Die Herren der Unterwelt -  Teil 1-3 + Prequel - Gena Showalter - E-Book
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Die Herren der Unterwelt - Teil 1-3 + Prequel E-Book

Gena Showalter

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Beschreibung

SCHWARZES FEUER

Düster und höllisch heiß: Die Vorgeschichte der "Herren der Unterwelt" verrät, was lange vor Teil 1 geschah …

Geryon, der Wächter des Höllentors, mehr Tier als Mensch, und Kadence, die Göttin der Unterdrückung, eine engelsgleiche Schönheit - beide bewachen die Grenze zwischen der Menschenwelt und dem Höllenreich. Doch die Barriere bröckelt: Eine Horde von Dämonenherrschern versucht mit aller Macht, der Hölle zu entfliehen. Tod, Chaos und Zerstörung drohen der Menschheit. Um den Plan zu vereiteln und die Dämonen zu bekämpfen, machen sich Kadence und Geryon gemeinsam auf den Weg ins Innere der Hölle - doch nicht nur dort lauert brennende Gefahr …

SCHWARZE NACHT

Einst dienten die tapferen Lords der Unterwelt dem Gottkönig. Ein Zwist aber führte dazu, dass die zwölf Ritter mit einem Dämon bestraft wurden, den sie jeden Tag aufs Neue zu bezwingen haben ...

Die junge Wissenschaftlerin Ashlyn Darrow ist verzweifelt: An jedem Ort hört sie alle Gespräche, die je dort stattgefunden haben. Und sie weiß: wenn, dann können ihr nun die Lords der Unterwelt helfen. Auch auf die Gefahr hin, von den Unsterblichen getötet zu werden, wagt sie die Reise zum Haus der Verdammten - und trifft in den Wäldern vor den Toren Budapests auf Maddox, den Hüter des Dämons der Gewalt. Zum ersten Mal verstummen alle Stimmen in ihr.

Auch Maddox spürt sofort den unwiderstehlichen Reiz der jungen Amerikanerin. Doch er darf seinen Gefühlen nicht nachgeben, denn das Böse in ihm ist unberechenbar. Ein jahrtausende alter Kampf entflammt von Neuem: gegen den inneren Feind, und gegen den äußeren, der Ashlyns Spur verfolgt hat. Beide wollen nur eins: töten! Maddox' und Ashlyns Schicksal scheint besiegelt.

SCHWARZER KUSS

Er ist ein Verfluchter, der den Dämon des Todes in sich trägt: Lucien, Herr der Unterwelt, der sich vor Zeiten gegen die Götter aufgelehnt hat, die ihn nun knechten. Sich ihm zu nähern heißt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Doch Anya, Göttin der Anarchie, kann den Reizen des äußerlich so kühlen Kriegers nicht widerstehen. Gemeinsam erkämpfen sie sich eines der vier göttlichen Artefakte, den Käfig des Zwangs, und kommen sich dabei näher, als Lucien lieb sein kann. Die Liaison entgeht auch den Herrschern über die Dämonen nicht: Die Titanen befehlen Lucien, Anya zu töten.

SCHWARZE LUST

Sie wollen Gutes und sind doch zum Bösen verdammt: Die Herren der Unterwelt. Dritter Teil der preisgekrönten "Die Herren der Unterwelt"-Trilogie von New York Times Bestsellerautorin Gina Showalter.

Reyes’ Leben ist vom Schmerz bestimmt. So will es sein Dämon. Seit Jahrhunderten schon kann der Herr der Unterwelt Lust nur empfinden, wenn sie mit mörderischen Qualen verbunden ist. Aber Reyes begehrt etwas, das ihm helfen könnte, seinen Dämon zu besiegen: Danika Ford, eine Sterbliche. Danika ist auf der Flucht. Seit Monaten versucht sie den Herren der Unterwelt zu entkommen, die geschworen haben, sie und ihre Familie zu zerstören. Doch in ihren Träumen wird sie von Reyes heimgesucht, einem jener Krieger, dessen sehnsuchtsvolle Berührung sie nicht vergessen kann.

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Seitenzahl: 1872

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Gena Showalter

Die Herren der Unterwelt - Teil 1-3 + Prequel

Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Gena Showalter

Die Herren der Unterwelt:

Schwarzes Feuer

Übersetzung aus dem Amerikanischen

von Michaela Grünberg

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Darkest Fire

Copyright © 2008 by Gena Showalter

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: iStock; Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN epub 978-3-86278-689-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Jeden Tag seit vielen Jahrhunderten war die Göttin auf ihrem Weg an ihm vorbeigekommen, wenn sie der Hölle ihren allabendlichen Besuch abstattete. Und jeden Tag hatte Geryon sie von seinem Posten aus beobachtet, während die heimliche Sehnsucht sein Blut tausendmal mehr erhitzt hatte, als die ewigen Flammen der Verdammnis in seinem Rücken es jemals getan hatten. Nie hätte er sie auf diese Weise ansehen dürfen, spätestens aber nach jenem ersten Mal hätte er fortan seinen Blick stets gesenkt halten sollen. Er war ein nichtswürdiger Sklave des Fürsten der Dunkelheit, eine Ausgeburt des Bösen; sie eine Göttin, ein Geschöpf des Lichts.

Er konnte sie nicht haben. Beim Gedanken daran ballte er unwillkürlich die Fäuste. Ganz egal, wie sehr er sich wünschen mochte, es wäre anders. Sie würde ihn ohnehin nicht wollen. Diese … Besessenheit führte zu nichts als Verzweiflung. Und davon hatte er bereits reichlich.

Und dennoch schaute er auch an diesem Tag zu, wie sie durch das triste Gewölbe schwebte, auf die zerklüftete Mauer zu, die den irdischen Untergrund vom Reich der Schatten trennte, und sie mit ihren zarten Fingerspitzen betastete. Goldene Locken fielen über ihren zierlichen Rücken und rahmten ein Gesicht ein, so makellos, so wunderschön, dass selbst Aphrodite daneben verblasst wäre. Ihre Augen, funkelnd wie Sterne, verengten sich skeptisch, auf den samtigen Alabasterwangen erschien ein rosiger Schimmer.

„Da ist ein Riss“, sagte sie, ihre sanfte Stimme wie eine elysische Melodie inmitten des Zischens der nahen Flammen – und der unmenschlichen Schreie, die das lodernde Feuer begleiteten.

Geryon schüttelte den Kopf, überzeugt, sich das gerade Geschehene nur eingebildet zu haben. In all der Zeit, die sie beide hier unten nun schon ihre Aufgabe erfüllten, jeder für sich, hatten sie niemals ein Wort gewechselt, waren kein einziges Mal von ihrer Routine abgewichen. Als Hüter des Tors zur Hölle sorgte Geryon dafür, dass es verschlossen blieb und sich nur öffnete, um neue verfluchte Seelen einzulassen. So war sichergestellt, dass nichts und niemand von dort wieder entkommen konnte – und wenn sie es dennoch versuchten, bekamen sie es mit ihm zu tun. Sie, die Göttin der Unterdrückung, verstärkte das Bollwerk allein mit ihrer Berührung. Nie zuvor war das Schweigen zwischen ihnen gebrochen worden.

Ihre ungewöhnlich angespannten Züge zeugten von Unsicherheit. „Hast du dazu gar nichts zu sagen?“

Im nächsten Augenblick stand sie direkt vor ihm, obwohl er auch nicht die kleinste Bewegung an ihr wahrgenommen hatte. Der allgegenwärtige Gestank, eine Mischung aus Schwefel, Qualm und versengtem Fleisch, wurde plötzlich vom süßen Duft von Geißblatt vertrieben. Tief atmete Geryon ein, die Augen verzückt geschlossen. Oh, hätte dieser Moment doch für immer andauern mögen.

„Torwächter“, drängte sie auf eine Antwort.

„Göttin.“ Er musste sich zwingen, die Lider zu öffnen, die Millimeter um Millimeter den Blick auf jene Schönheit enthüllten, die alles Dunkle und Hässliche hier unten überstrahlte. Aus unmittelbarer Nähe war sie nicht so perfekt, wie er erwartet hatte. Sie war sogar noch vollkommener. Vereinzelte Sommersprossen sprenkelten die dezent geschwungene Nase, und bei ihrem bezaubernden Lächeln zeigten sich kleine Grübchen auf den Wangen. Exquisit.

Was sie wohl über ihn dachte? Wahrscheinlich, dass er ein Ungeheuer war, unförmig und widerwärtig. Was der Wahrheit entsprach. Falls sie ihn tatsächlich so sah, ließ sie es sich allerdings nicht anmerken. In ihren glänzenden Augen lag nichts weiter als nachdenkliches Interesse. Welches, wie er vermutete, weniger ihm galt als der beschädigten Barriere. Selbst als er noch ein Mensch gewesen war, hatten Frauen einen großen Bogen um ihn gemacht und sofort die Flucht ergriffen, wenn er auch nur in ihre Richtung schaute. Er war zu groß, zu massig, zu ungeschickt. Und das schon bevor er in dieses oger-ähnliche Ding verwandelt worden war.

Manchmal fragte er sich, ob ihn bei seiner Geburt irgendjemand mit einem Fluch belegt hatte.

„Dieser Riss war gestern noch nicht da“, stellte sie fest. „Wodurch kann ein solcher Schaden entstanden sein? Und in so kurzer Zeit?“

„Eine Gruppe von Dämonen erhebt sich nunmehr täglich und versucht mit aller Macht, in die Freiheit zu entkommen. Die Hohen Herren sind ihrer Gefangenschaft überdrüssig geworden – und es verlangt sie nach lebendigen, menschlichen Opfern.“

Sie nahm die beunruhigenden Neuigkeiten ohne eine sichtbare Gefühlsregung auf. „Sind dir ihre Namen bekannt?“

Geryon nickte. Er musste nicht hinter die Barriere sehen, um zu wissen, wer auf der anderen Seite sein Unwesen trieb und ihr zu nahe kam. Er spürte es. Immer.

