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Jörg Blech

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Beschreibung

Den Körper verstehen, das Leben verlängern – der neue SPIEGEL-Bestseller von Jörg Blech

Den Geist jung halten und zwanzig Jahre länger leben – in seinem neuen Buch lüftet SPIEGEL-Bestsellerautor Jörg Blech das Geheimnis der Gesundheit und legt den ultimativen Masterplan für Leib und Seele vor. Er räumt mit Mythen der Medizin auf und zeigt uns die wahren Bedürfnisse unseres Körpers. Denn die meisten Alterserkrankungen sind gar nicht vorbestimmt, weil das Herz und das Gehirn, die Gelenke und die Muskeln und andere Strukturen sich das ganze Leben lang erneuern können. Acht einfache Regeln zeigen: Wer seinen Körper kennt, kann selbst mehr für seine Gesunderhaltung tun als die besten Ärzte.

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ZUMBUCH

Das Leben um mehr als zwanzig Jahre verlängern und den Geist jung halten – in seinem neuen Buch lüftet der SPIEGEL-Bestsellerautor Jörg Blech das Geheimnis der Gesundheit und legt den ultimativen Masterplan für Leib und Seele vor. Er räumt mit Mythen der Medizin auf und zeigt uns die wahren Bedürfnisse unseres Körpers. Die meisten Alterserkrankungen sind gar nicht vorbestimmt, weil das Herz und das Gehirn, die Gelenke und die Muskeln und andere Strukturen sich das ganze Leben lang erneuern können. Übergewicht und Verdauungsprobleme lassen sich vermeiden, wenn wir den Wert unserer Darmflora erkennen. Das Buch nimmt mit auf eine erstaunliche Reise durch den Körper und zieht nach jahrelanger Recherchearbeit ein optimistisches Resümee. Acht einfache Regeln zeigen: Man kann für seine Gesunderhaltung mehr tun als der beste Doktor.

ZUMAUTOR

Jörg Blech, geboren 1966, hat Biologie studiert und seine Diplomarbeit an der Kölner Uniklinik geschrieben. Danach ergriff er seinen Traumberuf und wurde – nach Ausbildung an der renommierten Hamburger Journalistenschule – Medizinjournalist und Autor. Nach Stationen beim stern und der ZEIT wechselte er zum SPIEGEL. Seine Titelgeschichten erzielen hohe Auflagen, seine Texte gehören zu den meistgelesenen Artikeln im Digitalangebot SPIEGEL-Plus. Darüber hinaus hat Jörg Blech zahlreiche Bestseller vorgelegt. Sein Erstling Leben auf dem Menschen war das erste Buch zum Darmmikrobiom und ein Überraschungserfolg, sein Nr.-1-Titel Die Krankheitserfinder stand ein Jahr in den Bestsellerlisten. Die Heilkraft der Bewegung ist ein Klassiker. Seine Bücher wurden in zwölf Sprachen übersetzt. Jörg Blech lebt mit seiner Familie in Berlin.

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DVA

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch schildert die persönlichen Erfahrungen, Ansichten und Erkenntnisse des Autors. Es handelt sich dabei nicht um einen medizinischen Ratgeber und kann und soll einen solchen auch nicht ersetzen. Die im Buch geschilderten Aussagen und Erfahrungen stellen mithin keine medizinischen bzw. psychologischen Behandlungen oder Therapien dar, weshalb Autor und Verlag keinerlei Heilversprechen abgeben. Das Buch ersetzt keinen Besuch in der Praxis und kein beratendes Gespräch mit einem Arzt/einer Ärztin. Autor und Verlag übernehmen deshalb keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus Nutzung, Übernahme und Verwendung der im Buch enthaltenen Informationen ergeben. Im Zweifelsfall holen Sie sich bitte vorher ärztlichen Rat ein.

Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Grafiken: Peter Palm, Berlin

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30370-9V003

www.dva.de

Für meine Familie

WORUM ES GEHT: DEN KÖRPER VERSTEHEN, DAS LEBEN VERLÄNGERN

Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine wunderbare Maschine geschenkt – und wissen nicht, wie man sie richtig bedient. Sie ist mobil, aber Sie bewegen sie möglichst wenig, damit das Antriebssystem länger hält. Doch genau dadurch geht sie früher kaputt. Auch wurde Ihnen nie richtig erklärt, wie das mit der Energieversorgung geht. Sie füllen den Kraftstoff mit der höchsten Oktanzahl in den Tank. Doch genau dadurch verkürzen Sie die Laufzeit der Maschine. Die Steuerzentrale des Ganzen leistet mehr als der schnellste Computer. Doch Sie halten die Hardware schon bald für veraltet und verzichten darauf, neue Software aufzuspielen.

Diese Maschine könnte jenes Wunderwerk sein, in dem Sie Ihr Leben verbringen: Ihr Körper. Viele Dinge darin laufen anders, als wir glauben – und deswegen »bedienen« wir ihn oft falsch. Die Gelenke brauchen keine Schonung, sondern sie leben von der Aktivität. Der Darm verdaut nicht allein, sondern er verwertet die Nahrung gemeinsam mit Billionen von Bakterien. Der Geist bleibt auch im Alter beweglich, wenn wir ihn fordern und ihm immer neue Aufgaben geben.

Zu Leib und Seele kursieren viele Vorstellungen, die wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind. Ein ums andere Mal habe ich, zu meinem großen Erstaunen, bei meinen Recherchen entdeckt: Vermeintliche Gewissheiten zur Gesundheit entpuppen sich als Mythen der Medizin. Der allmähliche Verlust der Kraft wird als unvermeidlicher Vorgang beschrieben, dabei können wir unsere Vitalität hundert Jahre erhalten. Herz-Kreislauf-Erkrankungen halten wir im Vergleich zum Krebs für weniger bedrohlich, dabei haben diese Leiden eine schlechtere Prognose. Und sie wären ganz leicht zu vermeiden. Die nachlassende Gedächtnisleistung nehmen wir als normale Folge des Alterns hin, dabei können wir unser Gehirn wirksam davor schützen.

Trugschlüsse und Irrtümer der Medizin sind schwer zu erkennen, weil sie einleuchtend klingen, auch von Ärzten weitergetragen werden und im öffentlichen Bewusstsein fest verankert sind. Für den Rückenschmerz werden Bandscheiben verantwortlich gemacht, obwohl verspannte Muskeln und seelischer Stress die häufigeren Ursachen sind. Nach Diagnosen werden Patienten routinemäßig zur Passivität angehalten, obwohl Aktivität zur Genesung beitragen würde. Und auch Abnehmen geht ganz anders, als es in vielen Ratgebern steht.

Eine kostbare Maschine ohne Betriebsanleitung zu bedienen, würden wir nicht wagen – doch bei unserem Körper ist das so. Dieser Wahnwitz hat mich auf die Idee gebracht, dieses Buch zu schreiben.

Es ist das Resümee meiner Recherchen aus 25 Jahren Medizinjournalismus. Dabei habe ich die gewohnten Beschreibungen unseres Körpers in Frage gestellt. Als neugieriger Naturwissenschaftler und skeptischer Journalist fühle ich mich allein der Aufklärung verpflichtet und sage, was ist. Das Buch ist das Fazit der wissenschaftlichen Studien zum Thema Gesundheitsprävention. Es ist die Quintessenz meiner Reisen, Gespräche, Kongressbesuche, Interviews und sehr vieler persönlichen Begegnungen. Patientinnen und Patienten, Psychologinnen, Biologen, Anthropologen, Medizinerinnen und Mediziner, Professorinnen und Chefärzte, Ordinarien oder Naturheilkundler gaben mir Auskunft und erzählten mir ihre Geschichten, ich bin ihnen zu Dank verpflichtet.

