Die Herrin der Regenmacher - Timo Leibig - E-Book

Die Herrin der Regenmacher E-Book

Timo Leibig

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Beschreibung

Die Regenmacher sind böse, gefährlich und intelligent. Wird ihre Herrin sie aufhalten oder in den Krieg führen? Nach »Der Zorn der Regenmacher« der nächste in sich abgeschlossene Roman aus den phantastischen »Jundar-Chroniken«.

Die Zwillingsbrüder Henning und Nante lieben die raue See. Sie ist ihr Leben. Doch als die albtraumhaften Jundar aus den Tiefen aufsteigen, sind die Brüder gezwungen, dem Meer den Rücken zu kehren und ins Landesinnere zu flüchten. Bei ihnen ist die Heilerin Leyna – die Einzige, welche die Invasion der Jundar zurückzuwerfen vermag. Dazu muss sie gegen ihren Willen lernen, ihre sonst lebenspendende Magie zum Kampf einzusetzen. Dabei ist nicht ihr geliebter Henning ihr Lehrmeister, sondern der nahezu wahnsinnige, magiebegabte Nante. Aber die Jundar lassen sich nicht so leicht bekämpfen: Sie haben ihre eigenen Pläne für Leyna ...

Die Jundar-Chroniken:
1. Der Zorn der Regenmacher
2. Die Herrin der Regenmacher

Die Nanos-Dilogie :
1. Nanos - Sie bestimmen, was du denkst (als Taschenbuch erhältlich unter dem Titel »Die Nanos-Mission«)
2. Nanos - Sie kämpfen für die Freiheit (als Taschenbuch erhältlich unter dem Titel »Die Nanos-Rebellion«)

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Seitenzahl: 407

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Buch

Die Zwillingsbrüder Henning und Nante lieben die raue See. Sie ist ihr Leben. Doch als die albtraumhaften Jundar aus den Tiefen aufsteigen, sind die Brüder gezwungen, dem Meer den Rücken zu kehren und ins Landesinnere zu flüchten. Bei ihnen ist die Heilerin Leyna – die Einzige, welche die Invasion der Jundar zurückzuwerfen vermag. Dazu muss sie gegen ihren Willen lernen, ihre sonst lebenspendende Magie zum Kampf einzusetzen. Dabei ist nicht ihr geliebter Henning ihr Lehrmeister, sondern der nahezu wahnsinnige, magiebegabte Nante. Aber die Jundar lassen sich nicht so leicht bekämpfen: Sie haben ihre eigenen Pläne für Leyna ...

Autor

Als Kind wollte Timo Leibig Erfinder werden – heute erfindet er spannende Geschichten. Vierundzwanzig Bücher hat er bereits in den Genres Fantasy, Science Fiction und Thriller veröffentlicht. Er legt Wert auf originelle Storys und lenkt den Blick in die Abgründe der menschlichen Seele – wo in uns allen das Böse lauert. Mit seinen Werken bei Blanvalet und als Selfpublisher konnte er über 250.000 Leser*innen bereits begeistern. Wenn Timo gerade nicht schreibt, entwirft der studierte Designer Buchcover, zeichnet Fantasyfiguren oder ist mit seiner Hündin Tessa unterwegs in den Bergen. Bei einer deftigen Brotzeit lädt er die Kreativbatterien auf und träumt bisweilen von einer eigenen Alm in den Alpen.

Weitere Informationen unter: www.timoleibig.de

Von Timo Leibig bereits erschienen

Die Jundar-Chroniken:1. Der Zorn der Regenmacher2. Die Herrin der Regenmacher

Die Nanos-Trilogie :1. Nanos – Sie bestimmen, was du denkst (als Taschenbuch erhältlich unter dem Titel »Die Nanos-Mission«) 2. Nanos – Sie kämpfen für die Freiheit (als Taschenbuch erhältlich unter dem Titel »Die Nanos-Rebellion«)3. Band 3 in Vorbereitung

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TIMO LEIBIG

DIE HERRIN DER REGENMACHER

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Timo Leibig

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

© 2022 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Hanka Leo

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, unter Verwendung eines Motivs von Melkor3D/Shutterstock.com

BL · Herstellung: mr

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25966-2V001www.penhaligon-verlag.de

Für meinen Opa Rupprecht.Du hast mir gezeigt, wie wunderbar Fantasie sein kann.

Teil 1: DER FLUCH

Kapitel 1 Südmark, östlich von Goldfeldern

»Ich sage Euch, es war ein Monster von einem Hirsch!«, beharrte Artur, als sie den bewaldeten Hang erklommen. »So ein Vieh habe ich noch nie gesehen!«

»Monster … Seit wann habt Ihr Angst vor Rotwild?« Meister Lüttich duckte sich unter einem herabhängenden Ast hindurch. Die Dämmerung senkte sich herab und tauchte das Dickicht zwischen den Eichen und Hainbuchen in diffuse Dunkelheit.

»Ich habe keine Angst!« Artur stand wie sein Vater als Jäger im Dienste des Königs, seit er denken konnte. Die Wälder um Goldfeldern waren sein Heim. »Und es war auch kein normales Rotwild!«

Meister Lüttich hob die Hand und gebot ihm zu schweigen. »Wir werden sehen.«

Vielleicht besser so, dachte Artur. Meister Lüttich glaubte ihm sowieso nicht, und hätte Artur das Monster nicht mit eigenen Augen gesehen, würde er es selbst nicht glauben. Er war am Morgen auf der Suche nach einer verletzten Hirschkuh gewesen, die bei der letzten Patrizierjagd den edlen Herren entkommen war. Eine Spur hatte ihn auf den Kamm geführt und hatte sich dort leider verloren. Er war deshalb auf eine der Eichen geklettert und hatte zwischen den Ästen hindurch stattdessen das Monster erspäht. Ein Prachtexemplar von Hirsch, größer noch als die roten Edlen, die von den Patriziern am liebsten gejagt wurden. Das Geweih hatte mindestens sechs oder sieben Fuß in der Breite gemessen und im Morgenlicht fahl geleuchtet, ebenso wie die Augen des Monsters: gelborange, wie zwei Laternen in der Dämmerung. Und dann hatte Artur die Reißzähne entdeckt, den blutschaumigen Speichel an den Lefzen, das viel zu dunkle, ja fast bläuliche gestromte Fell und die seltsamen violetten Auswüchse an Hals und Kopf.

Wenn das ein normaler Hirsch gewesen war, war Artur eine lieblich singende Maid mit goldenem Haar in rosenroten Kleidern.

Schweigend stiegen sie den Hang weiter Richtung Kamm empor, bis der königliche Jagdmeister vor einer markanten Eiche stehen blieb und sich umsah. Leise fragte er: »War es hier?«

Artur nickte. »Hier bin ich emporgeklettert. Man hat die beste Aussicht über Goldfeldern im Westen und das Delta des Talisters mit den Fischerdörfern im Osten. An klaren Tagen sieht man sogar die Weite des Meeres und das Hügelland der Barbaren.«

»Ihr scheint hier viel Zeit zu verbringen.«

Artur bekam rote Wangen. »Nur im Dienste des Königs, Meister.«

Lüttich erwiderte nichts, sondern unterzog die nähere Umgebung einer genaueren Überprüfung. Vorsichtig stieg er über Moose und Farne, über Steine und abgebrochene Äste, den Blick auf den Boden gerichtet. Den prächtigen Jagdbogen samt Köcher trug er stets abgespannt an seinem Tornister, die zusammengerollte Sehne in einem Täschchen verborgen.

»Hier.« Er sank in die Hocke. »Eine Spur.«

Artur trat zu ihm. Ganz deutlich schimmerte zwischen Moosen auf einem Fleckchen Erde der tiefe Abdruck eines Paarhufs. Die Druckstelle hatte sich mit Wasser gefüllt und glänzte wie dunkles Silber.