„Gewalt, Tod, Lüge, Zweifel, Elend … soll ich noch weitere nennen?“

„Nein“, antwortete sie leise. „Ich verstehe. Die Bösesten der Bösen.“

„Ja. Mit aller Kraft werfen sie sich gegen die Mauer und schlagen ihre Klauen hinein. Sie wollen unbedingt in die Welt der Menschen durchbrechen.“

„Dann zwing sie, damit aufzuhören.“ Ein Befehl, mit einem flehenden Unterton. Wenn es doch nur so einfach wäre. Er hätte alles getan, um ihren Wunsch zu erfüllen, selbst die letzten spärlichen Überreste seiner Menschlichkeit aufgegeben, hätte das etwas geändert. Alles, wodurch er ihr für das Geschenk ihrer täglichen Besuche, die Lichtblicke seines freudlosen Daseins, wenigstens ein kleines bisschen zurückgeben könnte. Egal, wie hoch der Preis wäre, er war gewillt, ihn zu bezahlen, solange sie dadurch hier bei ihm bliebe. Und sei es auch nur für ein paar Minuten länger, die er ihren betörenden Duft einatmen dürfte.

„Es ist mir verboten, meinen Posten zu verlassen, ebenso wie es mir verboten ist, das Tor aus irgendeinem anderen Anlass zu öffnen, als eine verdammte Seele einzulassen. Ich kann deshalb Eurer Anweisung leider nicht Folge leisten.“

Davon abgesehen war der einzige Weg, einen wild entschlossenen Dämon aufzuhalten, ihn zu töten. Und einen der Hohen Herren zu töten zählte ebenfalls zu den verbotenen Dingen.

Ihr entwich ein Seufzen. „Hältst du dich immer an das, was dir vorgeschrieben wird?“

„Immer.“ Anfangs hatte er versucht, gegen die unsichtbaren Fesseln anzukämpfen, die ihn gefangen hielten. Früher einmal. Doch diese Zeiten des Aufbegehrens gehörten lange der Vergangenheit an. Gegenwehr zog Schmerz und Leid nach sich. Nicht für ihn selbst, sondern für andere. Unschuldige Menschen, deren einziges Vergehen darin bestand, seiner Mutter, seinem Vater oder seinen Brüdern zu ähneln – seine wirklichen Angehörigen waren schon vor Ewigkeiten abgeschlachtet worden. Solche armen Seelen wurden hierher verschleppt und vor seinen Augen grausam zu Tode gefoltert. Diese Schreie … diese furchtbaren Schreie. So viel schrecklicher als jene, die aus den Tiefen der Hölle drangen. Und der Anblick … Er erschauderte. Wären solche Grausamkeiten ihm angetan worden, es hätte ihn nicht gekümmert. Ihm nicht mehr als ein Lachen entlockt und ihn nur umso härter kämpfen lassen. Aber Luzifer, Bruder des Hades und Herrscher der Dämonen, brauchte ihn gesund, funktionstüchtig, und so hatte er andere Mittel und Wege gefunden, ihn gefügig zu machen.

Die Erinnerungen würden ihn auf ewig verfolgen. Vielleicht wären sie zumindest in den Nächten einige Stunden lang verblasst, während er schlief. Doch selbst das blieb ihm verwehrt. Er war hellwach, rund um die Uhr; unfähig, jemals zu vergessen.

„Gehorsam. Von dir hätte ich etwas anderes erwartet“, sagte sie. „Du bist ein Krieger, ein Kämpfer, stark und unbeugsam.“

Ja, er war ein Krieger. Aber gleichzeitig auch ein Sklave. Das eine schloss nicht zwangsläufig das andere aus.

„Es tut mir leid, Göttin. Meine Stärke ändert nichts an den Gegebenheiten.“

„Ich bin bereit, dich für deine Hilfe zu entlohnen“, beharrte sie. „Nenn mir einen Preis. Was auch immer du begehrst, es soll dir gehören.“

Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte er abermals. Dann hätte er sie um einen kurzen Moment des Glücks gebeten, nur den Bruchteil einer Sekunde, in dem er den süßen Geschmack ihrer Lippen kosten könnte.

Aber warum so bescheiden? Was auch immer er begehrte. Eine Nacht in ihren Armen. Nackt. Ihre samtweiche Haut berühren, sie fühlen, sie schmecken. Ja. Ja. Jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte sich. Vor Erregung. Vor Sehnsucht.

Vor Verzweiflung.

Nein. Er durfte nicht riskieren, dass ein weiteres Mal Unschuldige leiden müssten – was scherst du dich um die? –, nur damit sein Verlangen nach dieser schönsten, herrlichsten aller Göttinnen Befriedigung fand. Also dann ein Kuss? Oder doch eine ganze Nacht? Nein und nochmals nein.

Jetzt wusste er, was wahre Folter war. Er biss die Zähne zusammen. Warum ihn das Schicksal Fremder kümmerte? Weil es ohne Gutes nichts als Böses gäbe. Und er hatte über die Jahrhunderte so viel Böses gesehen. Zu viel. Er würde nicht zulassen, dass durch seine Schuld noch mehr dazukäme.

„Torwächter?“, riss ihn die ungeduldige Stimme der Göttin aus seinen Gedanken. „Was immer du willst.“

2. KAPITEL

Sag nichts. Tu es nicht. Geryon schluckte trocken. „Es tut mir leid.“ Nein. Hör auf damit. Bitte sie um diesen einen Kuss; wenigstens das, wenn du schon zu allem anderen zu feige bist. „Wie ich bereits sagte, ich kann Euch nicht helfen.“ Nein, nein, nein.

Wie sehr er sich in diesem Augenblick hasste.

Enttäuscht ließ sie die zarten Schultern sinken, und sein Selbsthass wurde umso größer.

„Aber weshalb? Dir muss doch ebenso viel daran gelegen sein wie mir, die Dämonen dort zu halten, wo sie hingehören. Oder nicht?“

„Sicher.“ Geryon wollte ihr die Gründe für seinen Widerstand nicht nennen. Er schämte sich zutiefst, auch nach all dieser langen Zeit. Und doch würde er es tun. Vielleicht würde sie sich dann endlich abwenden und zu ihrer alten Gewohnheit zurückkehren, so zu tun, als existierte er überhaupt nicht. So wie jetzt konnte es jedenfalls nicht weitergehen, er musste diesem Irrsinn ein Ende setzen. Seine Sehnsucht nach ihr wurde von Minute zu Minute stärker, übermächtiger, und sein Körper reagierte, machte sich bereit.

Sie ist nichts für dich.

Wie oft würde er sich das noch in Erinnerung rufen müssen?

„Ich habe meine Seele verkauft“, gestand er leise. Geryon war einer der ersten Menschen gewesen, die dereinst die Erde bevölkert hatten. Trotz seines hünenhaften Körpers und der damit verbundenen Unbeholfenheit war er mit seinem Los zufrieden gewesen. Er hatte das Glück gehabt, eine hinreißende Frau an seiner Seite zu wissen, auch wenn seine Familie sie für ihn ausgesucht hatte und er umgekehrt für sie – wie auch für alle anderen weiblichen Wesen, die er kannte – nicht sonderlich anziehend gewesen war.

Ein Jahr nach ihrer Heirat war sie von einer schlimmen Krankheit heimgesucht worden. Tiefe Verzweiflung hatte ihn gepackt, denn nichts schien ihr zu helfen. Obwohl er sie nicht hatte glücklich machen können, so gehörte sie doch zu ihm, und er hatte es als seine Pflicht angesehen, für ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden Sorge zu tragen. So hatte er in seiner Not die Götter um Hilfe angerufen.

Sie aber hatten seinem Flehen keine Beachtung geschenkt, und die Angst und Ohnmacht waren ins schier Unerträgliche gewachsen.

In jenem Moment war Luzifer auf der Bildfläche erschienen. Was für ein gerissener Bursche.

Um seine Angetraute zu retten – und vielleicht sogar endlich ihr Herz zu gewinnen –, hatte Geryon sich dem Fürsten der Finsternis ausgeliefert. Und kurz darauf hatte die Verwandlung ihren Lauf genommen. Hörner waren aus seinem Schädel gewachsen, die Hände zu riesigen Pranken geworden und die Fingernägel zu scharfen, tödlichen Krallen. Dunkles, rötliches Fell hatte plötzlich seine Beine bedeckt, an deren Enden sich zu seinem Entsetzen keine Füße mehr befanden, sondern Hufe.

Binnen Sekunden war er vom Mann zum Ungeheuer geworden, mehr Tier als Mensch.

Seine Frau indes war tatsächlich gesundet, so wie Luzifer es ihm versprochen hatte. Doch an ihrer fehlenden Zuneigung zu Geryon hatte auch das nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Nicht genug damit, dass seine selbstlose Tat ihr nicht das Geringste bedeutet hatte, nein: Obendrein hatte sie ihn für einen anderen Mann verlassen. Einen Mann, mit dem sie sich offenbar von Anfang an heimlich getroffen hatte.

Welch ein Trottel er gewesen war. Ein Rindvieh. Alles umsonst, für nichts und wieder nichts.

„Was beschäftigt dich, Torwächter? Nie habe ich dich so … gebrochen gesehen.“

Er ballte die Fäuste, so fest, dass sich die Krallen tief in seine Haut drückten, und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart zu richten. Und auf die zauberhafte Göttin, die ihn besorgt ansah. Mitgefühl. In ihrem Gesicht ebenso wie in ihrer Stimme. Mitgefühl, von dem er sich nicht erweichen lassen durfte. Kalt und hart, das war es, was er sein musste. Immer. Denn anders würde er seine Zeit hier nicht überleben.