Das Wunderbare an meinem Beruf ist, dass ich in einen Dialog mit meinen Leserinnen und Lesern eintrete. Das Echo auf meine Arbeiten ist meistens erleuchtend, die Kommentare sind mitunter kritisch. Für diese Reaktionen bin ich sehr dankbar; auch sie sind in dieses Buch eingeflossen.

Es will niemanden bevormunden und ist keineswegs mit dem erhobenen Zeigefinger geschrieben. Ich finde, es gibt keine Pflicht zu einem aktiven, gesunden Lebensstil. Man darf mit seinem Körper schon umgehen, wie man will. Doch wenn die Gesundheit einen verlässt, sind die meisten Menschen tief erschüttert. Als Medizinjournalist erlebe ich das sehr oft, wenn ich mit Frauen und Männern spreche, die um ihre Gesundheit kämpfen. Viele Patientinnen und Patienten, die ihren Körper vernachlässigten, sind voller Reue und tief erstaunt, dass die Medizin ihre Erkrankungen nicht mehr rückgängig machen kann. Ihr weiteres Dasein ist stark bestimmt von Arztbesuchen, die Teilhabe am normalen Leben erheblich eingeschränkt.

Ich habe für dieses Buch einen neuen Blickwinkel gewählt. Ich gehe zwar auch darauf ein, was man tun kann, wenn der Körper schon krank ist, jedoch stelle ich in den Mittelpunkt, wie wir ihn gesund halten können. Anders als lange gedacht, sind viele Strukturen unseres Körpers nicht starr, sondern sie können sich regenerieren und verjüngen. Dafür ist es nie zu spät, aber es empfiehlt sich, möglichst im mittleren Alter die Weichen auf Gesundheit zu stellen. Die guten Effekte werden unweigerlich spürbar, nach und nach verschwinden die Wehwehchen, man fühlt sich gesünder, ausgeglichener, glücklicher – auch mir erging es so, als ich anfing, das Ergebnis meiner Recherchen zu beherzigen. Ich bin heute vitaler, als ich es früher war.

Dieses Buch will mehr sein als ein Ratgeber im herkömmlichen Sinne: Denn ich beschreibe nicht nur, was man tun kann, um länger jung zu bleiben, sondern auch, warum unser Körper braucht, was er braucht. Je besser wir die wahren Bedürfnisse unseres Körpers kennen, umso beflügelter werden wir sein, sie ihm auch wirklich zu erfüllen. Dieses Buch will Sie mitnehmen auf eine Reise, auf der Sie das Geheimnis der Gesundheit entdecken und erfahren, wie Sie Ihr Leben um Jahrzehnte verlängern können.

ERSTES KAPITELWARUM WIR KRANK WERDEN

Es ist erstaunlich, dass unser Körper nicht viel gesünder ist. Nach dem vom britischen Naturforscher Charles Darwin (1809 – 1882) beschriebenen Prinzip der natürlichen Selektion setzen sich in jeder Generation bekanntermaßen nur die fittesten Individuen durch; jene, die einen Vorteil haben im Überleben. Dennoch strotzen wir nicht immer vor Gesundheit. Es kann nicht daran liegen, dass es zu wenig Zeit gegeben hätte. Die Evolution hatte ungefähr sechs Millionen Jahre lang aberwitzig viele Gelegenheiten, um aus dem Vorläufer des Menschen ein Geschöpf zu machen, das niemals gebrechlich würde und weder Siechtum noch Tod fürchten müsste – es sei denn, man würde dereinst dem Klimakollaps, der Ressourcenknappheit, einem Atomkrieg oder einem Meteoriteneinschlag zum Opfer fallen.

Die Realität sieht anders aus. Wir sind Mängelexemplare – in vielerlei Hinsicht: Wieso nur kreuzen sich in unserem Körper die Nahrungs- und Atemwege, sodass wir Knochen, Gräten oder Brocken in den falschen Hals bekommen – und jämmerlich daran ersticken können? Weshalb sind wir so gierig nach Kombinationen aus Zucker und Fett? Der Überkonsum begünstigt die Arterienverkalkung und ist der Grund dafür, dass wir uns mit Messer und Gabel gleichsam umbringen können. Warum verfügt das Gehirn bei vielen Menschen nur über eine begrenzte Laufzeit, sodass sie sich im Alter nicht mehr an das eigene Leben erinnern werden?

Die Medizin macht große Fortschritte. Sie versteht, warum Menschen an bestimmten Leiden erkranken. Sie kann Symptome und Risikofaktoren immer genauer eingrenzen. Der Gewinn an Erkenntnis ist wahrlich beeindruckend – und gewiss noch lange nicht abgeschlossen. Ärztinnen und Ärzte betrachten den Körper oftmals aus der Sicht eines Mechanikers. Sie möchten erfahren, wie diese Maschine aus Fleisch und Blut funktioniert, was darin falsch laufen und wie man Schäden reparieren kann.

Die Evolutionsmedizin stellt grundsätzlichere Fragen: Warum gibt es Krankheiten überhaupt? Warum ist der Körper so geworden, wie er ist? Warum braucht er regelmäßige Belastung, um lange zu halten? Denkbar wäre auch der umgekehrte Fall: Körperliche Aktivität stresst den Körper und steigert seinen Verschleiß, sodass die Lebensuhr schneller abläuft.

»Es ist das große Rätsel der Medizin, warum in einer so außerordentlich gut konstruierten Maschinerie so viele augenscheinliche Schwächen, Defekte und Provisorien vorhanden sind, die uns für Krankheiten so anfällig machen«, schreiben der Arzt Randolph Nesse und der Biologe George Williams in dem Buch Warum wir krank werden. Das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt und gilt als Manifest einer völlig neuen Sichtweise auf unsere Gesundheit. Die Evolutionsmedizin betrachtet Krankheiten im Lichte der Evolution, um ihre wahren Ursachen zu verstehen, sie zu verhindern und zu behandeln. Scheinbar sinnlose Erkrankungen haben oft eine andere, oftmals übersehene Seite, die aus Sicht von Evolutionsbiologen sinnvoll ist. So manche Unzulänglichkeit unseres Körpers entpuppt sich als ausgewogener Kompromiss. Die meisten Leiden brechen nur deshalb aus, weil der Körper nicht für die moderne Welt gemacht ist. Eine wachsende Schar von Biologen und Ärztinnen erforscht, wie seine stammesgeschichtliche Herkunft den Körper geprägt hat. Und wie die Unstimmigkeit zwischen Menschen und der heutigen Umwelt vermindert werden kann.

Mängelliste von Kopf bis Fuß

Zu den Pionieren dieses Forschungszweigs gehört der amerikanische Anthropologe Daniel Lieberman, ein drahtiger Mann, der mitreißend von seiner Forschung erzählen kann. Sein Interesse an der Evolution des menschlichen Körpers erwachte schon vor mehr als drei Jahrzehnten. Seit vielen Jahren leitet er das Department of Human Evolutionary Biology der Harvard University, das in einem Gebäude aus roten Backsteinen in Cambridge (Massachusetts) untergebracht ist.