»Recht stattliches Exemplar.« Lüttichs Finger fuhren die Druckstelle entlang. »Und das Tier kam erst vor Kurzem hier entlang. Die Ränder sind noch feucht.«

»Dort drüben hat er sich auch zu schaffen gemacht.« Artur deutete auf eine junge Eiche; deren Rinde hing in fingerdicken Streifen herab.

Meister Lüttich nickte. »Ich vermute, das Tier hat eine Quelle in der Nähe entdeckt und Gefallen daran gefunden.«

Überall um das Delta des Talisters entsprangen Quellen an den Hängen, verwandelten sich in murmelnde Bäche, um am Ende in den breiten Strom zu münden. Die Region um Goldfeldern war nicht umsonst reich an Wild und Wald und Wolle. Früher war die Stadt die Hauptstadt der Südmark gewesen, aber das war Jahrhunderte her. Heute residierte der König in Tannrein auf der Feste.

Artur war an den jungen Baum herangetreten, um sich die Schälschäden anzusehen. An den noch jüngeren Trieben war sogar Verbiss zu sehen. Dort schimmerte Blut.

Meister Lüttich kratzte sich nachdenklich am Kopf, nachdem Artur ihn darauf hingewiesen hatte. »Vielleicht ist es doch die verletzte Hirschkuh.«

»Der Hirsch hatte ein Geweih.«

»Vielleicht ein Rudel.«

Artur glaubte das nicht, sparte sich aber einen Kommentar. Stattdessen fragte er: »Soll ich noch einmal auf die Eiche klettern? Vielleicht entdecke ich das Tier ein zweites Mal.« Und bin in Sicherheit. Am Morgen hatte er zitternd auf dem Ast gesessen und gewartet, bis das Monster verschwunden war. Und noch deutlich länger. Irgendetwas war von dem Hirsch mit den orange leuchtenden Augen ausgegangen, das ihm eine Heidenangst eingejagt hatte. Eine Art kalter Feindseligkeit. Artur konnte es nicht genau beschreiben, und er war nicht erpicht auf ein Wiedersehen.

»Ja, tut das.« Meister Lüttich nahm Arturs Tornister an sich, damit der besser klettern konnte. »Ich sehe mich derweil hier unten weiter um.«

Während der Jagdmeister im Unterholz verschwand, kletterte Artur die Eiche empor. Der Baum war wie dafür geschaffen, mit breiten Ästen, borkiger Rinde und ausladenden Gabeln. Flink war er oben und setzte sich auf genau die gleiche Stelle wie am Morgen.

»Und?«, raunte Lüttich empor. »Irgendetwas zu sehen?«

»Bisher nur der Wald.«

»Dann steigt weiter hoch!«

Artur seufzte und folgte der Anweisung. Während ihm mit jedem erklommenen Ast mehr und mehr der Geruch von Harz in die Nase stieg, senkte sich die Nacht immer schneller herab. Zwischen den Ästen über ihm blitzte bald der blasssilberne Mond hervor. Der blaue zweite Mond war nicht zu sehen.

»Und?« Die entfernte Stimme des Meisters von irgendwo unten.

»Gemach!« Artur keuchte, zog sich an einer weiteren Astgabel empor und klammerte sich fest. Ihm war heiß von der Kletterei, und sein Atem stieg in blassen Wolken vor seinem Gesicht auf.

»Wie langsam bitte klettert Ihr!«

Schneller als Ihr. Artur ließ sich nicht beirren. Er suchte erst einen sicheren Sitz, bevor er den Blick gen Goldfeldern richtete.

Der Himmel im Westen war noch eine Spur heller und die Stadt bestens zu erkennen. Die Laternenanzünder waren schon am Werk; die Hauptstraßen und der Marktplatz glommen in mattem Schein. Ebenfalls brannten die Feuerschalen auf der Stadtmauer. Soldaten würden sich darum drängen und die Hände wärmen. Mehr hatten sie auch nicht zu tun; das Gesinde und die Räuber gaben momentan Ruhe. Der Sommer in der Südmark war ein guter gewesen, mit viel Sonne und genügend Regen. Die Ernte fiel prächtig aus, der Weizen schimmerte golden, die Kürbisse waren prall, die Birnen und Äpfel saftig, die Zwetschgen süß. Goldfeldern machte dieses Jahr ihrem Namen alle Ehre.

Noch im Frühjahr hatte das niemand erwartet, als Gerüchte aus dem Westen zu ihnen getragen worden waren. Vom ewigen Regen hatten die fahrenden Händler geflüstert, von wochenlangen Niederschlägen an der Küste, vor allem in La Harb. Von einer Regenglocke, von Missernten und Schimmel, von feuchten Häusern und Überflutungen. Und von jedem Händler waren die Geschichten mehr ausgeschmückt worden. Irgendwann sprach man von Befallenen, von seltsamen Ungeheuern aus der See, von Hexen und Zauberern und riesigen Scheiterhaufen. Eine Gruppe Kasai, fahrendes Volk mit bunt bemalten Gesichtern, hatte schlussendlich sogar ein Lied zum Besten gegeben, ein Lied von einer Hexe namens Leyna, die La Harb mithilfe der Götter gerettet haben sollte.

Artur erinnerte sich noch gut an den eingängigen Refrain:

Mit flammend Schwert und Silberross,

mit gold’nem Speer und magisch Geschoss,

warf sie sich dem Meerfeind entgegen,

sturmumtost, mit des Paares Segen.

Die Eine, die nicht im Feuer starb,

Leyna – die Hexe von La Harb.

Für ihn klang das wie ein Märchen, aber so waren die Buntgesichter nun mal. Sie sangen schöne Lieder, aber wie viel Wahrheit den Geschichten innewohnte, stand auf einem anderen Blatt.

Artur genoss noch einmal den Anblick seiner Heimatstadt, bevor er sich Richtung Meer umdrehte.

Ihm stockte der Atem. Über dem Delta stand eine Sturmwolke, wie er sie noch nie gesehen hatte, turmhoch und dunkler als die Nacht. Das Delta, die Fischerdörfer und das Meer verschwanden hinter bleiernen Regenschlieren.

»Kein Tier weit und breit!«, rief er mit zitternder Stimme. »Dafür zieht ein Sturm auf. Und was für einer!«

»Auch ein Monster, was?«

Artur fand das nicht witzig. Unwetter hatte er hunderte erlebt, viele davon im Wald, unter knorrigen Wurzeln oder einer Hängeblutbuche kauernd, aber das über dem Delta wirkte fieser und urweltlicher als sonst. Von ihm ging dieselbe kalte Feindseligkeit aus wie von dem seltsamen Hirsch. Der Gedanke ließ Artur frösteln und wieder an die Geschichten der Händler denken, die von einer unnatürlichen Regenglocke über La Harb gesprochen hatten, aber nein … das war einfach nur ein Sturm vom Meer.

»Also sonst nichts zu sehen?«, fragte der Jagdmeister. »Dann kommt wieder …« Er stieß ein Keuchen aus. »Bei den Göttern! Was …«

Etwas raschelte. Etwas schnaubte. Irgendwo brachen Äste.

Artur blickte hinunter, sah aber nichts vom Boden, weil er zu weit nach oben geklettert war. »Meister Lüttich?«, fragte er leise. »Was ist?«

Als Antwort vernahm er ein dumpfes Poltern, gefolgt von einem feuchtreißenden Geräusch, das ihm Übelkeit bescherte.

Etwas huschte unter ihm vorbei. Laub raschelte. Jemand keuchte gepresst.

Artur biss sich auf die Fingerknöchel. Er musste hinabsteigen und nach dem Rechten sehen. Wenn der königliche Jagdmeister in Not geriet, war es seine Pflicht, ihm zu helfen. Doch er zögerte.

Wieder ein Rascheln und Poltern. Etwas klackerte und schabte. Dann Stille.

Einzig ein regenfeuchter Wind vom Meer flüsterte in den Bäumen.

