Die Hyänen - Lee Child - E-Book

Die Hyänen E-Book

Lee Child

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Beschreibung

Jack Reacher gerät zwischen die Fronten zweier Mafiaclans – ein schwarzer Tag für die Mafia … Der TOP-10-SPIEGEL-Bestseller!

Jack Reacher reist ziellos in einem Greyhound-Bus durch die USA. Da beobachtet der ehemalige Militärpolizist, wie ein alter Mann, der gerade aus dem Bus gestiegen ist, überfallen wird. Reacher wäre nicht Reacher, wenn er tatenlos zusähe – er greift ein. Das Opfer ist verletzt, will ihn aber auf keinen Fall in diese Angelegenheit hineinziehen. Doch Reacher konnte noch nie wegsehen, wenn Schwächere Hilfe brauchten. Und so gerät er zwischen die Fronten zweier Mafia-Clans, die brutal um die Herrschaft über ihre Stadt ringen. Anfangs sehen die Verbrecher in dem Fremden noch keine Bedrohung. Doch dann erkennen sie, dass sie einem Mann wie Reacher noch nie begegnet sind.

Dies ist der 24. Fall für Jack Reacher. Verpassen Sie nicht die anderen eigenständig lesbaren Romane wie zum Beispiel »Der Spezialist« und »Der Bluthund«.

Kennen Sie auch schon den Story-Band »Der Einzelgänger«? Unverzichtbar für alle, die noch mehr über Jack Reacher lesen wollen!

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Seitenzahl: 470

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Buch

Jack Reacher reist ziellos in einem Greyhound-Bus durch die USA. Da beobachtet der ehemalige Militärpolizist, wie ein alter Mann, der gerade aus dem Bus gestiegen ist, überfallen wird. Reacher wäre nicht Reacher, wenn er tatenlos zusähe – er greift ein. Das Opfer ist verletzt, will ihn aber auf keinen Fall in diese Angelegenheit hineinziehen. Doch Reacher konnte noch nie wegsehen, wenn Schwächere Hilfe brauchten. Und so gerät er zwischen die Fronten zweier Mafia-Clans, die brutal um die Herrschaft über ihre Stadt ringen. Anfangs sehen die Verbrecher in dem Fremden noch keine Bedrohung. Doch dann erkennen sie, dass sie einem Mann wie Reacher noch nie begegnet sind.

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Anthony Award, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

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Lee Child

Die Hyänen

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Blue Moon (Reacher 24)« bei Bantam Press, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Lee Child

Published by Agreement with Lee Child

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: © BFC/ Ascent Xmedia/Photodisc/Getty Images; mauritius images (Photo Central/Alamy/Alamy Stock Photos; Karen Cowled/Alamy/Alamy Stock Photos); www.buerosued.de

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29108-2V004

www.blanvalet.de

Für Jane und RuthMein Clan

1

Auf einer Amerikakarte sah die Stadt klein aus. Sie war nur ein artiger kleiner Punkt an einer fadendünnen roten Straße, die über ein ansonsten leeres kleinfingerbreites Stück Papier führte. Aber aus der Nähe betrachtet und auf dem Erdboden hatte sie eine halbe Million Einwohner. Sie bedeckte eine Fläche von über zweihundertsechzig Quadratkilometern. Dort gab es fast hundertfünfzigtausend Haushalte. Sie besaß über achthundert Hektar Parkflächen. Sie gab pro Jahr eine halbe Milliarde Dollar aus und nahm fast ebenso viel durch Steuern, Gebühren und Abgaben ein. Sie war groß genug, um eine Polizei mit zwölfhundert Beamten zu haben.

Und sie war groß genug, dass das organisierte Verbrechen zweigeteilt war. Den Westen der Stadt kontrollierten die Ukrainer. Den Osten kontrollierten die Albaner. Die Demarkationslinie zwischen ihnen war so genau fixiert wie die Grenzen eines Wahlbezirks. Eigentlich folgte sie der Center Street, die von Nord nach Süd verlaufend die Stadt halbierte, aber sie verlief im Zickzack und hatte Aus- und Einbuchtungen, um einzelne Blocks oder Viertel ein- oder auszuschließen, je nachdem, welche historischen Gegebenheiten spezielle Regelungen rechtfertigten. Die Verhandlungen waren schwierig gewesen. Es hatte kleinere Revierkämpfe gegeben. Auch ein paar unangenehme Zwischenfälle. Aber zuletzt war doch eine Einigung erzielt worden, die sich zu bewähren schien. Beide Parteien gingen einander aus dem Weg. Wirkliche Kontakte zwischen ihnen hatten schon länger nicht mehr stattgefunden.

Bis zu diesem Maimorgen. Der ukrainische Boss stellte seinen Wagen in einem Parkhaus in der Center Street ab und ging nach Osten ins albanische Gebiet. Allein. Er war fünfzig Jahre alt und wie die Bronzestatue eines antiken Helden gebaut: groß, kräftig und muskulös. Er nannte sich Gregory, die für Amerikaner am leichtesten auszusprechende Version seines Familiennamens. Er war unbewaffnet und trug eine körperbetonte Hose und ein enges T-Shirt, um das zu beweisen. Nichts in den Taschen. Keine verdeckt getragene Waffe. Er bog mal links, mal rechts ab, drang tiefer ein und war zu einem abgelegenen Straßenblock unterwegs, in dem die Albaner seines Wissens ihre Geschäfte in einer Bürosuite hinter einem Holzlagerplatz betrieben.

Sobald er einen Fuß über die Linie setzte, wurde er auf dem ganzen Weg beschattet. Anrufe meldeten seine Position, sodass er bei der Ankunft von sechs schweigenden Gestalten erwartet wurde, die auf dem Gehsteig vor dem Tor des Holzlagerplatzes einen Halbkreis bildeten. Wie zur Verteidigung aufgestellte Schachfiguren. Er blieb stehen und breitete die Arme aus. Drehte sich langsam einmal um sich selbst. Enge Hose, enges T-Shirt. Keine Beulen. Keine Ausbuchtungen. Kein Messer. Keine Pistole. Unbewaffnet vor sechs Kerlen, die bestimmt bewaffnet waren. Trotzdem machte er sich keine Sorgen. Die Albaner würden ihn niemals unprovoziert angreifen. Das wusste er. Ein Gebot der Höflichkeit. Manieren waren Manieren.

Einer der sechs Kerle trat vor. Teils, um ihm den Weg zu versperren, teils, um zuzuhören.

Gregory sagte: »Ich muss Dino sprechen.«

Dino war der Boss der Albaner.