Als wir uns dort trafen, führte Lieberman mich durch Gänge zu einer Tür. Er schloss sie auf und winkte mich in einen stillen Raum. In der Ecke stand ein Skelett, in Stahlregalen lagen Tausende Pappschachteln. In ihnen wurden die sterblichen Überreste von Menschen aufbewahrt, wie ich bald erfahren sollte. Lieberman hatte mich in eine Knochenkammer geleitet, genauer gesagt in die osteologischen Sammlungen des Peabody-Museums, das zur Harvard University gehört.

Wahllos nahm Lieberman den Karton Nummer 57 886 aus einem Regal, hob den Deckel ab und holte den bräunlichen Schädel eines Menschen hervor. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr er über die ebenmäßige Zahnreihe des Oberkiefers und sah mich begeistert an: »Sehen Sie nur, wie schön das angeordnet ist! Und die Backenzähne sind auch alle am rechten Platz.«

Die Schädel sind viele Hundert Jahre alt. Ihre Besitzer trugen ja niemals Zahnspangen, und doch hatten sie beneidenswerte gerade Zähne. Der Grund dafür ist die damalige Ernährung, die vermutlich viele tierische Sehnen und pflanzliche Fasern enthielt. Die Menschen mussten früher tüchtig kauen, ehe sie einen Bissen hinunterschlucken konnten. Lieberman drückte es so aus: »Die Kiefer brauchen mechanische Belastung. Nur so können die Kieferknochen ausreichend wachsen und allen Zähnen Platz bieten.«

Konsumenten von weicher Nahrung aus industrieller Produktion dagegen bekommen häufiger schiefe Zähne. Diesen Zusammenhang konnte Lieberman wissenschaftlich beweisen, und zwar in Fütterungsversuchen an Klippschliefern. Das sind drollige, murmeltierähnliche Pflanzenfresser, die in Afrika und Westasien beheimatet sind und anatomisch gesehen ihre Nahrung ganz ähnlich wie Menschen mit den Backenzähnen zermalmen. Lieberman und sein Team setzten heranwachsenden Klippschliefern eine artfremde Kost vor, und zwar zerkleinerte Äpfel, Karotten und Süßkartoffeln, die sie zuvor in der Mikrowelle weichgekocht hatten. Drei Monate bekamen die Tiere dieses Futter, danach vermaßen die Forschenden die Schädel der Klippschliefer. Das erstaunliche Ergebnis: Im Vergleich zu Artgenossen, die zur Kontrolle hartes, weil getrocknetes Obst und Gemüse zu knabbern bekommen hatten, waren die Kiefer der Breifresser um ungefähr 6 Prozent kleiner geblieben.

Das Ergebnis kann man auf Kinder und Jugendliche übertragen, die sich überwiegend von industriell aufbereiteten Lebensmitteln ernähren. Die werden in den Fabriken so hergestellt, dass sie eine weiche Konsistenz haben, damit die kleinen Konsumentinnen und Konsumenten sie leichter verschlingen können. Die Betroffenen bekommen dadurch kleine Kiefer und schiefe Zähne, die nur mit Drähten wieder in Form gebracht werden können. In vielen Industriestaaten ist es der Regelfall, dass Teenager Zahnspangen tragen.

Ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Evolution auf unsere Gesundheit sind die Füße. Schuhe schützen zwar vor Schnittverletzungen und wärmen einen, aber sie stören die natürliche Ausprägung der Füße. Das ergab eine Studie unter 2300 Kindern in Indien: Jene Mädchen und Jungen, die immer barfuß liefen, hatten nur in 2,8 Prozent der Fälle Plattfüße. Unter jungen Schuhträgern dagegen lag die Vergleichszahl bei 13,2 Prozent. Die Erklärung: Schuhe können bestimmte Muskeln in den Füßen verkümmern lassen, sie werden zu wenig beansprucht, die Fußrücken sinken nach unten.

Ein weiteres Beispiel sind die Augen. In Deutschland sind 30 bis 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler kurzsichtig, wenn sie das Abitur machen. Und im südkoreanischen Seoul brauchen einer Studie zufolge sogar 97 Prozent der Jungen im Alter von 19 Jahren eine Brille. Im Jahr 2050 wird laut einer Prognose die Hälfte der Menschheit kurzsichtig sein. Die Erklärung: Die noch im Wachstum befindlichen Augäpfel werden zu lang, wenn deren Besitzer stundenlang in Innenräumen lesen, auf Monitore schauen oder Naharbeit machen. Objekte in der Ferne können sie nur noch unscharf erkennen. Das Licht im Freien hemmt das Wachstum der Augäpfel. Auch um ihrer Augen willen sollten Kinder also viel draußen spielen.

Design in der Sackgasse

Von der Entwicklungsbiologie können wir auch viel darüber erfahren, warum wir anfällig für Krankheiten sind. Der Paläontologe Neil Shubin von der University of Chicago formulierte es so: »Praktisch jede Erkrankung, die uns plagt, besitzt eine historische Komponente, die man von den Säugetieren bis zu den Fischen und noch weiter zurückverfolgen kann.« Den Körper des Menschen vergleicht er mit einem VW Käfer. Der Volkswagen war viele Jahrzehnte auf dem Markt und wurde kaum noch technisch verändert. Das zunächst so erfolgreiche Design mit dem luftgekühlten Heckmotor brachte Ingenieure später zur Verzweiflung, zumal Modifikationen an dem Modell nicht mehr möglich waren.

Ähnlich verhält es sich mit unserem Körper: Viele seiner Baupläne sind den Fischen entlehnt und können allenfalls in einem engen Rahmen verändert werden. Evolutionäre Neuerungen sind deshalb niemals große Würfe, sondern immer Kompromisse. Und von denen machen manche uns anfällig für Gebrechen und Gefahren – wie die bereits erwähnten sich kreuzenden Nahrungs- und Atemwege. Es wäre viel sicherer, den Mund auf der Stirn zu haben und die Nase in der Kehle, auch wenn dies vielleicht komisch aussähe.

Auch die Lage der Vorsteherdrüse (Prostata) beim Mann ist ein Notbehelf; sie umgibt die Harnröhre und wird im Alter größer. Etliche Herren im reifen Alter können deshalb die Blase nicht mehr vollständig leeren und müssen häufiger auf Toilette gehen, als ihnen lieb ist.

Die Zweibeinigkeit ist zwar von Störchen und anderen Vogelarten bekannt, bei den Säugetieren ist sie jedoch kurios. Keine Sau und auch sonst kein Säugetier läuft aufrecht – bloß wir Menschen tun dies. Dabei waren auch wir nicht als Zweibeiner geplant, unsere Vorfahren wieselten auf vier Beinen durch die Gegend. Der aufrechte Gang kam durch zufällige Mutationen zustande, die sich im Überlebenskampf als vorteilhaft erwiesen haben. Mit seiner Fortbewegung auf zwei Beinen verbraucht ein Mensch viermal weniger Energie als ein Schimpanse, der im Knöchelgang unterwegs ist. Mehr noch, er oder sie hat die Hände frei, um Beeren zu pflücken, Werkzeuge herzustellen, Babys zu tragen, Mammuts zu jagen oder – wie es heute üblich ist – im Supermarkt Brot, Butter, Wurst oder Tofu in den Einkaufswagen zu legen.