»Meister Lüttich?«

Er bekam keine Antwort und kaum mehr Luft. Seine Brust wurde eng, als er an seinen Tornister dachte, den er dem Meister gegeben hatte. Darin war alles, was er brauchte. Bei sich trug er lediglich sein Jagdmesser. Das hielt er plötzlich in der Hand, sinnlos in der Baumkrone, aber es gab ihm Sicherheit.

»Meister Lüttich?«, fragte er abermals. »Seid Ihr da?«

Wieder flüsterte nur der Wind, worüber auch immer.

Artur atmete heftig und mahnte sich zur Ruhe. Er musste hinabsteigen, durfte aber nichts riskieren. Er hatte knapp zwanzig Sommer gesehen, so jung wollte er nicht sterben. Er steckte das Messer wieder ein und kletterte einen Ast tiefer. Und noch einen und noch einen.

Er befand sich immer noch gut fünfzehn Fuß über dem Waldboden, als er die Schleifspur entdeckte. Feuchte Erde schimmerte wie eine dunkle Wunde zwischen Laub und Moos und Stein. Sie führte am Baum vorbei gen Osten.

Artur kletterte auf einen anderen Ast, um besser sehen zu können. Die Spur verlief fast schnurgerade bis zu einem Dickicht, in dem sie verschwand. Direkt davor lag Meister Lüttichs Bogen, ebenso ein Tornister. Artur schluckte. Der Jagdmeister würde niemals seinen Bogen zurücklassen. Er war sein Heiligtum, ein Geschenk des Königs für treue Dienste, teurer als ein Jahressold.

Wieder biss sich Artur auf die Knöchel seiner zur Faust geballten Hand. Er musste nachsehen! Wenn er es nicht tat und der Meister überlebte, war sein Leben verwirkt. Er würde als Feigling keinen Fuß mehr in die Stadt und die königlichen Wälder setzen können.

Die Vorstellung ließ ihn zwei weitere Äste hinabsteigen. Sechs Fuß über dem Boden verharrte er ein letztes Mal und sah sich um. Alles war still. Weder vom Jagdmeister noch dem Hirschmonster oder sonst irgendeiner Gefahr war etwas zu sehen.

Nur ein seltsamer Geruch nach Essig hing in der Luft, nicht stark, aber auch nicht zu ignorieren.

Artur saß noch viele Herzschläge auf dem Ast, bevor er allen Mut zusammennahm und sich hinabließ. Seine Beine zitterten so heftig, dass er beinahe gestürzt wäre.

Beruhig dich, Artur, es ist dein Wald! Hier macht dir niemand was vor.

»Niemand«, flüsterte er und huschte zum Stamm der Eiche. Mit dem Rücken presste er sich dagegen, das Messer wieder in der Hand, und lauschte. Um die Ecke blicken, nichts zu sehen, schnell vorwärts, über die Wurzeln, auf das Moos treten, das Laub meiden. Weiter, weiter, weiter, flüsterte er leise zum Bogen und zum Tornister. Es war nicht seiner, sondern Lüttichs Rucksack, aber einer war besser als keiner.

Artur nahm ihn an sich und wollte die Schnallen öffnen, als er in warme Feuchtigkeit fasste. Er zuckte zurück und besah sich seine Hand. Sie glänzte im letzten Licht des Tages pechschwarz.

Ihm wollte ein Schrei über die Lippen kommen, doch Artur unterdrückte ihn im letzten Moment. Blut, sagte er sich. Meister Lüttichs Blut. Jemand ist hier. Nein, etwas …

Und dann: Bewaffne dich endlich, du Narr!

Ohne zu zögern, öffnete er den Tornister und zog aus einem Täschchen die Bogensehne aus Lein. Mit zitternden, aber doch routinierten Fingern bespannte er den Langbogen. Pfeile steckten in einem verschlossenen Lederköcher seitlich am Tornister. Artur öffnete die Bänder und schnallte sich den Köcher auf den Rücken, wie es sich bei der Jagd gehörte.

Als er gerade dabei war, die letzte Schnalle zu schließen, vernahm er das leise Rascheln.

Er sah auf.

Zwei Laternen glommen tief im Dickicht.

»Bei den Göttern!«, murmelte er, als das Monster von Hirsch ihn fokussierte. Aus den Augen sprühten Wut und Hass. Das Geweih schien noch viel größer als am Morgen. Etwas hing daran, etwas, das verdammt nach einem Arm aussah.

Artur wurde speiübel. Trotzdem griff er zum Köcher und zog einen Pfeil hervor. Mondschimmer glänzte auf der metallenen Spitze und dem weißen Gefieder.

Das Monster schien den Anblick eines Pfeils zu kennen, denn es stieß ein wütendes Schnauben aus und brach aus dem Dickicht hervor.

Es war so schnell, so feindselig, so still.

Artur hob den Bogen und legte den Pfeil auf. Mehr blieb ihm auch nicht übrig, denn der Hirsch, oder was auch immer es war, flog auf ihn zu wie der Zorn der Götter.

Er spannte die Sehne, atmete aus, fixierte das linke gelborange Auge.

Er stellte sich vor, die Kerze in der Laterne mit dem Pfeil zu löschen.

Ihre Blicke trafen sich. Was Artur darin sah, war unbeschreiblich.

Er schrie und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen.

Kapitel 2 Königtum Westend, nahe Lensend

Die Sonne stand drei Fingerbreit über dem Horizont und tauchte die Schaumkronen der Wellen in flammendes Rot. Leyna hatte für diesen Anblick keine Zeit – sie suchte festen Stand im Sand und wappnete sich für den nächsten Angriff.

»Und Abwehr!« Hennings Übungsschwert aus Eisentannenholz sauste heran.

Leyna konzentrierte sich auf das Zeichen und malte es mit einer geschmeidigen Bewegung ihrer rechten Hand vor sich in die Luft. Ein rötliches Leuchten schimmerte um ihre Finger, das sie wie einen Schild Hennings Hieb entgegenhielt.

Die Klinge war fast heran, wurde urplötzlich langsamer und verharrte in der Luft, zwei Fuß von Leyna entfernt – und schob sie eine Handspanne nach hinten durch den Sand.

Henning glitzerte Schweiß auf der Stirn. Er riss am Schwert, als zöge er es aus etwas Festem heraus, und trat zurück in die Angriffsposition. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, aber er schonte weder sie noch sich selbst.

»Und Abwehr!« Diesmal griff er von der anderen Seite an, indem er eine blitzschnelle Drehung vollführte.

Leynas Finger huschten abermals durch die Luft, ein Leuchten, und wieder blockierte sie den Schwerthieb mit Magie. Diesmal hatte Henning noch mehr Kraft hineingelegt, und es schob sie ein ganzes Stück weiter nach hinten. Der Sand war feucht und kalt zwischen ihren Zehen.

»Und jetzt Angriff!«

Leyna schluckte hart, rief sich ein anderes Zeichen in Erinnerung, stellte es sich ganz exakt vor und trat vorwärts. Ihre gespreizten Finger vollführten drei schnelle Drehungen in der Luft, dann ballte sie die Hand zur Faust und schlug damit Richtung Henning. Wieder leuchtete die Luft auf, aber nur ganz blass. Mehr passierte nicht.

Henning ließ das Holzschwert sinken und strich sich schweißnasses Haar aus der Stirn. »Wieder nicht«, sagte er das Offensichtliche.

Leyna winkte ab. »Irgendetwas stimmt mit dem Zeichen nicht!« Sie schüttelte den Kopf und trat mit dem Fuß Sand davon. Er spritzte in die blutrote Brandung.

»Glaubst du?« Henning bückte sich nach dem Wasserschlauch, der etwas abseits im Sand lag, entkorkte ihn und trank. Danach trat er zu Leyna und reichte ihn ihr. »Bisher waren alle Zeichen aus Ilkas Büchlein korrekt. Warum sollten ausgerechnet die alten Angriffszeichen falsch sein?«

»Eben weil sie alt sind!«

»Genauso alt wie die Verteidigungszauber.«

»Keine Ahnung, Henning! Woher soll ich das wissen?« Sie wandte sich ab, trank aus dem Schlauch und blickte hinaus aufs Meer. Ein paar Möwen kreisten über der Landzunge, dem Leuchtturm und der Zwillingsfalke, Hennings Schiff, das in der Bucht vor Anker lag.

