Die Herren der Unterwelt 14: Schwarze Sehnsucht - Gena Showalter - E-Book
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Die Herren der Unterwelt 14: Schwarze Sehnsucht E-Book

Gena Showalter

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Beschreibung

Puck, der Unbesiegte, trägt den Dämon der Gleichgültigkeit in sich. Bei jedem tiefen Gefühl muss er unsägliche Schmerzen ertragen. Um dafür Vergeltung zu üben und um der neue Herrscher der Unterwelt zu werden, will er die schöne Gillian Sanders heiraten. Nur sie kann ihm helfen, so sagt es die Prophezeiung. Kurzerhand entführt er Gillian und schenkt ihr die Unsterblichkeit. Und bald fesseln heiß knisternde Erotik und ein unbezwingbares Verlangen sie aneinander. Nur leider irrt Puck. Um König zu werden, müsste er Gillian wieder freigeben.

»Eine der Besten, wenn es um paranormale Liebesromane geht. Gena Showalter erzählt eine absolut fesselnde Geschichte!«
Kresley Cole, SPIEGEL-Bestsellerautorin

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Seitenzahl: 728

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Zum Buch

Gillian lebt seit Langem bei den Herren der Unterwelt. Doch plötzlich wird sie krank, kein Arzt kann ihr helfen. Nur eines kann sie vor dem sicheren Tod bewahren: Sie muss mit Puck dem Unbesiegten den Bund schließen und unsterblich werden. Als sie die Augen wieder aufschlägt, beginnt für Gillian ein neues Leben in der Unterwelt – mit dem sexy und starken Puck an ihrer Seite. Dann erfährt sie Unglaubliches: Puck verfolgt ein teuflisches Ziel und benutzt sie nur. »Eine der Besten, wenn es um paranormale Liebesromane geht. Gena Showalter erzählt eine absolut fesselnde Geschichte!«Kresley Cole, SPIEGEL-Bestsellerautorin

Zur Autorin

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Gena Showalter gilt als Star am romantischen Bücherhimmel des Übersinnlichen. Ihre Romane erobern nach Erscheinen die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen im Sturm. Mit der beliebten Serie »Herren der Unterwelt« feierte sie ihren internationalen Durchbruch. Mit ihrer Familie und zahlreichen Hunden lebt Showalter in Oklahoma City.

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © 2018 by Gena Showalter Originaltitel: »The Darkest Warrior« erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. / SARL

Covergestaltung: büropecher, Köln Coverabbildung: Harlequin Images S.A., Shutterstock / Gessel Edgar Lektorat: Siegrid Hoppe E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783955768881

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Widmung

Für jeden, der je von einem anderen

Menschen misshandelt worden ist.

Für jeden, der je die Worte

»Du bist nicht gut genug« oder

»Du bist wertlos« hören musste.

Für jeden, dem je gesagt wurde:

»Deine Träume sind überzogen« oder

»Das schaffst du nie«.

Dich gibt es nur ein einziges Mal,

und die Welt braucht dich.

Ich stehe hinter dir. Ich leide mit dir.

Du bist unbezahlbar. Du schaffst das.

Prolog

Es war einmal im Wüstenreich Amaranthia, da wurden zwei unsterbliche Prinzen geboren. Púkinn (»Puck«) Neale Brion Connacht IV. und Taliesin (»Sin«) Anwell Kunsgnos Connacht. Brüder im Blute. Freunde, weil sie es so wollten. Legendäre Gestaltwandler, fähig, sich jederzeit in jedermann zu verwandeln.

Puck, der Ältere, wuchs zu einem unvergleichlichen Krieger heran, seine Spezialität war rohe Gewalt. Ganz egal, wie stark oder erfahren sein Gegner war, Puck blieb unbesiegt, und mit seiner Kraft auf dem Schlachtfeld konnte es nur noch seine Kunstfertigkeit im Bett aufnehmen.

Sin, der Jüngere, zog Bücher und Romantik den Schlachten und Kriegen vor, doch seine militärischen Fähigkeiten waren nicht weniger berühmt als die seines Bruders. Bei der Planung und in strategischem Denken übertraf er jeden anderen.

Die Prinzen liebten einander und gelobten, den jeweils anderen in allen Dingen an erste Stelle zu setzen. Doch schon vor langer Zeit hatten die Orakel von Amaranthia prophezeit, dass einer der Brüder eine liebende Königin heiraten und den anderen erschlagen würde, um anschließend endlich die einander bekriegenden Clans des Königreichs zu einen.

Die Orakel irrten nie.

Am Ende, ganz egal, was die Prinzen erhofften und planten, würde die Prophezeiung sich erfüllen …

Manche Märchen haben kein Happy End.

1. Kapitel

Töte einen Mann, eigne dir seine Magie an. Eine Erzählung, so alt wie die Zeit selbst.

Brüllend schwang Puck der Unbesiegte zwei Kurzschwerter gegen seinen jüngsten Gegner, den König des Walsh-Clans. Eine blutüberströmte Klinge durchschlug den metallenen Brustpanzer des Mannes und zwang ihn in die Knie, die andere durchtrennte ihm die Kehle von einer Seite bis zur anderen.

Kein Gegner für einen Connacht-Prinzen. Wer ist das schon?

Geschockt und schmerzerfüllt keuchte der König auf; als ein tiefroter Blutstrom sich aus seinen Mundwinkeln ergoss, gurgelte er. »W…warum?«

Durch reine Gedankenkraft nahm Puck wieder seine normale Gestalt an und ließ den König das wahre Antlitz seines Bezwingers erblicken.

»Mein Bruder lässt seine Grüße ausrichten.« Er riss die Schwerter herum. »Mögest du in Fetzen ruhen.«

Der König riss den Mund auf, röchelte ein letztes Mal und verstummte. Schlaff plumpste seine Leiche zu Boden und warf den Sand auf.

Im Krieg galt nur eine Regel: Hol dir den Sieg, koste es, was es wolle.

In schierer Panik traten die Walsh-Soldaten den Rückzug an.

Vom Leichnam des Königs stieg dunkler, schimmernder Nebel auf und driftete zu Puck. Mächtige Magie haftete den Runen an, die in seine Hände eingebrannt waren – verschnörkelte goldene Symbole, die sich von seinen Fingerspitzen bis zu den Handgelenken zogen. Pure Macht. Berauschend. Es gab nichts Besseres.

In seinem Kopf begann ein Summen, das Blut in seinen Adern kribbelte und brodelte. Wegen der Magie, aye, aber auch, weil ihn Triumph erfüllte. Innerhalb eines Wimpernschlags war der jüngste Krieg in einer Reihe von Kriegen beendet, und Connacht hatte gewonnen.

Puck behielt seine Position im Zentrum des blutgetränkten Schlachtfelds bei. Sanddünen erstreckten sich, so weit das Auge reichte, nur hier und da durchbrochen von einer Oase mit hoch aufragenden Bäumen und kristallklaren Seen. Die Zwillingssonnen des Reiches waren schon lange hinter dem Horizont verschwunden. Nacht herrschte und tauchte den Himmel in die Farbe von Maulbeeren, ein endloses Meer von tiefdunklem Rotviolett. Heute glitzerten keine Sterne am Firmament.

Er schloss die Lider und ließ den Sieg auf sich wirken. Das Kräfteverhältnis hatte denkbar ungünstig für sie gestanden, die gegnerische Armee war mehr als doppelt so stark gewesen wie seine eigene. Deshalb hatte sein Bruder Sin letzte Nacht vorgeschlagen, Puck solle sich ins gegnerische Lager schleichen, einen Walsh-Kommandanten töten, die Leiche zu Asche verbrennen – und dessen Platz einnehmen. Keine leichte Aufgabe, aber es war ihm gelungen.

In seiner neuen Gestalt hatte Puck seinen Soldaten befohlen, die Connachts zu »überfallen«, und damit letztlich die gesamte Armee in eine Falle geführt. Von da an war es ein Kinderspiel gewesen, zum König zu gelangen.

Sin machte mit einem einzigen Blick in jeder Situation – in jedem Mann – sämtliche verborgenen Schwächen aus.

Manchmal fragte Puck sich, welche Schwächen sein Bruder an ihm wahrnahm. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Sin war einzig und allein an seinem Schutz gelegen und tat jederzeit alles in seiner Macht Stehende, um ihm in jeder Schlacht den Sieg zu sichern.

Gemeinsam würden sie die Prophezeiung Lügen strafen, die über sie ausgesprochen worden war, als sie noch klein gewesen waren. Ein Bruder sollte den anderen töten? Niemals! Er und Sin würden gemeinsam über die fünf Clans herrschen, und nichts würde je einen Keil zwischen sie treiben.

Eine so starke Verbindung wie ihre war unzertrennbar.

Ein kalter Windstoß trieb ihm Sand ins Gesicht, und Puck öffnete die Augen. Trotz der eisigen Außentemperaturen verströmte er Hitze, da noch immer Adrenalin durch seine Adern rauschte. Auf seinem nackten Oberkörper mischte sich Schweiß mit dem Blut der Besiegten und rann über jeden einzelnen Muskel.

Ein Stück entfernt hörte er jemanden rufen: »Der Sieg ist unser!«

Weitere Rufe folgten.

»Die Magie der Walshes gehört uns!«

»Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen!«

Es erhob sich ein Jubelchor, ein vertrauter Klang. Mit diesen Männern – und für sie – hatte er trainiert, gelitten und geblutet. Für Puck war Loyalität weit wertvoller als Gold, Diamanten und selbst als Magie.