Zum anderen ist die Zweibeinigkeit, auch Bipedie genannt, mit vielen Wehwehchen verknüpft. Mittelohrentzündung, Hämorrhoiden, Genitalprolaps der Frau, Venenthrombose, Inkontinenz, Leistenbruch, Fersensporn, Ballenzeh, Knieschaden, Rückenschmerzen – diese ganzen Probleme sind dem Bauplan mit dem aufrechten Gang geschuldet.

Des Menschen schwere Geburt

Auch das Becken der Frau hat sich im Laufe der Stammesgeschichte verändert: Es ist immer gestauchter geworden, weil sie so besser gehen konnte. Zugleich ist das Gehirn der Babys im Zuge der Evolution größer geworden. Damit es durch den Geburtskanal passt, muss sich ein Kind auf halbem Wege zur Seite drehen. Wenn es aus der Scheide kommt, zeigt sein Gesicht zum Po der Mutter. Deshalb kann diese ihr Kind nicht mit den eigenen Händen auf die Welt bringen: Sie würde ihm beim Ziehen zwangsläufig das Rückgrat nach hinten verbiegen. Ebenso wenig kann sie dem Neugeborenen den Schleim aus dem Gesicht wischen und seinen Hals von der Nabelschnur befreien.

Die Zwänge der Biologie haben die Geburt zu einem sozialen Ereignis gemacht, erklärt die Anthropologin Wenda Trevathan von der New Mexico State University in den Vereinigten Staaten. »In allen Kulturen suchen Frauen die Hilfe anderer Menschen, wenn sie ein Kind bekommen.« Aber auch wenn jemand hilft, erfordert die Geburt von Mutter und Kind akrobatische Künste. Früher zählte die Kindsgeburt zu den häufigsten Todesursachen unter Frauen im gebärfähigen Alter.

Von der Euphorie, welche die Mutter beim Anblick ihres Neugeborenen durchströmt, einmal abgesehen, muss das Gebären eine Quälerei sein. Ich habe darin naturgemäß keine Erfahrung und möchte mir kein Urteil anmaßen. Rund 38 Prozent der Mütter verspüren laut Umfragen schlimme Schmerzen, 56 Prozent sagen sogar, die Schmerzen seien nicht auszuhalten. Da kann es nicht erstaunen, dass etliche Frauen sich davor fürchten, ein Kind auf natürlichem Wege auf die Welt zu bringen.

Doch während viele Mediziner Schmerzen und Ängste als unerwünschte Probleme sehen und mit Medikamenten abstellen wollen, hält Anthropologin Trevathan, die auch ausgebildete Hebamme ist, diese Gefühle für ein wichtiges Erbe der Evolution: »Schmerz und Angst waren früher womöglich vorteilhaft, weil die Frauen deswegen die Unterstützung anderer gesucht haben.« Das ist nur eine Vermutung, dennoch spricht alles dafür, Frauen im Kreißsaal zu umsorgen und emotional zu unterstützen.

Fast jede dritte Geburt in Deutschland erfolgt mittlerweile durch einen Kaiserschnitt, in Brasilien liegt der Anteil sogar bei mehr als 50 Prozent. Dieses Phänomen könnte die künftige Evolution des Menschen beeinflussen, weil es die Geburt von Babys ermöglicht, die ungewöhnlich große Köpfe haben. Breitet sich das Merkmal »Riesenschädel« in der Gesellschaft weiter aus, dann wird die Schnittgeburt zur Norm. Bei den hochgezüchteten Englischen Bulldoggen ist es schon so weit: Die Welpen haben gewaltige Köpfe – und müssen überwiegend chirurgisch zur Welt gebracht werden.

In vielen Fällen retten Kaiserschnitte Müttern und Kindern das Leben. Gibt es jedoch keine besonderen Risiken, dann erscheint es für das Kind besser, auf natürlichem Wege auf die Welt zu kommen. »Gepresst und gestaucht zu werden, tut dem Kind gut«, sagt die Anthropologin Trevathan. »Der Druck auf den Schädel setzt im Gehirn womöglich Botenstoffe frei, die für die Entwicklung etwa der Lungen oder des Nervensystems wichtig sind.«

Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Wenn der Kopf des Babys sich ins Freie zwängt, dann kann er eine kleine Portion Stuhl aus dem Mastdarm der Mutter herausdrücken. Die darin enthaltenen mütterlichen Bakterien kolonisieren das Kind und helfen ihm, seine eigene Mikroflora auszubilden. Der in der Evolution entstandene Mechanismus soll sicherstellen, dass die ersten Besiedler von der Mama stammen. Denn genau auf diese Bakterien ist das Immunsystem des Babys bereits eingestellt, und zwar durch die Antikörper, die es zuvor über die Plazenta von der Mutter erhalten hat. Diese Choreografie ist wichtig, damit das Immunsystem optimal heranreifen kann. Wenn sie nicht stattfindet, sind später gesundheitliche Probleme zu befürchten. Kaiserschnitt-Kinder haben statistisch gesehen ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 1 und Asthma.

Die evolutionäre Perspektive hilft, noch weitere erstaunliche Dinge zu verstehen, die mit der Geburt verbunden sind. Etwa 50 bis 90 Prozent aller Frauen leiden, zumeist in den ersten zwanzig Schwangerschaftswochen, an Übelkeit und Erbrechen. Nach Auffassung von Evolutionsmedizinern ist dieses Unwohlsein ein Trick des Körpers, der den Fötus vor etwaigen Giften aus der mütterlichen Nahrung schützt. Frauen, denen zu Beginn der Schwangerschaft speiübel ist, entwickeln eine größere Plazenta; sie bringen schwerere Babys auf die Welt und haben weniger Fehlgeburten als beschwerdefreie Frauen. Dazu gehen die betreffenden Schwangeren an die eigenen Reserven; ihr hungernder Körper leitet die knappen Nährstoffe verstärkt den Föten zu.

Eine extreme Ausprägung von Übelkeit und Erbrechen während der Schwangerschaft heißt Hyperemesis gravidarum. Sie betrifft etwa 1 Prozent der Schwangeren, bezeichnet ein übermäßiges, oft über den gesamten Tag anhaltendes Erbrechen und muss medizinisch behandelt werden. Die allermeisten Fälle von Schwangerschaftsübelkeit dagegen verlaufen milde. Hier könnte es nach ärztlicher Beratung angebracht sein, auf Medikamente zu verzichten, damit der evolutionäre Nutzen erhalten bleibt.

Ein anderes Leiden schließlich, das werdende Mütter plagen kann, ist die sogenannte Schwangerschaftstoxikose. Ohne Vorwarnung entgleitet der Stoffwechsel, und der Blutdruck schießt bedrohlich nach oben. 5 bis 10 Prozent der Schwangeren werden zuckerkrank – auch hier haben Biologen Antworten gefunden, warum das so ist.

Einer von ihnen ist der australische Evolutionsbiologe David Haig, der an der Harvard University arbeitet. Sein Büro liegt im selben Gebäude wie das Museum für Vergleichende Zoologie, wo ich mir oft den ausgestopften Beuteltiger anschaute, als ich für einige Jahre in Neuengland lebte.