»Vielleicht machst du irgendetwas anders als bei der Abwehr.«

»Was denn?«

»Ich hatte gehofft, du weißt es. Ich versteh doch nichts von Magie.«

»Aber?«

»Kein Aber.«

»Ach, Henning! Was glaubst du wirklich, was nicht passt?«

Er presste die Lippen aufeinander, dann sagte er: »Vielleicht willst du einfach nicht so sehr angreifen wie verteidigen.«

Leyna wandte sich ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Wind spielte mit ihrem kurzen Haar. Auf der linken Seite ihres Kopfes war die Haut von den Flammen des Scheiterhaufens vernarbt, doch auf der anderen Hälfte fiel ihr eine lockige Strähne in die Stirn.

Leise sagte sie: »Du weißt ganz genau, dass ich das Kämpfen verabscheue, besonders den Angriff.«

Er trat neben sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Ich weiß, meine Liebe.«

»Ja, du weißt es«, sagte sie bitter, »aber du verstehst es nicht!« Sie drehte sich zu ihm um. »Deine Welt war schon immer der Kampf und die Konfrontation. Du bist ein Pirat! Meine Welt war genau das Gegenteil.«

»Stimmt das wirklich? Was ist denn das Heilen? Der Kampf ums Leben. Der Kampf gegen die Wächterin der Seelen, die uns irgendwann alle zu sich holt.« Er trat ein paar Schritte zurück. »Das ganze Leben ist ein einziger Kampf, jeder Tag, jede Nacht. Und Abwehr!«

Er war so schnell mit dem Schwert. Es zischte heran, und wäre es aus Stahl, würde es ihr glatt den Kopf von den Schultern abtrennen.

Leyna schrie vor Schreck und Überraschung, zeichnete aber instinktiv das Zeichen für Abwehr in die Luft. Um ihre Hand flammte das Leuchten auf, als Hennings Schwert schon fast heran war. Der Aufprall war um vieles heftiger als zuvor. Es knallte laut, als das Holzschwert gegen die Barriere aus Licht donnerte.

Beide taumelten von der Wucht auseinander, doch Henning lachte. »So gefällst du mir! Du machst das ausgezeichnet! Lass den Zweifel einfach los und gib dich den Zeichen hin!«

Sie schnaubte und warf den Wasserschlauch nach ihm. »Mir wär es lieber, wenn ich dir ohne das verdammte Kämpfen gefalle. Das gerade war hinterhältig!«

Henning wurde ernst. »Wie der Krieg nun mal ist, Leyna, aber wem sag ich das.«

»Ja, wem sagst du das.« Sie stapfte los und ließ ihn stehen.

»Hey! Du weißt, dass ich es nur gut meine«, rief er ihr hinterher. »Dass ich vorbereitet sein will, falls sie jemals zurückkehren.«

»Falls«, brummte sie und leiser, dass nur sie es hörte: »Was hoffentlich nie passieren wird.«

Henning blickte Leyna hinterher, wie sie mit gesenktem Haupt den Strand überquerte und auf die in die Klippen gehauene Treppe zuschritt. Die Stufen führten auf direktem Weg hinauf zum Herrenhaus.

Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Ihm war in ihrer Anwesenheit so warm ums Herz, und umso mehr schmerzte ihn, dass sie unglücklich wirkte. Unglücklich mit dem Kämpfen. Unglücklich mit ihrem Leben nach den Ereignissen in La Harb. Nicht, dass es ihr in Lensend nicht gefiele. All ihre körperlichen Wunden waren den Sommer über verheilt. Sie hatten gelacht, gegessen, gescherzt und die gesamten Ländereien erkundet. Sie hatten sich geliebt, geneckt, gefeiert, aber in Momenten wie eben blitzte eine Bitterkeit in ihren Augen auf, die nicht dazu passte. Henning glaubte, dass sie sich langweilte. Nach der Schlacht um La Harb hatte er Lensend vom König geschenkt bekommen, und Leyna war seitdem die Matronin der Gilde der Zeichen. Ein hohler Titel, denn alle Schwestern waren von Richter Simeone und dem irren Baron Luc Lazards auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Deswegen war Leyna nicht nach La Harb zurückgekehrt; dort hatte sie alle geliebten Menschen verloren, auch ihren Vater. Aber Henning war überzeugt, dass sie sich nach der Küstenstadt sehnte, oder zumindest nach der Gilde, in der sie dem Heilen nachgehen und ihr Wissen weitergeben konnte.

Er seufzte, strich Sand vom Übungsschwert, sammelte den Wasserschlauch ein und folgte ihr. Dabei wanderte sein Blick hoch zum Herrenhaus auf den Klippen. Er konnte immer noch nicht recht glauben, dass dies sein Eigentum war, der Sitz von Sir Henning Falk, Ehrenbürger Westends. Zum Privatbesitz, den er vom König Westends für seine Hilfe in La Harb geschenkt bekommen hatte, gehörte die Landzunge samt Leuchtturm, Bucht und Hafen, das Anwesen mit den hohen Fenstern auf den Klippen, das Dorf und etliche Morgen bewirtschaftetes Land.

Es war ein schönes Fleckchen Erde, auf dem der Leuchtturm den nördlichsten Punkt des Kontinents markierte. Außerdem rankten sich zahlreiche Sagen um die Landzunge.

Nafhan der Abenteurer solle vor Jahrtausenden von der Bucht aus als erster Mensch die Länder im Norden bereist haben. Ebenso sei die Heilige Lilou, eine Paladine des Dornenreichs, am Strand zur See bestattet worden. Es hieß, man habe ihren Körper in voller Rüstung auf einem Ruderboot dem Meer und den Flammen übereignet, doch weit draußen habe eine Böe das Feuer gelöscht. Kurz darauf habe sich Lilou von den Toten erhoben, ihre Rüstung abgestreift, ins Meer geworfen und sei in den Sonnenuntergang gerudert. Das klang ziemlich kitschig, aber bei den hiesigen Sonnenuntergängen wunderte Henning das nicht. Nicht zuletzt erzählte man sich, dass zwischen Lensend und dem Norden das legendäre Land Morasheé gelegen haben soll. Aus dem Eduschéeian übersetzt, hieß dies so viel wie Das Reich des sumpfigen Waldes. Fischer behaupten manchmal, bei Sonnenschein Baumkronen unter den Wellen zu erspähen. Manche schworen sogar, man könne bei rauem Wetter die Kirchenglocken Morasheés unter Wasser läuten hören. Diese Geschichte gefiel Henning besonders, und auch, dass der Volksmund sagte, in Lensend würden alle Abenteuer enden. Die Fratera sagten nämlich, dort würden sie beginnen.

Die Fratera.

Der nächste bittere Stich.

Was waren sie doch noch vor einem Jahr für eine prächtige Gemeinschaft mit Sitz auf den Inseln des ewigen Schlafs gewesen! Eine ganze Flotte rauer Gesellinnen und Freibeuter, die den Osten unsicher gemacht hatte – bis die Jundar aus der Tiefe gekommen waren.

Beim Gedanken an die grausigen Wassergeschöpfe mit den gelborangen Augen ballte Henning die Hände zu Fäusten und wünschte sich, er würde wie Leyna die Magie beherrschen. Oder wie sein Zwillingsbruder Nante. Dann könnte er sich vorbereiten, könnte das magische Kämpfen lernen, die Zeichen perfektionieren. Er hatte schon daran gedacht, Schwerter und Rüstungen damit zu bemalen, aber ihm war die Gabe nicht gegeben, und Leyna weigerte sich. Für sie war die Vorstellung, ein Schwert durch Magie noch todbringender zu machen, ein Graus.