»Zurück ins Lager«, rief er. »Jetzt wird gefeiert.«

Wie ein Mann stürmten seine Soldaten in Richtung ihres Lagers dicht hinter dem nächsten Dünenkamm – eine Sub-Dimension innerhalb des Reichs, verborgen von Sins Magie.

Puck schob seine Schwerter in die Scheiden und ergriff die Waffe des Königs, die perfekte Trophäe. Mit stolz erhobenem Haupt folgte er seinen Männern vom Schlachtfeld. Seinen Weg säumten weitere Leichen und massenhaft abgetrennte Körperteile, in der Luft hing der kupfrige Geschmack von Blut und der Gestank entleerter Gedärme.

Ein solches Gemetzel bereitete ihm keine Freude. Es machte ihm allerdings auch nie etwas aus.

Vor Gewalt würde er niemals zurückschrecken. Wer sein Volk bedrohte, musste leiden. Der Tag, an dem er einem Feind Gnade schenkte, war der Tag, an dem er seinen Clan zu Sklaverei oder Tod verdammte.

Puck hielt sich im Schatten und schlüpfte durch ein unsichtbares Portal, das nur denjenigen Einlass gewährte, die mit Connacht-Runen gezeichnet waren. Für jeden anderen blieb es verschlossen; es kam oft vor, dass Männer, Frauen und Kinder vorüberspazierten, ohne auch nur zu ahnen, dass eine Armeslänge entfernt eine Sub-Dimension existierte.

Plötzlich war er umgeben von Zelten, lodernden Lagerfeuern, Soldaten und ihren Frauen. Der Gestank des Todes löste sich auf und wich den Aromen von bratendem Fleisch, harter Arbeit und süßem Parfum.

Eine Magd entdeckte Puck und kam zu ihm. In ihren Augen glomm unverkennbares Interesse.

»Hallo, Eure Hoheit. Sollte Euch an diesem schönen Abend an einer Bettgefährtin gelegen …«

»An dieser Stelle bremse ich dich mal. Ich hole mir niemals einen Nachschlag.« Er vergaß auch nie ein Gesicht und wusste noch sehr gut, dass er bereits letztes Jahr mit dieser Frau geschlafen hatte.

Bevor er mit einer Frau ins Bett ging, stellte er sicher, dass sie seine Einmal-und-nie-wieder-Philosophie begriffen hatte.

Auf ihren Zügen machte sich Enttäuschung breit. »Aber …«

Da er dazu nichts weiter zu sagen hatte, ließ er sie stehen und machte sich auf den Weg an den Rand des Lagers, wo Sin und er ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Seine Reaktion mochte kaltherzig sein, doch es ging nicht anders.

Puck war nicht wie andere Blaublüter. Während die meisten Prinzen sich ein »Gestüt« hielten und ihre »Stuten« auf Reisen mitführten, selbst in Kriegszeiten, würde er mit keiner Frau zweimal das Bett teilen. Er konnte nicht das Risiko eingehen, zu irgendeinem weiblichen Wesen romantische Gefühle zu entwickeln. Romantische Gefühle würden die Hoffnung auf eine Heirat wecken. Keine Heirat bedeutete, dass es keine liebende Königin geben würde. Keine liebende Königin bedeutete, dass die Prophezeiung sich nicht erfüllen konnte.

Auch wenn er, wenn er ehrlich war, völlig vernarrt war in die »weibliche Zartheit«, die ihm beinahe sein Leben lang vorenthalten worden war. Er liebte die Küsse, die Berührungen und die zunehmende Erregung. Schweißbedeckte Körper, die sich aneinander rieben. Seufzen und Stöhnen und gehauchte Laute der Lust in seinen Ohren. Das herrliche Gefühl, sich schließlich tief in seiner Partnerin zu versenken.

Manchmal machten ein paar Stunden mit einer Unbekannten im Bett seinen Appetit nur noch größer …

Tief in seinem Innern hütete er den geheimen, beschämenden Wunsch, eine Frau ganz für sich allein zu haben, jedes noch so kleine Detail ihrer Vergangenheit kennenzulernen, all ihre Hoffnungen und Träume. Er träumte davon, sie – und nur sie allein – über Wochen, Monate, Jahre zu verwöhnen, sich in jede Faser ihres Seins einzubrennen.

Er verzehrte sich nach einer Frau, die ganz allein die Seine wäre.

Vielleicht könnte er eines Tages …

Nein. Niemals. Sin steht über jeder Frau, immer. Sin steht über allem.

Am heutigen Abend würden die Brüder die Erfolge und Misserfolge der Schlacht miteinander durchgehen. Sie würden trinken und lachen und ihren nächsten Schachzug planen, und in Pucks Welt hätte alles seine Richtigkeit.

Um sein Zelt wand sich schützend ein dorniges Rankengestrüpp, das niemand ohne seine Erlaubnis durchdringen konnte – weder in die eine noch in die andere Richtung. Er sandte einen tastenden Faden von Magie voraus, zwang die Ranken, sich vor ihm zu teilen, und trat ins Zelt.

Als er seinen Bruder erblickte, empfand er tiefe Zuneigung wie einen Schlag mitten vor die Brust. Zwar hatten sie die gleiche stark gebräunte Haut, die gleichen dunklen Augen und das gleiche noch dunklere Haar, die gleiche Adlernase und die gleichen grausam schmalen Lippen, doch Sins Gesicht hatte weichere Züge. Puck war schon oft gesagt worden, sein Gesicht sei »wie aus Stein gemeißelt«.

Sin tigerte auf und ab und schien von seiner Umgebung nichts mitzubekommen.

»Was beunruhigt dich?« Unwillkürlich schloss Puck die Finger fester um das Heft des Schwerts.

Früher war sein Bruder nie auf und ab getigert … Das tat er erst seit Kurzem. Vor einem Monat hatte er an Friedensverhandlungen mit einem benachbarten Reich teilgenommen und war … verändert zurückgekehrt. Statt ruhig war er jetzt paranoid, statt Gewissheit verströmte er Unsicherheit.

Sin hatte berichtet, dass er am letzten Morgen erwacht war und sein gesamtes Regiment niedergemetzelt vorgefunden hatte. Als einziger Überlebender hatte er mitten im Blutbad gelegen und keinerlei Erinnerung gehabt, was vorgefallen war. Seitdem konnte er nicht mehr schlafen, schreckte bei plötzlichen Bewegungen und Geräuschen zusammen und starrte in jeden Schatten, als würde sich jemand darin verbergen. Seinem Gestüt hatte er seither keinen einzigen Besuch abgestattet, und er weigerte sich, beim Training das Hemd abzulegen.

Puck hegte den Verdacht, dass neue Narben die Brust seines Bruders zeichneten. Glaubte er, man würde ihn für schwach halten, wenn jemand einen Blick darauf erhaschte?

Wer auch nur ein Wort gegen Sin sagte, würde sterben.

Doch wann immer Puck seine Besorgnis zum Ausdruck brachte, wechselte Sin das Thema.

Jetzt blieb er vor dem prasselnden Feuer stehen, Sins Blick traf seinen und huschte davon.

Nach und nach entspannte sein Bruder sich und lächelte sogar das vertraute Lächeln, das zu sehen nur Puck das Privileg hatte.

»Du hast dir ja mächtig Zeit gelassen mit deiner Rückkehr ins Lager. Macht das Alter dich etwa lahm?«

Puck schnaubte amüsiert. »Du bist auch bloß zwei Jahre jünger. Vielleicht sollten wir in der nächsten Schlacht mal die Rollen tauschen. Ich plane, du kämpfst.«

»Du vergisst, dass ich dich besser kenne als du dich selbst. Die Sorge um mein Wohlergehen würde dich geradewegs an meine Seite treiben.«

Damit hatte Sin durchaus nicht unrecht.

Sein Bruder wusste sich im Kampf zu behaupten, gleich mit welchen Waffen. Keiner außer Puck konnte es mit ihm aufnehmen, doch sollte ihm je etwas zustoßen …

Ich würde dieses Reich in Schutt und Asche legen.

Puck stapfte zum Wasserbecken, das auf seiner Waffentruhe bereitstand. Das Walsh-Schwert lehnte er an die Seite der Truhe, dann wusch er sich den Schmutz des Tages ab.

»Als wir noch klein waren, hast du dich um mich gesorgt«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Was ist seitdem passiert?«

»Du hast gelernt, wie man mit einem Schwert umgeht.« Sin rieb sich die Schläfen, als verabscheue er die Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten.

Er brauchte eine Ablenkung. »Sollen wir mit der Nachbesprechung beginnen?«

»Noch nicht. Ich habe Neuigkeiten.«

Mehrere Sekunden verstrichen, jede einzelne knisternd vor Spannung.

Puck versteifte sich. »Na los, raus damit.«

Mit düsterem Blick erklärte Sin: »Vater hat dein Verlöbnis mit Prinzessin Alannah von Daingean verkündet.«

Pucks erste Reaktion: Ich werde eine Frau haben. Sie wird ganz allein mein sein!

Dann verzog er unwirsch das Gesicht. Vorsichtig jetzt. Von jüngster Kindheit an hatte er die Welt um ihn herum durch einen alles überlagernden Filter betrachtet: MEIN Bruder, MEIN Clan, MEIN Reich.

Alannah war ihm nur ein einziges Mal begegnet, und auch wenn ihr Aussehen ihm durchaus zusagte, würde er sich nicht dazu herablassen, sie in sein Bett zu holen, geschweige denn, sie zu heiraten. Kein Jota durfte er der Versuchung nachgeben, nicht im kleinsten Ansatz.

