Die Hirnforscherin, die den Verstand verlor - Barbara K. Lipska - E-Book

Die Hirnforscherin, die den Verstand verlor E-Book

Barbara K. Lipska

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Beschreibung

Die spektakulären Erlebnisse einer Hirnforscherin
Dr. Barbara Lipskas längst geheilt geglaubter Hautkrebs streut ins Gehirn. Doch es kommt noch schlimmer: Sie erfährt einen tiefgreifenden Persönlichkeitswandel, 60 Tage lang durchlebt sie einen temporären Wahnsinn, der erst wieder verschwindet, als 18 Tumoren im Gehirn gefunden und entfernt werden. Die Expertin für Schizophrenie und andere psychische Erkrankungen erzählt, wie sie selbst erlebte, was sie zuvor nur aus ihrer Forschungsarbeit kannte: Anschaulich und erschütternd berichtet sie, wie sie ein völlig anderer Mensch wurde, ihre Familie tief verletzte, Kollegen vor den Kopf stieß, plötzlich einfachste Dinge nicht mehr konnte, die Orientierung verlor und davon überzeugt war, dass sich alles und jeder gegen sie verschworen hatte. Gleichzeitig stellt die renommierte Neurowissenschaftlerin die neueste Forschung darüber vor, was bei psychischen Erkrankungen im Hirn passiert und zeigt – quasi am eigenen Fallbeispiel –, wie unser Hirn funktioniert und wie fragil es ist.

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Seitenzahl: 306

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Die spektakulären Erlebnisse einer Hirnforscherin

Dr. Barbara Lipskas längst geheilt geglaubter Hautkrebs streut ins Gehirn. Doch es kommt noch schlimmer: Sie erfährt einen tief greifenden Persönlichkeitswandel, 60 Tage lang durchlebt sie einen temporären Wahnsinn, der erst wieder verschwindet, als 18 Tumoren im Gehirn gefunden und entfernt werden.

Die Expertin für Schizophrenie und andere psychische Erkrankungen erzählt, wie sie selbst erlebte, was sie zuvor nur aus ihrer Forschungsarbeit kannte: Anschaulich und erschütternd berichtet sie, wie sie ein völlig anderer Mensch wurde, ihre Familie tief verletzte, Kollegen vor den Kopf stieß, plötzlich einfachste Dinge nicht mehr konnte, die Orientierung verlor und davon überzeugt war, dass sich alles und jeder gegen sie verschworen hatte. Gleichzeitig stellt die renommierte Neurowissenschaftlerin die neueste Forschung darüber vor, was bei psychischen Erkrankungen im Hirn passiert, und zeigt – quasi am eigenen Fallbeispiel –, wie unser Hirn funktioniert und wie fragil es ist.

BARBARA K. LIPSKAmit ELAINE MCARDLE

DIE HIRN

FORSCHERIN

DIE DEN

VERSTAND

VERLOR

Was mich mein Hirntumor

über das Wesen der menschlichen

Persönlichkeit lehrte

Die Geschichte einer unglaublichen Heilung

Aus dem Amerikanischen

von Christiane Burkhardt

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel The Neuroscientist Who Lost Her Mind bei Houghton Mifflin Harcourt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 9/2018

© by Barbara Lipska an Elaine McArdle 2018

© der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Fotos im Buch mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Illustration [[>>]]© Witek Lipski.

Redaktion: Angelika Lieke

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München; unter Verwendung eines Motivs von Bigstock / digitalista

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21832-4V001

www.Ludwig-Verlag.de

Für Mirek, mein Fels in der Brandung

Für die Wissenschaft, die Leben rettet

In Gedenken an Witold,

für den der wissenschaftliche Fortschritt zu spät kam

Inhalt

Prolog

EINS

Die Rache der Ratte

ZWEI

Die verschwindende Hand

DREI

Reise ins Innere meines Gehirns

VIER

Entgleist

FÜNF

Vergiftet

SECHS

Verloren

SIEBEN

Inferno

ACHT

Pfifferlinge

NEUN

Was ist passiert, Miss Simone?

ZEHN

Licht am Ende des Tunnels

ELF

Überlebt!

Epilog

Dank

Anmerkungen

Prolog

Ich laufe und laufe und laufe. Und zwar schon seit Stunden. Ich will nach Hause, habe aber keine Ahnung, wo das sein könnte, obwohl ich seit zwanzig Jahren in diesem Viertel wohne. Also laufe ich weiter.

In einem Affenzahn renne ich durch die von Bäumen gesäumten Straßen eines Vororts in Virginia und trage dabei mein übliches Outfit – ein Tanktop und eine kurze Laufhose. Ich werde schneller und schwitze, mein Herz schlägt heftig, aber gleichmäßig, während ich an den großen Anwesen mit Doppelgarage und in der Auffahrt abgestellten Rädern vorbeiflitze.

Wir schreiben das Jahr 2015, es ist Spätfrühling, und ein besonders schwülheißer Sommer kündigt sich an. Noch sind die perfekt getrimmten Rasenflächen grün und saftig. Rosa und weiße Pfingstrosen stehen in voller Blüte, und um mich herum explodieren die Azaleen in allen Regenbogenfarben.

In den letzten zwanzig Jahren bin ich diese Strecke Hunderte von Malen gejoggt und sollte eigentlich jeden Ahornbaum und Kamelienstrauch kennen, jede kaputte Bordsteinkante, wo ein ungeübter junger Fahrer zu schnell um die Ecke gebogen ist. All das sollten hinlänglich bekannte Orientierungspunkte für mich sein. Doch heute kommt es mir so vor, als hätte ich sie noch nie im Leben gesehen.

Als mein Mann und ich hier vor fünfundzwanzig Jahren unser Haus kauften – keine zwei Jahre nachdem wir der Trostlosigkeit des kommunistischen Polen entflohen waren –, kam uns dieser amerikanische Durchschnittsvorort vor wie das reinste Paradies. Was für ein Luxus! Schon bald führten wir das typische Leben der amerikanischen Mittelschicht, zu dem auch regelmäßige Take-aways vom China-Imbiss und eimerweise Eiscreme gehörten – Köstlichkeiten, die damals in Osteuropa gänzlich unbekannt waren.