Tatsächlich verstand er sie in diesem Punkt nicht. Angriff war bekanntlich die beste Verteidigung. Sollten die Jundar je zurückkehren, wollte er sich gegen sie wehren können. Wenn Waffen mit magischen Zeichen halfen, bitte schön. Henning war im Kampf jedes Mittel recht.

Eine Bewegung an den Klippenstufen erregte seine Aufmerksamkeit. Es war nicht Leyna, die schon ein Drittel hinter sich hatte, sondern eines der Kinder aus Lensend. Barfüßig und mit wollenem Überwurf stürmte der Junge von vielleicht acht Jahren die letzten Stufen herab und ihm entgegen, kam schlitternd zum Stehen und neigte das Haupt.

»Sir Falk!«

Henning grinste. »Spar dir das Sir, Junge. Und das Falk.«

Der Junge nickte sofort, dann hielt er inne, als er die Worte begriff, und sah fragend auf. »Und wie soll ich Euch dann nennen?«

»Einfach Henning. Und jetzt sag, was führt dich auf so schnellen Füßen zu mir, dass du sogar einen Sturz auf den Treppen riskierst?«

»Eine Gruppe Frauen und Männer, Sir … äh … Henning.«

»Aha, vermutlich wieder Pilger, die Leyna besuchen wollen.« In den ersten Wochen auf Lensend waren sie in Scharen aus der Umgebung gekommen, um die Hexe aus La Harb mit eigenen Augen zu sehen. Angeblich sangen mittlerweile sogar die Kasai Lieder über sie, welch Verrücktheit. Das regionale Interesse war aber schnell abgeflacht, mittlerweile kamen nur noch selten Leute, meist Arme, die um Hilfe baten. Leyna kümmerte sich dann herzlich um die Ankömmlinge; drei Familien waren sogar in Lensend geblieben.

»Ich glaube nicht, Sir, äh, ja …«

Henning winkte ab. »Und was glaubst du dann, Junge?«

»Dass es keine Pilger sind. Ich habe noch nie welche mit Waffen gesehen.«

Die Worte überraschten ihn. »Waffen? Was hatten sie dabei?«

»Schwerter und Speere.«

»Wie viele Personen waren es?«

»Sieben oder acht.«

»Hatten sie auch Pferde?«

»Zwei oder drei.«

Das klang für Henning nach einer Patrouille oder einem Spähtrupp. Aber warum so weit im Norden? Das ergab wenig Sinn, außer der König von Westend wollte etwas von ihnen. »Und wo hast du sie gesehen?«

»Am Waldrand nahe des Wegs gen Süden. Ich hab dort Brombeeren gesammelt. Die Sträucher sind so groß wie Ihr! Na ja, auf jeden Fall sah ich etwas im Gehölz aufblitzen.« Der Junge wurde rot. »Ich hab mich herangeschlichen und einen Mann entdeckt, der im Gebüsch gelegen hat und zum Dorf rüberspähte. Er hat mich aber nicht entdeckt, keine Sorge. Ich bin ganz still geblieben und hab gewartet, bis er aufgebrochen ist. Und dann bin ich ihm in den Wald gefolgt. Sie haben auf einer Lichtung ein Lager aufgeschlagen. Frauen und Männer. Ich bin gleich wieder abgehauen und direkt zu Ihnen, Sir, äh, Henning.«

Henning lächelte, diesmal jedoch ohne Freude. »Ganz schön mutig von dir, aber auch riskant! Das nächste Mal folgst du ihnen nicht, sondern meldest so eine Entdeckung unverzüglich. Wer weiß, ob sie Gutes im Schilde führen.«

»Ich glaub nicht.«

»Wieso nicht?«

»Sie sahen so grimmig drein und haben gedämpft miteinander gesprochen. Und einer wetzte sogar sein hässliches Messer.«

Henning furchte die Stirn. Das klang wirklich nicht nach erfreulichem Besuch. Und auch der König würde keine Truppe heimlich in den Wald entsenden. Vielleicht waren es Wegelagerer, die es weit in den Norden verschlagen hatte, oder anderes Gesinde auf der Flucht aus Westend. Der König ging dort rigoros gegen Diebe, Räuber und Schmuggler vor – es sei denn, man rettete gerade eine der schönsten Städte des Westens.

Wie auch immer, es schien ein spannender Abend zu werden, und wenn Henning ehrlich zu sich selbst war, juckte ihn die Aussicht auf ein Abenteuer mächtig in den Freibeuterfingern.

Kapitel 3 Königtum Westend, nahe Lensend

Das Lagerfeuer war kaum als solches zu bezeichnen, ein paar Flämmchen über Zweiglein und Tannenzapfen, umringt von einer Handvoll Kiesel. Es spendete kaum Licht und nur einen Hauch von Wärme. Ob Walburgas Suppe wirklich heiß wurde, wagte Artur zu bezweifeln, aber niemand traute sich, wirklich anzuschüren, obwohl es ihnen an trockenem Astbruch keineswegs mangelte.

Es war die Angst vor der Hexe und ihren Lakaien.

»Lasst uns morgen einfach vorsprechen«, schlug Rosa vor. Sie war die zweitälteste von ihnen, hatte um die fünfzig Lenze gesehen und nahm in Tannrein als Ratsherrin an den Sitzungen teil. Sie wusste, wie man Bitten vorbrachte, mit Edlen umging und auch Streit schlichtete.

»Aber wenn sie uns hier nicht haben wollen?«, warf der junge Wendelin ein. »Was dann? Wir kommen aus der Südmark. Dort ist Magie verpönt!«

»Gehasst«, korrigierte Gallus.

»Und gefürchtet!« Wieder Wendelin. »Glaubt ihr, die lassen uns einfach wieder von dannen ziehen?«

Arturs Vater Dietz seufzte. »Die Diskussion hatten wir nun jeden Abend, und ich wiederhole es wie jeden Abend: Sie hat La Harb gerettet, eine Stadt, die genauso ihren Tod wollte! Glaubst du, sie jagt uns davon? Sie war ein Kräuterweib, eine Heilerin, keine schwarze Hexe.«

»Wenn es stimmt.« Gallus zog den Wetzstein über seine Schwertklinge, die wie ein Spiegel glänzte.

Dietz winkte ab. »Es stimmt! Ihr habt sie alle gehört, die Händler, die Schankmägde, die Reisenden. Alle sprachen von den Heldentaten. Diese Leyna hat diese … diese Jundar mit Magie zurückgeschlagen.«

Als der Name Jundar fiel, schien es auf der Lichtung dunkler zu werden. Vielleicht nur ein Windstoß, der das Feuer flackern ließ. Irgendwo in der Ferne schrie ein Kauz.

»Und sie soll aus den Flammen erstanden sein«, wisperte Fronicka, die Tochter von Walburga. »Aus den Flammen!« Sie schob ihre Finger zum Feuer und zuckte sofort zurück.

»Das hat sie sicher nicht freiwillig getan«, knurrte Dietz. »Ein Söldner hat mir erzählt, der Baron Luc Lazards hatte sie töten wollen. Und nicht nur sie … alle Hexen und Zauberer.«

»Und woher soll ein Söldner das wissen?«, fragte der junge Wendelin.

»Weil er in Lazards’ Armee gedient hat. Er ist nach dessen Tod desertiert und Richtung Südmark gezogen, um dort sein Glück zu versuchen.«

»Ich erinnere mich.« Walburga rührte mit einem entrindeten Stock in der Suppe. »Es war dieser hagere Kerl mit dem Bart und den Narben über der Wange. Der hat mir nicht gefallen.«

»Muss er auch nicht.« Dietz rang mit den Händen. »Es geht ja nur darum, was er erzählt hat.«

»Bei Bier und Wein.« Der Ritter spuckte aus.

»Ach, Gallus! Du warst selbst in der Schänke dabei. Willst du abstreiten, dass seine Geschichte äußerst wahr klang?«

Nur der Wetzstein schabte über die Klinge.