„Mein Handeln unterliegt nicht mehr meinem Willen. Sosehr ich auch wünschte, es wäre anders, ich kann nichts für Euch tun. Nun … bitte. Ihr habt doch sicher Pflichten, denen Ihr nachgehen solltet?“

„Ich tue genau jetzt meine Pflicht. Wie steht es mit dir?“

Er wurde rot.

Sie seufzte erneut. „Verzeih, ich wollte nicht schnippisch sein. Ich bin erschöpft.“

Die Göttin musterte ihn, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Beklommen trat er von einem Bein aufs andere. Ihrem durchdringenden Blick ausgesetzt zu sein machte ihn nervös – schließlich wusste er nur allzu genau, wie abstoßend sein Äußeres war. Doch zu seiner Überraschung zeigte sich in ihren warmen Augen noch immer keine Spur von Abscheu, als sie nachdenklich die Brauen zusammenzog und fragte: „Deine Seele gehört dem Fürsten der Finsternis?“

„Ja.“

„Aber wäre sie dein, würdest du mir in dieser Sache deine Unterstützung gewähren?“

„Ja“, wiederholte er heiser. Und sie? Würde sie ihm nach wie vor eine Belohnung für seine Hilfe anbieten?

„Nun gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Seine Augen weiteten sich entsetzt. Mit Luzifer verhandeln?

„Nein! Das dürft Ihr …“

Doch ehe er sie aufhalten konnte, war sie verschwunden.

In den Gewölben der Hölle:

„Luzifer, höre meine Worte. Ich verlange, mit dir zu sprechen. Du wirst dich mir zeigen. Zu dieser Stunde, heute, in diesem Raum. Allein. Ich werde genauso bleiben, wie ich gegenwärtig bin.“ Kadence, Göttin der Unterdrückung, wusste ihre Forderungen klar und unmissverständlich zu formulieren. Andernfalls nämlich würde der oberste Dämonenherrscher sie „auslegen“, wie es ihm gefiel, was sehr unangenehme Überraschungen mit sich bringen konnte. „Und du wirst vollständig bekleidet sein.“

Hätte sie schlicht um eine Unterredung mit ihm ersucht, wäre es gut möglich gewesen, dass sie sich unversehens in seinem Bett wiedergefunden hätte, an Händen und Füßen gefesselt, splitternackt und von einer Horde geifernder Monster umgeben.

Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass eine Reaktion auf ihre Forderung kam. Doch das hatte sie auch nicht erwartet. Er liebte es, sie warten zu lassen. Es gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Gib dich beschäftigt und desinteressiert.

Eingehend betrachtete Kadence ihre Umgebung, als sei sie nur gekommen, um sich in Luzifers Gefilden umzuschauen. Anstelle von Stein und Beton bestanden die Wände seines Palastes aus Flammen. Ein knisterndes, goldorangefarbenes Inferno. Tödlich bei der leisesten Berührung.

Sein Thron war geformt aus schwarzer Asche und Knochen, zwischen denen weitere züngelnde Flammen tanzten. Daneben, nur wenige Schritte entfernt, stand ein blutverschmierter Opferstein. Darauf lag noch immer ein lebloser Körper – abzüglich des Kopfes. Der allerdings würde bald schon von allein an seinen Platz zurückkehren, auf dass die Folterung von Neuem beginnen konnte. Das war der Lauf der Dinge hier unten.

Keine Seele würde dem endlosen Martyrium jemals wieder entrinnen, wenn sie erst einmal der Unterwelt anheimgefallen war. Nicht einmal im Tod.

Kadence verabscheute alles an diesem Ort. Dichte Schwaden beißenden Qualms stiegen aus den Feuern auf und legten sich um ihre Schultern wie körperlose Finger der Verdammten. Wie gern hätte sie mit der Hand den Gestank wegzufächeln versucht, doch sie tat es nicht. Sie würde keine Schwäche zeigen, und sei es auch nur durch solch eine winzige Geste.

Ließe sie sich etwas anmerken, das wusste sie genau, wäre sie innerhalb von Sekunden in eine riesige Wolke dieses giftigen, pechschwarzen Rauchs eingehüllt. An nichts fand Luzifer mehr Gefallen, als Schwachpunkte zu entdecken und sie auszunutzen.

Diese Lektion hatte Kadence bereits kurz nach ihrer Ankunft gelernt. Gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen – als sie gekommen war, um Hades und Luzifer darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie zu ihrer Wächterin ernannt worden war. Wer wäre besser geeignet als sie – die Verkörperung der Eroberung und der Unterwerfung –, um sicherzustellen, dass Dämonen und Verdammte genau dort blieben, wo sie hingehörten? Zumindest waren die Götter dieser Ansicht gewesen und hatten sie dafür ausgewählt.

Zwar teilte sie deren Meinung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten nicht, aber sich zu widersetzen hätte Bestrafung zur Folge gehabt. Mittlerweile war sie jedoch mehr als einmal zu dem Schluss gekommen, dass sie vielleicht besser die Strafe hätte in Kauf nehmen sollen. Mit Steinen beworfen zu werden, blutige Tierleichen auf ihren Eingangsstufen vorzufinden, die man als Warnung hinterlassen hatte … All das wäre erträglich im Gegensatz zu dem Dasein, das sie jetzt führte. Ein Dasein, dessen Tage sie damit zubrachte, in einer nahe gelegenen Höhle zu schlafen – doch es war kein echter Schlaf; es war ein ruheloses Dämmern, währenddessen ihr geistiges Auge in glasklaren Visionen pausenlos über die verschiedenen Dämonenlager schweifte –, und in dessen Nächten sie eine kahle, hässliche Steinmauer bewachte.

Während der Torwächter sie die ganze Zeit über beobachtete.

Das jedoch war kein so hartes Los.

Viele Jahre lang hatte es sie verunsichert, wie er jede ihrer Bewegungen verfolgte. Er unterschied sich so sehr von allem, was sie bis dahin gesehen hatte; halb Mann, halb Ungeheuer, und in seiner Gesamtheit seltsam … anders. Aber nach einer Weile hatte sie sich nicht nur an seinen ausdruckslosen Blick gewöhnt, sondern sogar begonnen, Trost darin zu finden. Er beschützte sie vor Dämonen und bösen Seelen, wenn sie durch das Tor schlüpften und bei ihren Fluchtversuchen jeden angriffen, der ihnen im Weg stand. Der Wächter drängte sie zurück, streckte sie nieder; ganz egal, wie schwer er selbst dabei verletzt wurde.

Dies war das Mindeste, das Kadence für ihn tun konnte.

Ich habe meine Seele verkauft, hatte er gesagt. Wofür? fragte sie sich. Was hatte er im Gegenzug bekommen? Hielt er diesen Tausch für ein gutes Geschäft oder bereute er ihn mittlerweile? Beinahe hätte sie ihn danach gefragt, doch dann war ihr wieder eingefallen, wie unangenehm ihm schon ihr Gespräch über die Risse in der Mauer gewesen zu sein schien. Mit persönlichen Fragen konfrontiert zu werden wäre ihm wohl kaum behaglicher gewesen, und so hatte sie es sein lassen.

Was vermutlich auch besser so war. Im Moment musste sie sich einzig und allein auf das konzentrieren, weswegen sie hier war. Wie hatte ihr entgehen können, welches Unheil sich in den Tiefen der Hölle zusammenbraute? Dass Hohe Herren ein für alle Mal zu entfliehen versuchten?

Sollte Luzifer etwa ihren geistigen Blick von den entscheidenden Gegenden seines Reiches ferngehalten haben? Nur er war mächtig genug dazu. Doch wenn ihr Verdacht tatsächlich stimmte: Was hoffte er zu erreichen, indem er seinen Untergebenen bei ihren Ausbruchsversuchen half? Würde sie ihn direkt darauf ansprechen, bekäme sie nichts als Lügen zu hören. So viel stand fest.

Also, was tun? Sie fühlte sich hilflos, mehr als je zuvor in ihrem Leben.

Nein, das war nicht ganz richtig. Während ihres ersten Besuchs hier in seinem Palast hatte Luzifer sofort ihre Unsicherheit gespürt – und seitdem auch die winzigste Gelegenheit genutzt, sie zu schüren. Eine flüchtige Berührung mit seiner plötzlich flammenlodernden Hand hier, eine anzügliche Bemerkung dort. Jedes Mal, wenn sie ihn aufsuchte, um irgendeine Unregelmäßigkeit zu besprechen, hatte sie erneut feststellen müssen, dass sie ihm nicht gewachsen war. Dass er mit ihr spielte und sie es sich gefallen ließ.

Das enttäuschte die Götter natürlich. Unter anderen Umständen hätten sie Kadence schon lange zurückbeordert, davon war sie überzeugt – wäre da nicht ihre unumkehrbare Verschmelzung mit der Barriere gewesen. So war sie für immer und alle Zeiten an die Mauer gebunden, für deren Unversehrtheit sie die Verantwortung trug. Eigentlich hatte diese Maßnahme dazu dienen sollen, ihr die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern. Doch nicht einmal die Götter selbst hatten damals geahnt, wie tief greifend jene Verbindung sein würde. Was mit ihr geschehen war, ging weit über die bloße Fähigkeit hinaus, reparaturbedürftige Stellen zu erspüren. Nein, Kadence hatte bald schon erkennen müssen, dass die Mauer zu ihrem einzigen Lebenszweck geworden war.

Mit jedem Herzschlag wurde sie von ihrer Essenz durchströmt, als sei das steinerne Bollwerk ein lebendiges Wesen, dessen Empfindungen sie wahrnahm, als wären es ihre eigenen, ob sie wollte oder nicht.