Als ich Professor Haig besuchte, saß der bärtige Biologe versunken vor einem sieben Meter langen Bücherregal. Er hat in seinem Forscherleben viel über das Phänomen nachgedacht, dass die Interessen einer Schwangeren und die ihres ungeborenen Kindes durchaus unterschiedlich sind. »Der Fötus und seine Mutter buhlen um die Ressourcen – da findet ein Tauziehen statt«, sagte Craig. Der Fötus verlangt mehr Nährstoffe von seiner Mutter, als diese ihm geben will. Seinen Anspruch versucht er mit Hormonen anzumelden, die er in den Körper der Mutter abgibt, um deren Stoffwechsel zu manipulieren.

Haig entwickelte eine Theorie, wie der Blutdruck der Mutter dadurch steigen könnte: Bestimmte Hormone des Fötus schädigen die Innenwände der mütterlichen Blutgefäße. Dadurch trifft das Blut plötzlich auf größeren Widerstand und fließt nicht mehr so leicht. Der Blutdruck im Körper der Mutter steigt, dadurch entsteht ein neues Strömungsgefälle. Der Widerstand der Gefäße ist in der Plazenta geringer, folglich fließt das Blut nun vermehrt dorthin – und somit in den Fötus. Auf diese Weise erhält der winzige Nimmersatt die ersehnten Nährstoffe.

Damit aber nicht genug: Nicht nur das Körpergewicht, sondern auch das soziale Verhalten im späteren Leben wird womöglich bereits geprägt, wenn der Nachwuchs noch in der Fruchtblase lebt. Es geht um einen Ringkampf väterlicher und mütterlicher Gene im Gehirn des ungeborenen Kindes, wie es der Biologe Bernard Crespi von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby postuliert hat: Wenn die väterlichen Gene dominieren, entwickelt sich das Gehirn hin zum autistischen Spektrum. Das Kind ist eher egozentrisch und kümmert sich lieber um Objekte und Muster als um die eigene Mutter. Setzen sich dagegen die mütterlichen Gene durch, wird das Kind empathischer, allerdings können sich auch Stimmungsschwankungen und depressive Phasen ausbilden, die bis in das schizophrene Spektrum hineinreichen.

In den meisten Fällen jedoch gibt es in diesem Ringen keinen »Sieger«; das Verhalten des Kindes bildet sich innerhalb der Grenzen des gewöhnlichen Spektrums aus. Manchmal aber kann eine Seite übermächtig werden: Je nach Ausgang könnte das Kind autistisch oder gemütskrank werden.

Diese Überlegungen sind noch nicht abschließend bewiesen, aber es ist unbestritten, dass die Prinzipien der Evolutionsmedizin sich auch auf die Seele des Menschen anwenden lassen. Menschen haben die meiste Zeit ihrer Stammesgeschichte in Gruppen von überschaubarer Größe gelebt, das könnte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass sie Einsamkeit und soziale Isolation, wie sie in der anonymen Massengesellschaft drohen, nur schwer verkraften können.

Ist die Welt zu steril geworden?

Auch unseren Hygienefimmel und unsere Furcht vor kleinem Getier sollten wir überdenken. Ein bisschen Schmutz ist nämlich gesund, weil er das Immunsystem trainiert und Allergien vorbeugt. Beispiel Hakenwurm: Die in warmen Ländern auf dem Boden herumlungernden Larven bohren sich durch die Haut und lassen sich mit dem Blutstrom in die Lunge spülen, von wo aus sie in die Bronchien gelangen. Der infizierte Mensch hustet die Larven in den Mund, schluckt den Schleim und transportiert die Parasiten auf diese Weise an den Ort ihrer Bestimmung: in den Darm, wo sie zu Würmern heranreifen und Blut an der Darmschleimhaut saugen.

Das klingt zugegebenermaßen nicht sehr appetitlich. Dennoch kann ein milder Wurmbefall auch eine gute Seite haben. In armen Ländern ist es die Regel, Hakenwürmer oder auch Spul-, Peitschen- und Madenwürmer zu haben. Zugleich haben die Bewohner viel seltener allergische Erkrankungen als die abgeschirmten Einwohner westlicher Staaten. Eine Studie aus Gabun legt einen direkten Zusammenhang nahe: Als Tropenmediziner dortige Kinder mit Anti-Wurmmitteln behandelten, wurden die Kleinen die Parasiten zwar los. Zugleich zeigten aber mehr von ihnen allergische Reaktionen gegen Hausstaubmilben.

Mensch und Wurm sind im Laufe der Evolution eine enge Beziehung eingegangen. Indem die Würmer bestimmte Signalstoffe abgeben, dämpfen sie das Immunsystem des Menschen und werden deshalb in dessen Körper geduldet. Werden die Würmer nun durch Medikamente abgetötet, dann wird das Immunsystem nicht mehr gezügelt. Es kann zu einer überschießenden Reaktion kommen, Immunzellen greifen das Gewebe des eigenen Körpers an. Asthma, Heuschnupfen, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Multiple Sklerose und weitere Autoimmunerkrankungen können die Folge sein.

Kann man umgekehrt Menschen von solchen Leiden befreien, wenn man Würmer gleichsam als Medikament verschreibt? Um das auszuprobieren, haben Allergologen und Allergologinnen einen weißen, etwa einen Zentimeter langen Peitschenwurm auserkoren. Er heißt Trichuris suis und lebt normalerweise im Darm von Schweinen. Das Geschöpf befällt zwar auch den Menschen, kann sich aber nicht dauerhaft in dessen Eingeweiden einnisten. Genau aus diesem Grund erschien der Peitschenwurm harmlos genug für Versuche an Menschen. In klinischen Studien zu Erdnussallergie, Autismus, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und dem Nervenleiden Multiple Sklerose schluckten Probanden eine Flüssigkeit, die Tausende Eier des Wurms enthielt. Die Forschung geht weiter, aber es bleibt abzuwarten, ob es dereinst eine Wurmkur gegen Allergien oder andere Leiden geben wird.

Wie scheinbare Leiden der Gesunderhaltung dienen

Auch der Hautkrebs hat eine evolutionäre Komponente: Als der moderne Mensch vor ungefähr 50 000 Jahren von Afrika aus nach Europa und Asien wanderte und sich dort ansiedelte, führte die natürliche Selektion im Laufe der Zeit zur Entstehung bleicher Haut. Die spärlichen Sonnenstrahlen konnten im bewölkten Nordland besser in die helle Haut eindringen und in ihr die Bildung des Vitamins D ankurbeln.

Doch die Anpassung hat eine Kehrseite: Zugleich ist bleiche Haut anfällig für Melanome und andere Hautkrebsarten, und zwar ganz besonders, wenn Menschen sie zur Mittagszeit der Sonne aussetzen. Die weitere Evolution wird diese Verwundbarkeit blasser Menschen kaum mehr beseitigen. Die meisten Europäer, die ein tödliches Melanom entwickeln, haben das normale Fortpflanzungsalter nämlich bereits überschritten. Die Gene für die Hautpigmentierung haben sie schon weitervererbt. Die natürliche Selektion hat keinen Angriffspunkt, die Anfälligkeit für Hautkrebs zu korrigieren.