Dann sagte Gallus: »Ja, es klang nach der Wahrheit.«

»Siehst du! Der Söldner war dabei, als sie La Harb belagerten. Er hat den Regen erlebt, die Glocke, die über der Inselstadt gehangen haben soll, dunkel wie die Seele der Wächterin selbst. Er hat die Feuer gesehen, die Scheiterhaufen gerochen. Und er hat den Jundar gegenübergestanden.«

»Wesen aus Horn und Dorn und fahler Haut, aus deren Falten das Seewasser rinnt«, sagte Artur.

»Genau. Ungeheuerliche Kreaturen aus der See mit Mäulern voller Zähne und geschlitzten orangefarbenen Reptilienaugen.«

»Die mit kalter Feindseligkeit dreinblicken.« Arturs Blick zuckte in die Dunkelheit, wo die Kiste stand, mit Ketten und Bändern doppelt verschlossen.

»Alles schon hundert Mal besprochen«, sagte Rosa mit Resignation in der Stimme. »Warum zweifelt ihr eigentlich heute wieder? Warum so kurz vor dem Ziel? Wir waren uns doch einig!«

»Weil sie eine Hexe ist!«, wiederholte der junge Wendelin mit geröteten Wangen. »Da weiß man nie.«

»Hexe, Hexe, Hexe!« Rosa warf die Hände in die Luft. »Sie ist auch nur eine Frau aus Fleisch und Blut.«

»Mit gold’nem Speer und magisch Geschoss!«

»Das sind Lieder der Kasai! Alle überzogen. Die singen auch von Ansgar dem Beringten, von Wollerich vom Keilerstein und anderen ewig Lebenden wie der Tochter der Wächterin, dem Schatten in der Nacht, dem Pfeil aus der Dunkelheit, von Irrwischen und Fabelwesen. Was ich sagen will: Glaubt nicht alles, was in den Liedern besungen wird.«

»Jetzt widersprecht Ihr Euch selbst«, sagte Gallus. »Wenn das alles nur Hirngespinste sind, was wollen wir dann hier?«

Rosa stöhnte, genauso genervt wie Dietz. »Ihr wisst selbst, dass allen Geschichten ein wahrer Kern innewohnt. Deswegen glaube ich, dass diese Leyna durchaus maßgeblich dazu beigetragen hat, diese Jundar zurückzuschlagen. Aber nicht mit goldenem Speer und magischem Geschoss!«

»Gemach, gemach!«, mahnte Arturs Vater. »Reden wir uns die Köpfe nicht heiß, sondern entscheiden wir lieber, wie wir weiter vorgehen.«

»Ich bleibe dabei«, sagte Rosa. »Lasst uns im Morgengrauen aufbrechen, anklopfen und einfach um Hilfe bitten.«

Gallus schüttelte den Kopf. »Lasst sie uns weiter beobachten. Ich wage mich ungern unvorbereitet in die Höhle des Löwen. Wir müssen wissen, wie viele Lakaien sie hat.«

»Es ist ein ganz normales Dorf«, sagte Artur leise. »Ich hab Kinder gesehen, Mütter und ein paar Handwerker und Bauern.«

»Und diese Fratera? Wo stecken die?«

»Vielleicht auf dem Schiff, das in der Bucht ankert? Das sind doch bekanntlich keine Landratten.«

»Piraten sind das«, wisperte Fronicka, »mit zu Lunten geflochtenen Bärten.«

»Eher Schmuggler«, berichtigte Rosa. »Die Fratera agierten früher sogar über den Talister bis nach Tannrein hinauf. Wir hatten etliche Ratssitzungen, in denen wir über dieses Elend diskutiert haben.«

»Und wie habt Ihr es gelöst?«, fragte Artur neugierig.

»Mit vielen Booten, die Patrouille fuhren.«

Gallus schnaubte. »Auch ein Märchen. Die Fratera haben einfach ihre Geschäfte in die freien Handelsstädte verlagert, weil dort das Gold lockerer sitzt als bei uns. Das hatte nichts mit irgendwelchen Soldaten oder Patrouillen zu tun.«

Rosa presste kurz die Lippen aufeinander. »Das ist nicht wahr!«

»Doch ist es.« Zum ersten Mal an diesem Abend erhob der alte Endres die Stimme. Er saß am Feuer, das Gesicht in den Schatten seiner Kapuze verborgen, und schnitzte mit seinem Messer an einem Stück Holz herum. Oft blieb nur ein Häufchen Späne übrig, das er in ein Säcklein schob und zum Anzünden des nächsten Feuers nutzte.

Rosa fuhr herum. »Was wisst Ihr schon davon?«

»Die Wahrheit.« Endres’ Schnitzmesser schabte an dem Stückchen herum. »Der Geiz der Händler war der wahre Grund für die Fratera, Tannrein den Rücken zu kehren.«

»Und woher wollt Ihr das wissen? Wart Ihr zufällig dabei? Habt Ihr mit den Piraten verhandelt? Ich glaube nicht.«

Endres ließ sich darauf nicht ein; er zuckte mit den Schultern und schnitzte einfach weiter und weiter und weiter.

»Also wie jetzt?«, fragte Dietz, dem sichtlich die Geduld abhandenkam. »Wollen wir weiter hier rumlungern und das Dorf beobachten oder morgen einfach vorsprechen?«

Rosa hob die Hand. »Vorsprechen! Wer ist noch dafür?«

Dietz’ Hand ging in die Höhe. Sein Blick glitt zu seinem Sohn. Der verstand die stumme Aufforderung und hob ebenfalls die Hand. Auch Walburga hob ihre.

Dietz seufzte. »Und ihr anderen seid alle dagegen?«

Wendelin, Fronicka und Gallus nickten.

»Dann hängt es an Euch, Endres.«

Der Alte schnitzte und schnitzte und schnitzte, bis er innehielt und den Kopf schüttelte. »Nein, die Entscheidung ist schon gefallen.«

»Wie bitte?«

Endres lächelte plötzlich unter seiner Kapuze. »Sie ist längst hier.«

»Sie?« Und dann begriff Dietz. Scharf sog er die Luft ein, sprang auf, zog sein Jagdmesser und sah sich um.

Auch Gallus war sofort auf den Beinen, das Schwert in den Fingern.

»Lasst die Waffen sinken!«, rief eine Männerstimme aus der Dunkelheit des Waldes. »Denn der Alte hat recht: Wir sind längst hier.«

Gallus schluckte. »Dann zeigt Euch, wie es sich gehört!«

Tatsächlich schälte sich ein Gesicht aus der Dunkelheit. Der Mann trug schwarze Wolle über gefettetem Leder, sein Haar war zu einem Mittelscheitel gezogen und nach hinten geölt. In Händen hielt er eine unbeschreibliche Waffe, die Klinge milchig fahl, schlank wie eine Scherbe und mit einer Spitze, die fast durchsichtig war.

Es folgten weitere Gesichter von mindestens einem Dutzend Männern, alle bis an die Zähne bewaffnet. Auf einer Stirn erblickte Artur ein tätowiertes Zeichen, das sich aus der Zahl vier und einem Kreuz zusammensetzte.

»Fratera!«, stöhnte Rosa. »Bei den Göttern, sie haben uns entdeckt.«

»Wofür man nicht gerade göttliche Hilfe benötigte«, sagte der mit der schlanken Klinge. »Wir hätten Euch vermutlich die Kehlen aufschlitzen können, und Ihr hättet weiterdiskutiert.«

»Was wir aber nicht tun werden«, sagte eine Frauenstimme, die keinen Widerspruch duldete.

Und dann trat sie ins Licht.

Die Hexe von La Harb.

Der Feuerschein tauchte ihre verbrannte Haut an Händen, Hals und Schädel in Licht und Schatten, hob verklebte Stränge genesenen Fleisches hervor. Und dann ihr Haar: Es flammte auf wie eine Fackel im Sturm.

Fronicka saß direkt daneben, stieß einen spitzen Schrei aus und kroch rücklings davon, halb durchs Feuer, bis sie gegen Artur stieß, der sie festhielt.