Bis ich eines Tages ein Foto von mir sah, das schwabblige Oberarme und feiste Schenkel zeigte. Ich war dermaßen geschockt, dass ich mein Leben abrupt änderte. Ich musste dringend mehr Sport treiben und begann zu laufen. Da ich gern Nägel mit Köpfen mache, beschloss ich, so bald wie möglich an einem Wettlauf teilzunehmen.

Anfangs schaffte ich es nicht einmal um einen Häuserblock. Nach einem Jahr lief ich fünf Kilometer. Nach zwei Jahren meldete ich mich für mein erstes Rennen an – ein Zehnkilometerlauf, bei dem ich zu den Besten meiner Altersklasse zählte. Seitdem sind alle Mitglieder meiner Familie begeisterte Sportler – Läufer, Radfahrer und Schwimmer, die ständig für den einen oder anderen Wettkampf trainieren.

Das ist auch der Grund, warum ich jeden Morgen laufen gehe.

Als echtes Gewohnheitstier nehme ich als Erstes meine Brustprothese made in Germany aus dem Badezimmeregal. Die trage ich seit einer linksseitigen Mastektomie, die 2009 nach meinem Kampf gegen den Brustkrebs vorgenommen wurde. Die Prothese ist aus Hightech-Plastik, hautfarben, fühlt sich sehr echt an und hat die gleichen Proportionen wie meine rechte Brust. Sie hat sogar eine winzige Brustwarze. Da es eine Prothese für Sportler ist, ist sie sehr leicht und hat eine spezielle Haftfläche an der Unterseite, damit sie nicht verrutscht. Jeden Morgen vor dem Laufen fixiere ich sie auf meiner flachen linken Brust, bevor ich in meine Klamotten und Schuhe schlüpfe. Dann sause ich los.

Doch an diesem Morgen war alles anders.

Nachdem ich mir mein übliches Glas Wasser eingeschenkt hatte, betrat ich das Bad und musterte mich im Spiegel.

Man sieht meinen Haaransatz. Ich muss mir die Haare färben, dachte ich.

Jetzt, sofort!

In einer kleinen Plastikschüssel rührte ich die Farbe an – eine Henna-Coloration aus dem Drogeriemarkt, die meinem Haar den von mir so geliebten roten Schimmer verleiht – und schüttete sie mir auf den Oberkopf, wo ich sie anschließend verteilte. Ich setzte mir eine Plastiktüte auf und verknotete sie an der Seite, damit sie besser hielt.

Ich muss mich beeilen. Es ist dringend, ganz dringend! Ich muss unbedingt sofort raus und laufen!

Ich nahm mein Oberteil samt Hose und sauste damit zurück ins Bad.

Ich warf einen Blick auf die Brustprothese im Regal.

Nein, zu aufwendig, die behindert mich bloß. Ich werde keine kostbare Zeit mit so einem Unsinn verschwenden.

Rasch streifte ich mir mein hautenges Oberteil über den von der Plastiktüte bedeckten Kopf. Ohne die Prothese sah mein Oberkörper ein wenig schief aus, aber das störte mich nicht.

Ich muss jetzt sofort los!

Während ich hinaus auf die Straße rannte, lief mir rot-violette Farbe über Gesicht und Hals.

Jetzt, wo ich in der Morgenhitze jogge, breitet sich die Farbe auf meinem Oberteil aus und hinterlässt Flecken auf meiner asymmetrischen Brust.

In unserem verschlafenen Viertel sind die Straßen fast menschenleer. Sollten sich Leute, an denen ich vorbeikomme, über meine seltsame Erscheinung wundern, bemerke ich nichts davon. Ich fliege nur so dahin, bin tief in Gedanken versunken.

Nach einer Stunde werde ich langsam müde und will kehrtmachen. Aber mein Viertel ist mir merkwürdig fremd, ich erkenne weder Straßen noch Häuser.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich bin. Also laufe ich weiter.

Es ist absurd, dass ich mich in dieser mir so vertrauten Gegend verirre, aber das berührt mich kaum. Planlos setze ich mein Training fort.

Noch mindestens eine weitere Stunde jogge ich in meinem völlig bekleckerten Outfit weiter. Geistesabwesend, ohne zu merken, dass etwas nicht stimmt. Während ich laufe, scheinen sich meine Gedanken in der Landschaft und dem weiten Himmel zu verlieren.

Irgendwann komme ich tatsächlich wieder bei unserem zweistöckigen Haus im Kolonialstil an. Ich öffne die Tür und stehe im kühlen dunklen Flur. Erschöpft ziehe ich meine klatschnassen Schuhe und Socken aus.

Auf dem Weg ins Obergeschoss fällt mein Blick kurz in den Spiegel. Mit Henna vermischter Schweiß klebt auf meinem Gesicht, und die Plastiktüte auf meinem Kopf sieht aus wie eine bizarre Badekappe. Die zuvor noch violetten Rinnsale zieren jetzt schwarz angetrocknet Hals, Oberarme und mein Oberteil, betonen das Fehlen der linken Brust zusätzlich. Ich bin puterrot vor Anstrengung.

Aber nichts von alldem finde ich merkwürdig. Ich gehe am Spiegel vorbei die Treppe hoch.

Mirek sitzt in seinem Arbeitszimmer, mit dem Rücken zur Tür. Als er hört, wie ich den Raum betrete, sagt er: »Du warst aber lange weg. Hast du schön trainiert?«

Dann dreht er sich lächelnd zu mir um … und erstarrt.

»Was ist passiert?«, ruft er.

»Was meinst du denn?«, erwidere ich. »Ich war doch bloß laufen.«

»Hat dich jemand in diesem Zustand gesehen?« Er sieht erschüttert aus.

»Wieso sollte mich denn niemand sehen dürfen?«

»Wasch das ab«, fleht er mich an. »Bitte.«

»Jetzt beruhige dich mal, Mirek! Wovon redest du überhaupt?« Ohne seine Antwort abzuwarten, gehe ich ins Bad.

Was hat er bloß? Warum verhält er sich so seltsam?

Geduscht und entspannt verlasse ich das Badezimmer eine Viertelstunde später. Aber etwas nagt an mir.

Mein geliebter Mann ist offensichtlich sehr beunruhigt. Warum nur?

Mireks Verhalten sollte eigentlich ein Alarmsignal für mich sein, ein Hinweis darauf, dass irgendetwas gerade ganz schrecklich schiefläuft. Aber keine Sekunde später löst sich dieser unangenehme Gedanke einfach in Luft auf, verabschiedet sich zusammen mit meinem Verstand.