In anderen Fällen werden Symptome, die zunächst nach schädlicher Krankheit aussehen, im Lichte der Forschung als archaische Mechanismen erkennbar, die den Körper gesund halten sollen. Fieber zum Beispiel ist eine uralte Strategie, um eine Ansteckung mit schädlichen Bakterien zu bekämpfen und die winzigen Invasoren in den Wärmetod zu treiben. Auch Schmerzen und Ängste sind ursprünglich als lebensrettende Schutzmechanismen entstanden. Heute äußern sie sich als seelische Störungen und beschweren das Leben vieler Menschen.

Ganz gleich, wo sie hinschauen, allerorten stoßen Evolutionsmediziner auf solch verblüffende Phänomene. Bis zu 40 Prozent der Menschen im tropischen Afrika etwa tragen die Erbanlage für auffällig geformte rote Blutkörperchen, die unter dem Mikroskop nicht wie eine Scheibe aussehen, sondern wie eine Sichel. Wer von beiden Eltern diese Anlage erbt, leidet bei körperlicher Anstrengung unter schwerer Blutarmut, oftmals verbunden mit Schmerzen, Fieber und Kollaps.

Wer aber die Anlage nur von einem Elternteil mitbekommen hat, transportiert ausreichend Sauerstoff im Blut – und ist als Kleinkind besser gegen die Erreger der Malaria gefeit, weil diese sich in den Zellen nicht so gut ausbreiten können. Die Sichelzell-Anlage ist nur ein Beispiel, wie der Malariaerreger das Erbgut des Menschen gewalkt und geknetet hat: Mehr als ein Dutzend veränderte Gene haben Forscher inzwischen gefunden, die sich in der Evolution durchgesetzt haben, weil sie gegen Malaria helfen.

Einer von 25 Menschen in Mitteleuropa wiederum trägt das Gen für die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose. Wer dieses Gen jeweils von der Mutter und vom Vater erbt und damit zwei Kopien besitzt, der leidet unter einer Erbkrankheit: Zäher Schleim bildet sich in der Lunge, verstopft die Atemwege und begünstigt schwere Infektionen. Die Betroffenen starben früher in jungen Jahren; seit einiger Zeit erreichen sie zum Glück ein immer höheres Alter, weil sie viel besser versorgt und behandelt werden.

Dennoch: Wieso wurde die Anlage für die Erkrankung in der natürlichen Selektion erhalten? Warum wurde sie nicht aus dem Genpool aussortiert? Die Antwort: Weil sie auch eine gute Seite hat. Das Mukoviszidose-Gen hat möglicherweise Hunderte von Menschengenerationen überlebt, weil es vor Cholera oder anderen Durchfallerkrankungen schützt. Vor rund 7500 Jahren bewährte dieses Merkmal sich womöglich bei Menschen, die in Nordeuropa lebten. Damals breitete sich dort die Viehwirtschaft aus. Die Milch der Kühe war nahrhaft, aber sie führte verstärkt zu unangenehmen Blähungen und lästigem Durchfall. Jene, die zufälligerweise ein Mukoviszidose-Gen trugen, waren weniger davon betroffen. Sie gaben die Erbanlage weiter.

Ebenso zufällig kam es etwa zur gleichen Zeit zu einer anderen Mutation im Erbgut der Nordeuropäer: Sie ermöglichte es, dass die Menschen auch nach dem Säuglingsalter Milch vertrugen. Weil das ganz ohne Nebenwirkungen geschah, hat sich die entsprechende Mutation schnell in ganz Europa ausgebreitet. Das Mukoviszidose-Gen war damit entbehrlich geworden und hatte mehr Nachteile als Vorteile. Es befindet sich seither auf dem Rückzug.

Brustkrebs war in der Steinzeit seltener

Auch was Tumorerkrankungen angeht, hat der Mensch sich offenbar einen Tick zu weit entwickelt. Forscher haben Tausende Affen obduziert und nur bei 1 bis 2 Prozent Krebsgeschwülste entdeckt. Der Homo sapiens dagegen ist für Krebs anfälliger. Bei jedem dritten heute lebenden Menschen werden Ärzte irgendwann einen Tumor diagnostizieren. Menschen aus Wohlstandsgesellschaften scheinen besonders gefährdet, die Bewohnerinnen und Bewohner entwickelter Länder sind in den Krebsstatistiken überrepräsentiert.

Etwa jede zehnte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs, und das geht offenbar auf ein biologisches Erbe zurück. Im Unterschied zu fast allen Tierarten hängt der Zyklus einer Frau stark von äußeren Umständen ab. Leidet sie gerade an Hunger oder verausgabt sich körperlich, dann wendet sie weniger Energie für die Reproduktion auf und stellt weniger Geschlechtshormone her. Der Eisprung findet nicht statt. Wenn Leistungssportlerinnen besonders hart trainieren, dann bleibt ihre Blutung schon mal aus.

In der prähistorischen Zeit hat dieser Mechanismus verhindert, dass Frauen in Notzeiten Kinder bekamen. Wenn sich dagegen ausreichend Nahrung fand, waren Steinzeitfrauen vermutlich häufig schwanger, oder sie haben gestillt. Aus all diesen Gründen produzierten sie damals vermutlich viel weniger Östrogene als heute lebende Frauen und hatten insgesamt offenbar nur 160 Regelblutungen in ihrem Leben. Das war gut für ihr Risiko, zumal Östrogene das Tumorrisiko erhöhen. Die Brustkrebsrate dürfte damals sehr niedrig gewesen sein.

Ganz anders stellt sich die Lage in einer Industriegesellschaft dar: Es mangelt an nichts, das weibliche Fortpflanzungsprogramm kann auf vollen Touren laufen. Frauen bekommen früher im Leben ihre Tage, sie sind seltener schwanger und stillen früh ab. Sie können in ihrem Leben auf 450 Regelblutungen kommen. Deshalb zirkulieren bis zur Menopause im Körper fast ständig Östrogene und nehmen schädlichen Einfluss auf das Brustkrebsrisiko.

Zum Laufen geboren

Wir können und wollen nicht zurück in die Steinzeit. Aber zumindest was die Ernährung und die Bewegung angeht, legen die Erkenntnisse der Evolutionsmedizin die Rückkehr zu einer Lebensweise nahe, wie sie noch vor 500 Generationen gang und gäbe war. Anthropologen schauten Aborigines, Pygmäen, Buschleuten, Indios und anderen indigenen Menschen in die Kochtöpfe und versuchten, die Küche der damals lebenden Jäger und Sammler zu rekonstruieren: Zu 50 bis 80 Prozent bestand sie aus Früchten und Gemüse; sie enthielt besonders viele Ballaststoffe. Diese bestehen in der Nahrung zum größten Teil aus Polysacchariden, großen Molekülen, die Zellwände oder andere Strukturen in Pflanzen bilden. Chemisch gesehen sind Polysaccharide komplexe Kohlenhydrate (auch Vielfachzucker genannt). Auffällig in der Steinzeitkost ist auch der geringe Gehalt an Natriumchlorid, dem heutigen Speisesalz. Ein Mensch in der Steinzeit hat davon jeden Tag drei bis sechs Gramm zu sich genommen. Die Vergleichszahl in den Industriestaaten dagegen liegt bei zwölf Gramm Salz am Tag und mehr. Ungefähr ein Viertel des täglich verzehrten Salzes stammt heutzutage aus dem Brot, gefolgt von Fleisch- und Wurstwaren (ungefähr 18 Prozent) sowie Käse und Milchprodukten (ungefähr 10 Prozent).