Allerdings verstand er Sins Beunruhigung. Nicht durch Geburtsrecht, sondern durch den König selbst wurde dessen Nachfolger bestimmt. Es sei denn, verstand sich, der König träfe keine Wahl – in diesem Fall würde der stärkste Krieger sich die Krone holen. Doch mit dieser Ankündigung hatte König Púkinn III. seine Wahl getroffen.

»Da war Vater wohl etwas voreilig«, sagte Puck nun. »Ich heirate sicher niemanden, darauf hast du mein Wort.«

»Es ist ein politischer Schachzug, um die Allianz zwischen unseren Clans zu festigen, aber … die Prophezeiung …« Sins Stimme wurde merklich rauer. »Einer wird der König mit einer liebenden Königin an seiner Seite und erschlägt den anderen. Die Orakel irren nie.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal.« Puck überbrückte die Distanz zu seinem Bruder und legte ihm die Hände an die Wangen. »Vertrau mir. Es wird nicht zu einer Hochzeit kommen.« Keiner von ihnen würde heiraten, und somit würde die Prophezeiung unerfüllt bleiben. »Ich entscheide mich für dich, Bruder. Ich werde mich immer für dich entscheiden.«

Sin blieb starr wie Stahl. »Wenn du sie verschmähst, beleidigst du die Daingeans. Dann bricht der nächste Krieg aus.«

»Es bricht doch ständig irgendwo der nächste Krieg aus.« Jeder Clan nahm die Magie der von ihm gemeuchelten Männer in sich auf, und alle rangen darum, mehr als die anderen zu besitzen.

Magie war Stärke – und Stärke war Magie.

Sin machte sich von ihm los und rieb mit zwei Fingern über die dunklen Stoppeln an seinem Kinn. »Wenn du Alannah heiratest, vereinst du die Clans, wie du es dir immer erträumt hast. Connacht, Daingean, Fiáin, Eadrom und Walsh.«

Wie konnte er sich seinem Bruder begreiflich machen? Ja, er träumte davon, die Clans zu einen. Endlich würde das Gemetzel ein Ende haben. Leben würden gerettet, es würde Frieden herrschen. Amaranthia würde wachsen und gedeihen, wenn das Land nicht länger wegen der ständigen Schlachten zertrampelt und besudelt würde.

Doch Einigkeit ohne Sin bedeutete weniger als nichts.

»Nichts hat mehr Bedeutung als du«, stieß Puck mit Nachdruck hervor. Vor einigen Jahrhunderten hatte es zwölf Clans gegeben. Jetzt, aufgrund der Gier nach Magie von Königen und Armeen, waren nur noch fünf verblieben. Wenn nicht bald etwas geschah, würde die gesamte Bevölkerung des Reichs aussterben. »Nicht für mich.«

»Du hörst mir nicht zu«, beharrte Sin. »Daingean ist inzwischen mit Fiáin verbündet. Durch deine Heirat mit Alannah wird Clan Connacht eine Allianz mit Clan Daingean eingehen, wodurch auch Fiáin gezwungen sein wird, sich auf unsere Seite zu schlagen. Wenn das geschieht, wird Eadrom, derzeit ebenfalls mit Fiáin alliiert, das Bündnis mit den Walshes zerschlagen müssen, um den Frieden mit uns zu wahren. Und das werden sie. Es gibt keine Familienbande zu den Walshes. Und jetzt, da der aktuelle – beziehungsweise ehemalige – König der Walshes tot ist, kann sein Nachfolger mit uns reinen Tisch machen und einen Neuanfang wagen.«

»Ist mir egal«, antwortete Puck kopfschüttelnd. »Der Preis ist zu hoch.«

Schweigend musterte Sin ihn, wie er oft seine geliebten Karten musterte. Traurigkeit verdunkelte seine Augen, bevor sie Entschlossenheit wich. Er nickte, als würde er eine monumentale Entscheidung treffen, und deutete zu einem Tisch in der Ecke. Darauf stand etwas, das wie ein kleines Schmuckkästchen aussah.

»Das ist heute Morgen eingetroffen«, erklärte Sin. »Kurz vor der Schlacht.«

»Ein Geschenk?«

»Eine Waffe.«

Eine Waffe? »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum.« Puck würde alles tun – jeden umbringen –, um die Probleme seines Bruders zu lösen. Das war nur fair, schließlich löste Sin auch immer seine.

Er durchquerte das Zelt und blieb vor der kleinen Schatulle stehen. Perlmutt-Intarsien in einem unbekannten Metall. In den Ecken glitzerten Trauben von Diamanten. Als er die Hand danach ausstreckte, strich eine pulsierende Bösartigkeit über seine Haut. Keine Magie, sondern das pure, unverfälschte Böse. Das Blut in seinen Adern wurde eiskalt.

»Wer hat sie geschickt?« Und was für eine Waffe sollte das sein?

»Eine Frau namens Keeleycael, die den Titel ›die Rote Königin‹ trägt. Sie lässt ausrichten, sie hofft, wir genießen unseren Niedergang.«

Keeleycael. Nie von ihr gehört. »Herrscht sie in einem Nachbarreich?« Soweit Puck wusste, hatte noch nie eine Frau die Führung von … irgendwas übernommen. Jedenfalls nicht offen. Frauen unterstützten ihre Könige.

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Sin.

Die Antwort spielte wohl auch kaum eine Rolle. Niemand drohte seinem Bruder und überlebte das. Niedergang? Nicht, solange Puck noch lebte.

Sin hatte ihm nicht nur öfter das Leben gerettet, als er zählen konnte. Er hatte auch seine Seele gerettet.

Kurz vor Pucks siebtem Geburtstag war ihr Cousin in der Schlacht gefallen. Der König hatte einen neuen Kommandanten aus der königlichen Linie gebraucht und sich für Puck entschieden. Was bedeutete, dass der kleine Prinz so schnell wie möglich den Armen seiner Mutter entrissen worden war, damit er nicht länger unter dem Einfluss »weiblicher Verzärtelung« stand.

Ruiniere einen Jungen, und du ruinierst den Mann, der er einmal wird.

Das hatte sein Vater seiner Mutter entgegengeschleudert an dem Tag, als Puck ihr weggenommen worden war.

»Ich gehe mit«, hatte der fünfjährige Sin verkündet. »Wo du hingehst, will ich auch sein.«

Die Einzelheiten dieses schicksalhaften Tages hatten sich auf ewig in Pucks Gedächtnis gebrannt. Das Wehklagen ihrer Mutter, das durchs ganze Schloss zu hören gewesen war. Meine Kleinen. Bitte nimm mir nicht meine Kleinen weg. Die Tränen, die Sin übers Gesicht geströmt waren, als er Pucks Hand ergriffen und bereitwillig das einzige Zuhause zurückgelassen hatte, das er je gekannt hatte. Wie sehr ihn die unerschütterliche Entschlossenheit seines kleinen Bruders, bei ihm zu bleiben, getröstet hatte.

Über Jahre wurden sie beide von den härtesten Soldaten des Clans ausgebildet und jegliche sanfteren Emotionen aus ihnen herausgeprügelt, herausgepeitscht oder weggeschnitten.

Im Alter von zwölf und zehn hatte ihr Vater ihnen jeweils ein Schwert in die Hand gedrückt und sie inmitten der gefährlichsten Dünen ausgesetzt. Seine Abschiedsworte: Kehrt mit den Herzen unserer Feinde zurück – oder gar nicht.

Könnte Puck in der Zeit zurückreisen, hätte er verlangt, dass Sin bei ihrer Mutter bliebe, geliebt und behütet in ihren zärtlichen Armen. Jetzt waren seine Schuldgefühle ihm ein ständiger Begleiter. Bis er das Kämpfen erlernt und gemeistert hatte, war er nicht in der Lage gewesen, Sin vor tagtäglichen Misshandlungen zu beschützen. Schlimmer noch: Ihre Mutter war gestorben, bevor sie sie hatten besuchen können.

Kurz nach dem Weggang ihrer Söhne hatte sie eine Fehlgeburt gehabt und sich in ihrem Kummer selbst zu Asche verbrannt. Ein Krieger hätte die Flammen vielleicht überleben können, aber nicht eine Frau ohne Runen und Magie.

Puck rieb sich den Nacken und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. »Hast du die Schatulle geöffnet?«

»Nein. Ich habe auf dich gewartet«, antwortete Sin, und in seiner Stimme war ein leises Zittern der Furcht zu hören.

Furcht? Unmöglich. Sin fürchtete gar nichts, solange Puck ihm den Rücken freihielt.

»Ich hätte das verfluchte Ding nicht in dein Zelt bringen sollen.« Hastig trat sein Bruder an den Tisch. »Ich bringe es lieber …«

»Nein.« Mit ausgestrecktem Arm hielt Puck den Jüngeren zurück, bevor er die Schatulle berühren konnte. Ja, Sin hatte sie bereits in den Händen gehalten und keinerlei Konsequenzen davongetragen. Trotzdem. Es gab keinen Grund, weitere Risiken einzugehen. »Ich will wissen, was da drin ist.« Er wollte erfahren, was diese unbekannte Königin gegen seine Familie einzusetzen gedachte.

»Ich hole einen der Kommandanten. Lass den …«

»Nein. Das mache ich selbst.« Ein guter König stellte sein Leben nicht über das seiner Untertanen. »Lass mich allein. Ich gebe dir Bescheid, was ich in der Schatulle finde.«

»Wenn du bleibst, bleibe ich auch.«

Ein weiteres Scheit auf das Feuer seiner Schuldgefühle. Er knackte mit dem Kiefergelenk. »Ich will dich nicht in Gefahr sehen, Bruder.« Weder jetzt noch sonst irgendwann.