Der Kerl fragte: »Warum?«

»Ich habe Informationen für ihn.«

»Worüber?«

»Über etwas, das er wissen muss.«

»Ich könnte dir seine Telefonnummer geben.«

»Diese Sache muss persönlich besprochen werden.«

»Unbedingt gleich jetzt?«

»Ja, sofort.«

Der Kerl schwieg zunächst, dann wandte er sich ab und verschwand durch die Fußgängertür in dem großen stählernen Rolltor. Die anderen fünf rückten zusammen, um die Lücke zu schließen. Gregory wartete. Die fünf Kerle beobachteten ihn teils wachsam, teils fasziniert. Dies war eine einzigartige Gelegenheit. Das gab es nie wieder. Als sähe man ein Einhorn. Der Boss der anderen Seite. Hier vor ihnen. Frühere Verhandlungen hatten auf neutralem Boden, auf einem Golfplatz außerhalb der Stadt stattgefunden.

Gregory wartete. Fünf Minuten später kam der Mann durch die Fußgängertür zurück. Er ließ sie offen. Er machte eine einladende Handbewegung. Gregory setzte sich in Bewegung, zog den Kopf leicht ein und ging durch die Tür. Er roch frisches Kiefernholz und hörte das Kreischen einer Säge.

Der Kerl sagte: »Wir müssen kontrollieren, ob du verdrahtet bist.«

Gregory nickte und zog sein T-Shirt über den Kopf. Sein muskulöser, durchtrainierter Oberkörper war dicht behaart. Kein Draht. Der Mann tastete die Nähte seines T-Shirts ab und gab es zurück. Gregory zog es wieder an, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

Der Mann sagte: »Komm mit.«

Er führte Gregory tief in die mit Wellblech verkleidete Halle hinein. Die anderen fünf Männer folgten ihnen. Sie kamen zu einer schlichten Brandschutztür aus Stahl. Dahinter lag ein fensterloser Raum, der als Sitzungszimmer eingerichtet war. An einem Ende bildeten vier zusammengeschobene Laminattische eine Art Barriere. Auf dem mittleren Stuhl auf der anderen Seite saß Dino. Er war ein bis zwei Jahre jünger als Gregory, ein bis zwei Zoll kleiner, aber breiter. Er hatte schwarze Haare und auf der linken Gesichtshälfte eine Messernarbe, die über der Augenbraue kurz und vom Backenknochen bis zum Unterkiefer lang war – wie ein umgekehrtes Fragezeichen.

Der Kerl, der bisher geredet hatte, zog Gregory einen Stuhl gegenüber von Dino heraus, ging dann um die Tische herum und setzte sich rechts neben Dino wie die treue rechte Hand des Bosses. Die anderen nahmen zu zweit und zu dritt neben den beiden Platz. So hatte Gregory, auf der anderen Seite sitzend, sechs ausdruckslose Gesichter vor sich. Zunächst sprach niemand, bis Dino schließlich fragte: »Was verschafft mir das Vergnügen?«

Manieren waren Manieren.

Gregory antwortete: »Die Stadt steht kurz davor, einen neuen Polizeichef zu bekommen.«

»Das wissen wir«, sagte Dino.

»Aus den eigenen Reihen.«

»Das wissen wir«, wiederholte Dino.

»Er hat angekündigt, energisch gegen uns beide vorzugehen.«

»Das wissen wir«, sagte Dino zum dritten Mal.

»Wir haben einen Spitzel in seinem Büro.«

Dino schwieg. Das hatte er nicht gewusst.

Gregory sagte: »Unser Spitzel hat auf einem in einer Schublade versteckten USB-Stick eine Geheimakte entdeckt.«

»Was für eine Akte?«

»Sein Plan für das Vorgehen gegen uns.«

»Wie sieht der aus?«

»Vorerst noch nicht sehr detailliert«, erwiderte Gregory. »Vieles ist nur skizziert. Aber das macht nichts, weil Tag für Tag, Woche für Woche weitere Puzzleteile dazukommen. Weil er permanent Insiderinformationen erhält.«

»Von wem?«

»Nach langer Suche ist unser Spitzel auf eine weitere Akte gestoßen.«

»Was für eine weitere Akte?«

»Mit einer Liste.«

»Was für eine Liste?«

»Eine Liste der vertrauenswürdigsten Informanten des Police Departments«, sagte Gregory.

»Und?«

»Auf der Liste haben vier Namen gestanden.«

»Und?«

»Zwei davon waren meine eigenen Leute«, sagte Gregory.

Keiner sprach.

Zuletzt fragte Dino: »Was hast du mit ihnen gemacht?«

»Das kannst du dir sicher vorstellen.«

Wieder sprach keiner.

Dann fragte Dino: »Warum erzählst du mir das? Was hat das alles mit mir zu tun?«

»Die beiden anderen Namen auf der Liste sind Männer von dir.«

Schweigen.

Gregory sagte: »Wir sind in der gleichen misslichen Lage.«

Dino fragte: »Wer sind die beiden?«

Gregory nannte ihre Namen.

Dino fragte: »Warum erzählst du mir von ihnen?«

»Weil wir eine Vereinbarung haben«, antwortete Gregory. »Ich bin ein Mann, der Wort hält.«

»Gehe ich unter, würdest du enorm profitieren. Die ganze Stadt wäre dein Revier.«

»Ich würde nur auf dem Papier profitieren«, entgegnete Gregory. »Mir ist plötzlich klar geworden, dass ich mit dem Status quo zufrieden sein sollte. Wo würde ich genug ehrliche Männer finden, um deine Unternehmen zu führen? Ich kann offenbar nicht mal genug für meine eigenen auftreiben.«

»Ich anscheinend auch nicht.«

»Also verschieben wir unseren Streit auf morgen. Heute respektieren wir unsere Vereinbarung. Tut mir leid, dass ich dir diese peinliche Nachricht überbringen musste, aber meine eigene Lage ist mir auch peinlich. Das zählt hoffentlich. Wir befinden uns in derselben misslichen Lage.«

Dino nickte, sagte aber nichts.

Gregory sagte: »Ich habe eine Frage.«

»Dann raus damit«, sagte Dino.

»Hättest du mich gewarnt, wie ich dich gewarnt habe, wenn du einen Spitzel bei der Polizei hättest?«

Dino schwieg lange nachdenklich.

Dann sagte er: »Ja, und aus denselben Gründen. Wir haben eine Vereinbarung. Und wenn Leute von uns beiden auf ihrer Liste stehen, sollte keiner von uns voreilig Dummheiten machen.«

Gregory nickte und stand auf.

Der Mann rechts neben Dino stand ebenfalls auf, um ihn nach draußen zu begleiten.

Dino fragte: »Sind wir jetzt sicher?«

»Von meiner Seite aus schon«, antwortete Gregory. »Dafür kann ich garantieren. Seit heute Morgen sechs Uhr. Wir haben einen Kerl im städtischen Krematorium. Er schuldet uns Geld. Er war bereit, heute eine Frühschicht einzulegen.«

Dino nickte, ohne sich dazu zu äußern.

Gregory fragte: »Sind wir von eurer Seite aus sicher?«

»Spätestens heute Abend«, sagte Dino. »Wir haben einen Kerl, der bei der Autoverwertung an der Schrottpresse arbeitet. Auch er schuldet uns Geld.«

Sein Vertrauter geleitete Gregory durch die große Halle zu der Fußgängertür in dem stählernen Rolltor und in den sonnigen Maimorgen hinaus.