Als Neurowissenschaftlerin, also Hirnforscherin, beschäftige ich mich bereits seit vielen Jahren beruflich mit psychischen Erkrankungen – erst in meiner Heimat Polen und dann, seit 1989, in den Vereinigten Staaten am National Institute of Mental Health (NIMH) in Bethesda, Maryland. Mein Spezialgebiet ist Schizophrenie, eine furchtbare Krankheit, bei der Betroffene häufig Schwierigkeiten haben, Einbildung und Realität auseinanderzuhalten.

Im Juni 2015 vollzog auch mein Verstand eine höchst seltsame, erschreckende Entwicklung – und zwar ohne jede Vorwarnung! Wegen eines Melanoms, das in mein Gehirn gestreut hatte, litt ich zunehmend an geistiger Verwirrtheit – eine zweimonatige Abwärtsspirale, die ich zu dem Zeitpunkt allerdings überhaupt nicht wahrnahm. Dank einer Mischung aus Glück, bahnbrechendem wissenschaftlichem Fortschritt und der aufmerksamen Fürsorge meiner Familie konnte ich dieses finstere Tal wieder verlassen.

Ich bin ein seltener Fall: Ich habe in den Abgrund eines Gehirntumors mitsamt den damit einhergehenden geistigen Einschränkungen geschaut und bin so weit geheilt daraus hervorgegangen, dass ich davon erzählen kann. Glaubt man Psychiatern und Neurologen – also Ärzten, die sich auf das Gehirn und das Nervensystem spezialisiert haben –, kommt es nur äußerst selten vor, dass jemand mit dermaßen gravierenden mentalen Einschränkungen erfolgreich behandelt werden und die geistige Umnachtung wieder hinter sich lassen kann. Die meisten Menschen, die so viele Hirntumoren haben, wie ich damals hatte (samt den damit verbundenen schweren Defiziten), erfahren keinerlei Besserung mehr.

So verstörend mein Zusammenbruch war, so ist er für mich als Wissenschaftlerin doch gleichzeitig ein kostbares Geschenk: Jahrzehntelang habe ich die Funktionen des Gehirns studiert und psychische Störungen erforscht. Doch erst durch meine persönliche kurze Begegnung mit dem Wahnsinn lernte ich gewissermaßen aus erster Hand, was es wirklich bedeutet, den Verstand zu verlieren – und ihn anschließend zurückzugewinnen.

Alljährlich entwickelt ungefähr einer von fünf Erwachsenen weltweit eine psychische Erkrankung1 – angefangen von Depressionen über Angststörungen bis hin zu Schizophrenie oder einer bipolaren Störung. In den Vereinigten Staaten sind jährlich beinahe 44 Millionen Erwachsene betroffen2 – all jene, die eine Drogenpsychose haben, noch gar nicht mit berücksichtigt. In Europa leiden Jahr für Jahr 27 Prozent aller Erwachsenen an einer schwerwiegenden psychischen Störung3 – und das jedes Jahr. Solche Erkrankungen machen sich meist im jungen Erwachsenenalter bemerkbar, können in Einzelfällen ein Leben lang anhalten und entsetzliches Leid über den Kranken und seine Angehörigen bringen. Eine erhebliche Anzahl von Obdachlosen und Gefängnisinsassen leidet an psychischen Erkrankungen4, doch Obdachlosigkeit und Kriminalität sind längst nicht die einzigen Folgen für die Gesellschaft: Psychische Erkrankungen kosten die Weltwirtschaft eine Billion Dollar im Jahr5 – 193,2 Milliarden allein in den Vereinigten Staaten6. Menschen, die sonst produktiv wären, sind aufgrund ihrer Einschränkungen nicht in der Lage zu funktionieren. Psychische Erkrankungen bedeuten nicht nur eine erhebliche Einschränkung, sondern können auch tödlich enden. Von den rund 800 000 Menschen weltweit, die jedes Jahr Suizid begehen7 – allein 41 000 in den Vereinigten Staaten –, leiden 90 Prozent an einer psychischen Erkrankung8.

Die Vereinigten Staaten geben deutlich mehr für die Behandlung von psychischen Erkrankungen aus als für jedes andere medizinische Problem – stolze 201 Milliarden Dollar im Jahr 20139. (Herzerkrankungen, für deren Behandlung die USA im selben Jahr 147 Milliarden bereitstellten, kommen erst an zweiter Stelle.) Doch trotz dieser Mittel und der enormen Anstrengungen engagierter Wissenschaftler und Ärzte, bleiben psychische Erkrankungen höchst rätselhaft. Ihre Ursachen sind größtenteils unbekannt und ihre Behandlungsmethoden deshalb noch weitgehend unerforscht.

Trotz der vielen inzwischen gewonnenen Erkenntnisse, zu denen tagtäglich neue hinzukommen, verstehen wir Wissenschaftler nach wie vor nicht, was in den Köpfen psychisch kranker Menschen vorgeht. Wir haben immer noch keine Ahnung, welche Hirnregionen genau beeinträchtigt sind beziehungsweise warum das Gehirn durchdreht. Sind Menschen mit psychischen Erkrankungen genetisch dazu verurteilt, oder haben sie etwas erlebt, das ihre Gehirne beschädigt, ihre Nervenbahnen angegriffen und deren neurologische Funktionen verändert hat?

Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse legen die Schlussfolgerung nahe, dass psychische Erkrankungen sowohl erblich als auch umweltbedingt sind. Letzteres ist auf verschiedene Faktoren einschließlich Drogenkonsum oder Drogenmissbrauch zurückzuführen, die hochkomplex miteinander, aber auch mit unseren Genen interagieren. Dennoch ist es nach wie vor unglaublich schwer, die biologischen und chemischen Prozesse, die zu derartigen Erkrankungen führen, genau zu bestimmen – einerseits weil diese Störungen eher anhand von Beobachtungen bestimmter Verhaltensweisen diagnostiziert werden als anhand von exakten Tests: Im Gegensatz zu Krebs oder Herzerkrankungen lassen sich psychische Erkrankungen nicht objektiv messen. Keine biologischen Marker im Rahmen von bildgebenden Verfahren und keine Labortests können uns sagen, wer betroffen ist und wer nicht. Insgesamt mögen Menschen mit psychischen Störungen zwar abweichende Hirnstrukturen und Hirnfunktionen aufweisen, doch einzelne Patienten können bisher nicht mit konventionellen Methoden wie Blutuntersuchungen, Computer- oder Magnetresonanztomografie diagnostiziert werden.