Das macht Probleme: Der Stoffwechsel ist noch immer auf Salzmangel eingestellt. Aus evolutionärer Erfahrung versucht der Organismus alles, um den Blutdruck aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass der Körper dehydriert. Dazu hält er Salz und Wasser in der Niere zurück und verengt die Gefäße, wenn das Blutvolumen zurückgeht. Als die Menschen noch in der heißen, kargen Savanne lebten, war dieses Regulationssystem ein Segen, weil es Wasser und Salz im Körper zurückhielt. Auf Müßiggang sowie gesalzene Pommes, Salzstangen oder gepökeltes Fleisch ist es jedoch nicht eingerichtet – und so treibt das System den Blutdruck nach oben, wenn Menschen übergewichtig sind und sich zu wenig bewegen.

Auch heutige Menschen müssten eigentlich jeden Tag mindestens 10 bis 15 Kilometer gehen – aber die Einwohner von Industriestaaten kommen an vielen Tagen nicht mal ein paar Hundert Meter weit. Dabei sind Menschen in puncto Ausdauer hervorragende Athleten, von denen es im Tierreich nicht viele gibt. Geparden sind im Sprint viel schneller als wir, auf der Langstrecke jedoch geht diesen Raubkatzen schnell die Puste aus. Die meisten Säugetiere können nicht länger als eine Viertelstunde am Stück rennen oder traben; Schimpansen schneiden ganz besonders schlecht ab.

Anders wir Menschen: Verschiedene Details unseres Körpers machen es uns möglich, selbst in praller Sonne kilometerweit zu laufen. Im Vergleich zum Schimpansen haben wir viel mehr Schweißdrüsen (bis zu fünf Millionen) und kein Fell, sodass wir mehr als einen Liter Flüssigkeit in einer Stunde abgeben können. Wenn das Wasser auf der Haut verdunstet, dann wird der Körper gekühlt und damit auch das Blut. Im Vergleich zu den anderen Affen haben wir im Gesäß einen riesigen Muskel, den Musculus gluteus maximus, der uns das Laufen erst ermöglicht. Die lange Achillessehne, die kurzen Zehen sowie der Fußsohlenboden erleichtern das ausdauernde Rennen zusätzlich. Dank des Nackenbandes – dieses Band aus elastischem Bindegewebe stabilisiert den Kopf – können wir beim Laufen den Kopf hoch halten und nach vorn schauen. Bei Hominiden, die vor mehr als drei Millionen Jahren lebten, war diese anatomische Struktur noch nicht vorhanden.

Wofür dieses Langstreckentalent einst gut gewesen sein dürfte, das studierten Anthropologen bei noch ursprünglich lebenden Völkern. Die Buschleute im südlichen Afrika hetzten Antilopen so lange durch die heiße Savanne, bis diese vor Überhitzung kollabierten und mit dem Speer leicht zu erlegen waren. Indigene vom Volk der Tarahumara in den Bergen Mexikos scheuchten Hirsche die Hänge hinauf, bis diese erschöpft niedersanken und mit bloßen Händen erwürgt werden konnten.

Der Anthropologe David Carrier von der University of Utah in den Vereinigten Staaten wies darauf hin, dass diese und andere Formen der Hetzjagd vermutlich entscheidend waren für die Evolution des Menschen. Unsere Vorfahren gelangten nämlich auf einmal an große Fleischmengen. Die reichhaltige Versorgung mit tierischen Proteinen (Eiweißen) wiederum war eine Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt große Gehirne entwickeln konnten. Und nur dank seiner Geisteskraft konnte sich der Homo sapiens vor ungefähr 60 000 Jahren von Afrika aus auf der ganzen Welt verbreiten.

Deswegen ist der Bewegungsdrang fest in unserem Erbgut verankert. Wir brauchen körperliche Aktivität wie die Luft zum Atmen! Der Einsatz der Muskeln – beim Laufen ebenso wie beim Krafttraining – führt in den Zellen zu biochemischen Anpassungen. Und die tragen zu einer nachweislichen Verjüngung des Körpers bei.

So erhöht Aktivität die Zahl und die Größe der Mitochondrien in den Zellen der Muskeln, die an der jeweiligen Bewegung beteiligt sind. Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen, sie bauen Zucker und Fett ab und stellen daraus das Energiespeichermolekül ATP her. Bis zu 2000 Mitochondrien können sich in einer Muskelzelle befinden. Aktivität versetzt sie darüber hinaus in einen Zustand, in dem sie besonders gut funktionieren, das hat man nicht nur in der Muskulatur nachgewiesen, sondern auch im Gehirn. Die Mitochondrien sind keine statischen Strukturen, wie man früher dachte, sondern erstaunlich wandelbar. Bei körperlichem Training werden defekte Mitochondrien repariert und dazu angeregt, sich zu einem aktiven Netz zu verbinden. Dieses stellt nicht nur Energie her, sondern stoppt oder verzögert die Alterungsvorgänge in den Zellen. Damit ist die Muskulatur eine einzigartige Maschinerie. Ein Verbrennungsmotor verschleißt, wenn man ihn beansprucht. Die Muskulatur dagegen erneuert sich selbst, wenn man sie gebraucht.

Abb. 1: Ein aktiver Lebensstil macht die Mitochondrien in den Zellen fitter und leistungsfähiger. Dadurch verbessert sich die allgemeine Vitalität des Körpers. [>>]

Es gibt noch weitere verjüngende Effekte: In der aktivierten Muskelzelle arbeitet die Müllabfuhr besser. Autophagie heißt diese Fähigkeit zur Selbstreinigung, die andere Zellarten übrigens auch besitzen. Die Zelle zerlegt in ihrem Inneren die nicht mehr benötigten Proteine (Eiweiße) und recycelt deren Bestandteile. Dadurch wird sie vitaler. Die Autophagie hilft dem Organismus, gerade in Phasen körperlicher Anstrengung, sparsam zu haushalten.

Darüber hinaus wirkt körperliche Bewegung wie Balsam auf die Gefäße. Konkret wirkt sie heilsam auf jene dünne Schicht von Endothelzellen, die das Innere von Blutgefäßen auskleidet. Dadurch werden die Gefäße schön dehnbar und können das Blut gut transportieren.

Nicht zuletzt stellen aktivierte Muskelzellen eine Fülle von sogenannten Myokinen (vom griechischen mys für Muskel und kinema, Bewegung) her. Diese hormonähnlichen Botenstoffe lassen den aktivierten Muskel wachsen. Und sie werden ins Blut abgegeben, können dadurch fast alle Zellen und Organe des gesamten Körpers erreichen und wie eine gute Medizin auf sie wirken.

Aus Sicht von Evolutionsbiologen entwickelten sich all diese Effekte, damit Muskeln während der Beanspruchung, also im laufenden Betrieb, versorgt und erneuert werden können. Diese Verknüpfung besteht bis heute. Anti-Aging-Substanzen schlummern in den Muskeln, aber sie werden erst dann wirksam, wenn wir die Muskeln aktivieren.

Warum Zucker krank macht

Viele Leiden, die wir für unausweichliche Alterskrankheiten halten, sind in Wahrheit mit Bewegungsmangel verknüpft. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten gerade einmal 0,4 Prozent der Menschen in Deutschland Diabetes Typ 2, heute leiden 10 Prozent daran. Diese moderne Volkskrankheit ist ebenfalls ein eindeutiger Hinweis darauf, wie sehr wir noch auf Steinzeit gepolt sind.