Im selben Augenblick befand sich Jack Reacher siebzig Meilen weit entfernt in einem Greyhound-Bus auf der Interstate. Er saß im Bus hinten links auf dem Fensterplatz über einer Achse. Der Platz neben ihm war frei. Außer ihm fuhren weitere neunundzwanzig Personen mit. Die übliche Mischung. Nichts Auffälliges. Abgesehen von einer speziellen Situation, die gewisses Interesse weckte. Schräg gegenüber eine Reihe vor ihm hockte ein Kerl, der mit auf die Brust gesunkenem Kopf schlief. Er hatte graue Haare, die dringend geschnitten werden mussten, und schlaffe graue Haut, als hätte er viel Gewicht verloren. Sein Alter schätzte Reacher auf siebzig Jahre. Er trug eine kurze blaue Jacke mit Reißverschluss. Gewachste Baumwolle, vermutlich wasserfest. Aus einer Tasche ragte das Ende eines dicken braunen Umschlags.

Diese Art Umschlag kannte Reacher. Er hatte schon mehrmals welche gesehen. War ihr Geldautomat defekt, betrat er manchmal eine Bankfiliale und hob mit seiner Bankkarte direkt an der Kasse Geld ab. Fragte der Kassierer nach dem gewünschten Betrag, sagte er sich, wenn immer mehr Automaten defekt seien, sei es vielleicht besser, gleich eine ordentliche Summe abzuheben, und verlangte das Doppelte oder Dreifache des Betrags, den er sonst abgehoben hätte. Eine größere Summe. Daraufhin fragte der Kassierer, ob er einen Umschlag dafür wolle. Manchmal sagte Reacher nur aus Spaß Ja und bekam sein Geld in einem Umschlag, der mit dem identisch war, der dem Schlafenden aus der Tasche ragte. Farbe des Kraftpapiers, Größe, Seitenverhältnis, Dicke, Gewicht … alles identisch. Ein paar Hundert oder einige Tausend Dollar, je nach Stückelung der Scheine.

Reacher schien nicht der Einzige zu sein, der den Umschlag gesehen hatte. Auch dem Typen direkt vor ihm war er aufgefallen. Das war klar. Er interessierte sich sehr dafür. Er sah nach drüben und zu Boden, nach drüben und zu Boden, wieder und wieder. Er war ein schlaksiger junger Kerl mit fettigem Haar und einem schütteren Kinnbart. Kaum zwanzig, in einer Jeansjacke. Fast noch ein Jugendlicher. Er beobachtete, überlegte, plante. Leckte sich die Lippen.

Der Bus rollte weiter. Reacher schaute abwechselnd aus dem Fenster und beobachtete den Umschlag und dann wieder den Kerl, der den Umschlag beobachtete.

Gregory kam aus dem Parkhaus in der Center Street und fuhr auf sicheres ukrainisches Gebiet zurück. Sein Büro lag hinter einem Taxiunternehmen, schräg gegenüber einem Pfandhaus und neben einer Firma, die Gerichtskautionen stellte – drei Unternehmen, die ihm gehörten. Er parkte und ging hinein. Seine Topleute erwarteten ihn. Insgesamt vier, alle ihm und untereinander ähnlich. Nicht blutsverwandt, aber alle aus denselben Dörfern, Städten und Gefängnissen in der alten Heimat, was vermutlich noch besser war.

Alle sahen ihn an. Vier Gesichter, acht große Augen, aber nur eine Frage.

Die er beantwortete.

»Totaler Erfolg«, sagte er. »Dino hat mir die ganze Story abgenommen. Der Mann ist echt blöd, kann ich euch sagen. Ich hätte ihm die Brooklyn Bridge verkaufen können. Die beiden Kerle, die ich genannt habe, sind Geschichte. Er braucht mindestens einen Tag, um alles umzuorganisieren. Die Gelegenheit ist günstig, meine Freunde. Wir haben etwa vierundzwanzig Stunden Zeit. Ihre Flanke ist völlig ungeschützt.«

»Typisch Albaner«, sagte seine eigene rechte Hand.

»Wohin hast du unsere beiden geschickt?«

»Auf die Bahamas. Dort gibt’s einen Casinobetreiber, der uns Geld schuldet. Er hat ein nettes Hotel.«

Die grünen Hinweistafeln neben der Interstate kündigten eine Stadt an. Der erste Halt des Tages. Reacher beobachtete, wie der Kerl mit dem Kinnbart seinen Plan ausheckte. Eine Gleichung mit zwei Unbekannten. Würde der Kerl mit dem Geld hier aussteigen? Oder auf jeden Fall aufwachen, wenn der Bus langsamer wurde, abbog und zuletzt hielt?

Reacher wartete. Der Bus nahm die Ausfahrt. Dann führte eine vierspurige State Road nach Süden durch flaches, noch von Regen nasses Land weiter. Die Fahrbahn war eben. Die Reifen dröhnten. Der Typ mit dem Geld schlief weiter. Der Kerl mit dem Kinnbart beobachtete ihn weiter. Reacher vermutete, dass sein Plan feststand. Er fragte sich, wie gut dieser Plan sein mochte. Clever wäre es gewesen, den Umschlag ziemlich bald herauszuziehen, ihn gut zu verbergen und dann zu versuchen, den Bus umgehend nach dem Halten zu verlassen. Selbst wenn der Typ vor dem Busbahnhof aufwachte, würde er zunächst etwas verwirrt sein und vielleicht nicht mal merken, dass der Umschlag weg war. Nicht sofort. Und wieso sollte er dann gleich jemanden verdächtigen? Er würde annehmen, der Umschlag sei ihm aus der Tasche gefallen. Er würde eine Minute lang seinen Sitz, den Raum darunter und den unter dem Vordersitz absuchen, unter den er den Umschlag im Schlaf mit einem Tritt befördert haben konnte. Erst danach würde er anfangen, sich fragend umzusehen. Inzwischen würde der Bus halten, damit Leute aus- und einsteigen konnten. Der Mittelgang wäre dann blockiert. Ein Kerl konnte leicht hinausschlüpfen, kein Problem. Das wäre der clevere Ablauf gewesen.

Wusste der Kerl das? Reacher erfuhr es nie.

Der Typ mit dem Geld wachte zu früh auf.

Der Bus wurde langsamer, dann hielt er mit zischenden Bremsen an einer roten Ampel, und der Mann hob ruckartig den Kopf, blinzelte, klopfte auf seine Tasche und schob den Umschlag so tief hinein, dass niemand ihn mehr sehen konnte.

Reacher lehnte sich zurück.

Der Kerl mit dem Kinnbart lehnte sich zurück.