»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte die Hexe sanft. »Wer in guter Absicht zu mir kommt, hat nichts zu fürchten.«

»Bleibt die Frage, ob sie in guter Absicht kommen.« Die dornengleiche Klinge des Schmugglers deutete auf Gallus und Dietz. »Ich sehe da eine gehörige Portion Argwohn.«

»Nennt es Angst.« Es war Rosa, die sich als Erste gefasst hatte. »Angst vor bösem Zauber.«

»Den es hier nicht geben wird.« Wieder die Hexe. Entschieden. »Was führt Euch nun zu uns nach Lensend? Wir hörten, dass Ihr um Hilfe bitten wolltet.«

Rosa nickte. »In der Tat, Herrin. Wir wissen nicht mehr weiter.«

»Es geht um unsere Heimat«, ergänzte Dietz. »Um die Südmark.«

»Die Südmark?« Der Anführer mit der fahlen Klinge furchte überrascht die Stirn. »Die ist wahrlich weit weg. Wie lang wart Ihr hierher unterwegs? Sechzig Tage?«

»Fast hundert, Herr.«

Das ließ ihn nicken. »Dann seid Ihr wahrlich weit gereist.«

»Und das voller Hoffnung.« Rosa nahm mit ihrer Ratsherrinnenstimme das Gespräch an sich. »Denn die Südmark steht vor dem Ende, wenn Ihr nicht helfen könnt.«

»Klingt furchtbar.« Die Hexe trat vollends aus den Schatten in den Flammenschein. Sie trug ein schlichtes Kleid aus schwarzer Wolle, über das sie einen dunklen Überwurf aus feinem Leder gezogen hatte. »Was ist passiert?«

»Das würden wir Euch gerne zeigen.«

»Zeigen?« Der Schmuggler mit der fahlen Klinge klang mehr als vorsichtig. »Wie?«

»Wir haben etwas mitgebracht«, haspelte Artur. »Besser gesagt, ich.« Er deutete zur Kiste, die bei den beiden Pferden stand und in der Dunkelheit kaum zu erkennen war.

Der Schmuggler war mit vier schnellen Schritten dort. Als er sich wieder zum Feuer umwandte, stand Zorn in seinem Gesicht. »Das soll ein Scherz sein, oder? Ein Henkerskasten?«

Artur erbleichte, als er begriff. »Nein, nein! Das ist anders gemeint!«

»Wie denn?« Der Schmuggler war so schnell bei ihm, dass er kaum begriff, dass er auf die Beine gezerrt wurde. Die fahle Klinge legte sich an seinen Hals.

Artur entwich ein Wimmern.

»Henning!« Die Hexe. »Lass ihn!«

»Erst, wenn er mir erklärt hat, warum er einen Henkerskasten mitbringt, um um Hilfe zu bitten.«

»Wir wussten nicht, wohin sonst damit.« Dietz war blass um die Nase angesichts seines Sohnes in den Händen des Fratera.

»Es stimmt«, krähte Artur. »Der Henkerskasten erschien am sichersten.«

Die Hexe trat neben sie und legte dem Schmuggler beruhigend die Hand auf den Arm. »Wofür?«, fragte sie leise.

»Für die Kreatur natürlich!« Gallus ließ sein Schwert sinken, legte es sogar demonstrativ auf den Waldboden, dann trat er entschieden vor und stapfte zur Truhe. Ohne große Mühe hob er sie hoch und trug sie ans Lagerfeuer. Erst jetzt sah man die schweren Ketten und Bänder, die darum geschlungen waren.

»Wir haben es doppelt gesichert«, erklärte er und sank in die Hocke. Unter seinem Gewand zog er eine Kette mit zwei Schlüsseln hervor. »Zu unserem Schutz.« Er steckte den ersten Schlüssel ins Kettenschloss und drehte. Knirschend sprang es auf.

»Hände weg!«, rief der Schmuggler namens Henning und schob sich vor die Hexe.

Gallus musterte den Kerl abfällig. »Keine Angst, Pirat! Es ist keine Falle. Und falls das hier drinnen uns noch Böses will, wird sie uns sicherlich retten können.« Sein Blick traf Leyna, dann öffnete er auch das zweite Schloss. Klappernd sprang es auf.

Er zerrte die Ketten durch die Ösen und öffnete endlich den Deckel.

Der Gestank war atemraubend. Süß von Verwesung und sauer von etwas anderem.

Die Hexe sog allein beim Geruch scharf die Luft ein und tauschte einen vielsagenden Blick mit dem Schmuggler.

»Wir haben es deswegen in Öltuch eingeschlagen«, erklärte Gallus mit gerümpfter Nase. »In eine Menge Öltuch.« Er schlug den fleckigen Stoff beiseite, und dann hob er etwas aus dem Henkerskasten.

Fliegen surrten in die Nacht davon.

Was der Krieger in der Hand hielt, war ein verwesender Hirschkopf, dem man das Geweih abgesägt hatte. Am Hinterkopf hingen seltsam vertrocknete Auswüchse aus violetten Hautlappen. In einem Auge steckte der abgebrochene Schaft eines Pfeils. Das andere stand offen, war vertrocknet, aber die Farbe war noch bestens zu erkennen. Das Gelborange leuchtete im Feuerschein auf.

»Bei Paar!«, entfuhr es der Hexe. »Das sieht nach …«

»… einem Hirsch aus«, ergänzte Artur. »Es war auch einer. Ein ganz komischer mit grauem Fell und diesen violetten Auswüchsen. Er hat den königlichen Jagdmeister getötet. Ich überlebte nur durch diesen zugegeben meisterlichen Schuss ins Auge.« Ihn schauderte es immer noch beim Gedanken an jene Begegnung.

»Wo habt Ihr ihn erlegt?«

»In den Wäldern um Goldfeldern.«

»Das ist nahe am Flussdelta, wo der Talister ins Meer strömt«, sagte Henning.

»Sehr wohl, Pirat.« Gallus hielt immer noch den Tierkopf in Händen. »Das war vor beinahe einhundertzwanzig Tagen.«

Die Hexe trat näher heran. Ihre Hände streckten sich nach dem Kadaver, doch sie verharrten in der Luft. »War es das einzige Exemplar?«

Artur schüttelte den Kopf. »Ich sah andere Wesen in den Wäldern. Rehe mit violettem Gallert am Kopf, einige Füchse, sogar einen Raben. Als ich ihn erlegen wollte, flog er davon.«

Der Schmuggler namens Henning knurrte. »Das gefällt mir nicht. Du weißt, wonach das aussieht.«

Die Hexe nickte. »Nach den Jundar.«

Ein Schweigen legte sich über die Versammelten. Voller Sorge wechselten sowohl Fratera als auch Südländer Blicke, und niemand wagte, etwas zu sagen.

Rosa fasste sich schließlich ein Herz. »Deswegen sind wir hier. Ihr habt sie schon einmal zurückgeschlagen, wenn man den Geschichten und Liedern glauben mag.«

Die Hexe nickte, ohne den Blick von dem Kadaver zu nehmen. »Und es kostete mich mehr, als ein Mensch zu geben vermag.« Sie atmete tief durch, dann sagte sie zu Gallus: »Bitte steckt es weg.«

Das ließ sich der Krieger nicht zweimal sagen. Der junge Wendelin half ihm anschließend, die Hände an einem Wasserschlauch zu waschen.

Die Hexe und der Pirat standen danach beieinander und flüsterten. Artur gefiel das nicht, nicht dieser Blick in den Augen des Schmugglers. Er sagte: »Es hat auch begonnen zu regnen. Vom Delta her den Fluss aufwärts. Als ich Goldfeldern gen Tannrein verlassen habe, reichte der Regen schon von den Fischerdörfern hoch bis zum Hauptstrom. Wenn die Geschichten mit der Regenglocke über La Harb stimmen, dann könnte es dasselbe sein.«

Die Hexe schüttelte den Kopf. »Nicht dasselbe.«

»Warum nicht?«

»Weil die Jundar damals nur Magiebegabte befallen haben.«

Artur schluckte. »Keine Tiere?«

»Nichts dergleichen. Und sie taten es, um Magiebegabte in Regenmacher zu verwandeln.«

»Regenmacher?«, echote Gallus. »Was soll das sein?«

»Mutationen«, erklärte der Schmuggler. »Befallene Menschen, die von den Jundar dazu benutzt worden sind, es regnen zu lassen.«

»Damit die Jundar selbst an Land können«, fügte die Hexe hinzu.