Der Körper hält in der Leber und in den Muskeln einen Vorrat an Zucker (Glykogen) vor, der das Gehirn bei Nahrungsmangel und die Muskeln bei Bewegung mit Energie versorgen kann. Bei Inaktivität dagegen soll diese Zuckerreserve nicht angetastet werden; der Speicher bleibt gefüllt, die inaktiven Muskeln nehmen keinen Zucker auf.

In der Wohlstandsgesellschaft wird dieser Mechanismus zum Bumerang. Viele Bürger sind träge und nehmen gewaltige Mengen Zucker zu sich. Der Zuckerspiegel im Blut steigt und steigt, die inaktiven Muskeln können dem Blut keinen Zucker in nennenswertem Umfang entziehen. Die Bauchspeicheldrüse produziert größere Mengen des Hormons Insulin, damit etwa Leberzellen Glukose aus dem Blut aufnehmen. Nur: Die Zellen können resistent gegen Insulin werden. Die Betroffenen sind überzuckert und trinken große Mengen. Und sie scheiden ungewöhnlich große Mengen Harn aus, der Zucker enthält. Sie haben »honigsüßen Durchfluss« – Diabetes mellitus Typ 2.

Früher nannte man das Alterszucker, doch inzwischen haben immer mehr Jüngere unter Diabetes mellitus Typ 2 zu leiden. Die Erkrankung belastet auch die Nieren, diese können nicht mehr ausreichend harnpflichtige Substanzen ausscheiden. Einige Diabetiker sind deshalb auf die maschinelle Blutreinigung (Dialyse) und ein Spenderorgan angewiesen. Weil der Zucker die kleinen Gefäße angreift, kommt es zu schlimmen Schäden an verschiedenen Organen: Jedes Jahr erblinden 2000 Menschen in Deutschland, etwa 40 000 Einwohnern müssen Zehen, Füße oder Beine amputiert werden.

Körperliche Bewegung kann einem Diabetes mellitus Typ 2 entgegenwirken und sogar helfen, eine bereits bestehende Zuckerkrankheit wieder loszuwerden. Aktive Muskeln nehmen Zucker aus dem Blut auf; schon nach einem Spaziergang geht der Blutzucker nachweislich nach unten. Es bleibt zu hoffen, dass sich das noch viel mehr herumspricht. In einem Aufsatz im Fachblatt Diabetes/Metabolism Research and Reviews drückten Experten es so aus: »Die Anstrengungen, einen pharmakologischen oder molekularen Sieg über die Diabetes-Epidemie zu erringen, beruhen auf einem Denkfehler. Die Evolution hat uns doch schon mit der besten Medizin versorgt.«

Untersuchungen an indigenen Völkern, die noch wie Jäger und Sammler leben, ergaben: Sie hatten so gut wie keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen; auch Bluthochdruck kam praktisch nicht vor, seelische Probleme waren rar. Das galt nicht nur für die jungen Indigenen, sondern auch für diejenigen, die älter als 60 Jahre waren.

Moderne Heilkunde, veraltetes Konzept

»Nichts in der Medizin ergibt einen Sinn, es sei denn, man betrachtet es im Lichte der Evolution«, schreiben Randolph Nesse und George Williams in ihrem Manifest. Und daraus können wir folgern: Die Antwort auf Krankheiten liegt weniger in der Suche nach pharmakologischen oder chirurgischen Therapien, sondern man sollte am Lebensstil ansetzen. Einer, der das früh erkannt hat, ist der Arzt Detlev Ganten, der lange Zeit der Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité war und sich auch nach seiner Pensionierung in vielen Ämtern engagiert. Als wir vor einiger Zeit darüber ausführlich sprachen, gab er sich davon überzeugt, dass die Evolutionsmedizin eine neue Grundlage schaffen werde, damit Erkrankungen erst gar nicht ausbrechen. »Wir können lernen, wie wir den Körper und seine biologischen Erfordernisse in Einklang bringen.«

Leider hat sich Gantens Prophezeiung bisher nicht erfüllt. Gewiss, die Zahl der Publikationen zu Aspekten der Evolutionsmedizin ist in der maßgeblichen Datenbank, PubMed, seit 1990 exponentiell gewachsen. Aber ihre Erkenntnisse finden im heutigen Medizinbetrieb noch viel zu wenig Beachtung. Die Einwohner Deutschlands erkranken nach wie vor massenhaft an Diabetes mellitus Typ 2, Herzinfarkt oder Osteoporose. Viele Akteure im Gesundheitssystem doktern meist nur an Symptomen herum, anstatt Krankheiten vorzubeugen. Dadurch wird das Missverhältnis zwischen dem Menschen und der modernen Umwelt immer größer. Diese fehlende Passung ist einer der wesentlichen Gründe für die seit Jahrzehnten explodierenden Ausgaben des Gesundheitssystems: Mehr als 440 Milliarden Euro haben die Deutschen dafür allein im Jahr 2020 ausgegeben – das war, wieder einmal, ein neuer Rekord.

Dabei müssen gerade die häufigsten und teuersten Leiden gar nicht sein. Alles in allem wären vermutlich 70 Prozent der gesamten Krankheitslast zu vermeiden, wenn die Leute sich stärker auf die evolutionären Bedürfnisse von Leib und Seele besännen. Es besteht kein Anlass, die Steinzeit zu romantisieren. Die Kälte, die Hungersnöte, die seinerzeit erschreckend hohe Sterblichkeitsrate wünscht sich niemand zurück. Die Lebenserwartung ist seit der Industrialisierung in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften deutlich gestiegen und lag zuletzt für Männer bei mehr als 78 Jahren und für Frauen bei mehr als 83 Jahren. Die Frage ist aber: In welchem Zustand werden wir die hinzugewonnenen Jahre verbringen? Die Segnungen der Zivilisation will niemand mehr missen. Gingen wir jeden Tag ein Stündchen flott spazieren, hätten wir noch viel mehr von diesen Jahren.

Warum wir Bewegung scheuen

Wer rastet, der rostet. Diese Redensart kennt jeder – aber nicht alle handeln danach. Mindestens 150 Minuten körperliche Bewegung pro Woche werden für Erwachsene empfohlen, damit keine gesundheitlichen Schäden entstehen. Nach einer Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erreichen 27,5 Prozent der Weltbevölkerung dieses Pensum nicht. In Deutschland ist das Missverhältnis noch auffälliger: 40 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen über 18 Jahren müssten sich mehr bewegen. Und bei den 11- bis 17-Jährigen ist es noch krasser: 80 Prozent der Jungen und 88 Prozent der Mädchen verschaffen sich zu wenig Bewegung.

Warum aber verhalten wir uns so, wenn die Inaktivität doch so schlecht für uns ist?

Auch das ist ein Erbe der Evolution. Fred Feuerstein hat zwar gerne gefaulenzt, dennoch war er jeden Tag viele Stunden unterwegs. Jene Jäger und Sammler, die heute noch wie in der Steinzeit leben, ruhen sich ebenfalls aus, wann immer es möglich ist. Sie bewegen sich nur so viel, wie zum Überleben nötig ist. Traditionell lebende Buschleute in der Kalahari etwa sind ungefähr vier bis sechs Stunden am Tag körperlich aktiv. Die andere Zeit machen sie Pause.

Daniel Lieberman