Weiter erschwert wird die Diagnose einer psychischen Erkrankung dadurch, dass die Symptomkonstellation nicht nur von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist, sondern auch bei den jeweiligen Betroffenen stark schwankt: Nicht jeder, der an Schizophrene leidet, schreit die ganze Zeit rum. Manche Menschen mit diesem Krankheitsbild ziehen sich völlig in sich zurück und stellen jede Kommunikation ein. Auch Demenzkranke können im einen Moment völlig präsent sein, aber schon im nächsten geistig abwesend und in sich gekehrt. Noch komplizierter wird es dadurch, dass sich manches, was auf eine psychische Erkrankung hinweisen könnte, letztendlich lediglich als ein vielleicht zwar stark ausgeprägtes, aber ansonsten völlig normales Persönlichkeitsmerkmal herausstellt. Bei Menschen, die von Natur aus eher stur sind, wird mangelndes Urteilsvermögen infolge von Demenz anfangs oft mit ihrer typischen Uneinsichtigkeit verwechselt. Und wenn sich introvertierte Menschen noch mehr in sich zurückziehen, bemerkt das persönliche Umfeld oft gar nicht, dass sie bereits Symptome von Alzheimer entwickeln.

In der Forschung kristallisiert sich zunehmend heraus, dass bestimmte psychische Erkrankungen keine genau definierten Krankheiten sind, die alle dieselben Symptome und biologischen Indikatoren aufweisen. Zwei Menschen mit den gleichen auffälligen Verhaltensweisen können in Wahrheit an zwei völlig verschiedenen Störungen leiden. Genauso gut kann es bei ganz unterschiedlichen psychischen Erkrankungen zu Überschneidungen bei den Symptomen, biologischen Mechanismen und Ursachen kommen. Manche genetischen und klinischen Analysen stellen Ähnlichkeiten zwischen einer großen Bandbreite an Diagnosen fest, die nahelegen, dass psychische Erkrankungen ein gemeinsames neurobiologisches Substrat teilen. Die moderne Wissenschaft ist gerade dabei, diese Möglichkeit näher zu untersuchen.

Heute gehen die meisten Forscher davon aus, dass bei psychisch Kranken vor allem im hoch entwickelten präfrontalen Cortex an der Stirnseite des Gehirns sowie in seinem Verbindungsnetz mit anderen Hirnarealen etwas nicht stimmt. Doch worin diese Abweichungen genau bestehen und wie die Fehlfunktionen bei den verschiedenen psychischen Erkrankungen jeweils aussehen, gibt nach wie vor Rätsel auf.

Werden Verhaltensänderungen von Hirntumoren ausgelöst, wie es bei mir der Fall war, scheint es ein Leichtes zu sein, ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen neurologischen Faktoren und Verhaltensweisen herzustellen. Neurologen versuchen immer wieder, jedes Problem mit einer bestimmten Hirnregion in Verbindung zu bringen, und manchmal gelingt das auch einigermaßen. Aber ins Gehirn gestreute Tumoren – sei es nun von einem Melanom (Schwarzer Hautkrebs), von Brust- oder Lungenkrebs – neigen dazu, mehrere Hirnregionen gleichzeitig zu befallen. Hat man wie ich zwei oder mehr Tumoren, so lässt sich nur schwer herausfinden, welche Hirnregion welche Verhaltensweisen beeinflusst. Schwellen darüber hinaus noch einzelne Areale aufgrund der Tumoren und der dagegen eingesetzten Behandlungsmethoden an, ist das gesamte Gehirn an den Verhaltensänderungen beteiligt.

Obwohl wir bis heute nicht genau wissen, was in meinem Gehirn vor sich ging und in welchem Bereich das genau geschah, hat mir meine persönliche Erfahrung die einmalige Gelegenheit verschafft, die verschlungenen Landschaften des Gehirns zu erkunden. Mit dem Ergebnis, dass ich seine atemberaubend komplexe Struktur und sein unglaublich widerstandsfähiges Produkt, sprich: den menschlichen Geist, jetzt wesentlich besser verstehe als zuvor.

Wie jeder Mensch, der an einer psychischen Erkrankung leidet, habe auch ich bei meiner Begegnung mit dem Wahnsinn eine Symptomkonstellation erlebt, die nur für mich gilt. Dennoch wies ich während meines kurzen geistigen Zusammenbruchs auch zahlreiche Symptome auf, wie sie in der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) stehen, dem offiziellen Handbuch für Ärzte und Forscher, wenn es um die Klassifikation psychischer Erkrankungen geht. Insofern sind die Parallelen zwischen meinen Erfahrungen und denen von Patienten einer großen Bandbreite von Krankheiten – angefangen von Alzheimer bis hin zu anderen Demenzformen, von bipolaren Störungen bis hin zu Schizophrenie – bemerkenswert. Diese Parallelen zu erkennen und zu nutzen, um das subjektive Erleben von psychischen Erkrankungen und deren Ursachen besser zu verstehen, ist eines der Hauptanliegen dieses Buches.

Ich habe die tief greifende Erfahrung gemacht, wie es ist, in einer Welt zu leben, die keinerlei Sinn ergibt, die hochgradig verstörend und nicht im Geringsten vertraut ist. Ich habe das Gefühl erlebt, so verwirrt zu sein, dass man niemandem mehr traut – schon gar nicht denjenigen, die einem am nächsten stehen und die man verdächtigt, sich gegen einen verschworen zu haben. Und ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht nur sein Einsichts- und Urteilsvermögen sowie seine räumlich-visuellen Fähigkeiten zu verlieren, sondern auch Fähigkeiten, die für die Kommunikation unverzichtbar sind, wie zum Beispiel das Lesen. Die vielleicht verstörendste Erfahrung war jedoch, all diese Defizite während dieser Zeit überhaupt nicht wahrzunehmen. Erst als mein Verstand langsam zurückkehrte, begriff ich, wie verzerrt meine Realität bis dahin gewesen war.