Einen einzigen Herzschlag lang schimmerten Tränen in Sins Augen. Rasch blinzelte er sie fort.

»Und trotzdem«, erwiderte er, »gedenke ich zu bleiben.«

Warum die Tränen? Plötzlich konnte Puck den Gedanken nicht ertragen, seinen Bruder irgendwo anders als an seiner Seite zu wissen. »Also gut. Tritt zurück.«

Während Sin an die Rückwand des Zelts zurückwich, zog Puck ein Kurzschwert und wappnete sich gegen das Schlimmste. Eine Explosion? Eine magische Falle? Dann tat er es – er klappte den Deckel auf.

Anfangs geschah gar nichts. Doch von einem Herzschlag zum nächsten erhob sich schwarzer Rauch aus dem Kästchen und erfüllte die Luft mit dickem Schwefelgestank, der ihm in der Nase brannte. Blinzelnd öffneten sich rot glühende Augen, richteten sich auf ihn und verengten sich.

Puck fuhr zurück und stieß zugleich mit dem Schwert zu. Wirkungslos glitt das Metall durch die Finsternis. Was, zum …

Im nächsten Augenblick erschien eine gehörnte Kreatur – der Besitzer dieser Augen. Schrill kreischend sauste sie herab. Ihr Ziel: Puck. Hastig versuchte er zur Seite zu springen. Zu spät. Die Kreatur …

Sengender Schmerz fuhr ihm in den Leib und drängte ein Brüllen aus seiner Kehle. Die Kreatur war in seinen Körper gefahren und zerfetzte ihm die Innereien. Beißend und klauenschlagend wütete das Ungeheuer, doch äußerlich waren keinerlei Verletzungen an Puck zu entdecken.

Fieberhaft ließ er das Schwert fallen und zerkratzte sich mit bloßen Händen die Brust, schlitzte Haut und Muskeln auf – ohne Erfolg. Die Kreatur blieb in ihm, eine finstere Präsenz, heulend, eine giftige Mischung aus Hass und Genuss.

Das Blut in Pucks Adern hätte genauso gut Brennstoff sein können, jede Zelle seines Körpers schien in Flammen aufzugehen und ihn von innen heraus zu schmelzen, während er … sich verwandelte? Aus seiner Schädeldecke drängten zwei Flammenringe, als wären Kreise in den Knochen gebrannt worden. Er hob die Hände und ertastete … Hörner?

Durch zusammengebissene Zähne keuchend, riss er an den braunen Fellbüscheln, die plötzlich aus seinen Beinen sprossen. Das Fell blieb. Als Nächstes wuchs eine harte Hülle um seine Füße – Hufe? – und ließ seine Lederstiefel an den Säumen bersten.

Verwandlungen waren für ihn nichts Neues, aber diese Transformation hatte ihn im Griff, nicht andersherum. Er konnte sie nicht aufhalten.

Gezackte schwarze Linien erschienen auf seiner Brust und breiteten sich sengend wie kleine Lavaströme aus. Es formte sich ein Bild. Ein Schmetterling mit Flügeln wie aus scharf zersplittertem Glas. Im Feuerschein schimmerte er in den verschiedensten Farben, eine nach der anderen, während eine Vielzahl von Empfindungen auf ihn einströmte.

Hauptsächlich erfasste ihn Panik und hielt ihn bei der Kehle gepackt, würgte ihn förmlich. War das eine Halluzination, die der Rauch hervorgerufen hatte?

Oder wurde er tatsächlich gerade zu einem Monster?

Seine Knie gaben unter ihm nach, waren nicht mehr in der Lage, sein Gewicht zu tragen. Keuchend ging er zu Boden, und als er so dalag, verebbte die Panik. Sein Blick fiel auf das Schwert des Walsh-Königs, und der Stolz, der ihn eben noch erfüllt hatte, verblasste und verschwand schließlich völlig. Die Hingabe, die er seinem Reich und seinem Volk entgegenbrachte … fort. Er fühlte nichts. Das Schwert war ein fein geschmiedetes Stück Metall, das Reich ein räumlich abgegrenztes Gebiet ohne Bedeutung, seine Bewohner waren unwichtig.

Puck suchte nach Emotionen, ganz gleich welchen, die sich irgendwo verborgen haben mussten. Da! Seine Liebe zu Sin, ein strahlendes Leuchtfeuer.

Er würde seinen kleinen Bruder beschützen vor diesem … was auch immer es war. Doch als er die Hand nach Sin ausstrecken wollte, erstarrten seine Muskeln und machten ihn bewegungsunfähig, Panik flackerte erneut auf.

»Sin!«

Sin wich seinem Blick aus.

Irgendwas stimmt hier nicht …

Zum zweiten Mal begann sich grauenvolles Nichts in Puck breitzumachen – diesmal auf seinen Bruder gerichtet. Kostbarer Sin. Geliebter Sin. Sein … Lebensinhalt. Eine unsichtbare Klinge schnitt in sein Herz, und die Zuneigung sickerte, troff, strömte heraus.

Trotzdem kämpfte er weiter. »Ich liebe dich«, stieß er heiser hervor. Ich darf Sin nicht verlieren. Ich kann nicht … Doch noch während er sprach, wurde sein Herz leer.

Eben loderte seine Liebe unauslöschlich, ob durch Krieg, Verfolgung oder Tragödie, im nächsten Moment war sie wie eine erloschene Fackel.

Puck schaute zu Sin auf und empfand … nichts. Weder hatte er ihre Vergangenheit vergessen noch die vielen Arten, auf die sein Bruder ihm über die Jahrhunderte geholfen hatte, oder was Sin ihm zuliebe alles aufgegeben hatte, doch es kümmerte ihn schlichtweg nicht mehr.

Sin ging vor ihm in die Hocke, und wieder verdunkelte Traurigkeit seinen Blick. »Es tut mir leid, Puck. Das tut es wirklich. Ich wusste, was in der Schatulle war. Keeleycael … Sie wusste von unserer Prophezeiung und hat behauptet, wir befänden uns bereits auf dem Weg in die Verdammnis, es würde tatsächlich einer von uns den anderen umbringen. Auf diese Weise können wir beide weiterleben. Ich … ich konnte dich einfach nicht töten, aber ich konnte auch nicht zulassen, dass du mich tötest. Dafür hättest du dich gehasst. Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »So unendlich leid.«

Sein Bruder hatte ihn verraten?

Unmöglich. Etwas so Grausames würde Sin niemals tun.

»Ich habe einen Handel mit einer Teufelin geschlossen«, fuhr Sin fort. »Das werde ich mir nie verzeihen, aber besser ich als du, aye? Verstehst du denn nicht? Weder die Krone noch die Clans werden dich von nun an interessieren. Du bist jetzt besessen vom Dämon der Gleichgültigkeit.« Er tippte Puck auf die Brust, sein Tonfall verhärtete sich: »Ihr zwei seid auf ewig miteinander verbunden.«

Plötzlich loderten Trauer, Entschlossenheit und Zorn – so übermächtiger Zorn – in Puck auf. Eine regelrechte Explosion! Sein Bruder hatte ihn verraten. Hatte aktiv seinen Niedergang betrieben. Doch genau wie alles andere verblassten auch die Trauer, die Entschlossenheit und der Zorn, bis nur noch kaltes Desinteresse zurückblieb.

Puck der Unbesiegte war soeben zu Puck dem Gearschten geworden.

Ich sollte verschwinden. Er mochte zwar keinerlei Ambitionen haben, seinen Bruder zu töten oder hierzubleiben oder auch nur zu gehen, doch der gesunde Menschenverstand sagte ihm: Bleib nicht bei dem Mann, der dir Schaden zugefügt hat.

Endlich lockerten sich seine Muskeln, und er konnte aufstehen.

»Ich habe das für uns getan«, beteuerte Sin, richtete sich ebenfalls auf und streckte eine Hand nach ihm aus. »Sag mir, dass du das verstehst. Sag mir, dass wir zusammenbleiben.«

Stumm wich Puck seinem Bruder aus und trat zurück. Er würde einen Spaziergang machen und darüber nachdenken, was geschehen war und wie es für ihn weitergehen sollte.

»Puck …«

Ohne einen Blick zurück marschierte er aus dem Zelt.

2. Kapitel

Jahrhunderte vergingen. Ihre genaue Zahl war Puck entfallen. Er hatte kein Bedürfnis, sie mitzuverfolgen.

Er kehrte nicht zu seinem Bruder und seinem Clan zurück, auch nicht, als Gerüchte von Sins Brutalität an seine Ohren drangen. Offenbar hatte sein Bruder sich zum blutrünstigsten Tyrannen in der Geschichte von Amaranthia entwickelt. Sin riss einen halben Wald ab – einen von nur zweien im gesamten Reich –, um eine Festung errichten zu lassen. Er machte Sklaven aus den Connachts und jeglichen anderen Clanmännern, die er gefangen nahm, und tötete jeden, der »seinen Niedergang plante«.

In Sins Vorstellung planten Tausende seinen Niedergang.

Puck dagegen kannte die Wahrheit. Sins schwarze Seele war endlich zum Spielen hervorgekommen.

Ziellos wanderte Puck durch Amaranthia, von einem Ende zum anderen. Wer ihm in den Weg kam, starb. Wenn er irgendetwas sah, das er zum Überleben brauchte, nahm er es sich. Nahrung. Waffen. Eine Unterkunft für die Nacht. Manchmal gestattete er einer Frau, sich zu ihm zu legen. Er konnte hart werden, und eine Frau konnte ihn reiten und ihre Befriedigung erlangen, doch ihre Lust war für ihn ohne Bedeutung – und seine eigene unerreichbar. Obwohl er ein körperliches Bedürfnis nach Erleichterung verspürte, verfügte niemand über die Macht, ihn zum Höhepunkt zu bringen. Nicht einmal er selbst.

