gehört habe. Diese seien kaum zu verstehen gewesen, hätten aber gesagt: »leer«, »dumpf« und »hohl«. Diese Symptome hatte Rosenhan sich ganz bewusst ausgedacht, weil sie zu keiner der in der Literatur beschriebenen Psychosen passten. Den Psychiatern in der Aufnahme war es egal, sie kamen auch so auf eine Diagnose, die lautete: »Schizophrenie in Remission«.

In den Folgejahren wurde der Versuch noch einige Male wiederholt. Rosenhan und sieben ebenfalls geistig gesunde Mitstreiter ließen sich unter falschem Namen und mit den gleichen Symptomen in insgesamt zwölf Nervenkliniken einliefern. Die Regeln des Experiments sahen vor, dass die Scheinpatienten sich anschließend völlig normal und hilfsbereit verhalten sollten. Sie befolgten die Regeln des Anstaltslebens und nahmen die verschriebenen Psychopharmaka ein – allerdings nur zum Schein.

Jedes Mal lautete die spannende Frage: Wie lange würde es wohl dauern, bis die Nervenärzte den falschen Kranken entdecken und aus der Klinik entfernen würden? Das Ergebnis: Niemand wurde enttarnt. Alle acht Scheinpatienten bekamen eine psychiatrische Diagnose und mussten im Durchschnitt drei Wochen lang in der Anstalt bleiben. Sie bekamen insgesamt 2100 Tabletten mit den unterschiedlichsten Wirkstoffen – und das, obwohl sie alle das gleiche Symptom vorgespielt hatten. In einer Anstalt wurde Psychologe Rosenhan geschlagene 52 Tage festgehalten, ehe man ihn endlich entließ.

Auch mit der Gegenprobe hat David Rosenhan die Psychiater hereingelegt. Dazu kündigte der Psychologe den Ärzten einer Nervenklinik an, er werde ihnen in den nächsten drei Monaten einige Scheinpatienten unterjubeln. In Wahrheit aber begaben sich diesmal nur Patienten mit einer gesicherten psychiatrischen Diagnose in die Aufnahme. Jetzt verhielten sich die Ärzte kritischer. 10 Prozent der insgesamt 193 Menschen mit seelischer Störung hielten sie für gesund – und wiesen sie ab.

Unter dem Titel »Vom Normalsein in verrückter Umgebung« hat das renommierte Wissenschaftsmagazin Science1973 den Bericht Rosenhans veröffentlicht und damit einen Coup gelandet. Die Selbstversuche entlarvten die Willkür der Nervenärzte und erschütterten die Glaubwürdigkeit der Psychiatrie. David Rosenhan stellte die entscheidende Frage: Nach welchen Kriterien bestimmen Psychiater die Grenze zwischen gesund und krank?

Diagnosen sind keine Wahrheiten

»So oder so! – wie man’s macht, ist’s verkehrt!«, ruft in der Novelle Der Irrenarzt ein unglückseliger Mensch, bevor er in die Casa Verde eingeliefert wird. So geht es mitunter auch im echten Leben zu, wenn normale Menschen sich auf einmal in der Psychiatrie wiederfinden. Nur wenige Geschichten werden in der Öffentlichkeit so bekannt wie die des Gustl Mollath, der sieben Jahre lang gegen seinen Willen in der Psychiatrie festgehalten wurde.

Der in Nürnberg lebende Gustl Mollath, ein Restaurator von Oldtimern, hatte keine gute Ehe. Er soll seine Frau geschlagen und gebissen haben, was Mollath bestreitet. Es kam zum Rosenkrieg zwischen Mollath und seiner Frau. Nachdem die Staatsanwaltschaft ihn wegen gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung angeklagt hatte, erstattete Gustl Mollath seinerseits Strafanzeige gegen seine Frau, die bei der Hypovereinsbank arbeitete, und zwar wegen Steuerhinterziehung und dubioser Schwarzgeldgeschäfte.

Schwarzgeldgeschäfte? Diese Vorwürfe nahmen Psychiater als Beleg dafür, dass Gustl Mollath unter einer wahnhaften Störung leiden müsse. Der Chefarzt der Forensischen Psychiatrie des Bezirksklinikums Bayreuth attestierte ihm ein »paranoides Gedankensystem« – und nannte als Beispiel ebenjene Vorwürfe zu Schwarzgeldgeschäften. Dieser Psychiater freilich sprach nur kurz mit Gustl Mollath persönlich, er stützte sich hauptsächlich auf Behauptungen von Mollaths Frau und auf solche, die er nur aus Akten kannte. Später bestätigte ein Psychiater der Forensischen Psychiatrie an der Berliner Charité die Diagnose – dieser Psychiater sprach Mollath nicht einmal selbst.

Einmal eingeliefert, war Gustl Mollath den Psychiatern im Grunde ausgeliefert. Doch nach Jahren kam die überraschende Wendung: Als ein Revisionsbericht der Hypovereinsbank bekannt wurde, kamen Zweifel an der Diagnose auf. Dem Revisionsbericht zufolge waren Mollaths Vorwürfe zu Schwarzgeldgeschäften nämlich alles andere als Wahnvorstellungen – sie trafen zu. Was für eine Rehabilitation – könnte man meinen! Doch dem Psychiatriepatienten Mollath half dies nicht weiter. Seine Diagnose war weiterhin gültig. Er lehnte psychiatrische Behandlungen und Begutachtungen ab und wollte keine Medikamente nehmen.