Nachdem ich dieses finstere Tal hinter mir gelassen und eine zweite Chance bekommen hatte, wollte die Hirnforscherin in mir unbedingt herausfinden, was in meinem Gehirn genau schiefgelaufen war. Ich erfuhr, dass meine Stirn- und Scheitellappen, die für viele unserer menschlichsten Verhaltensweisen verantwortlich sind, nicht mehr richtig funktioniert haben. Das erklärt auch, warum ich mich ähnlich verhielt wie Menschen mit einer psychischen Erkrankung: Warum ich mich an vertrauten Orten nicht mehr zurechtfand, Dinge vergaß, die gerade erst passiert waren, und mich meiner Familie gegenüber wütend, bösartig und kaltherzig verhielt. Warum ich regelrecht besessen von unbedeutenden Details war, zum Beispiel davon, was es zum Frühstück gibt – ohne zu begreifen, dass ich dem Tod ins Auge sah, ja ohne diese heimtückischen Veränderungen überhaupt wahrzunehmen! Obwohl sich mein Zustand deutlich verschlechterte, merkte ich nicht, dass ich psychisch krank wurde.

Durch all diese Erfahrungen erhielt ich nicht nur einen persönlichen Einblick in psychische Erkrankungen wie Schizophrenie und Demenz, sondern lernte auch andere Fehlfunktionen des Gehirns besser zu verstehen, wie beispielsweise die geistigen Abbauprozesse, zu denen es kommt, wenn wir alt werden. Viele Menschen werden vielleicht eines Tages bei sich selbst, bei ihren Partnern oder Familienangehörigen die gleichen seltsamen psychischen Veränderungen bemerken, die auch ich aufwies: Gedächtnisverlust, ein enthemmtes, unangemessenes Verhalten, eine veränderte Persönlichkeit und die Unfähigkeit, sich dieser Probleme bewusst zu sein. Der frontale Cortex – also der Teil meines Gehirns, der von meinen Tumoren und Schwellungen infolge meiner Behandlung am stärksten betroffen war – gehört zu den Regionen, die häufig beeinträchtigt sind, wenn wir älter werden (ein anderer ist der Hippocampus). Zur Ironie meiner Geschichte gehört auch, dass ich – wenn ich lange genug lebe, um ein hohes Alter zu erreichen – unter Umständen viele dieser mentalen Veränderungen erneut erleben werde.

Während ich meinen Verstand verlor und wiederfand, habe ich gelernt, mich mit anderen Menschen zu identifizieren, die ebenfalls persönlich von psychischen Erkrankungen betroffen waren oder sind. Auch das hat mich motiviert, meine Geschichte zu erzählen. Obwohl psychischen Erkrankungen inzwischen mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als je zuvor, werden sie von der Gesellschaft nach wie vor stark stigmatisiert. Und obwohl psychische Erkrankungen körperlichen Ursprungs sind – es handelt sich dabei um Erkrankungen des Gehirns, so wie Herzprobleme Erkrankungen des Herzens sind –, behandelt man psychisch Kranke häufig so, als wären sie selbst schuld an ihrer Krankheit, als hätten sie etwas falsch gemacht. Ihre Angehörigen werden oft gleich mitstigmatisiert.

Ich hoffe, dass meine persönliche Erfahrung wenigstens zu der Erkenntnis beiträgt, dass psychisch kranke Menschen ebenso wenig für ihre Krankheit verantwortlich sind wie Krebskranke und dass die beste Reaktion auf eine psychische Erkrankung in Mitgefühl und einem noch größeren Engagement bei der Suche nach Behandlungsmethoden besteht.

Ich habe den Eindruck, dass ich nach all den Erfahrungen sensibler auf die Gefühle und Probleme anderer Menschen reagiere und auch als Mutter, Ehefrau, Freundin und nicht zuletzt als Wissenschaftlerin verständnisvoller geworden bin. Und obwohl ich glaube, schon immer einfühlsam mit psychisch Kranken umgegangen zu sein, hat sich diese Sensibilität seit meiner persönlichen Begegnung mit dem Wahnsinn noch verstärkt. Ich lebe auch viel bewusster als früher, weiß, wie glücklich ich mich schätzen darf, wieder mit meiner Familie vereint zu sein und mein Lebenswerk fortsetzen zu können.

Dieses Buch beschreibt meine psychische Erkrankung gewissermaßen aus der Innenperspektive, schildert aber auch meine wissenschaftliche und persönliche Weiterentwicklung. Es ist die Geschichte einer schier unglaublichen Reise, von der ich mir zeitweilig nicht vorstellen konnte, jemals wieder zurückzukehren. Es ist eine Geschichte, die ich fast nicht mehr hätte erzählen können und die davon handelt, wie ich von einer Wissenschaftlerin, die über psychische Erkrankungen forscht, selbst zu einer psychisch Kranken geworden bin. Und sie handelt davon, wie ich mit klarem Verstand wieder daraus hervorgegangen bin.

EINS

Die Rache der Ratte

Ich sitze zwischen Tausenden von Gehirnen, zwischen Tausenden Gehirnen von psychisch Kranken.

Als Leiterin der Gehirnsammlung am National Institute of Mental Health (NIMH) bin ich bei meiner Arbeit von Gehirnen regelrecht umzingelt, von einer ganzen Bibliothek, einer Bank aus Gehirnen, die aus den verschiedensten Gründen nicht so funktioniert haben, wie sie eigentlich sollten: Gehirne, die Halluzinationen hatten, seltsame Stimmen gehört, unter heftigen Stimmungsschwankungen und unter extremen Depressionen gelitten haben. Gehirne, die während der letzten dreißig Jahren gesammelt, katalogisiert und aufbewahrt worden sind.

Etwa ein Drittel dieser Gehirne stammt von Selbstmördern. Der verzweifelte, herzzerreißende Akt der Selbsttötung ist der höchste Preis, den so viele psychisch Kranke zahlen müssen – eine bittere Wahrheit, mit der meine Kollegen und ich tagtäglich konfrontiert werden.

Jedes Exemplar kommt frisch und blutig glänzend zu uns, in einem durchsichtigen Plastikbeutel, der sorgfältig in Eis gepackt wurde. Es sieht aus wie ein Stück rotes Fleisch und hat so gar nichts Menschliches mehr. Doch noch am Vortag hat es jede Bewegung und jeden Gedanken desjenigen gesteuert, dem es einst gehörte.