Er wusste noch, wie er einmal insgeheim davon geträumt hatte, ein ums andere Mal mit derselben Frau zu schlafen. Als er es tatsächlich durchzog, empfand er die Erfahrung als eher dürftig.

Je mehr Puck sich an Gleichgültigkeit gewöhnte, desto mehr wurde ihm klar, dass der Dämon seine Emotionen nicht stahl oder sie auslöschte – es gar nicht konnte –, sondern sie nur begrub und verbarg, etwas, woran das Ungeheuer nach einer Weile die Lust verlor; inzwischen fand es Geschmack daran, ihn zu bestrafen, wann immer er zu lange zu viel empfand.

Das ist dir nie gleichgültig, was, du Unhold?

Auch jetzt schlich die Kreatur durch sein Bewusstsein, jeder Schritt wie der Schwung eines Vorschlaghammers, und lauerte auf einen Fehltritt von Puck.

Er hatte lernen müssen, seine Gefühle zu unterdrücken und zu verbergen und sie mit einer dicken Schicht mystischen Eises zu überziehen, erschaffen mithilfe von Magie, deren Vorräte er nie zur Neige gehen ließ. Die Art von Magie, die er jederzeit und überall wirken konnte. Das Eis brachte Empfindungslosigkeit mit sich, die Empfindungslosigkeit brachte Frieden.

Ein notwendiger Vorgang. In seinem Innern brodelte noch immer ein Quell von Zorn, Hass, Sorge und Hoffnung. Er war ein Pulverfass, und eines Tages würde er in die Luft gehen.

Wenn das geschah …

Würde Gleichgültigkeit ihn dann töten? Würde Puck den Tod willkommen heißen oder kämpfen?

Wenigstens warnte der Dämon ihn vor, wann immer Puck eine Emotion entwischte. Fauchen entsprach in etwa einem Klaps auf die Finger. Brüllen bedeutete, dass Puck sich auf dünnem Eis bewegte. Wenn er ein Schnurren hörte, wusste er, dass er zu lange zu viel empfunden hatte und dass jeden Moment die Hölle losbrechen würde – über ihn.

In solchen Fällen beraubte der Dämon ihn sämtlicher Kraft und machte ihn tagelang bewegungsunfähig. Praktisch komatös.

Um diese Bestrafung zu vermeiden, hatte Puck Regeln für sich aufgestellt, die er peinlich genau befolgte.

Traue niemandem. Denk daran: Jeder lügt.

Töte jeden, der dein Überleben gefährdet, und übe auch für die kleinste Herabsetzung Vergeltung.

Iss drei Mahlzeiten am Tag, und beschaffe dir Kleidung und Waffen, wann immer es möglich ist.

Lass Worten immer Taten folgen.

Irgendwann war ihm Prinzessin Alannah von Daingean über den Weg gelaufen. Sie hatte schreiend die Flucht ergriffen, entsetzt über das Monster, zu dem er geworden war. Nun ja.

Obwohl ihm nach wie vor pulsierende Magie innewohnte, hatte Puck seine Fähigkeit zum Gestaltwandel verloren. Die Hörner erhoben sich weiterhin über seinen Kopf, zwei elfenbeinerne Schandmale. Auch das Fell an seinen Beinen und die Hufe waren geblieben, egal, wie oft er sie sich abgehackt hatte, weil er gehofft hatte, sich möglicherweise – nur ganz vielleicht – von dem Dämon befreien zu können, wenn er seinen Körper von dessen abstoßenden Attributen befreite.

Im Lauf der Zeit griffen ihn verschiedene Männer an, die entschlossen waren, den in Ungnade gefallenen Connacht-Prinzen zu töten. Puck wurde erdolcht, gepfählt und gehängt, gerädert und gevierteilt und in Brand gesteckt. Wann immer er konnte, wehrte er sich. Und wenn er es wegen des Dämons nicht schaffte, sich zur Wehr zu setzen, wartete er, bis sein Körper sich erholte, und übte dann gnadenlos und ohne Skrupel Vergeltung, erfasst von einer Rage, die er nicht zu beherrschen vermochte.

Natürlich bestrafte Gleichgültigkeit ihn dafür jedes Mal.

Eines Morgens stapfte Puck über die Dünen, die er einst so geliebt hatte, und spürte seine Füße pochen. Beziehungsweise seine Hufe. Ein kurzer Blick nach unten informierte ihn, dass er zahlreiche Verletzungen erlitten hatte und eine Spur von Blut hinter sich herzog. Er musste sich ein Paar Schuhe stehlen und sie anpassen. Und Kleider. Er hatte vergessen, sich anzuziehen.

Zwei goldene Sonnen beschienen ein kleines Lager in der Ferne. Perfekt. An einem Seil zwischen den Zelten wehten verschiedene Kleidungsstücke im Wind, der den Geruch von Fleisch mit sich trug. Über dem Feuer briet ein Coinín.

Draußen war niemand zu sehen, doch aus einem der Zelte waren Stimmen zu hören, als er näher kam.

»… heute Morgen verkündet. Prinz Taliesin von Connacht hat seinen Vater im Schlaf ermordet.«

»Das heißt dann wohl, dass er jetzt König Taliesin ist«, lautete die gegrummelte Antwort. »Eigentlich sollte Prinz Neale die Nachfolge antreten, aber der ist tot, glaube ich.«

Puck blieb abrupt stehen. Sin hatte ihren Vater getötet?

Sie hatten den Mann beide verabscheut, aber kaltblütiger Mord? Während der Connacht schlief? Das war armselig.

Puck wartete auf den Faustschlag der Überraschung … des Ekels … des Zorns … irgendetwas. Keine Gefühlsregung sickerte durch das Eis in ihm. Als er sich in eine zu enge Schaflederhose zwängte, fragte er sich, was er empfinden sollte. Vielleicht alles zuvor Genannte? Definitiv ein Bedürfnis, seinen Bruder aufzuhalten.

»Und selbst wenn Prinz Neale nicht tot ist«, sagte jetzt einer der Männer im Zelt, »ein Tier ist er trotzdem noch.«

Neale – Puck.

»Und was wäre dir lieber, wer über deine Familie herrscht – Taliesin oder ein Tier?«, entgegnete der andere.

»Tier«, sagten beide zugleich.

Die Tatsache, dass irgendjemand lieber von ihm als von Sin regiert werden wollte … Die Connachts mussten verzweifelt sein.

Kann ich mich wirklich einfach abwenden und meinen Clan der Gefahr überlassen?

Und was, wenn Sin eine Frau heiratete, die ihn liebte, Puck tötete und dann die Clans unter sich vereinte? Daran würde Amaranthia mit Sicherheit zugrunde gehen.

Sin musste sterben.

Lass Worten immer Taten folgen.

Also gut, na dann. Puck würde die Connachts vor einem Wahnsinnigen retten und das gesamte Reich vor dem Untergang bewahren – und endlich an seinem Bruder Rache üben. Und tief in seinem Herzen wollte Puck Rache. Für die strahlende Zukunft, die er verloren hatte, und für die Liebe, die Sin so kaltherzig vernichtet hatte.

Er hatte es verdient, gegen den Mann zu wüten. Er hatte sich dieses Recht erarbeitet.

Gleichgültigkeit stieß ein warnendes Fauchen aus. Rasch rief Puck einen Hauch von Magie herbei und hüllte sein Herz und seine Gedanken in noch mehr Eis.

Als seine gletscherkalte Logik zurückkehrte, wurde ihm etwas klar: Wenn es dem Dämon gelänge, ihn seiner Kräfte zu berauben, würde Sin ihn besiegen.

Schon jetzt kennt er meine Schwächen …

Unwillkürlich ballte Puck die Hände zu Fäusten. Er musste Sins Schwachpunkte finden.

Niemand vermochte bessere Ratschläge zu erteilen als die Orakel.

Puck aß das Coinín bis auf den letzten Bissen auf – Regeln sind Regeln –, spürte ein Paar Stiefel auf, passte sie mithilfe von Magie an seine Hufe an und marschierte dann Richtung Osten. Die Orakel hielten sich im gefährlichsten Teil von Amaranthia auf, wo kraftvolle Magie die Luft schwängerte und Risse im Raum-Zeit-Gefüge schuf, die in andere Reiche, in bodenlose Abgründe, das Herz eines Vulkans oder sogar auf den Grund des Ozeans führten. Nur die verzweifeltsten Bürger des Reichs wagten sich hierher vor. Jene, die sich selbst oder einen geliebten Menschen retten wollten, Könige, die einen Rat für die Wahl ihres Nachfolgers brauchten, oder solche wie Puck, die nichts zu verlieren hatten.

Die dreitägige Reise forderte ihren Tribut. Keine Lagerplätze, kein Essen, kein Wasser. Zumindest gelang es ihm, die Dimensionsrisse zu umgehen.

Endlich erreichte er die höchste Sandsteinsäule des Reiches. Auf dem Plateau an der Spitze lebten die Orakel, sie hatten einen Ausblick über … alles. Puck war zu schwach zum Klettern, und so erschuf er mit dem letzten Rest seiner Magie eine Treppe aus Sand.

Er musste sich mehr Magie verschaffen, was bedeutete, dass er jemanden würde töten müssen – und zwar bald.

Soll ich eins der Orakel niedermetzeln? Der Legende nach hatten die drei Amaranthia als sicheren Hafen für jeden mit magischen Fähigkeiten erschaffen. Ihre eigenen Magievorräte mussten grenzenlos sein, ja unerschöpflich.