Der Bus fuhr weiter. Auf beiden Seiten erstreckten sich Felder, die im Frühjahr hellgrün gesprenkelt waren. Dann kamen die ersten Gewerbegrundstücke: Landmaschinen und einheimische Autos, alle auf riesigen Flächen mit Hunderten von Fahrzeugen unter Flaggen und Girlanden. Als Nächstes folgten Bürogebäude und ein riesiger Supermarkt am Stadtrand. Danach tauchte die eigentliche Stadt auf. Die vierspurige Straße wurde zweispurig, führte zu höheren Gebäuden. Aber der Bus bog links ab, machte einen höflichen Bogen um die teuren Viertel und erreichte eine halbe Meile weiter den Busbahnhof. Der erste Halt des Tages. Reacher blieb auf seinem Platz. Seine Fahrkarte galt bis zur Endstation.

Der Typ mit dem Geld stand auf.

Er nickte leicht vor sich hin, zog seine Hose hoch und seine Jacke herunter. Alles Dinge, die ein alter Mann macht, bevor er sich zum Aussteigen anschickt.

Er trat auf den Gang, schlurfte nach vorn. Ohne Gepäck. Nur er allein. Graues Haar, blaue Jacke, eine Tasche prall, eine Tasche leer.

Der Kerl mit dem Kinnbart hatte einen neuen Plan.

Der kam ihm ganz plötzlich. Reacher konnte praktisch sehen, wie sich die Zahnräder in seinem Hinterkopf drehten und ineinandergriffen. Schlussfolgerungen, die auf bestimmten Annahmen beruhten. Busbahnhöfe lagen nie in guten Stadtvierteln. Die Ausgänge würden auf schäbige Straßen mit den Rückseiten anderer Häuser, unbebauten Grundstücken, vielleicht Parkplätzen hinausführen. Dort draußen würde es schlecht einsehbare Ecken und leere Bürgersteige geben. Dann Anfang zwanzig gegen Anfang siebzig. Ein Schlag von hinten. Ein einfacher Straßenraub. Dergleichen kam ständig vor. Wie schwierig konnte das sein?

Der Kerl mit dem Kinnbart sprang auf und hastete den Mittelgang entlang, folgte dem Mann mit dem Geld in zwei Metern Abstand.

Reacher stand auf und folgte den beiden.

2

Der Typ mit dem Geld wusste, wohin er wollte. Das war klar. Er brauchte sich nicht umzusehen, um sich zu orientieren. Er trat einfach auf die Straße hinaus, wandte sich nach Osten und ging los. Ohne Zögern. Aber auch ohne Tempo. Er schlurfte langsam dahin. Er bewegte sich ein wenig unsicher. Mit hängenden Schultern. Er wirkte alt und müde, ausgepowert und niedergeschlagen. Antriebslos. Er sah aus, als wäre er zwischen zwei gleich unattraktiven Orten unterwegs.

Der Kerl mit dem Kinnbart folgte ihm mit ungefähr sechs Schritten Abstand, blieb zurück, ging langsam, bremste sich bewusst. Was bestimmt Selbstbeherrschung verlangte. Er war schlaksig und langbeinig, Typ nervöses Rennpferd. Er hätte am liebsten gleich losgelegt. Aber das Terrain war ungeeignet. Zu flach und offen. Die Gehsteige waren breit. Vor ihnen lag eine Ampelkreuzung, an der drei Autos bei Rot standen. Drei Fahrer, die gelangweilt aus dem Fenster sahen. Vielleicht auch Mitfahrer. Alles potenzielle Zeugen. Lieber noch warten.

Der Mann mit dem Geld blieb am Randstein stehen. Wartete darauf, die Straße überqueren zu können. Wollte geradeaus weiter. Dort erhoben sich ältere Gebäude an engeren Straßen. Breiter als Gassen, aber im Schatten liegend und von alten drei- bis vierstöckigen Mauern gesäumt.

Besseres Terrain.

Die Ampel sprang um. Der Typ mit dem Geld schlurfte über die Straße, irgendwie resigniert. Der Kerl mit dem Kinnbart folgte sechs Schritte hinter ihm. Reacher verringerte den Abstand zwischen ihnen ein wenig. Er spürte, dass der entscheidende Augenblick bevorstand. Der Junge würde nicht ewig lange warten. Er würde nicht darauf setzen, dass das Bessere der Feind des Guten war. Zwei Blocks weiter würden ihm genügen.

Sie setzten ihren Weg fort, hintereinander her, mit weitem Abstand, ohne aufeinander zu achten. Der erste Block erschien gut geeignet, aber er war noch zu nahe an der Ampelkreuzung, deshalb blieb der Kerl mit dem Kinnbart zurück, bis der Typ mit dem Geld die Straße zum nächsten Block überquert hatte. Der einsam genug wirkte. Hier gab es ein paar mit Brettern verschalte Schaufenster, ein geschlossenes Fast-Food-Restaurant und ein Steuerberaterbüro mit schmutzigen Fensterscheiben.

Perfekt.

Zeit, sich zu entscheiden.

Reacher vermutete, dass der Junge hier zuschlagen würde. Und weil er sich davor vermutlich nervös umschauen würde, blieb er hinter der Ecke zur Querstraße außer Sicht, eine, zwei, drei Sekunden lang, bis der Junge Zeit gehabt hatte, seine Umgebung zu kontrollieren. Als Reacher dann hinter der Ecke hervorkam, war der Kerl mit dem Kinnbart schon dabei, die Lücke zu schließen, indem er den Abstand mit schnellen Schritten verringerte. Reacher rannte ungern, aber unter diesen Umständen musste es sein.

Er kam zu spät. Der Kerl mit dem Kinnbart stieß den Mann mit dem Geld um, der mit dumpfem Knall zu Boden ging. Mit einer fließenden Bewegung bückte der Kerl mit dem Kinnbart sich, griff ihm in die Tasche und zog den Geldumschlag heraus. Das war der Augenblick, in dem Reacher schwerfällig rennend ankam: ein Meter fünfundneunzig aus Knochen und Muskeln und hundertzehn Kilo bewegter Masse gegen einen schlaksigen Jungen, der sich gerade wieder aufrichtete. Reacher rammte ihn mit einer Schulter, sodass der Junge wie ein Crashtest-Dummy durch die Luft wirbelte und über den Gehsteig rutschend halb im Rinnstein landete. Dort blieb er bewegungslos liegen.

Reacher ging zu ihm und nahm ihm den Geldumschlag ab. Er war nicht zugeklebt. Das waren sie nie. Er sah hinein. Ein dickes Bündel Scheine, ein Hunderter obenauf, ein weiterer unten. Er blätterte das Bündel durch. Offenbar lauter Hunderter. Tausende und Abertausende Dollar. Vielleicht fünfzehn Mille. Oder sogar zwanzig.

Er blickte sich um. Der alte Mann hob den Kopf, sah sich in Panik um. Er hatte eine Platzwunde im Gesicht. Von dem Sturz. Oder seine Nase blutete. Reacher hielt den Geldumschlag hoch. Der alte Mann starrte ihn an. Wollte sich aufrappeln, konnte aber nicht.

Reacher trat auf ihn zu.