Das erste Mal, dass nach ihrer Ankunft einer der Dämonen von innen wütend daran gescharrt hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt, weil der heftige Stich in ihrer Brust sie vollkommen unerwartet getroffen hatte. Inzwischen hatte sie sich an dieses Gefühl gewöhnt, und es schockierte sie nicht mehr, obwohl sie nach wie vor jede kleinste Erschütterung spürte. Streifte eine Seele im Vorbeiflug den Felsen auch nur leicht, verursachte das ein Prickeln auf Kadence’ Haut. Züngelten die Flammen daran empor, spürte sie ein schmerzhaftes Brennen. Und dennoch, die jüngsten Attacken der Hohen Herren hatte sie nicht bemerkt. Warum?

Natürlich, in letzter Zeit war ihr schleichend bewusst geworden, dass sie immer öfter ohne ersichtlichen Grund mit Müdigkeit und Erschöpfung zu kämpfen hatte. Dann diese unerklärlichen Schmerzen, die sie überkamen wie Blitze, die ihren Körper durchzuckten. Doch ihre Visionen hatten nichts Beunruhigendes gezeigt. Nun, jedenfalls nichts Beunruhigenderes als das, was sie gezwungenermaßen jeden Tag mit ansehen musste.

Zumindest wusste sie jetzt, was die Schmerzen verursachte: der Riss in der Mauer. So eng, wie sie an diese düstere Unterwelt gebunden war, brachte er sie wortwörtlich um.

Du schweifst ab. Konzentrier dich! Unaufmerksamkeit konnte sie teuer zu stehen kommen. Sehr teuer. Dabei war der Ausgang dieser Verhandlung von so immenser Wichtigkeit. Alles hing davon ab, dass sie erfolgreich war. Sich gegen Luzifer durchsetzte.

Die Geräusche, die das Geschehen außerhalb des Palastes begleiteten, wurden immer unerträglicher. Das irre Lachen der Dämonen, die Schreie der Gefolterten, das feuchte Schmatzen von Fleisch, das sich vom Knochen ablöste. Und dieser widerliche Gestank … Der allein war schon eine Hölle für sich.

Inmitten eines solchen Grauens gelassen zu bleiben war nicht leicht. Ganz besonders nicht in einer Situation wie dieser. Bereits seit Wochen musste dieses Rudel der gefährlichsten aller Dämonenherrscher sein heimliches Zerstörungswerk vorangetrieben haben. Denn wenn schon die äußere Seite einen sichtbaren Riss hatte, dann jagte ihr der Gedanke, wie die andere wohl erst aussehen mochte, einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie hätte doch zumindest sehen müssen, wie die Dämonen ihre Lager verließen und sich der Mauer näherten. Aber nein, nicht einmal das hatten ihre sonst so unfehlbaren Visionen ihr gezeigt.

Genug jetzt. Offenbar hatte ihre Konzentrationsfähigkeit stärker gelitten, als sie gedacht hatte.

„Luzifer“, rief sie abermals. „Du hast meine Wünsche vernommen. Nun komm ihnen nach. Sonst gehe ich, und du verpasst eine einmalige Chance, einen Handel mit mir abzuschließen.“

Schritte hallten über den Boden, ließen ihn erbeben, und plötzlich teilten sich die Flammen. Endlich. Hindurch kam Luzifer geschlendert, gut gelaunt und frisch wie ein Sommermorgen.

„Selbstverständlich habe ich deine wohlklingende Stimme vernommen“, schmeichelte er in seidigem Tonfall. Und er lächelte, sein Gesichtsausdruck der Inbegriff von Verschlagenheit. „Du erwähntest einen Handel? Was kann ich für dich tun, meine Süße?“

3. KAPITEL

Kadence unterdrückte ein Schaudern.

Luzifer war groß, stattlich und muskulös wie ein Krieger und auf sinnliche Weise attraktiv; trotz des finsteren Infernos, das in seinen Augen loderte. Doch mit dem Biest, welches das Tor zu seinem Reich bewachte, konnte er sich nicht messen. Dem Biest, dessen Gesicht zu grob und kantig war, als dass man es mit einem anderen Wort als „wild“ hätte beschreiben können. Dem Biest, dessen gewaltiger, kraftstrotzender Körper ihr Furcht hätte einflößen sollen, ihr stattdessen jedoch schlicht ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Dem Biest, dessen monströse Erscheinung sie hätte abstoßen sollen, es aber nicht tat. Nein, seine braunen Augen – deren Ausdruck ihr früher teilnahmslos vorgekommen war, und in denen sie seit heute einen tief verborgenen Schmerz erkannte – zogen sie magisch an. Und nicht zuletzt war es sein Beschützerinstinkt, der sein Übriges zu Kadence’ Faszination tat.

Vielleicht hätte sie niemals begonnen, sich für ihn zu interessieren, wäre womöglich bis in alle Ewigkeit weiterhin dem Irrtum erlegen, er sei genauso wie alle anderen widerwärtigen Kreaturen hier. Doch dann hatte er ihr dieses erste Mal das Leben gerettet. Unglücklicherweise konnten selbst unsterbliche Göttinnen niedergemetzelt werden, wenn sie nicht aufpassten – eine Wahrheit, die ihr nie so deutlich vor Augen geführt worden war wie an jenem Tag. Als sich das Höllentor geöffnet hatte, um einer neuen Seele den Eintritt in die Abgründe dahinter zu gewähren – und ein dämonischer Lakai durch den Spalt geschlüpft und auf Kadence zugestürmt war, gierig nach warmem, lebendigem Fleisch.

Wie gelähmt hatte sie dagestanden, überzeugt, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.

Der Wächter – wie hieß er eigentlich? – war dazwischengegangen. Ein Hieb mit der Pranke, und seine vergifteten Klauen streckten den Angreifer nieder, bevor er Kadence auch nur berührt hatte. Danach waren sie zur Tagesordnung übergegangen, als sei nichts geschehen. Keiner von beiden hatte etwas gesagt. Ihr Glaube an seine vermeintliche Bösartigkeit war zwar deutlich angekratzt, aber noch nicht völlig verschwunden.

Von da an jedoch hatte sie ihn mit anderen Augen gesehen, ihn genauer beobachtet und immer mehr Einzelheiten bemerkt, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Seine Vielschichtigkeit beeindruckte sie. Ebenso wie seine Widersprüchlichkeit.

Er war ein Zerstörer, und doch hatte er sie gerettet. Er besaß nichts, und trotzdem lehnte er ihr Angebot ab, ihn für seine Hilfe zu bezahlen. Obwohl er alles von ihr hätte haben können, was er begehrte. Wie selten so etwas war. Wie ungewöhnlich. Wie … wohltuend. Es brachte sie dazu, ihm einen Gefallen tun zu wollen. Alles, egal was, so wie sie gesagt hatte. Und für einen kurzen, magischen Moment hätte sie schwören können, er würde sie um einen Kuss bitten. Sein Blick war zu ihren Lippen gewandert und hatte dort verharrt, sehnsuchtsvoll, aufgewühlt. Jede Faser seines Körpers hatte pures, brennendes Verlangen ausgestrahlt.

Bitte, hätte sie ihn am liebsten angefleht. Sag es. Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, der Mund war ihr wässrig geworden. Wie er wohl schmecken würde? Doch dann war er wieder zu sich gekommen, hatte den Kopf geschüttelt und sich mit hängenden Schultern von ihr abgewandt. Nein.

Wie ein Schlag in die Magengrube hatte die Enttäuschung sie getroffen. Doch ihn bedrängen oder gar nötigen würde sie nicht. Er hatte schließlich schon mehr als genug für sie getan. Und doch, immer wieder kreisten ihre Gedanken um die eine Frage, die eine Hoffnung … Fühlte auch er sich zu ihr hingezogen? In jenem magischen Moment hatte sie geglaubt, ein Glühen in seinen Augen zu sehen. Ein Glühen, das mit dem Fegefeuer nichts zu tun hatte.

„Langweile ich dich so sehr, dass du dich nicht einmal dazu herablässt, mir deine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem du mich gerufen hast? Zweimal?“ Luzifers provokante Bemerkung rief sie in die Gegenwart zurück, und sie hätte sich ohrfeigen können. Willst du etwa dem Fürsten der Finsternis leichtes Spiel gewähren und dieses Kräftemessen verlieren, bevor es überhaupt richtig begonnen hat?

„Langweilen?“ Sie zuckte mit den Schultern. Mit Ja zu antworten käme einer Aufforderung an ihn gleich, ihrem Treffen etwas mehr „Würze“ zu verleihen. Ein Nein dagegen wäre gleichbedeutend mit dem Bekenntnis, sie hätte Interesse an ihm. Zumindest seiner Logik zufolge. Keins von beidem würde für sie zu etwas Gutem führen.

Schweigend ließ er den Blick über ihren Körper schweifen, während er es sich auf seinem Thron bequem machte. Kaum dass er Platz genommen hatte, begannen sich durchscheinende, geisterhafte Schleier zwischen den Knochen zu winden. Ein juwelenbesetzter Kelch tauchte aus dem Nichts auf, materialisierte sich direkt in Luzifers Hand, und genüsslich nippte er daran. Ein Tropfen von tiefroter Farbe rann ihm aus dem Mundwinkel und fiel auf sein blütenweißes Hemd, wo er einen kleinen, dunklen Fleck hinterließ. Blut.

Innerlich schüttelte es sie vor Ekel, ihr Gesichtsausdruck jedoch blieb unbewegt.

„Du bist angewidert von mir, nur zeigst du es nicht“, stellte er mit einem humorlosen Grinsen fest. „Wo ist die verzagte Maus, die mich sonst besuchen kommt? Die zittert und kaum ein Wort herausbringt, ohne zu stottern? Die ist mir sympathischer.“

Stoisch hob Kadence das Kinn. Sollte er sie ruhig beleidigen, so viel er mochte, sie würde nicht darauf eingehen. Dieses Mal nicht.