Einst hätte ihn die Vorstellung, einer Frau ein Leid zuzufügen, angeekelt. Heute? Los geht’s. Eine Kraftquelle war eine Kraftquelle.

Doch vorher musste er sich um sein eigentliches Ziel kümmern. Als er das Plateau betrat, das weder durch Wände noch durch eine Brüstung abgesichert war, sah er drei Frauen beieinanderstehen, alle von der Brust bis zu den Oberschenkeln in farbenfrohe Tücher gehüllt. Feiner dunkler Nebel verhüllte ihre Gesichter.

Anstelle eines Grußes erklärte er: »Ihr wisst, warum ich hier bin.« Es musste so sein. »Wie erlange ich zurück, was mir gehört? Freiheit von diesem Dämon. Die Krone der Connachts. Einigkeit unter den Clans. Schutz für mein Reich. Sins schwarzes Herz auf dem Silbertablett. Prinzessin Alannah.«

Sie würde er sich als seinen gerechten Lohn nehmen.

Der kräftige Wind frischte noch mehr auf, und einstimmig fragten die Frauen ihn: »Wie lautet unser Credo, Puck der Unbesiegte?«

Jedes Kind von Amaranthia lernte dieses Credo von der Wiege an. Wer nicht gibt, der nicht gewinnt. Je persönlicher das Geschenk, desto detaillierter würde die Antwort ausfallen.

Was wäre persönlicher als sein eigenes schwarzes Herz?

Danach werde ich nicht mehr zum Töten in der Lage sein.

Das ist es wert.

Entschlossen zückte er einen Dolch aus einer Scheide an seiner Hüfte und rammte sich die Klinge zwischen die Rippen. Warmes Blut strömte ihm über die Brust. Schmerz zehrte an seinen Kräften, ebenso unerbittlich wie Gleichgültigkeit, und versengte jede Nervenzelle seines Körpers. Irgendwann gaben seine Knie unter ihm nach. Doch selbst während er zusammenbrach, hackte und säbelte er weiter durch Muskeln und Knochen. Endlich: Erfolg.

Als Unsterblicher würde er genesen … demnächst. Hier und jetzt würde er noch für eine, vielleicht zwei Minuten bei Bewusstsein bleiben. Mehr als genug Zeit für das, was er brauchte. Das hatte Sin ihn gelehrt: Von einem Atemzug zum nächsten konnte sich ein gesamter Lebensverlauf verändern.

Mit einer schwachen Bewegung aus dem Handgelenk rollte er sein noch schlagendes Herz zu den Orakeln. Es ertönten zwitschernde Laute der Zustimmung, gefolgt von Stimmen. Der Reihe nach richteten die Orakel das Wort an ihn.

»Du liebst unsere Heimat, unser Volk – trotz deiner … Einschränkung. Doch was einmal verkündet wurde, lässt sich nicht ungeschehen machen. Was geschehen wird, wird geschehen.«

»Eine Prophezeiung kann neben einer anderen wirken, und was war, kann gerichtet werden.«

»Um uns alle zu retten, heirate das Mädchen, das William aus der Dunkelheit gehört … Sie ist der Schlüssel …«

»Bring deine Angetraute in unsere Lande, und leite alsdann den Dunklen hierher. Nur der Mann, der für das Mädchen leben und sterben würde, besitzt die Macht, Sin den Umnachteten vom Thron zu stoßen.«

Wann hatte Sin sich denn den Beinamen »der Umnachtete« verdient?

»Erst dann wird dir alles zuteilwerden, was dein Herz begehrt.«

»Vergiss jedoch nicht die Schere der Ananke, denn sie ist unerlässlich …«

Gemeinsam raunten die Orakel: »Es gibt keinen anderen Weg.«

In der darauffolgenden Stille wirbelten Pucks Gedanken durcheinander. William aus der Dunkelheit. Weder von ihm noch von dem Mädchen, für das der Kerl »leben und sterben« würde, hatte er je gehört. Beide mussten nach Amaranthia gebracht werden, einer nach dem anderen. Nun gut.

Während dunkle Schwere an den Rändern seines Bewusstseins zupfte, ordnete er seine Gedanken und stellte seine Aufgaben auf.

Finde William aus der Dunkelheit. Heirate das Mädchen, das er liebt. Zieh in den Krieg gegen Sin.

Eine Prophezeiung würde die andere nicht ungeschehen machen. Vielmehr würden die beiden ineinandergreifen. Was bedeutete, dass William Sin nicht töten, sondern nur entthronen würde. Alles andere würde bei Puck liegen.

Nichts würde ihn davon abhalten, seine Aufgaben zu erfüllen. William. Heiraten. Krieg. Eines Tages würde Puck die Krone der Connachts tragen, sein Volk erretten und die Clans einen.

Schließlich hörte das Zupfen auf, und die Schwere verschlang ihn, bis er ganz und gar verschwand. Von da an wusste er nichts mehr.

3. Kapitel

Gillian Shaw, v. P. (vor Puck) T minus 4 Tage und 32 Sekunden bis Geburtstag

Ich kann das. Ich kann es tun.

Sexy Reizwäsche? Check.

Betörendes Parfum? Check.

Zähne geputzt und zur Sicherheit gleich noch mal? Check, Check.

Gillian Shaw – ebenfalls bekannt als Gillian Bradshaw, Gilly Bradshaw und Jill Brads, je nachdem, welchen Ausweis sie gerade benutzte – marschierte von einem Ende des Raums ans andere und fühlte sich wie eine angeknackste Porzellanpuppe kurz vor dem Zerbrechen. Ich bin so gut wie achtzehn. Ich kann das.

Ihr Magen entgegnete: Das hättest du wohl gern.

Da sie nicht den Perserteppich besudeln wollte, stürzte sie ins Bad. Gerade noch rechtzeitig, um ihren Mageninhalt in die Toilette zu speien.

Ihr Freund – wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Er war nicht »ihr Freund«. Noch nicht. Er war ein unsterblicher Krieger von unvergleichlicher Schönheit und Macht, Trillionen Jahre alt und einer der neun Könige der Unterwelt. Oder zumindest gewesen. Unter Unsterblichen wechselten Titel genauso schnell wie der Besitz von Königreichen oder deren Verlust, und mittlerweile hatte sie den Überblick verloren. Was sie jedoch ohne jeden Zweifel wusste: William aus der Dunkelheit war eine gnadenlose Tötungsmaschine. Freunde wie Feinde fürchteten ihn, und doch – sobald er lächelte, fielen die Höschen.

Der Kerl kam herum. Bei jeder Menge Frauen. Keine konnte ihn länger halten … Abgesehen von Gillian, mit der er partout nicht ins Bett wollte.

Es wurde Zeit, ihn eines Besseren zu belehren.

Auch wenn er nie etwas bei ihr versucht hatte, war ihm das Zusammensein mit ihr immer angenehm gewesen. Unverkennbar! Mit ihr scherzte und lachte er wie mit niemandem sonst. Erst heute Morgen hatte er sie um ihre Meinung gebeten, welches T-Shirt er anziehen sollte. Eins mit der Aufschrift »Ich kann Bier verschwinden lassen« oder eins, das ihn als »weltmittelmäßigster Freund« auszeichnete.

War ihm überhaupt klar, was für eine Seltenheit er war? Was für ein Gewirr von Widersprüchen? Er war kompromisslos tapfer und verbreitete zugleich Entsetzen, war barbarisch, aber ehrenhaft, wenn auch mit einem verdrehten Moralkompass. Bereit, unaussprechlich böse Dinge zu tun, und doch gab es (einige wenige) Grenzen, die er niemals überschreiten würde.

Für Gillian war er die letzte Hoffnung.

Ich muss ihn umstimmen. Hatte sie sich mit ihrer ausgiebigen Internetrecherche ausreichend vorbereitet? Das richtige Outfit gewählt? Sich oft genug die Zähne geputzt? Puh. Vielleicht sollte sie lieber nach Hause gehen, bevor er zurückkehrte, sie halb nackt in seinem Schlafzimmer vorfand und den Verlauf ihrer Beziehung unwiderruflich veränderte.

Zu spät. Ist schon verändert.

Vor einer Weile war er nach einer besonders grausamen Schlacht ans Bett gefesselt gewesen. In seinem geschwächten Zustand hatte er niemand anderen als sie an sich herangelassen. Während sie seine Wunden pflegte, hatte er zugegeben, dass er ihre Gefühle für ihn spürte, und ihr gesagt, sie könnten nie mehr als Freunde sein. Dass sie zu jung sei, um mit einem Mann intim zu werden und zu verstehen, was das bedeutete.

Dank ihres Stiefvaters wusste sie allerdings bereits seit Jahren, was intim werden bedeutete. Der Mann hatte ihr kranke, widerwärtige Dinge angetan, an die sie nicht zurückdenken konnte, ohne sich den Tod zu wünschen. Zusätzlich hatte er auch noch seinen Söhnen beigebracht, ihr kranke, widerwärtige Dinge anzutun.

Trotzdem hatte sie Tag für Tag um ihr Leben gekämpft. Sie hasste ihre Stiefmonster zu sehr, um ihnen den Sieg zu überlassen.

Nach Williams Zurückweisung hatte sie versucht, ihn zu meiden. Er hatte dennoch ihre Nähe gesucht und so getan, als wäre nichts geschehen. Obwohl … nein. Hundertprozentig stimmte das nicht. Seit sie ihm das Schlimmste aus ihrer Vergangenheit anvertraut hatte, behandelte er sie, als bestünde sie aus Glas.