Um psychische Erkrankungen verstehen, sie behandeln und eines Tages heilen zu können, benötigen Forscher einen steten Nachschub an neuen Gehirnen. Und hier kommen Institutionen wie das NIMH, das führende Forschungszentrum der Vereinigten Staaten für psychische Erkrankungen, ins Spiel. In unserer Gehirnbank sammeln wir diese unglaublichen Organe, zerschneiden sie, um brauchbare Gewebeproben zu erhalten, und teilen diese mit Forschern aus aller Welt.

Aber es ist gar nicht so einfach, Gehirne zu sammeln. Besonders schwierig ist es, an Gehirne von Menschen mit Schizophrenie, einer bipolaren Störung, starken Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeiten von unterschiedlichen Substanzen wie Kokain, Opioiden, Alkohol, ja sogar Cannabis zu gelangen, die Drogenmissbrauch begünstigen. Außerdem dürfen wir keine Gehirne von psychisch Kranken verwenden, die nach schweren Krankheiten gestorben sind, vor ihrem Tod an Beatmungsgeräte angeschlossen waren oder starke Medikamente bekommen haben. Gehirne, die von anderen Krankheiten oder medizinischen Problemen betroffen sind, würden das auch so schon schwierige Rätsel, das wir lösen wollen, nur noch komplizierter machen: die Antwort auf die Frage, was genau psychische Störungen verursacht.

Um das herauszufinden, benötigen wir auch Gehirne von Menschen ohne psychische Erkrankungen (Kontrollgehirne), damit wir diese untersuchen und mit den kranken Gehirnen vergleichen können. Mit anderen Worten: Wir brauchen saubere Gehirne mit und ohne Anzeichen von Verrücktheit.

Die meisten Gehirne bekommen wir aus der nahe gelegenen Gerichtsmedizin, wo in der Regel Leichname der Menschen landen, die unter verdächtigen oder rätselhaften Umständen gestorben sind. So gesehen »profitieren« wir unfreiwillig nicht nur von Selbstmorden, sondern auch von Morden und ungeklärten Todesfällen.

Frühmorgens rufen die Laboranten unserer Gehirnbank als Erstes in der Gerichtsmedizin an und fragen: »Haben Sie heute irgendwelche Gehirne für uns?«

Wir haben es nämlich eilig: Ist jemand länger als drei Tage tot, können wir sein Gehirn nicht mehr verwenden. Wir brauchen Gehirne, bei denen der Verwesungsprozess noch nicht eingesetzt hat, deren Proteine und andere Moleküle wie Ribonukleinsäure (RNA) und Desoxyribonukleinsäure (DNA) noch nicht abgebaut worden und damit für molekulare Untersuchungen wertlos geworden sind.

Die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin informieren die Laboranten über die Leichen, die in den letzten vierundzwanzig Stunden eingetroffen sind, und sagen ihnen alles, was sie darüber wissen. Meist ist das nicht sehr viel, und sie können nur die grundlegenden Fakten nennen: ein junger Mann, der an einer Überdosis Heroin gestorben ist. Eine Frau mittleren Alters mit einem Herzinfarkt. Ein Teenager, der sich erhängt hat. Zu diesem Zeitpunkt kann das alles sein, was wir über die jeweilige Person wissen.

Sobald die Laboranten eine Kandidatenliste erstellt haben, kommen sie zu mir, und gemeinsam schränken wir sie weiter ein: Können wir das Drogenopfer gebrauchen? Oder den älteren Mann, dessen Frau angegeben hat, dass er Alkoholiker war? Dann wäre da noch ein Mann, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine psychische Erkrankung – vielleicht können Forscher sein Gehirn ja zur Kontrolle ihrer Studien verwenden. Doch was, wenn er eine Kopfverletzung erlitten hat? Können wir ihn dann auch noch gebrauchen?

Sobald die Möglichkeit besteht, dass ein Gehirn passen könnte, sage ich in der Regel zu. Die Hirne, die wir suchen, sind selten und kostbar, wir können gar nicht genug davon bekommen.

Nachdem wir uns für die potenziellen Kandidaten entschieden haben, setzen sich unsere Laboranten mit den nächsten Angehörigen in Verbindung, um eine schmerzliche Bitte an sie zu richten: »Könnten Sie sich vorstellen, das Gehirn Ihres geliebten Familienmitglieds der medizinischen Forschung zur Verfügung zu stellen?«

Eine einfache Frage, sollte man meinen. Doch vor wenigen Stunden haben all diese Menschen noch gelebt. Jetzt sind sie für immer von uns gegangen, und wir bitten Eltern, Ehepartner oder Kinder von ihrem eigenen Schock oder Schmerz abzusehen und uns den persönlichsten Körperteil ihres Angehörigen anzuvertrauen – das, was seine gesamte Persönlichkeit ausgemacht hat. So gesehen dürfte es nicht weiter überraschen, dass nur ein Drittel von ihnen zu einer solchen Spende bereit ist.

Trifft ein Gehirn dann in unserer Gehirnbank ein, versehen wir es mit einer Nummer, um es zu anonymisieren. Dann beginnt unsere eigentliche Arbeit. Wir können dieses Exemplar jetzt zerschneiden und es auf seine Funktionen hin untersuchen.

Inmitten dieser in Scheiben geschnittenen und haltbar gemachten Exemplare, voller Optimismus und Hoffnung darauf, dass sie ihre Geheimnisse eines Tages preisgeben werden, verrichte ich meine Arbeit.

Gehirne sind eine blutige Angelegenheit. Ich habe über dreißig Jahre mit ihnen gearbeitet – anfangs mit den gerade mal walnussgroßen Gehirnen von Ratten, die glatt und relativ schlicht sind. Sie besitzen keine der zahlreichen Windungen (gyri) und Furchen (sulci) des menschlichen Gehirns, das im Vergleich dazu deutlich raffinierter und komplexer ist – eine evolutionäre Meisterleistung. All seine Falten und Spalten helfen uns dabei, mehr Speicherplatz und mehr Funktionen in dem relativ kleinen menschlichen Schädel unterzubringen. Die Fähigkeit zu denken ist nur eines von vielen Ergebnissen dieses herrlich komplizierten Nervengewebes … aber leider eben auch psychische Erkrankungen, die genau diese Denkfähigkeit beeinträchtigen.