Er fragte: »Irgendwas gebrochen?«

Der Mann fragte: »Was ist passiert?«

»Können Sie sich bewegen?«

»Ich glaube schon.«

»Okay, drehen Sie sich um.«

»Hier?«

»Auf den Rücken«, erklärte Reacher. »Damit wir Sie aufsetzen können.«

»Was ist passiert?«

»Erst muss ich Sie durchchecken. Vielleicht brauchen Sie einen Krankenwagen. Haben Sie ein Handy?«

»Keinen Krankenwagen«, sagte der Typ. »Keinen Arzt.«

Er holte tief Luft, biss die Zähne zusammen, wand sich und strampelte wie ein Mensch, der einen Albtraum hat, bis er auf dem Rücken lag.

Er atmete aus.

Reacher fragte: »Wo tut’s weh?«

»Überall.«

»Wie sonst auch oder mehr?«

»Wie sonst auch, denk ich.«

»Also gut.«

Reacher legte eine Hand flach zwischen die Schulterblätter des Typs und klappte ihn bis in Sitzhaltung nach vorn, drehte ihn zur Seite und schob ihn an den Randstein, sodass seine Füße etwas tiefer auf der Straße lagen, was vermutlich bequemer war.

Der Mann sagte: »Meine Mom hat mir immer verboten, in der Gosse zu spielen.«

»Meine auch«, sagte Reacher. »Aber im Augenblick spielen wir nicht.«

Er gab ihm den Umschlag. Der Mann nahm ihn entgegen, betastete ihn und drückte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, wie um sich davon zu überzeugen, dass er real war. Reacher setzte sich neben ihn. Der Mann warf einen Blick in den Umschlag.

»Was ist passiert?«, fragte er noch mal. Er wies mit dem Daumen über die Schulter. »Hat er mich überfallen?«

Fünf, sechs Meter rechts von ihnen lag der Kerl mit dem Kinnbart bewegungslos mit dem Gesicht nach unten.

»Er ist hinter Ihnen aus dem Bus gestiegen«, sagte Reacher. »Er hat den Umschlag in Ihrer Tasche gesehen.«

»Waren Sie auch in dem Bus?«

Reacher nickte. Er sagte: »Ich bin gleich hinter Ihnen aus dem Busbahnhof gekommen.«

Der Mann steckte den Umschlag wieder ein.

Er sagte: »Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr.«

»Gern geschehen«, entgegnete Reacher.

»Sie haben mir das Leben gerettet.«

»War mir ein Vergnügen.«

»Ich würde Ihnen gern eine Belohnung anbieten.«

»Nicht nötig.«

»Ich könnte’s ohnehin nicht«, erklärte der Mann. Er berührte seine Tasche. »Dies ist eine Zahlung, die ich leisten muss. Sie ist sehr wichtig. Dafür brauche ich jeden Cent. Das tut mir leid. Ich muss mich entschuldigen. Ich habe ein schlechtes Gewissen.«

»Unsinn«, sagte Reacher.

Fünf, sechs Meter von ihnen entfernt kam der Kerl mit dem Kinnbart auf Händen und Knien hoch.

Der Typ mit dem Geld sagte: »Keine Polizei.«

Der Junge sah sich um. Er war zittrig und fühlte sich benommen, aber er hatte schon einige Meter Vorsprung. Sollte er’s riskieren?

Reacher fragte: »Warum keine Polizei?«

»Die stellt Fragen, wenn sie einen Haufen Geld sieht.«

»Fragen, die Sie nicht beantworten möchten?«

»Ich könnte’s ohnehin nicht«, sagte der Mann wieder.

Der Kerl mit dem Kinnbart ergriff die Flucht. Er rappelte sich auf und rannte weg: mit blauen Flecken, schwankend und unkoordiniert, aber trotzdem schnell. Reacher ließ ihn laufen. Er war für heute genug gerannt.

Der Mann mit dem Geld sagte: »Ich muss jetzt weiter.«

Er hatte Schürfwunden an Stirn und Wangenknochen und Blut an der Oberlippe – aus seiner Nase, die ziemlich angeschwollen wirkte.

»Wissen Sie bestimmt, dass Sie okay sind?«, fragte Reacher.

»Das muss ich sein«, antwortete der Mann. »Mir bleibt nicht viel Zeit.«

»Zeigen Sie mir, ob Sie aufstehen können.«

Das konnte der Mann nicht. Er besaß keine Kraft mehr, oder seine Knie versagten, oder beides traf zu. Schwer zu sagen. Reacher half ihm auf die Beine. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm gebeugt im Rinnstein. Er drehte sich mühsam zum Gehsteig um und stellte den Fuß auf den Randstein. Doch ihm fehlte die Kraft, diese fünfzehn Zentimeter zu überwinden. Sein rechtes Knie musste aufgeschürft und geschwollen sein. Der Stoff seiner Hose war genau an der Stelle zerrissen.

Reacher trat hinter ihn, legte ihm die Hände unter die Ellbogen und hob sie etwas an. Darauf machte der Mann einen schwerelosen Schritt wie ein Astronaut auf dem Mond.

Reacher fragte: »Können Sie gehen?«

Der Mann versuchte es. Er schaffte ein paar Schritte, fuhr jedoch jedes Mal stöhnend zusammen, wenn er sein rechtes Knie belastete.

»Wie weit müssen Sie gehen?«, fragte Reacher.

Der Mann blickte sich prüfend um. Stellte fest, wo er sich befand. »Noch drei Blocks«, antwortete er. »Auf der anderen Straßenseite.«

»Das bedeutet viele Randsteine«, meinte Reacher. »Mehrfach rauf und runter.«

»Beim Gehen wird’s besser.«

»Zeigen Sie’s mir«, forderte Reacher ihn auf.

Der Mann setzte sich in Bewegung, wie zuvor nach Osten, langsam schlurfend, mit leicht gespreizten Armen, als hätte er Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das Zusammenzucken und das Stöhnen blieben, wurden eher noch schlimmer.

»Sie brauchen einen Stock«, sagte Reacher.

»Ich brauche einen Haufen Zeug«, erklärte der Mann.

Reacher trat rechts neben ihn, legte ihm eine Hand unter den Ellbogen und stützte ihn leicht. Mechanisch wirkte das wie ein Spazierstock oder eine Krücke. Eine nach oben gerichtete Kraft, die auf die Schulter des Typs einwirkte. Einfachste Physik.

»Versuchen Sie’s noch mal«, sagte Reacher.

»Sie können nicht mitkommen.«

»Warum nicht?«

Der Mann antwortete: »Sie haben schon mehr als genug für mich getan.«

»Das ist nicht der wahre Grund. Sie hätten gesagt, das könnten Sie wirklich nicht von mir verlangen. Irgendwas höflich Vages. Aber was Sie gesagt haben, war viel nachdrücklicher. Sie haben gesagt, dass ich nicht mitkommen kann. Weshalb nicht? Wohin wollen Sie?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Ohne mich kommen Sie nicht hin.«

Der Mann atmete ein und atmete aus, und seine Lippen bewegten sich, als übte er, was er sagen wollte. Er hob eine Hand und berührte die Schürfwunde an seiner Stirn, dann seine Wange, dann seine Nase. Dabei zuckte er jeweils leicht zusammen.