Jetzt gab es zwei Gillians – zwei einander bekriegende Wölfe. Die eine Gillian fürchtete sich vor ihren Gefühlen für William, die andere wollte nur noch mehr fühlen. Die eine sah ihn an und dachte: Er ist der Furcht einflößendste Mann auf Erden. Die andere sah ihn an und dachte: Er ist der heißeste Mann auf Erden.

So viel zum Thema gedankliches Schleudertrauma! Was spielte nun die größere Rolle? Furcht einflößend oder heiß?

Äh, wie wäre es mit keins von beidem? Er war nett, die einzige Eigenschaft, die zählte.

In letzter Zeit verbrachte er jedoch immer weniger Zeit mit ihr. Was, wenn er sie langsam satthatte? Was, wenn er sie fallen ließe?

Es gab nur einen Weg, das Interesse eines Mannes an einer Frau wachzuhalten …

Ihr drehte sich der Magen um. Du bestätigst nur, was er gesagt hat. Du bist noch nicht bereit. Was du hier tust, ist verkehrt.

Nein. Nein! Sich von ihrer Angst leiten lassen? Nie wieder. Heute Nacht würde sie die Kontrolle über ihr Schicksal ergreifen und beweisen, dass sie Liams sämtliche Bedürfnisse zu erfüllen vermochte.

Gillian spritzte sich Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild. Gequälte dunkle Augen blickten ihr entgegen, und sie zog ärgerlich eine Grimasse. Niemand auf dieser oder irgendeiner anderen Welt hatte jemals seine Augen so sehr gehasst wie sie ihre.

Du willst, dass ich aufhöre, dich anzufassen? Dann sag diesen schönen Augen, sie sollen aufhören, mich um mehr anzuflehen.

Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, ihr Magen drohte ein zweites Mal zu rebellieren.

Okay. Also. Sie würde garantiert Panik kriegen heute Nacht.

»Du bist die Mühe wert«, murmelte sie sich zu. »Und Liam auch.«

Mit seiner Güte und Sanftheit hatte er sich ihr Vertrauen, ihre Loyalität und ihre Liebe erarbeitet. Und wie durch ein unerklärliches Wunder war ihr dasselbe bei ihm gelungen. Er musste ihr vertrauen und sie lieben – ungeachtet seiner Zurückweisung. Warum hätte er sonst gestern eine Überraschungs-Vorgeburtstags-Party für sie schmeißen und ihr ein neues Auto schenken sollen? Einen Mercedes-Benz S600 Guard, um genau zu sein.

Ihren neidischen Klassenkameraden zufolge war es das sicherste Fahrzeug, das man für Geld kaufen konnte, und es war imstande, Scharfschützenbeschuss, Granatwerfern und Hochgeschwindigkeitsprojektilen zu widerstehen. Oh, und es hatte sechshunderttausend Dollar gekostet, eine unverschämte Menge Geld. William war zu allem anderen auch ein gewiefter Geschäftsmann und konnte mit den Moneten nur so um sich werfen.

Was ihr jedoch um ein Vielfaches wertvoller war als der Mercedes? Das handgeschriebene Gutscheinbuch, das er ihr überreicht hatte. Darin befanden sich Gutscheine für nächtelange Videospiel-Duelle, mehrere Dinner überall auf der Welt und einen Shopping-Ausflug, bei dem er ihre Handtasche tragen würde.

Außerdem enthielt das Büchlein zwanzig Coupons für »den Kopf oder das Herz eines Feindes.«

Aber was noch besser war als all das? Sie hatte ein bisschen Klatsch und Tratsch aus ihrem gemeinsamen Freundeskreis aufgefangen. William betrachtete sie als seine vom Schicksal bestimmte Partnerin!

Das Problem war nur, dass er sich weiterhin mit anderen Frauen traf.

Ich muss ihn für mich gewinnen, bevor er sich in eine andere verliebt.

Ein wenig wacklig auf den Beinen, packte Gillian die Ersatzzahnbürste aus und putzte sich ein drittes und viertes Mal die Zähne. Er liebt mich. Er wird mich immer lieben. Bestimmt.

Vor nicht allzu langer Zeit war sie mit ein paar der Kids aus ihrer Schule ausgegangen. Auch wenn sie sich unwohl gefühlt hatte, war sie entschlossen gewesen, Spaß zu haben. Doch als sich irgendwann alle zu Pärchen zusammengetan hatten und sie sich mit einem der Jungs allein wiedergefunden hatte, war sie in Panik geraten. Was, wenn er etwas bei ihr versuchte? Gerade als sie geglaubt hatte, jeden Moment durchzudrehen, war William auf der Bildfläche erschienen.

»Du rührst sie nicht an. Niemals«, hatte er dem Jungen befohlen, in seiner Stimme hatte nackte Bedrohlichkeit gelegen. »Fass sie an, und du stirbst.«

Anders als ihr Stiefvater beschützte er sie. Er war ein strahlendes Licht in einem Leben in tiefster Dunkelheit.

Bei ihm fühlte sie sich beinahe normal.

Gillian brauchte das Gefühl, normal zu sein. So viele der Mädchen in ihrem Alter fanden es aufregend, die »Freuden« des Sex zu entdecken. Doch sie verabscheute den Akt schon jetzt. Die Gerüche, Geräusche und Empfindungen. Die Schmerzen, die Erniedrigung und die Hilflosigkeit.

Was, wenn William sie mit diesen Freuden bekannt machen konnte?

Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von William? Hoffnungsvoll und zugleich voller Grauen schaute sie auf den Bildschirm. Keeley.

Kurze Frage. Es gibt keine falsche Antwort. Wenn du eine Königin wärst – wie ICH – und dir jemand ein Leid zufügen würde, um dich zu retten, würdest du demjenigen vergeben oder ihn töten?

Keeley, die Rote Königin, war eine Kuratorin, deren Aufgabe es war, für das Wohlergehen der Erde zu sorgen. Sie zog ihre Kraft aus der Natur und bezeichnete ihren Verstand als Pinnwand, weil sie schon so lange lebte und sich so viele Erinnerungen in ihrem Gehirn tummelten. Nicht bloß an die Vergangenheit, sondern auch an die Zukunft. Oder eine Zukunft, die sie einmal gesehen, seither aber vergessen hatte. Inzwischen kam die Erinnerung daran langsam zurück, und die Ehe mit Torin half ihr, geistige Klarheit zu gewinnen.

Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, Gillian unter ihre Fittiche zu nehmen und sie zu einer Königin auszubilden, und zwar mithilfe von Lektionen, die sie als »kurze Fragen« tarnte.

Gillian antwortete:

Das sind meine einzigen Optionen? Denjenigen töten oder ihm vergeben? Okay, ich spiele mal mit. Aber bevor ich mein Urteil fällen kann, brauche ich mehr Informationen. Wie hat diese Person mir Leid zugefügt?

Keeley: Wer weiß? Ich war nicht dabei.

Gillian: Ich brauche trotzdem mehr Infos.

Keeley: Falsche Antwort. Du musst mir verzeihen.

Keeley: Ich meine, ihm. IHM. Sonst wird die Verbitterung wuchern wie Unkraut und jegliche Freude ersticken. Okay, gut. Ich hoffe, du hattest Spaß an dieser Lektion zum Überleben in der wundervollen Welt der Unsterblichen von Professor Königin KeeKee.

Gillian: DIR verzeihen??? Was hast du angestellt, K.? Oder was wirst du anstellen? Raus damit!

Keeley: :) :) :) Hab dich lieb, mein süßes kleines Nichtmenschlein, du!

Nichtmenschlein? Manchmal war die Rote Königin beim besten Willen nicht zu verstehen.

Schnaubend steckte Gillian das Telefon weg und blieb dabei erneut an ihrem Spiegelbild hängen – diese Augen. Ihr fiel wieder ein, wieso sie in Williams Wohnung war, und Angst erstickte ihre Erheiterung.

Argumente dagegen, diese Aktion heute durchzuziehen: (1) Möglicherweise würde sie sich immer wieder übergeben. (2) Wenn sie scheiterte, würde sie womöglich nie wieder den Mut finden, es zu versuchen, und (3) es könnte sie Williams Freundschaft kosten.

Die Argumente dafür: (1) Sie hatte sich ihn aus freiem Willen selbst ausgesucht. (2) Sie hatte die Begegnung durchgeplant, und (3) sie würde alles kontrollieren, was immer auch geschah. Komme, was wolle, Sex mit ihm würde anders sein. Und anders bedeutete besser.

Und was wäre, wenn die Erinnerungen an William die Erinnerungen an ihren Stiefvater überstrahlten? Was, wenn William ihr helfen würde, all die Schuldgefühle, die Scham und den Selbsthass loszuwerden, die sich in ihr Herz gewühlt und dort Wurzeln geschlagen hatten?

Dann wäre sie nicht länger eine bloße Hülle ihrer selbst. Sie würde Selbstbewusstsein gewinnen. Der Hass in ihr würde versickern. Nie wieder würde sie sich fühlen, als würde das Leben sie zermalmen.

Ihr Handy summte. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm, und sie stöhnte auf. Torin.

Wo steckst du?

Torin – ein weiterer unsterblicher Freund – war vor Kurzem mit Keeley zusammengekommen. Er war ein netter Kerl mit einer Vorliebe für Sarkasmus.

Gillian schrieb zurück:

Unterwegs. Wieso?

Torin: Was denkst du denn? Weil ich sichergehen will, dass es dir gut geht, Klugscheißer.

Ihre Finger flogen nur so über die Tastatur.

Gillian: Oder du hast William versprochen, auf mich aufzupassen, während er weg ist.