„Die Barriere wurde beschädigt, und mehrere Hohe Herren sind wild entschlossen, deinem Reich zu entfliehen.“

Das Grinsen gefror auf seinen Lippen. „Du lügst. Das würden sie nicht wagen.“ Seine Wut war nachvollziehbar. In einem Gefängnis ohne Insassen, über wen hätte er da herrschen sollen?

„Du hast natürlich vollkommen recht. Nie im Leben käme deine treu ergebene Bande von Dieben, Vergewaltigern und Mördern auf den Gedanken, sich gegen ihren Patron zu stellen und hinter seinem Rücken eigene Interessen zu verfolgen.“

Er verengte die Augen, offensichtlich verärgert. Was er eiligst mit einem lässigen Schulterzucken überspielte.

„Also schön, die Barriere bröckelt. Was soll ich deiner Meinung nach dagegen unternehmen?“

Eigentlich hätte diese Antwort sie nicht überraschen dürfen. Wusste sie doch, dass es ihm Vergnügen bereitete, es seinem Gegenüber möglichst schwer zu machen.

„Der Torwächter. Er kann mir dabei helfen, die Aufrührer zu stoppen. Doch da seine Seele dir gehört, musst du ihm zuerst deine Erlaubnis geben.“

Luzifer schnaubte verächtlich. „Das schlag dir aus dem Kopf. Dem gestatten, sich frei zu bewegen! Nein, nein, der wird hübsch genau da bleiben, wo er ist.“

Oh ja. Er machte es ihr schwer. „Warum?“

„Ach, ich brauche einen Grund? Tja, dann lass mich mal überlegen. Hmm …“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. „Wie wäre es damit: Sein Vorgänger hat sich von den Lügen eines gerissenen Dämons einlullen lassen, und um ein Haar wäre dadurch eine Legion entwischt.“

War dies eine seiner eigenen Lügen? Der Wächter, den sie kannte, hatte seinen Posten bereits lange vor ihrer Zeit innegehabt, also konnte sie nicht wissen, ob jemals ein anderer an seinem Platz gestanden hatte.

„Diesem könnte dasselbe passieren. Viel zu riskant.“

Das jedenfalls war eindeutig gelogen. Niemand nahm seine Aufgabe ernster als dieser Wächter. Ein solcher Fehler würde ihm nie und nimmer unterlaufen. Nicht ihm.

„Andererseits …“ Nachdenklich schüttelte Luzifer den Kopf. „Nein, Geryon ist nicht empfänglich für ihre Raffinessen.“

Geryon. Endlich. Ein Name. Aus dem Griechischen. Grob übersetzt bedeutete er „Monster“.

Das gefiel ihr nicht. Ihn machte mehr aus als sein Äußeres. Viel mehr.

„Na? Nichts weiter zu sagen, Mäuschen?“, fragte Luzifer. „Sollen wir unsere Unterredung dann als beendet betrachten?“

In letzter Sekunde hielt sie sich davon ab, sich mit der Zunge über die Zähne zu fahren. Was sollte dieses Spiel, das er da mit ihr trieb? Eine intakte Barriere war für ihn ebenso wichtig wie für sie. Nun ja, vielleicht nicht ganz so wichtig. Im Gegensatz zu ihr würde er nicht sterben, wenn die Mauer einstürzte. Doch sein Widerstand zerrte an ihren Nerven.

Mit dieser Erkenntnis hatte sie ihre eigene Frage auch schon beantwortet. Er spielte nicht, um sie abzulenken oder weil er etwas zu verbergen versuchte, sondern einzig und allein zum Spaß. Aber sie würde nicht länger mitspielen. „Ich bin deine Gebieterin“, sagte sie mit fester Stimme. „Du wirst …“

„Gar nichts werde ich – du gebietest hier niemandem“, fiel er ihr in einem regelrechten Wutausbruch ins Wort – ein Wutausbruch, den er so schnell abschüttelte, wie er gekommen war. Ein rascher Atemzug, und er hatte sich wieder unter Kontrolle. „Du bist hier als meine … Anstandsdame. Du beobachtest, berätst und gibst darauf acht, dass alles seine Ordnung hat. Aber Befehle erteilst du nicht.“

Das „weil du zu schwach bist“ sprach er nicht aus. Das war auch nicht nötig. Sie wussten beide, dass es so war.

Wie gern wäre sie anders gewesen. Aufrecht und stark. Und sie hätte es sein sollen. Einst war sie es gewesen. Schließlich war ihre gesamte Natur die der Unterwerfung. Anderer, nicht ihrer selbst. Früher einmal. Weshalb war sie jetzt so anders?

Du weißt weshalb, und du tätest gut daran, dieses Thema ein für alle Mal ruhen zu lassen.

Als ihr klar wurde, dass ihr nichts weiter übrig blieb, als Luzifers Spiel mitzuspielen, straffte sie die Schultern. Es gab keine andere Lösung.

Du kannst es. Für Geryon. „Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dir einen Handel vorgeschlagen und du warst nicht abgeneigt. Wollen wir also beginnen?“, fragte sie in einem seidigeren Tonfall, als sie sich je zugetraut hätte.

Er nickte, als habe er genau darauf die ganze Zeit über spekuliert.

„Lass uns beginnen.“

Im Vorhof zur Hölle

„Ich verstehe nicht“, sagte Geryon und weigerte sich hartnäckig, seinen Posten zu verlassen. Er verschränkte sogar die Arme vor der Brust; eine Geste, die ihn an sein früheres Leben zurückdenken ließ, als er mehr als der Torwächter gewesen war, mehr als das versklavte Ungeheuer ohne freien Willen. „Luzifer würde niemals seine Zustimmung geben, mich … aus seinen Diensten zu entlassen.“

„Ich versichere dir, er hat es getan. Du bist frei.“ Die Göttin schaute auf ihre leichten Sandalen an den zarten Füßen hinunter. „Endlich.“

Verheimlichte sie ihm etwas? Versuchte womöglich, ihn in eine Falle zu locken, aus welchem Grund auch immer? Es war so lange her, dass er mit einem weiblichen Geschöpf zu tun gehabt hatte, und er wusste nicht mehr recht, wie man deren Verhalten richtig deutete. Ihr jedoch wollte er glauben. Alles und jedes. Und das war es, was ihm am meisten Angst machte.

Sie konnte ihn vernichten, ihm das Herz brechen. Oder was davon noch übrig war. Falls es da überhaupt noch etwas gab.

Sie wirkte blasser als sonst. Der zarte rosa Schimmer auf ihren Wangen fehlte, und die Sommersprossen hoben sich deutlicher ab. Die goldenen Locken, die ihr über die Schultern fielen, hatten ihren Glanz verloren, und er konnte Ruß auf den feinen Strähnen erkennen. Nur mit Mühe widerstand er dem Impuls, die Hand auszustrecken und ihr Haar durch seine Finger gleiten zu lassen, um es von dem schwarzen Schmutzfilm zu befreien.

Würde sie schreiend davonlaufen, wenn er es tatsächlich täte? Wahrscheinlich.

Auch ihre Kleidung war heute anders als sonst. Sie trug ein violettes Gewand und eine passende Halskette – an der ein tropfenförmiger Amethyst baumelte, so groß wie seine Faust und hell funkelnd wie die glitzernde Eisschicht, unter der die Erde seiner Heimat den Großteil des Jahres über lag. Eis, das er seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Und sie hatte er noch nie etwas Derartiges tragen sehen. Für gewöhnlich hüllte sie sich in schlichtes Weiß, von Kopf bis Fuß, ein Engel im Zentrum des Bösen, ohne überflüssigen Zierrat.

„Wie?“, bohrte er nach. „Warum?“ Und warum siehst du so traurig aus?

„Spielt das eine Rolle?“ Sie sah ihn an, und ihr Blick durchdrang ihn wie ein präzise geworfener Speer.

Jetzt wurde die Traurigkeit von Wut überlagert. Er mochte keins von beidem. Dieses wunderbare Wesen sollte niemals Kummer erleiden müssen, sondern nichts als Glück erfahren.

„Für mich tut es das.“

Aber nur, weil sein Überleben davon abhing. Wäre das nicht gewesen, er hätte sich zu allem bereit erklärt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr gegeben, was immer sie von ihm verlangte. Sogar in die alles verschlingenden Flammen des Fegefeuers wäre er ihr gefolgt, wie sie ihn zu Anfang gebeten hatte.

Sie stampfte mit einem ihrer zierlichen Füße auf. „Um die Mauer vor dem Einsturz zu bewahren, brauche ich deine Hilfe. Das muss dir fürs Erste als Antwort genügen. Du weißt so gut wie ich, dass Luzifer ihre Zerstörung nicht zulassen kann.“ Mit dem Zeigefinger winkte sie ihn zu sich heran. „Komm. Sieh selbst, welche Ausmaße der Schaden auf dieser Seite bereits angenommen hat. Dann wirst du verstehen, warum ich auf die andere gehen muss.“

Diesmal wartete die Göttin nicht auf eine Antwort. Sie drehte sich um und ging zu der gewaltigen steinernen Mauer hinüber. Nein, sie schwebte hinüber, jede ihrer geschmeidigen Bewegungen ein schimmerndes Leuchten im fahlen Zwielicht.

Wozu willst du so unbedingt überleben? Was hat dir das Leben denn bisher Gutes zugestanden? Geryon zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er ihr folgte. Tief atmete er den süßen Duft von Geißblatt ein, der sie umgab.

Und zu seinem Erstaunen kam niemand plötzlich aus den Schatten gesprungen, um sich auf ihn zu stürzen, nichts lauerte in der Dunkelheit, um ihn für seinen Ungehorsam zu bestrafen. War er wirklich frei? Konnte er es wagen, zu hoffen?