Er sagte: »Helfen Sie mir zum richtigen Block, und helfen Sie mir über die Straße. Machen Sie dann kehrt, und gehen Sie nach Hause. Das ist der größte Gefallen, den Sie mir tun könnten. Ganz im Ernst. Ich wäre Ihnen dankbar. Ich bin Ihnen schon jetzt dankbar. Das verstehen Sie hoffentlich.«

»Ich verstehe nichts«, entgegnete Reacher.

»Ich darf niemanden mitbringen.«

»Wer sagt das?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Nehmen wir mal an, ich wäre ohnehin in diese Richtung unterwegs. Sie könnten sich von mir trennen und hineingehen, und ich würde weitergehen.«

»Dann würden Sie mein Ziel kennen.«

»Das kenne ich bereits.«

»Wie können Sie das wissen?«

Reacher kannte quer durch Amerika alle Arten von Städten im Osten und Westen, im Norden und Süden, in jeder möglichen Größe, jedem Alter und jedem Zustand. Er kannte ihren Alltag, ihre Rhythmen. Er kannte die in ihre Mauern eingebrannte Geschichte. Dieser Straßenblock war einer von hunderttausend ganz ähnlichen östlich des Mississippi. Großhandelskontore, ein paar Geschäfte für Alltagsbedarf, etwas Leichtindustrie, ein paar Anwälte und Spediteure, Immobilienmakler und Reisebüros. Vielleicht auch Wohnungen in den Hinterhöfen. Alles Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts geschäftig und voller Leben. Jetzt leer stehend und zerfallend und von der Zeit ausgehöhlt. Daher die mit Brettern vernagelten Schaufenster und das geschlossene Schnellrestaurant. Aber manche Etablissements hielten sich länger als andere. Und eine bestimmte Sorte hielt sich am längsten. Manche alten Gewohnheiten waren hartnäckig.

»Drei Blocks von hier und auf der anderen Straßenseite«, erklärte Reacher. »Eine Bar. Dorthin wollen Sie.«

Der Mann schwieg.

»Um eine Zahlung zu leisten«, sagte Reacher. »In einer Bar, vor dem Mittagessen. Folglich an irgendeinen hiesigen Kredithai. Das ist meine Vermutung. Fünfzehn oder zwanzig Mille. Sie stecken in Schwierigkeiten. Ich glaube, Sie haben Ihr Auto verkauft. Den besten Preis haben Sie auswärts erzielt. Vielleicht bei einem Sammler. Bei einem Mann wie Ihnen war’s vermutlich ein alter Wagen. Sie sind mit dem Auto hingefahren und mit dem Bus zurückgekommen. Nach einem Umweg über die Bank des Käufers. Der Kassierer hat Ihnen das Geld in einen Umschlag gesteckt.«

»Wer sind Sie?«

»Eine Bar ist ein öffentlicher Ort. Ich habe manchmal Durst wie jeder andere. Vielleicht gibt es dort Kaffee. Ich setze mich an einen anderen Tisch. Sie können so tun, als würden Sie mich nicht kennen. Beim Hinausgehen werden Sie wieder Hilfe brauchen. Ihr Knie wird bestimmt steif.«

»Wer sind Sie?«, wiederholte der Kerl.

»Ich heiße Jack Reacher. Ich war bei der Militärpolizei. Ich bin dafür ausgebildet, Dinge zu entdecken.«

»Es war ein Chevy Caprice. Das zweitürige Coupé. Alles original. Perfekter Zustand. Sehr niedrige Laufleistung.«

»Von Autos verstehe ich nichts.«

»Die alten Caprices sind ziemlich gesucht.«

»Wie viel haben Sie dafür bekommen?«

»Zweiundzwanzigeinhalb.«

Reacher nickt. Etwas mehr, als er gedacht hatte. Druckfrische Scheine, eng gepackt.

Er fragte: »Das sind Sie alles schuldig?«

»Bis zwölf Uhr«, entgegnete der Mann. »Danach wird ein Aufschlag fällig.«

»Dann sollten wir losgehen. Bestimmt brauchen wir ziemlich lange.«

»Ich danke Ihnen«, sagte der Mann. »Ich heiße Aaron Shevick. Ich bin Ihnen ewig zu Dank verpflichtet.«

»Die Freundlichkeit von Fremden«, sagte Reacher, »bewirkt, dass die Welt sich dreht. Darüber hat irgendein Kerl ein Theaterstück geschrieben.«

»Tennessee Williams«, sagte Shevick. »Endstation Sehnsucht.«

»Eine Straßenbahn könnten wir jetzt brauchen. Drei Blocks für einen Nickel wäre super.«

Sie machten sich auf den Weg. Reacher mit langsamen kleinen Schritten, Shevick humpelnd und schwankend, aus physikalischen Gründen ganz schief gehend.

3

Die Bar lag im Erdgeschoss eines schlichten alten Klinkerbaus in der Mitte des Blocks. Sie hatte eine verkratzte braune Tür in der Mitte und je zwei schmutzige Fenster auf beiden Seiten. Ihr irischer Name war in flackernder grüner Leuchtschrift über der Tür angebracht, und in den Fenstern machten irische Harfen, Kleeblätter und weitere staubige Symbole Reklame für Biermarken, von denen Reacher nur eine kannte. Er half Shevick vom Gehsteig herunter, über die Straße und über den anderen Gehsteig zum Eingang. Die Uhr in seinem Kopf zeigte zwanzig vor zwölf an.

»Ich gehe zuerst hinein«, sagte er. »Dann kommen Sie rein. Das ist besser als umgekehrt. Wir kennen uns nicht, okay?«

»Wie lange?«, fragte Shevick.

»Ein paar Minuten«, antwortete Reacher. »Sehen Sie zu, dass Sie wieder zu Atem kommen.«

»Okay.«

Reacher zog die Tür auf und trat ein. Die Beleuchtung war trübe, und die Bar roch nach verschüttetem Bier und einem Desinfektionsmittel. Der Raum war relativ groß. Nicht höhlenartig, aber auch nicht nur ein umgebauter Laden. Eine lange Reihe von Vierertischen säumte den Mittelgang bis zu der quadratischen Theke in der linken Ecke am Ende des Raums. Hinter der Theke stand ein fetter Kerl mit Viertagebart und einem Geschirrtuch wie ein Rangabzeichen über der Schulter. An einzelnen Tischen zählte Reacher vier Gäste, alle zusammengesunken und schweigsam, alle so alt und müde, ausgelaugt und niedergeschlagen wirkend wie Shevick. Zwei von ihnen hielten Bierflaschen mit langem Hals umklammert, die anderen halb leere Gläser, als fürchteten sie, sie könnten ihnen jeden Augenblick weggenommen werden.