Bei unserem Versuch zu ergründen, was in den Gehirnen von psychisch Kranken falschläuft, müssen wir tief ins Gewebe, in die Zellen und Moleküle vordringen. Neuartige Techniken erleichtern uns diese Arbeit immer mehr. Um beispielsweise die Geheimnisse der Schizophrenie zu lüften, untersuche ich dünne Gehirnscheiben, die mit radioaktiven oder fluoreszierenden Stoffen eingefärbt wurden, und werte dann die verschiedenen Moleküle, Proteine, RNA- und DNA-Typen aus. Um ihren genetischen Code zu entziffern, analysiere ich die winzige Zusammensetzung der Gehirnzellen mit modernen Sequenzierungsgeräten.

Als Hirnforscherin und Molekularbiologin bin ich zwar eine Expertin für Gehirne, aber keine Ärztin. Bevor ich die Leitung der Gehirnbank übernahm, hatte ich noch nie mit menschlichen Leichen, ja nicht einmal mit identifizierbaren Körperteilen gearbeitet. Ich ging meiner Arbeit in Laboren nach, weitab von Leichenhallen und Krankenhäusern. Wenn mich Gehirne erreichten, waren sie längst nicht mehr als solche erkennbar, sondern bestanden aus pulverisiertem, gefrorenem Gewebe, das aussah wie rosafarbene, in einer Flüssigkeit gelöste Mehlklümpchen. Oder aber es handelte sich um dünne Gewebescheiben, die in stinkenden Chemikalien aufbewahrt wurden.

Ich verschwendete keinen Gedanken daran, wie nahe ich dabei meinen »Versuchspersonen« kam, ohne ihnen jemals wirklich nahe zu sein: So funktioniert wissenschaftliches Arbeiten nun mal. Jeder Forscher beschäftigt sich mit seinem kleinen Teil eines riesigen Puzzles, das hoffentlich eines Tages durch gemeinsame Anstrengungen der Wissenschaftsgemeinde ein logisches Gesamtbild ergibt, zu dem auch sein kleines Teilchen einen wichtigen Beitrag geleistet haben wird.

Bevor ich diese Stelle annahm, hatte ich noch nie ein menschliches Gehirn berührt. Ich war zwar schon mehrmals in der Pathologie gewesen und hatte obduzierte Leichen gesehen, doch noch nie hatte ich miterlebt, wie dem Schädel ein Gehirn entnommen wird, noch nie ein Gehirn in Händen gehalten, geschweige denn es in Scheiben geschnitten.

»Das müssen Sie schon selbst tun«, forderte mich meine Vorgängerin bei der Gehirnbank, Dr. Mary Herman Rubinstein (kurz Dr. Herman), im Jahr 2013 während meiner Einarbeitung auf. »Wenn das nächste Gehirn eintrifft, werden wir es gemeinsam in Scheiben schneiden und einfrieren.«

Gesagt, getan: An einem sonnigen Septembertag desselben Jahres, als sich das Laub gerade gelbrot verfärbt, die Luft aber noch angenehm warm ist, stehen wir im Labor und warten auf mein erstes Gehirn. Wir tragen Schutzkleidung – OP-Maske, Plastikvisier vor dem Gesicht, eng sitzende Haarkappe, mehrere Schichten Latexhandschuhe, die bis über die Ellbogen reichen, einen weißen Laborkittel samt Plastikschürze, die uns vor Blutspritzern schützen sollen, und Plastikfüßlinge.

Ein Laborant fährt eine große weiße Kühltruhe herein, wie sie auch zum Kühlen von Bier und Steaks bei einer Football-Party benutzt wird. Doch ich weiß, dass diese Kühltruhe ein in Eis gepacktes menschliches Gehirn enthält.

Das Gehirn muss unbedingt gekühlt sein, weil die niedrige Temperatur den Gewebeabbau verlangsamt. Für unsere Experimente muss die RNA der Gehirnzellen intakt sein. Sie dient dazu, herauszufinden, welche Gene momentan aktiv sind, was wiederum Rückschlüsse auf die Funktionsfähigkeit des Gehirns zulässt. Nachdem das Gehirn entnommen wurde, muss es sofort in Eis gepackt werden. Nur so lässt sich die RNA erhalten. Soll es länger aufbewahrt werden, müssen wir das Gewebe so schnell wie möglich einfrieren. Diese Niedrigtemperaturen können den Zerfall der RNA jahrzehntelang aufhalten.

Dr. Herman öffnet also die Kühltruhe und holt vorsichtig einen durchsichtigen Plastikbeutel voller Eis heraus. Behutsam entnimmt sie das Gehirn und legt es mir in die ausgestreckten Hände. Es passt problemlos hinein. Es ist schwer, kalt, nass und blutig wie jedes andere Stück Fleisch. Das durchschnittliche Gehirn wiegt 1300 Gramm, aber im Lauf der Jahre werde ich einigen begegnen, die bis zu 1800 Gramm wiegen, also fast vier Pfund. Dieses Gehirn fühlt sich an wie feste Götterspeise, ist aber ziemlich empfindlich. Wenn ich nicht aufpasse, können Teile abreißen.

Da das menschliche Gehirn die komplexeste Struktur des gesamten Universums ist, sollte man meinen, dass es … na ja, irgendwie komplizierter aussieht. Aber es wirkt auf den ersten Blick eigentlich eher unspektakulär. Als ich meine erste Leiche mit all dem Blut, den Muskeln, Knochen und Hautfetzen sah, hatte ich Angst, in Ohnmacht zu fallen. Das Gehirn in meinen Händen empfinde ich als deutlich weniger verstörend. Jetzt, wo es sich außerhalb des Körpers befindet, in dem es herangewachsen ist, scheint es fast nichts Menschliches mehr zu haben.

Dennoch ist der enorme Kontrast zwischen diesem gewöhnlich aussehenden Stück Fleisch und der darin enthaltenen Komplexität überaus beeindruckend. Es ist Ehrfurcht gebietend, ja wirklich erstaunlich, dass alles, was einen Menschen ausmacht, in meine zwei Hände passt.