Die Göttin drehte sich nicht zu ihm um, als er neben ihr stehen blieb. Gedankenversunken fuhr sie mit der Fingerspitze über den dünnen Riss in der Mitte des Steins. Ein Riss, der sich ausbreitete und verzweigte, sodass er an viele kleine Wasserläufe erinnerte, die sich von einem reißenden Strom aus unaufhaltsam ins Land fraßen.

„Auf den ersten Blick sieht es nicht besonders schlimm aus, ich weiß. Aber der Riss ist schon jetzt doppelt so breit wie gestern. Wenn niemand die Dämonen aufhält, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Mauer fällt und sie in Legionen in die Welt der Menschen strömen.“

„Gelänge es nur einem Einzigen von ihnen, diese Welt heimzusuchen“, murmelte Geryon, „hätte das fatale Folgen. Chaos, Tod und Zerstörung würden über die Menschen hereinbrechen.“

Ob er nun bestraft würde oder nicht, er beschloss, ihr zu helfen. Er durfte nicht zulassen, dass solch eine Katastrophe geschah. Dass den Unschuldigen ihr Glaube an das Gute geraubt wurde, ihr Vertrauen, ihre Zuversicht. Viel zu kostbar waren diese Dinge.

„Angenommen, ich tue es ... angenommen, ich helfe Euch …“

Noch immer hatte sie ihm den Rücken zugekehrt.

„Ja?“ Ein atemloses Wispern.

„Verdiene ich mir damit immer noch eine Belohnung? Was auch immer ich will?“ Wie selbstsüchtig er war, danach zu fragen, doch er nahm die Worte nicht zurück.

„Ja.“ Kein Zögern. Ihre Stimme immer noch atemlos. Was erwartete sie wohl, worum er sie bitten würde?

„Also gut, so sei es. Ich akzeptiere den Handel. Ich werde Euch in die Hölle führen, Göttin.“

4. KAPITEL

Überrascht holte die Göttin Luft, und ihr Blick flackerte zu seinem Gesicht, ganz kurz nur, ehe sie ihn wieder auf den rauen Stein richtete.

„Du hilfst mir? Obwohl du jetzt weißt, dass du nicht länger ein Gefangener bist? Dass es dir freistünde zu gehen, wohin du willst?“ Diese leuchtenden Augen, die vollen, roten Lippen … Bei ihrem Anblick wurde ihm die Brust eng.

„Ja. Trotzdem.“ Wenn sie die Wahrheit sagte und er wirklich frei sein sollte, gäbe es doch keinen Ort für ihn, an den er gehen konnte. Zu viele Jahrhunderte waren vergangen, und sein einstiges Zuhause existierte nicht mehr. Seine Familie … tot. Und ohne Zweifel würde er mit seiner Erscheinung Angst und Schrecken verbreiten, wo immer er auftauchte. Davon abgesehen, so verlockend die Vorstellung von Freiheit auch war: Seine Bedenken, sich darauf einzulassen, konnte das nicht zerstreuen. Die Göttin selbst mochte vielleicht nichts Böses im Schilde führen, aber Luzifer tat es garantiert.

Bei ihm gab es immer einen Haken an der Sache. Heute frei zu sein bedeutete nicht zwangsläufig, dass er es morgen auch noch wäre. Und die Tatsache, dass er seine Seele nach wie vor nicht zurückerhalten hatte …

Nein. Er wollte sich lieber keine falschen Hoffnungen machen.

„Ich danke dir. Ich hatte nicht damit gerechnet … Ich … Sag mir, warum hast du ihm deine Seele verkauft?“, fragte sie leise, abermals den Riss betastend.

Ein Themenwechsel. Einer, auf den er nicht vorbereitet gewesen war.

„Wie genau kann ich Euch helfen?“, antwortete er rasch mit einer Gegenfrage. Er wollte nicht, dass sie von der Dummheit erfuhr, die ihn in seine missliche Lage gebracht hatte.

Schließlich ließ sie den Arm sinken und sah Geryon direkt an. Sein Blick ruhte auf ihr, und der angespannte Ausdruck wich langsam aus ihrem Gesicht.

„Ich bin Kadence“, stellte sie sich vor, als hätte er nach ihrem Namen gefragt und nicht, wie sie sich den Ablauf ihrer gemeinsamen Mission konkret gedacht hatte.

Kadence. Wie sanft die Schwingungen der Silben in seinem Geist nachklangen, so wunderbar warm, zart wie Seide – bei den Göttern, wie lange lag es zurück, dass er solch einen feinen Stoff berührt hatte? – und süß wie Wein. Wann hatte er das letzte Mal den Geschmack von Wein auf der Zunge gehabt?

„Ich bin Geryon.“ Einst hatte er einen anderen Namen getragen. Doch mit seiner Ankunft hier unten war ihm auch dieser letzte Rest seiner Vergangenheit genommen worden, indem Luzifer ihm kurzerhand einen neuen gab. Monster in der wörtlichen Übersetzung, die tiefer gehende Bedeutung war jedoch „Wächter der Verdammten“. Genau das, was er seit jenem Tag war, und alles, was er jemals sein würde. Mit Seele oder ohne.

In einigen der alten Legenden wurde er, wie ein Dämon ihm einmal hämisch entgegengeschleudert hatte, als dreiköpfiger Zentaur beschrieben. In anderen war die Rede von einem bösartigen Hund. Und manche behaupteten gar, bei dem Torwächter handle es sich um die jämmerlichen Überbleibsel eines Kriegers namens Herkules. Ihn scherten diese Geschichten wenig. Alles war besser als die Wahrheit.

„Ich stehe Euch zu Befehl“, erklärte er. „Kadence.“ Auf seinen Lippen fühlte sich ihr Name sogar noch wunderbarer an.

Ihr Atem stockte. Er hörte, wie die Luft in ihre Kehle strömte, aber nicht wieder heraus.

„Aus deinem Mund klingt mein Name wie ein Gebet.“ Da war kein Erschrecken in ihrer Stimme, nur … Verunsicherung?

Hatte es so geklungen? „Verzeiht bitte.“

„Du musst dich nicht entschuldigen.“ Die Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück, mehr noch, sie errötete richtiggehend. Bezaubernd. Dann klatschte sie unvermittelt in die Hände und lenkte das Gespräch wieder auf das, was momentan ihrer beider dringlichste Sorge sein sollte. „Zuallererst müssen wir die Risse in der Mauer flicken.“

Er nickte zustimmend, gab aber zu bedenken: „Ich fürchte nur, sie könnten schon zu groß geworden sein.“ Oberflächliche Schäden waren leicht zu reparieren. In die Tiefe gehende nicht. Das galt für Mauern ebenso wie für Lebewesen, wie Geryon aus eigener Erfahrung wusste. Seine inneren Wunden mochten vernarbt sein, ganz verheilen würden sie jedoch nie mehr. „Sie provisorisch zu verschließen wird ihre Ausbreitung nur für eine begrenzte Zeit aufhalten.“ Aber nicht den unausweichlichen Einsturz verhindern, dachte er, behielt seinen Pessimismus jedoch für sich. Er wollte sie nicht entmutigen. Obwohl er wirklich nicht wusste, was sie tun sollten, wenn es so weit war. Wenn das Tor zur Hölle sich auftat und verdammte Seelen und Dämonen die Erde überrannten.

Das musste unter allen Umständen verhindert werden. Nur, wie schon gesagt, hatte er keine Ahnung wie.

„Richtig. So wie ich die Dämonen kenne, lassen sie nicht locker, bis sie ihr Ziel erreicht haben.“ Ein weiteres Mal schaute sie zu ihm hoch. In ihrem Blick spiegelte sich Angst, wo doch nichts als Glück und Zufriedenheit hätte sein sollen. Was für eine Schande.

„Geryon“, sagte sie, nur um gleich darauf ihre sinnlichen Lippen zusammenzupressen und wieder zu verstummen.

Was von seinem Herz noch geblieben war, setzte mehrere Schläge aus. Sie war so märchenhaft schön, ihre Zartheit und ihr liebevolles Wesen standen in so krassem Gegensatz zu allem, was er selbst darstellte. Er wollte den Kopf einziehen, sich und seine hässliche Fratze am liebsten verstecken.

„Ja?“

„Ich … ich …“

Warum war sie so nervös? „Ihr könnt offen mit mir sprechen, Göttin.“ Was sie auch brauchte, er würde es ihr geben. Alles.

„Kadence. Bitte.“

„Kadence“, wiederholte er und schwelgte abermals in diesem herrlichen Klang. So gut …

„Ich … wüsste gern … an welche Belohnung hattest du gedacht?“

Das war nicht, was sie hatte sagen wollen, er wusste es, und sprachlos starrte er sie an. Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Er war davon ausgegangen, dass sie diese Frage später klären würden. Zuerst die Arbeit, dann …

„Einen … einen Kuss.“ Er wartete auf den Entsetzensschrei, der nun unweigerlich folgen musste, auf die entrüstete Ablehnung.

Ihr Mund aber formte nur ein stummes O.

„Wenn Ihr wollt, könnt Ihr die Augen schließen und Euch vorstellen, ich wäre jemand anders“, platzte er hastig heraus. „Oder mich zurückweisen, ich würde das verstehen.“ Hör auf zu plappern, du machst es nur noch schlimmer.

„Weshalb sollte ich?“, fragte sie sanft, ihre Stimme plötzlich seltsam belegt.

„Ich … ich ..“ Jetzt war es an ihm, nichts als nervöses Gestammel herauszubringen. Sie wies ihn nicht ab?

Sie feuchtete ihre Lippen an und beugte sich leicht vor. „Möchtest du ihn sofort?“

Sofort? Auf einmal bereitete ihm das Atmen Schwierigkeiten. Das bloße Stehen. Seine Knie zitterten, der Boden begann unter ihm zu schwanken. Dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen. Sofort? schoss es ihm erneut durch den Kopf. Jetzt geriet er in Panik.