Keiner von ihnen sah wie ein Kredithai aus. Vielleicht war der Barkeeper zuständig. Als Agent oder Vermittler oder Mittelsmann. Reacher trat an die Bar und verlangte Kaffee. Es gab keinen, was enttäuschend, aber nicht überraschend war. Der Tonfall des Kerls war höflich, doch Reacher vermutete, dass er das nicht gewesen wäre, hätte der Kerl nicht mit jemandem von seiner Statur und seinem Auftreten gesprochen. Ein Durchschnittsbürger hätte vermutlich eine sarkastische Antwort erhalten.

Statt Kaffee ließ Reacher sich eine Flasche einheimisches Bier geben: kalt und glitschig, voller kleiner Wassertropfen und überschäumend. Er ließ einen Dollar Trinkgeld auf der Theke liegen und ging zu dem nächsten freien Vierertisch, der zufällig in der rechten hinteren Ecke stand, was günstig war, weil er dort sitzen und den ganzen Raum überblicken konnte.

»Nicht dort!«, rief der Barkeeper.

»Warum nicht?«, fragte Reacher.

»Reserviert.«

Die anderen vier Gäste schauten auf, schauten weg.

Reacher kam zurück und nahm seinen Dollar wieder mit. Kein Bitte, kein Danke, kein Trinkgeld. Er ging schräg durch den Raum zum ersten Tisch, der auf der anderen Seite unter einem schmutzigen Fenster stand. Die gleiche Anordnung, aber rückwärts gedacht. Er hatte eine Ecke hinter sich und konnte die gesamte Bar überblicken. Er nahm einen Schluck Bier, vor allem Schaum, und dann kam Shevick hereingehinkt. Er sah zu dem leeren Tisch in der hinteren rechten Ecke und blieb überrascht stehen. Er suchte den ganzen Raum ab. Sah den Barkeeper, die vier einsamen Gäste, Reacher und nochmals den Ecktisch an. Der Tisch blieb leer.

Shevick hinkte darauf zu, machte dann aber erneut halt. Er änderte seine Richtung, hinkte stattdessen zur Theke. Er sprach den Barkeeper an. Reacher war zu weit entfernt, um verstehen zu können, was er sagte, aber Shevick stellte bestimmt eine Frage. Vermutlich: Wo ist Soundso? Dazu gehörte ein verständnisloser Blick zu dem leeren Ecktisch hinüber. Er schien eine sarkastische Antwort zu bekommen. Vielleicht: Was bin ich – ein Hellseher? Shevick wich von der Theke ins Niemandsland zurück, in dem er überlegen konnte, was er als Nächstes tun sollte.

Die Uhr in Reachers Kopf zeigte 11.45 Uhr an.

Shevick hinkte zu dem leeren Tisch, blieb einen Augenblick unschlüssig davor stehen. Dann setzte er sich gegenüber der Ecke – wie auf einem Besucherstuhl vor einem Schreibtisch, nicht im Chefsessel dahinter. Er hockte kerzengerade auf der Stuhlkante und beobachtete halb zur Seite gedreht die Tür, als hielte er sich bereit, höflich aufzuspringen, wenn der Kerl, den er erwartete, eintraf.

Nur kam niemand herein. In der Bar blieb es still. Ein dankbares Schlucken, ein feuchtes Atmen, ein leises Quietschen, als der Barkeeper Gläser polierte. Shevick starrte die Tür an. Die Minuten vergingen.

Reacher stand auf und ging an die Theke. Zu der Stelle, die Shevicks Tisch am nächsten war. Er stützte die Ellbogen auf und machte ein erwartungsvolles Gesicht wie ein Typ, der etwas bestellen will. Der Barkeeper drehte ihm den Rücken zu und hatte plötzlich etwas sehr Wichtiges am anderen Ende der Theke zu tun. Logisch: kein Trinkgeld, kein Service. Damit hatte Reacher gerechnet. Es verschaffte ihm Gelegenheit, mit Shevick zu reden.

Er flüsterte: »Was?«

»Er ist nicht da«, antwortete Shevick ebenso leise.

»Ist er sonst immer hier?«

»Immer«, flüsterte Shevick. »Er sitzt den ganzen Tag an diesem Tisch.«

»Wie oft waren Sie schon hier?«

»Dreimal.«

Der Barkeeper war noch immer weit weg beschäftigt.

Shevick flüsterte: »In fünf Minuten schulde ich ihnen dreiundzwanzigfünf, nicht zweiundzwanzigfünf.«

»Der Verspätungszuschlag ist tausend Dollar?«

»Für jeden Tag.«

»Nicht Ihre Schuld«, flüsterte Reacher. »Schließlich ist der Kerl nicht gekommen.«

»Mit diesen Leuten kann man nicht vernünftig reden.«

Shevick starrte wieder die Tür an. Der Barkeeper beendete seine imaginäre Tätigkeit und watschelte diagonal durch den Raum hinter der Theke – mit feindselig hochgerecktem Kinn, als wäre er möglicherweise widerwillig bereit, eine Bestellung aufzunehmen.

Er baute sich vor Reacher auf und wartete.

Reacher fragte: »Was?«

»Woll’n Sie was?«, fragte der Mann.

»Jetzt nicht mehr. Ich wollte nur, dass Sie herkommen. Sie sehen aus, als könnten Sie Bewegung brauchen. Aber nun sind Sie da, und ich bin zufrieden. Trotzdem vielen Dank.«

Der Kerl starrte ihn an. Machte sich seine Situation klar. Vielleicht hatte er einen Baseballschläger oder einen Revolver unter der Theke, aber an den würde er nie herankommen. Reacher war nur eine Armlänge entfernt. Also würde er mit Worten reagieren müssen. Was mühsam werden könnte. So viel war klar. Letztlich rettete ihn sein Wandtelefon. Es klingelte hinter ihm. Mit einem altmodischen Klingelton. Ein gedämpft klagender Glockenton.

Der Barkeeper drehte sich um, nahm den Anruf entgegen. Das Telefon im klassischen Design hatte ein bis zum Fußboden reichendes langes Spiralkabel. Der Barkeeper hörte kurz zu, dann legte er auf. Er nickte zu Shevick am hinteren Ecktisch hinüber.

Er rief ihm zu: »Kommen Sie um sechs Uhr wieder.«

»Was?«, fragte Shevick.

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe.«

Der Barkeeper ging weg, weil eine weitere imaginäre Arbeit wartete.

Reacher setzte sich an Shevicks Tisch.