Wieder breitete sich Schweigen aus, bis Rosa sagte: »Aber Ihr glaubt an einen Zusammenhang?«

Die Hexe nickte. »Danach sieht es leider aus. Aber es ergibt keinen Sinn. Tiere! Wozu das? Und wie das?«

»Vielleicht haben sie in den letzten Monaten dazugelernt«, meinte der Schmuggler. »Vielleicht haben sie sich nur zurückgezogen, um sich für einen erneuten Angriff zu sammeln.«

Die Hexe schüttelte den Kopf. »Du weißt selbst, dass ich die beiden Seelensplitter zerstört habe. Danach sind sie verschwunden.«

»Ja, aber was, wenn es noch mehr dieser Seelensplitter gibt? Es waren immerhin Fragmente. Und sie stammten aus Tannrein.«

»Wie bitte?«, stieß Gallus aus. »Aus Tannrein? Bei der Wächterin! Das will ich nicht glauben!«

»Aber es ist die Wahrheit.« Der alte Endres.

Alle blickten zu ihm, und die Hexe fragte: »Was wisst Ihr?«

»Nur alte Geschichten.« Er steckte das Schnitzzeug in den Beutel und verschränkte die Finger ineinander. »Eine davon besagt, dass sich Ives vor Jahrtausenden tierische Diener erschuf.«

»Der Ives?«, fragte Fronicka mit hoher Stimme.

»Genau der. Der Böse. Sankts Zwillingsbruder. Wie gesagt, eine uralte Tannreiner Geschichte. Tief unter der Burg soll er sie mit dunkelster Magie gezeugt haben.«

»Se Jundar«, sagte die Hexe in einer alt klingenden Sprache. »Seine Diener.«

Endres lächelte ohne Freude. »Ich sehe, Ihr wisst, wovon Ihr sprecht.«

»Dann sind wir auf jeden Fall richtig!«, flüsterte Rosa aufgeregt. »Vorausgesetzt, Ihr helft uns.«

»Das tut Ihr doch, oder?«, schob Artur hinterher.

Die Hexe wollte etwas erwidern, doch der Schmuggler namens Henning trat vor und sagte: »Das müssen wir erst noch besprechen. Aber so lange seid Ihr unsere Gäste. Lasst uns ins Dorf ziehen. In der Schänke prasselt ein ordentliches Feuer, und es gibt Bier, Wein und Met. Und mit Glück noch genügend Kabeljau für Euch.«

»Das ist ein Wort!«, entfuhr es Gallus. »Auch wenn ich nie gedacht hätte, jemals mit einer Hexe und Fratera an einem Tisch zu sitzen.«

»Tja.« Endres stemmte sich langsam hoch und klopfte sich Laub und Schnitzspäne von den Hosen. »So ändern sich die Zeiten. Für manche zu langsam und für andere zu schnell.« Dabei flog sein Blick zur Hexe und dem Schmuggler, die aber beide nichts davon mitbekamen, weil sie schon in der Dunkelheit verschwanden.

Kapitel 4 Königtum Westend, nahe Lensend

Henning wartete mit seiner Frage, bis sie außer Hörweite der Südländer waren: »Und? Was glaubst du?«

Leyna ließ sich Zeit mit einer Antwort, während das tote Laub unter ihren Stiefelsohlen wisperte. Schließlich fragte sie: »Wieso befallen sie Tiere?«

»Vielleicht weil sie es können? Die Jundar sind selbst nicht mehr als Tiere.«

»Nein, nein, die Jundar sind als Diener erschaffen worden, vergiss das nicht. Ives hat ihnen die Kraft des Denkens mitgegeben. Außerdem bewiesen sie in La Harb, dass sie koordiniert angreifen und kommunizieren.«

»Das tun Ameisen auch.«

Leyna schenkte Henning einen abfälligen Blick. »Unterschätze sie nicht! Ich sage dir, dass sie eine Absicht haben, wenn sie Tiere befallen. So wie mit den Regenmachern.«

Henning ließ das einige Schritte weit sacken. »In Ordnung. Was ist der Unterschied zu den Regenmachern?«

»Tiere sind nicht magiebegabt. Denke ich zumindest.«

»Und sie sind beweglich. Die Regenmacher waren ortsgebunden, haben sich fast wie Pflanzen an Ort und Stelle niedergelassen.«

Leyna rümpfte die Nase. »Klingt nach einer enormen Verbesserung.«

»Du meinst, sie lernen?«

»Ich würde sogar noch weitergehen: Sie entwickeln sich.«

Die Worte hingen einige Zeit wie Unheil zwischen ihnen, bis Leyna fragte: »Aber warum jetzt? Und warum in der Südmark?«

»Vielleicht gibt es wirklich noch weitere Bruchstücke des Seelensplitters. Oder es hat etwas mit ihrer Erschaffung in Tannrein zu tun.«

»Beides möglich. Sie breiten sich offenbar den Talister entlang ins Landesinnere aus, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Auch nicht dumm. Sie nutzen den Fluss wie eine Straße.«

Leyna nickte nachdenklich. »Wie weit werden sie dann mittlerweile vorgestoßen sein? Circa hundert Tage war die Gruppe unterwegs. Das ist eine lange Zeit.«

»Sehr lange«, stimmte Henning zu. »Ich frage mich nur, warum wir bisher nichts davon gehört haben. Schlechte Nachrichten verbreiten sich doch bekanntlich schneller als jedes Lauffeuer. Sobald der König von Westend davon erfahren hätte, wäre hier ein Herold eingeritten und hätte dich um Hilfe gebeten.«

»Vielleicht will man nicht, dass sich diese Nachricht verbreitet.«

Henning musterte Leyna. »Wie meinst du das?«

»Du kennst doch die Südländer. Verschlossen und eigen.«

»Und geizig.«

Das ließ Leyna für einen Herzschlag lang lächeln. »Das angeblich auch, aber ich meine, sie wahren stets ihr Gesicht. Die starke Südmark, das Rückgrat des Kontinents. Wenn es nach den Südländern ginge, wären der Westen, der Osten und der Norden nur Baronien des Südens.«

»Du glaubst, sie verschweigen das bewusst?«

»Warum nicht? Nach Süden hin über die Himmelsspitzen ist seit Jahren niemand mehr gekommen, weil die Wege vom Schnee unpassierbar sind. Im Südwesten schließt der Ewige Wald an, durch den sich auch kaum jemand wagt. Die Südländer müssten an sich nur die Handelsstraßen kontrollieren.«

»Und den Seeweg.«

»Vielleicht nicht. Wenn die Jundar das Delta kontrollieren, wagt sich niemand mehr dorthin. Außerdem haben wir Herbst. Mit den Herbststürmen auf See war nie zu spaßen, zumindest sagte das mein Vater immer.« Bei der Erwähnung zuckte Schmerz über Leynas Gesicht.

Henning ließ sich die Überlegungen durch den Kopf gehen. Es stimmte schon, die Südländer waren ein verschlossenes Volk, auf sich und ihr Land fokussiert. Reisende zogen eher in den Süden als aus ihm heraus. Den Südländern ging es viel um Stolz und Ehre. Sie würden nie zugeben, dass sie ein Problem hatten.

»Und dann ist da noch die Sache mit der Magie«, sagte Leyna leise. »Du weißt, dass sie in der Südmark die alten Götter mit Leib und Seele verehren.«

»Die Altgläubigen.«

»Ja. Da passen Jundar und Regenmacher und befallene Tiere schlecht ins Bild.«