Er war nicht vorbereitet. Bestimmt würde er sich zum Trottel machen, auf ganzer Linie versagen. Und dann würde sie sich ernüchtert abwenden, seine Hilfe nicht länger wollen. Oder schlimmer noch, ihm danach heimlich mitleidige Blicke zuwerfen, während sie die Mauer reparierten. Blicke, die er vielleicht nicht sehen, dafür umso schmerzlicher in seinem Rücken spüren würde.

„Später“, presste er hervor.

War das … Enttäuschung, was sie die Stirn runzeln ließ? Sicherlich nicht.

„Also schön“, sagte sie. Ruhig, emotionslos. „Später. Aber Geryon, ich muss dich warnen. Es besteht die Gefahr, dass wir nicht überleben werden.“

„Was meint Ihr?“

„Sobald die Barriere wiederhergestellt ist, werden wir die Dämonen finden und unschädlich machen müssen, die sie zerstören wollen. Bist du dir sicher, dass du warten willst?“

Die Dämonen unschädlich machen. Natürlich. Und was das in der Konsequenz bedeutete, wussten sie beide. Einen der Hohen Herren zu töten war ein Vergehen, das hart bestraft wurde. Ausnahmslos. Unbarmherzig.

„Nun?“, fragte sie. „Noch kannst du deine Meinung ändern.“

Hätte er es nicht besser gewusst, wäre ihm ihr Tonfall fast … ungeduldig erschienen. Erwartungsvoll. Doch er wusste es besser. Sich auf Luzifers Angebot einzulassen war eine schwere Entscheidung gewesen. Jedenfalls hatte er das damals gedacht. Dies hier war tausendmal schwerer.

„Nein.“ Er würde sich diesen Kuss verdienen, und hoffentlich würde sie ihn danach nicht als unwürdig betrachten, wenn sie sich daran zurückerinnerte.

Sie nickte und wandte, wie schon so oft zuvor, den Blick ab.

„Dann lass uns mit der Arbeit anfangen.“

5. KAPITEL

Viele Stunden lang arbeitete Geryon an der äußeren Mauer, während er immer wieder Kadence’ Versuche, ihm zur Hand zu gehen, im Keim erstickte. Er bekniete sie förmlich, hinter ihm zu bleiben. Dämonen seien nicht zu unterschätzen, sagte er. Witterten sie frisches, warmes Fleisch, wurden sie blind vor Gier und waren kaum noch zu bändigen. Es sei klüger, das zu vermeiden.

Was er nicht sagte, war, dass er sie offensichtlich für zu schwach hielt, einen solchen Angriff abzuwehren. Schwach und zerbrechlich, so sah er sie. Er brauchte es nicht auszusprechen. Sie konnte es an der wachsenden Sorge in seinen Augen ablesen.

Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn sie ihn ganz allein gelassen hätte, doch das kam für sie gar nicht infrage. Sie hatte nicht so hoch gepokert und etwas ausgehandelt, womit sie garantiert den Zorn der Götter auf sich ziehen würde, nur um ihn am Ende einen Kampf für sie ausfechten zu lassen, den er ohne sie unmöglich gewinnen konnte.

Sie mochte nicht diejenige sein, die über die Dämonen herrschte – ihnen ihren Willen aufzwingen konnte sie dennoch. Hoffte sie. Außerdem: So schwach und zerbrechlich sie wirken mochte, verbarg sich in ihrem Inneren doch ein stahlharter Kern.

Was sie Luzifer schlussendlich an diesem Tag auch bewiesen hatte. Ihm und sich selbst.

Als Kind war sie eine unbezwingbare Naturgewalt gewesen, ein Tornado, der jeden und alles niedermähte, was ihm in die Quere kam. Sie hatte es nicht absichtlich getan, es war einfach geschehen. Sie hatte nur dem leisen Drängen dieser Stimme in ihrem Geist nachgegeben. Dominiere. Unterwerfe.

Willst du wirklich jetzt daran denken?

Kein Zeitpunkt wäre passender als dieser, befand sie. Das Einzige, womit sie sich sonst hätte beschäftigen können, waren diese anderen, noch unangenehmeren Gedanken, die ihr nicht aus dem Kopf gehen wollten. Wieso hatte Geryon abgelehnt, als seine Belohnung zum Greifen nah war? Was hinderte ihn, sich diesen Kuss schon im Voraus geben zu lassen? Warum hatte ihn ihr Vorschlag so schockiert?

Hierfür gab es mehrere mögliche Erklärungen. Erstens: Er war in Wirklichkeit überhaupt nicht auf einen Kuss aus – doch weshalb hätte er dann ausgerechnet darum bitten sollen? Oder er verübelte ihr, dass sie ihn um seine Hilfe gebeten hatte – das war die wahrscheinlichste. Und letztlich gab es da noch Möglichkeit Nummer drei: Er verzehrte sich schlicht nach einer Frau, irgendeiner, und da sie nun einmal die einzig verfügbare war, musste er zunächst seinen Körper dazu bewegen, entsprechend zu reagieren.

Wie erniedrigend.

Wie ausgesprochen wenig hilfreich.

Sie hätte es vorgezogen, ihm tatkräftig zur Seite zu stehen, anstatt herumzusitzen und aus Langeweile mit dem Grübeln anzufangen. Aber nein, jedes Mal, wenn sie versuchte, mit anzupacken, hatte er sie verscheucht. Zum Schluss sogar gedroht, zu gehen, sollte sie nicht bald endlich Ruhe geben. So hockte sie also hier in ihrer Ecke, das Kinn auf die Hände gestützt, frustriert. Nutzlos.

Ich bin nicht schwach, verdammt. Auch wenn ich mich, zugegeben, lange Zeit wie ein Schwächling aufgeführt habe.

Damals, als Kind, hatte sie eines schrecklichen Tages feststellen müssen, dass sie den Willen ihrer eigenen Mutter gebrochen hatte. Dass von der einst so energischen, lebensfrohen Göttin nur noch eine leblose Hülle übrig geblieben war. Verstört hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen, voller Angst vor den Kräften, die in ihr schlummerten. Vor dem, was sie noch alles anrichten könnte, beabsichtigt oder nicht.

Leider gesellten sich zu dieser Angst bald weitere, als hätte sie eine Tür aufgestoßen und ein Willkommensschild darüber aufgehängt. Nur hereinspaziert. Und das waren sie, eine nach der anderen. Furcht vor Fremden, Orten, Gefühlen. Jahrhunderte lang hatte sie sich wie eine verschüchterte Maus verhalten, genau wie Luzifer gesagt hatte.

Unter all diesen Ängsten jedoch war sie noch immer die Göttin, als die sie geboren worden war. Unterdrückung. Sie forderte heraus. Sie wich niemals zurück, egal, wie übermächtig ihr Gegner auch schien. Bitte lass mich nicht zurückweichen. Nie wieder.

„Mehr kann ich nicht tun. Hoffen wir, dass es lange genug hält“, sagte Geryon.

Kadence hatte sich auf einen Felsbrocken in der Nähe gesetzt und erhob sich nun eilig. Das Gewand fiel ihr über die Knöchel, leicht flatterte der Saum im Luftzug.

„Sobald ich das Tor geöffnet habe“, – das Tor, hinter dem sich der Schlund der Hölle auftat – „müssen wir schnell sein. Es wird nur einen schmalen Spalt weit aufgehen, kaum genug, sich hindurchzuzwängen, aber es geht nicht anders.“ Denn sonst würden sie riskieren, dass jemand – oder etwas – die Gelegenheit nutzte und entkam.

„Ich verstehe“, sagte sie und trat dicht neben ihn.

„Auf der anderen Seite ist weder ein Vorsprung noch sonst etwas, das uns Halt geben würde. Wir müssen uns an der Mauer entlang bis nach unten hangeln.“

Erst als sie ihm mit einem knappen Nicken signalisiert hatte, dass sie bereit war, begann er die Steine auseinanderzuschieben, und laut knirschend gab das Tor langsam nach.

Kaum war der besagte Spalt entstanden, schossen auch schon glühend heiße Flammen und schuppige Arme daraus hervor, und schrille, wahnsinnige Schreie erfüllten die Luft. Geryon ging als Erster hinein und brüllte den herbeigeströmten Massen entgegen, sie sollten gefälligst verschwinden. Zu ihrer Überraschung sah sie die Dämonen tatsächlich auseinanderstieben, als sie ihm kurz darauf folgte. Die Flammen erloschen, und die Schreie verstummten. Ein Teil von ihr wollte glauben, dies wäre geschehen, weil sie Angst vor ihr hatten. Der andere wusste, es waren Geryons tödliche Klauen, die sie fürchteten.

Mit aller Kraft klammerte sie sich an der steil nach unten führenden Steinwand fest, während Geryon den Spalt von innen wieder schloss. Loszulassen hätte den freien Fall in den Höllenschlund bedeutet, ein klaffendes, brodelndes Loch, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen.

Handflächen … schweißnass …

„Bereit?“ Zentimeter für Zentimeter kam Geryon vorsichtig auf sie zugeklettert. Er hatte sich auf die linke Seite des Tores geschwungen, sie auf die rechte. „Bereit?“, fragte er noch einmal und streckte ihr die Hand entgegen.

„Ja.“ Endlich erfahre ich, wie er sich anfühlt. Sicherlich nicht so traumhaft, wie ich es mir erhoffe. Nichts kann so wunderbar sein. Doch kurz bevor es so weit war, glitt sein Arm über ihren Kopf hinweg und er befand sich plötzlich hinter ihr, dann neben ihr – und das alles, ohne sie auch nur zu berühren. Sie seufzte enttäuscht und krallte die Finger noch fester in die Mauerritzen, während sie versuchte, auf einem winzigen, bröckligen Vorsprung unter ihren Füßen die Balance zu halten, so gut sie konnte.