Dieses Gehirn hat einen Menschen gesteuert, der noch keine vierundzwanzig Stunden tot ist – so weit die Fakten. Doch was weiß ich noch über das Gehirn in meinen Händen? Stammt es von einer Frau oder einem Mann? Hat dieser Mensch an einer psychischen Erkrankung gelitten? Hat er Selbstmord begangen? Angesichts unserer Quellen ist das sehr wahrscheinlich. Aber genauso gut kann es sein, dass das Gehirn von einer älteren Frau stammt, die einer Lungenentzündung erlegen ist, oder von einem jungen Mann, der an einer Schussverletzung der Brust gestorben ist. Dieser Mensch kann an Schizophrenie oder Depressionen gelitten haben, aber ebenso gut geistig kerngesund gewesen sein. Mit bloßem Auge lässt sich das nicht erkennen – so leicht gibt das Gehirn seine Geheimnisse nicht preis.

Das gesamte Gehirn erinnert von seiner Form her vage an einen Fußball. Eine tiefe Furche in der Mitte trennt es in eine linke und eine rechte Gehirnhälfte. Jede dieser Hälften besteht aus vier Lappen: dem Stirn-, Schläfen, Scheitel- und Hinterhauptlappen.

Während ich das Gehirn in Händen halte, starre ich auf die Stirnlappen. Diese Areale des Cortex oder der Großhirnrinde bestimmen den Großteil unserer bewussten Wahrnehmung – angefangen von unserer Umwelt bis hin zu unseren intimsten Gedanken und Vorstellungen. Das sind die Regionen, die mich am meisten faszinieren und die die überwältigende Mehrheit der Neurowissenschaftler beschäftigen.

Die wichtigsten Areale des menschlichen Gehirns10

Die Stirnlappen – einer links und einer rechts – beginnen unten an der Stirn direkt über den Augen und reichen bis zum höchsten Punkt des Schädels. Wie die anderen Lappen umgeben sie die primitiveren Teile des Gehirns, die weiter innen angesiedelt sind.

Ich beuge mich über den frontalen Cortex, den vorderen oberen Teil des Stirnlappens, der ungefähr unter dem Haaransatz liegt. Diese große Region voller Falten und Furchen ist sowohl der jüngste als auch der am höchsten entwickelte Teil des menschlichen Gehirns. Er bestimmt, was uns zu einem denkenden, erinnerungsbegabten, problemlösenden Wesen mit Urteils- und Entscheidungsvermögen macht.

Der präfrontale Cortex befindet sich direkt hinter der Stirn. Dieser relativ kleine Teil der Großhirnrinde ist vielleicht am wichtigsten für unsere geistige Gesundheit, weil der präfrontale Cortex das kontrolliert, was wir Exekutive Funktionen nennen – hochkomplexe kognitive Leistungen wie zwischen Richtig und Falsch unterscheiden, unangemessenes, impulsives Verhalten unterdrücken und von der Gegenwart auf die Zukunft schließen. Langjährige neurowissenschaftliche Forschungen zu psychischen Erkrankungen lassen kaum einen Zweifel daran, dass Probleme im präfrontalen Cortex maßgeblich für psychische Erkrankungen verantwortlich sind. Wir wissen allerdings nicht, welche Probleme das genau sind, und allein durch einen Blick auf den frontalen Cortex werde ich bestimmt nicht schlauer.

Hinter dem Stirnlappen, getrennt von einer tiefen Furche (sulcus), entdecke ich den Scheitellappen, einen weiteren großen Teil der gefalteten Hirnrinde. Der Scheitellappen koordiniert die Sinneswahrnehmungen, die vom Körper ans Gehirn gesendet werden und es uns erlauben zu fühlen, zu schmecken, uns zu bewegen und zu berühren. Er verortet uns im Raum, sagt uns, wo wir uns im Verhältnis zu unserer Umwelt befinden und wo unsere Körper anfangen und enden. Er befähigt uns auch zum Lesen und Rechnen.

Ich drehe das Gehirn auf die Seite und betrachte den Schläfenlappen, der hinter der Schläfe liegt, knapp über dem Ohr. Dieser Teil der Hirnrinde ist für die Verarbeitung von akustischen Signalen auf hohem Niveau zuständig, für das Hören und Verstehen von Sprache. Darunter, tief im Gehirn und meinen Blicken durch Schichten von kortikalem Gewebe entzogen, befindet sich der Hippocampus, der wegen seiner ungewöhnlichen, gekrümmten Form mit dem lateinischen Wort für »Seepferdchen« bedacht worden ist. Dieser evolutionsgeschichtlich primitive Teil des Gehirns speichert Langzeiterinnerungen. Außerdem funktioniert er wie ein GPS und sorgt dafür, dass wir uns im Raum bewegen und darin zurechtfinden können.

Ganz hinten versteckt sich das durch extrem feine Windungen gekennzeichnete Kleinhirn, das aus dicht zusammengedrängten Nervenzellen, den Neuronen, besteht. Es koordiniert unsere bewussten Bewegungen, also wie wir sitzen, gehen und sprechen. Direkt darüber – dort, wo wir einen Pferdeschwanz binden würden – befindet sich der vierte und letzte Lappen, der Hinterhauptlappen – eine Struktur, die visuelle Informationen verarbeitet und uns das Sehen ermöglicht.

Alle diese Hirnstrukturen sind unverzichtbar, wenn wir im Alltag funktionieren wollen. Wird der Hirnstamm im hinteren Bereich des Gehirns verletzt – der Teil, der Atmung, Herzschlag und andere Grundfunktionen steuert –, kann das zu Lähmung oder gar zum Tod führen. Dennoch ist der frontale Cortex die vielleicht wichtigste Hirnregion überhaupt: Ohne ihn stirbt man zwar nicht, doch er ist der Teil, der uns erst menschlich macht. Wird diese Hirnregion geschädigt, sind zahlreiche schwerwiegende Symptome die Folge – angefangen von Gedächtnisverlust über die Unfähigkeit, etwas zu planen oder zu organisieren, bis hin zu Problemen mit der Sprache, unangemessenem Verhalten und beeinträchtigtem Urteilsvermögen.

Am liebsten würde ich dieses Gehirn noch viel länger bewundern – das erste, das ich je in Händen gehalten habe –, aber Dr. Herman und ich müssen uns beeilen, wenn wir das Exemplar für unsere Untersuchungen konservieren wollen.

Vorsichtig lege ich das Gehirn auf ein großes Brett, das wiederum auf einem Eisbett liegt, und greife zu einem langen Skalpell mit rasiermesserscharfer Klinge.