Torin: Das auch. Aber zurück zum Thema. Wo genau bist du?

Nie und nimmer würde sie ihn anlügen. »Lügen« war die einzige Sprache, die ihre Stiefmonster beherrscht hatten. Aber die nackte Wahrheit würde sie Torin auch ganz sicher nicht auf die Nase binden. Also tippte sie:

In meiner Wohnung, Dad. Danke der Nachfrage.

Sie hatte eine eigene Wohnung direkt neben der von William. Technisch gesehen gehörte ihre Wohnung ebenfalls ihm, weil er die Miete zahlte, aber was ihm gehörte, gehörte auch ihr – das hatte er selbst gesagt! Zweimal!

Torin: Als könnte ich nicht deine exakte Position nachverfolgen, Süße. Geh nach Hause. Was immer du auch vorhast, es ist eine ganz miese Idee. Furchtbar. Grauenhaft. Die schlechteste Idee aller Zeiten!

Was? Er wusste Bescheid? Noch heftiger zitternd als zuvor schaltete sie ihr Handy aus. Es war eine super Idee. Vielleicht die beste, die sie je gehabt hatte.

Atmen. Einfach weiteratmen. Es würde alles gut werden. William hatte Erfahrung. Eine Menge Erfahrung. Seine Freunde nannten ihn nicht umsonst William den Lustmolch und Free Willy. Er würde dafür Sorge tragen, dass sie es genoss, soweit sie eben dazu in der Lage war. Oder?

Verflixt. Wo steckte er? Was machte er?

Sie erinnerte sich noch an ihre erste Begegnung.

Um endlich ihren Stiefmonstern zu entfliehen, hatte sie Geld gestohlen und sich ein Busticket von New York nach L. A. gekauft. Dort hatte sie einen Job im einzigen Laden angenommen, in dem man bereit gewesen war, sie ohne Papiere einzustellen. Ein abgeranztes Diner, in dem Männer wie ihre Stiefmonster regelmäßig ein »Menü mit Happy End« bei ihr zu ordern versucht hatten.

Dann war Danika Ford aufgetaucht, eine gewiefte Kämpferin, die die übernatürliche Fähigkeit besaß, in den Himmel und in die Hölle zu blicken. Danika war auf der Flucht gewesen vor einer Gruppe dämonenbesessener Unsterblicher, die als Herren der Unterwelt bekannt waren, einer Furcht einflößender als der andere. Da war Paris, Hüter des Dämons Promiskuität. Sabin, Hüter des Zweifels. Amun, Geheimnisse. Aeron, Zorn. Reyes, Schmerz. Cameo, Elend. Strider, Niederlage. Kane, Katastrophe. Torin, Krankheit. Maddox, Gewalt. Lucien, Tod. Gideon, Lüge.

Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte Danika sich in Mr. Schmerz verliebt. Das glückliche Paar hatte Gillian eingeladen, mit ihnen nach Budapest zu ziehen. Da ihr Hausmeister in L. A. ein Widerling gewesen war, dessentwegen sie sich jede Nacht mit einem Baseballschläger in der Hand gegen die Wohnungstür gedrückt hatte, hatte sie gedacht: Warum, zum Teufel, nicht? In Europa würden ihre Stiefmonster sie niemals aufspüren können.

Bloß dass sie vom Moment ihrer Ankunft an das Gefühl gehabt hatte, vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Ihre Angst vor ihren Mitbewohnern war so groß gewesen, dass sie nicht einmal hatte schlafen können und sich stattdessen im Unterhaltungszimmer verschanzt hatte – einem zentral gelegenen Ort mit zahlreichen Fluchtwegen.

Eines Tages hatte William sich neben ihr auf die Couch fallen lassen und gebrummt: »Bitte sag mir, dass du’s draufhast mit Spielekonsolen. Anya ist grottig, und ich brauche endlich mal eine Herausforderung.«

Monatelang hatten sie Videospiele gespielt, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie sich wieder wie ein Kind gefühlt. Ihr Hass auf sämtliche Männer wandelte sich langsam, aber sicher in tiefe Zuneigung zu einem einzigen, während eine unerwartete Freundschaft erblühte. Schnell wurde William zum wichtigsten, kostbarsten und wundervollsten Fixpunkt in ihrem Leben. Der Mensch (beziehungsweise Unsterbliche), auf den sie sich mehr verließ als auf jeden anderen.

Auf leise quietschenden Angeln öffnete und schloss sich die Wohnungstür.

William war wieder da!

Ihr Herz hämmerte, und sie stürzte ins Schlafzimmer. Aus dem Flur ertönten Schritte. Obwohl ihre Beine wie Pudding waren, ihr der Atem durch zusammengebissene Zähne zischte und sie auf ihren hohen Absätzen Gleichgewichtsprobleme hatte, warf sie sich in Pose: eine Hand am Bettpfosten und die andere auf der Hüfte.

William kam in den Raum geschritten – mit einer anderen Frau an der Hand.

Demütigung gefror ihr das Blut in den Adern und hätte sie beinahe zu Boden gehen lassen. Die Fremde war atemberaubend schön, so dunkel, wie Gillian hell war, und vermutlich durch und durch unsterblich.

Als der Krieger Gillian entdeckte, blieb er abrupt stehen. Je länger sein Blick bei ihrem Outfit verweilte, desto mehr verengten sich seine Augen, und sie musste den Drang niederkämpfen, zu Boden zu schauen und ihre Augen zu verbergen.

»Du solltest nicht hier sein«, erklärte er mit kalter, harter Stimme und einer entsetzlichen Ruhe. Es war ein Tonfall, wie ihn ihrer Einschätzung nach Mörder benutzten. »Den Schlüssel habe ich dir nur für den Notfall gegeben, Püppchen. Nicht für … so was.«

»Von einem Dreier war nie die Rede, Will.« Die andere Frau lächelte strahlend. »Aber ich bin absolut dabei. Legen wir los!«

Kann mich bitte auf der Stelle jemand töten?

William zeigte auf Gillian und blaffte: »Rühr dich nicht vom Fleck.« Dann zerrte er die Schönheit aus dem Zimmer, ohne sich um ihre überrumpelten Proteste zu scheren.

Gillian drückte die Hände auf ihr galoppierendes Herz. Sollte sie die Flucht ergreifen?

Nein. Auf gar keinen Fall. Nur Mädchen rannten davon – Frauen kämpften um das, was sie wollten.

Ein dumpfer Knall hallte vom Flur herein. Erneut erklangen Schritte. Als William – allein – an der Tür erschien, hatte Gillian es aufgegeben, stehen bleiben zu wollen, und sich auf die Bettkante sinken lassen.

Stumm marschierte William in sein Ankleidezimmer. Als er wieder herauskam, legte er ihr einen Morgenmantel aus rosa Seide um die Schultern und schob ruppig ihre Arme in die Ärmel.

Zutiefst verletzlich beobachtete Gillian ihn durch den dichten Schirm ihrer Wimpern. Er war so wunderschön mit seinem rabenschwarzen Haar, der gebräunten Haut und Augen von der Farbe des Morgenhimmels. Er war der größte Mann, den sie kannte, und auch der stärkste.

»Was geht hier vor sich, Püppchen?« Die muskelbepackten Arme verschränkt, stand er vor ihr. Wenigstens klang er nicht mehr, als würde er gleich jemanden ermorden. »Warum hier? Warum jetzt?«

»Weil … darum eben!«

»Nicht gut genug.«

»Weil …« Sag’s einfach. Raus damit. »Weil Männer nun mal Sex brauchen und es keine bessere Methode gibt, einen bei der Stange zu halten. Außerdem will ich dich.« Vielleicht. Bestimmt. »Willst du mich auch?«

Er strich sich mit der Zunge über die Zähne. »Für diese Wahrheit bist du noch nicht bereit.«

»Doch, bin ich.« Sie sprang auf und krallte die Finger in seinen Kragen. »Bitte.«

»Deine Familie hat dir etwas Kostbares geraubt«, entgegnete er und löste ihren Griff, bestimmt, aber nicht gewaltsam. »Das werde ich nicht wiederholen.«

»Wirst du auch nicht. Wenn du mit mir schläfst, hilfst du mir, es zu vergessen.« Bettle ich ihn jetzt etwa an? Erneut stieg ihr Schamesröte ins Gesicht. »Wir sind vom Schicksal füreinander bestimmt, oder etwa nicht?«

Dieser Blick, mit dem er sie bedachte … So sanft, so zärtlich, dass er sie vernichtete.

»Ich will keine vom Schicksal für mich bestimmte Partnerin. Ich bin verflucht, schon vergessen?«

Nein. Sobald William sich verliebte, würde sich bei seiner Angebeteten angeblich ein Schalter umlegen, und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu ermorden.

In seinem Besitz befand sich ein Buch, in dem der Fluch in all seinen Einzelheiten beschrieben war, und möglicherweise auch der Schlüssel dazu, ihn zu brechen. Das Problem war nur: Diese Infos waren chiffriert, in seltsamen Schriftzeichen und Rätseln niedergeschrieben. Bisher hatte niemand irgendetwas davon entschlüsseln können. Doch das würde schon noch kommen.

»Du hast das Buch. Es gibt Hoffnung.« Wir haben eine Zukunft.

»Bei meinem Herzen gehe ich kein Risiko ein, weder physisch noch emotional.« Ohne ihren Blick loszulassen, spielte er mit einer Strähne ihres Haars. »Aber eines Tages werden wir miteinander schlafen. Und zwar bald. In vier Tagen, um genau zu sein. Dann werde ich absolut sicherstellen, dass du bereit bist.«