„Dort entlang.“ Er nickte zu dem Riss hinüber, den die Dämonen verursacht hatten. Auf dieser Seite war er deutlich breiter, als es von außen den Anschein machte.

„In Ordnung. Und Geryon? Danke. Für alles.“ Normalerweise teleportierte sie sich direkt in Luzifers Palast, ohne das Tor auch nur zu berühren, so groß war ihre Angst davor. Doch heute konnte sie das nicht tun. Denn Geryon konnte sie nicht teleportieren. Geschweige denn irgendjemand anderen. Diese Fähigkeit erstreckte sich nur auf ihren eigenen Körper.

„Gern geschehen.“

Im Vorbeihangeln erhob Kadence kurz die Hand über den nun wieder geschlossenen Spalt. Da es draußen keine zweite Verteidigungslinie in Form eines Wächters mehr gab, war eine zusätzliche Stabilisierung der ersten bitter nötig – ungeachtet der Tatsache, dass diese Verdichtung Kadence schwächte, denn für so etwas musste sie jedes Mal etwas von sich selbst opfern.

Auch als die so freigegebenen Funken ihrer Energie mit den Steinen des Tores verschmolzen, hütete sie sich davor, ihm zu nahe zu kommen. Geryon war vermutlich der Einzige, der ungestraft die gigantischen Torgriffe berühren konnte. Abgesehen von Hades und Luzifer natürlich. Jeder andere, der damit in Kontakt kam, gewollt oder nicht, spielte mit seinem Leben, hieß es. Sie hatte es nie gewagt, diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Plötzlich fiel ihr etwas auf, und mit nachdenklichem Blick auf ihren Begleiter legte sie den Kopf schief. Wenn Geryon fort war, wer öffnete von außen das Tor, um die Seelen der Verdammten hineinzulassen?

Vielleicht hatte Luzifer in der Zwischenzeit schon für Ersatz gesorgt. Vielleicht? Kopfschüttelnd lachte sie in sich hinein. Auf jeden Fall hatte er das. Er würde das Tor niemals unbewacht lassen, selbst wenn er wusste, dass Kadence es verstärken würde, so gut sie konnte.

Die Vorstellung, dass Geryon in Zukunft nicht mehr derjenige wäre, den sie jeden Tag sah … bedrückte sie. Sobald die Barriere nicht länger in Gefahr war – die Möglichkeit ihres Versagens verdrängte sie rigoros –, stand es Geryon frei, zu gehen. Sie aber blieb weiter hier gefangen.

Denk jetzt nicht darüber nach. Sonst würden ihr am Ende noch die Tränen kommen. Ihre Sicht würde verschwimmen. Wenn das passierte, könnte sie bei der nächsten Vertiefung im Stein leicht danebengreifen, und ihre Hand würde abrutschen. Ihre klatschnasse Hand.

Sie blickte sich um. Die Luft wurde bereits stickiger, bemerkte sie, heißer. So heiß, dass nicht nur ihre Hände, sondern auch Arme, Nacken, sogar ihr Gesicht mit einem Schweißfilm überzogen waren. Tropfen sammelten sich an ihrem Haaransatz und rannen ihre Schläfen hinab. Gelangten in ihre Augen, die sofort anfingen zu brennen und sich mit Tränen zu füllen, was ihre Sicht verschwimmen ließ.

„Geryon“, rief sie, hektisch umhertastend.

„Ich bin hier, Kadence.“ Im nächsten Moment kletterte er halb über sie hinweg und blieb dieses Mal schützend hinter ihr stehen. Sein herber, männlicher Duft hüllte sie ein, verscheuchte die fauligen Schwaden der Verwesung, von denen ihr langsam übel geworden war. „Alles in Ordnung?“

„Ja“, flüsterte sie. Aber bei den Göttern, in was für eine Lage hatte sie sich da nur manövriert?

6. KAPITEL

„Folge einfach meinen Bewegungen“, forderte Geryon sie auf. „Meinst du, du schaffst das?“

„Ja. Natürlich.“ Wirklich? Sie presste die Lippen aufeinander und begann, sich synchron mit ihm an der zerklüfteten Mauer entlangzuschieben. Schrecken erfüllte sie beim Gedanken an das bodenlos erscheinende Loch, das unter ihr wartete – weit mehr noch war sie allerdings mit dem männlichen Wesen hinter sich beschäftigt, das sie mit seinem breiten Rücken schützte, ihr Halt gab. „Wer weiß, vielleicht ist die Mauer ja gar nicht so schlimm beschädigt, wie ich befürchtet hatte. Eine Göttin wird doch noch hoffen dürfen, nicht wahr?“

„Richtig. Eine Göttin darf hoffen.“

Wie sehr ihr Körper danach hungerte, sich an seinen zu schmiegen. Sie wollte seine Stärke spüren, ihm nah sein, wenn auch nur für einen Augenblick. Doch sie tat es nicht, zu groß war ihre Angst, ihn abzulenken. Oder zu erschrecken. Oder durch die plötzliche Verlagerung ihres Gewichts aus der Balance zu bringen.

Ein Felsstück löste sich von der schmalen Erhebung, auf die sie gerade ihren Fuß gestellt hatte, und sie schrie auf.

„Ruhig bleiben. Du darfst auf keinen Fall deine Angst zeigen, egal wodurch“, raunte er ihr zu. „Die Dämonen und das Feuer weiden sich daran. Sie werden mit allen Mitteln versuchen, mehr davon in dir auszulösen.“

„Sie sind lebendig? Die Flammen?“

„Einige von ihnen, ja.“

Bei allen Gottheiten, wie viele Dinge gab es denn noch hier unten, von denen sie nichts wusste? „Ich hatte nicht erwartet, dass der Abstieg so schwierig sein würde. Wenn ich uns doch nur beamen könnte.“

„Beamen?“

„Sich von einem Ort zum anderen bewegen, nur mit der Kraft der Gedanken.“

„Du hast diese Fähigkeit?“

„Ja.“

„Und du kannst dich überall hindenken?“

„Überall hin, wo ich schon einmal war. Sich an ein unbekanntes Ziel zu beamen ist … nicht ganz ungefährlich.“

Er dachte einen Moment nach. „Bist du schon einmal auf dem Grund dieser Höhle gewesen?“

„Nein.“ Wahrscheinlich wunderte er sich darüber, dass sie, als einer der Hüter der Hölle, hier nicht jeden kleinsten Winkel erkundet hatte. Zumindest nicht, indem sie sich körperlich dorthin begab. Sie hatte sich für so wahnsinnig schlau gehalten. Einfach ihren Geist aussenden, das reichte doch. Nun wurde ihr klar, was für einen furchtbaren Fehler sie gemacht hatte.

„Dann möchte ich dich darum bitten, es nicht zu versuchen. Du könntest die Entfernung falsch einschätzen und an einer Mauerstelle landen, wo du dich nirgends festhalten kannst.“

Oder zehn Meter tief im Boden, aber das sagte sie ihm nicht.

„Trotzdem, es hört sich sehr praktisch an. Ich beneide dich.“

Der Ärmste. Er war seit unzähligen Epochen an seinem Platz gefangen gewesen. „Wenn du dich an jeden beliebigen Ort auf der Welt wünschen könntest, welcher wäre das?“ Vielleicht, wenn sie die fluchtwilligen Dämonen vernichtet hatten, könnte sie ihn dorthin begleiten. Natürlich wäre es ihr nicht möglich, bei ihm zu bleiben, denn sie hätte nach wie vor eine Aufgabe zu erfüllen – aber ihn glücklich zu sehen würde auch noch viele Jahre danach ihre Fantasie beflügeln und ihre Träume versüßen.

Er brummte in sich hinein. „Ich will dich nicht belügen, also verzeih bitte, dass ich diese Frage lieber nicht beantworte.“

Oh. „Sicher. Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.“ Warum erzählt er es mir nicht? Die Neugierde zerrte an ihren Nerven. Schämte er sich etwa für die Antwort? Und falls ja, weshalb? Sie wollte es unbedingt wissen, ließ das Thema jedoch widerwillig ruhen. Für den Augenblick.

„Wir sind fast da“, sagte er. Beinahe beim Riss auf der inneren Seite der Mauer.

„Gut.“ Er blieb weiterhin dicht hinter ihr, schien aber sorgsam darauf zu achten, sie nicht zu berühren. Seine Körperwärme hingegen konnte er nicht daran hindern, sich um Kadence zu legen, sie zu umschließen. Ein angenehmes Gefühl, selbst inmitten der Hitze dieses glühenden Schmelzofens der Hölle, in dem sie sich befanden. Seine Hitze war anders … aufregend.

Er hielt inne, was sie dazu zwang, dasselbe zu tun. „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist schlimmer, als ich erwartet hatte.“ Sein Atem kitzelte die feinen Härchen in ihrem Nacken.

„W…was?“, fragte sie verwirrt.

„Der Schaden an der Mauer. Er ist größer, als ich dachte.“

Du törichtes Weib, schalt sie sich selbst. Ihr Leben hing davon ab, dass diese Barriere unter keinen Umständen fiel, und was tat sie? Sich in Tagträumereien verlieren.

Sie holte tief Luft, richtete dann den Blick stur geradeaus und ihre gesamte Konzentration auf den Grund, aus dem sie hier waren. Anstatt auf den atemberaubenden Mann hinter ihr. Zuerst sah sie nur verstreute Krallenspuren, die sich kreuz und quer über das Gestein zogen. Doch dann erkannte sie langsam das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die verhältnismäßig dünnen Risse, die von außen sichtbar gewesen waren, stellten sich nun als die bloße Spitze des Eisbergs heraus. Auf dieser Seite klafften tiefe Furchen, jede einzelne so breit wie Geryons Oberarme.