Shevick fragte: »Was soll das heißen, dass ich um sechs Uhr wiederkommen soll?«

»Wahrscheinlich ist der Kerl, auf den Sie warten, aufgehalten worden. Er hat angerufen, damit Sie wissen, wo sie sind.«

»Aber das weiß ich nicht«, sagte Shevick. »Was ist mit meiner Frist bis zwölf Uhr?«

»Nicht Ihre Schuld«, wiederholte Reacher. »Der Kerl hat die Übergabe verpasst, nicht Sie.«

»Er wird sagen, dass ich ihnen einen weiteren Tausender schulde.«

»Nicht, wenn er sich nicht blicken lässt. Was hier alle wissen. Der Barkeeper hat seinen Anruf entgegengenommen. Er ist Zeuge. Sie waren hier, aber der andere Typ nicht.«

»Ich kann keine weiteren tausend Dollar auftreiben«, erklärte Shevick. »Ich hab sie einfach nicht.«

»Die Verschiebung ist nicht Ihre Schuld. Folglich müssen Sie keine Konsequenzen befürchten. Sie waren mit einem gesetzlichen Zahlungsmittel in der Tasche zur rechten Zeit am rechten Ort. Die anderen sind nicht gekommen, um es in Empfang zu nehmen. Da greift Gewohnheitsrecht. Ein Anwalt könnte es Ihnen erklären.«

»Keine Anwälte«, sagte Shevick.

»Machen die Ihnen auch Angst?«

»Ich kann mir keinen leisten. Vor allem nicht, wenn ich weitere tausend Dollar auftreiben muss.«

»Das müssen Sie nicht. Diese Leute können nicht beides haben. Sie waren rechtzeitig hier. Die anderen nicht.«

Der Barkeeper funkelte sie aus sicherer Entfernung an.

Die Uhr in Reachers Kopf sprang auf 12.00 Uhr.

Er sagte: »Wir können hier nicht sechs Stunden warten.«

»Meine Frau macht sich bestimmt Sorgen«, sagte Shevick. »Ich sollte heimgehen und sie beruhigen. Und abends wieder herkommen.«

»Wo wohnen Sie?«

»Ungefähr eine Meile von hier.«

»Wenn Sie wollen, begleite ich Sie.«

Shevick zögerte einen langen Augenblick.

Dann sagte er: »Nein, das kann ich Ihnen wirklich nicht zumuten. Sie haben schon viel zu viel für mich getan.«

»Sehen Sie, das war höflich vage.«

»Ich meine, ich kann Sie nicht länger beanspruchen. Sie haben bestimmt Wichtigeres zu tun.«

»Etwas tun zu müssen, vermeide ich im Allgemeinen. Offenbar eine Reaktion auf den strikten Militärdienst, mit dem ich aufgewachsen bin. Daher habe ich kein bestimmtes Ziel und alle Zeit der Welt, um es zu erreichen. Ich bin gern bereit, eine Meile Umweg zu machen.«

»Nein, das kann ich nicht von Ihnen verlangen.«

»Dienst habe ich, wie schon gesagt, bei der Militärpolizei getan, wo wir gelernt haben, auf Dinge zu achten. Nicht nur auf physische Spuren, sondern auch auf das Verhalten von Menschen. Wie sie sich benehmen, woran sie glauben. Die menschliche Natur und so fort und so weiter. Das meiste davon war Bullshit, manches jedoch nützlich. Im Augenblick haben Sie einen Fußmarsch durch kein besonders gutes Viertel vor sich – mit über zwanzig Mille in der Tasche, die Ihnen Unbehagen verursachen, weil Sie das Geld nicht mehr haben sollten und es auf keinen Fall verlieren dürfen. Weil Sie heute schon mal überfallen worden sind, haben Sie Angst vor diesem Weg, auf dem ich Ihnen helfen könnte, und sind nach dem Überfall verletzt, wogegen ich auch etwas tun könnte, sodass Sie mich insgesamt anflehen müssten, Sie heimzubegleiten.«

Shevick schwieg.

»Aber Sie sind ein Gentleman«, fuhr Reacher fort. »Sie wollten mir eine Belohnung zahlen. Begleite ich Sie jetzt nach Hause und lerne Ihre Frau kennen, müssten Sie mich wenigstens zum Mittagessen einladen. Nur gibt es leider keins. Das ist Ihnen peinlich, aber das muss es nicht sein, denn ich weiß Bescheid. Sie haben Probleme mit einem Geldverleiher. Sie haben seit ein paar Monaten nicht mehr zu Mittag gegessen. Sie sehen aus, als hätten Sie eine Menge Gewicht verloren. Ihre Haut ist ganz schlaff. Also kaufen wir unterwegs ein paar Sandwiches. Von Onkel Sams Dime. Von dem kriege ich mein Geld. Ihre Steuerdollar. Nachmittags unterhalten wir uns, und dann begleite ich Sie wieder her. Sie können Ihren Kerl bezahlen, und ich gehe meiner Wege.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Shevick. »Aufrichtig.«

»Gern geschehen«, erwiderte Reacher. »Ehrlich.«

»Wohin sind Sie unterwegs?«

»Irgendwohin. Das hängt oft vom Wetter ab. Ich hab’s gern warm. Dann brauche ich mir keinen Mantel zu kaufen.«

Der Barkeeper funkelte sie erneut aus der Ferne an.

»Kommen Sie, wir gehen«, sagte Reacher. »Hier drinnen könnte man glatt verdursten.«

4

Der Mann, der an dem Tisch in der hintersten Ecke der Bar auf Aaron Shevick hätte warten sollen, war ein vierzigjähriger Albaner namens Fisnik, einer der beiden Männer, die Gregory, der Boss der Ukrainer, an diesem Morgen erwähnt hatte. Anschließend hatte Dino ihn zu Hause angerufen und angewiesen, bei ihm vorbeizuschauen, bevor er seine Arbeit in der Bar aufnahm. Dinos Tonfall ließ nichts Böses ahnen. Er klang im Gegenteil freundlich munter, als ginge es um Lob und Anerkennung. Vielleicht mehr Verantwortung oder ein Bonus oder beides. Vielleicht eine Beförderung oder eine Sonderstellung innerhalb der Organisation.

Aber so lief es nicht. Fisnik betrat die Halle durch die Fußgängertür in dem Rolltor, roch frisches Holz, hörte das Kreischen einer Säge und kam gut gelaunt ins Büro. Eine Minute später war er mit Gewebeband an einen Stuhl gefesselt, das Holz roch plötzlich nach Särgen, und die Säge klang nach Folter. Sie begannen damit, dass sie seine Kniescheiben mit einem Akkuschrauber von De Walt durchbohrten. Dann machten sie weiter. Er erzählte ihnen nichts, weil er nichts zu erzählen hatte. Sein Schweigen wurde als stoisches Geständnis ausgelegt. Es brachte ihm widerstrebende Bewunderung für seine Standhaftigkeit ein, konnte jedoch den Bohrer nicht aufhalten. Er starb ungefähr zur selben Zeit, als Reacher und Shevick die Bar verließen.

Die erste Hälfte des eine Meile langen Weges führte durch ein Viertel mit alten Klinkergebäuden wie dem, in dem sich die Bar befand. Aber dann folgte ein Gebiet, das früher vermutlich Weideland gewesen war, bis nach dem Zweiten Weltkrieg die GIs heimkehrten. Damals waren hier in Reih und Glied Siedlungshäuser gebaut worden: alle einstöckig, manche als Split-Level-Häuser, je nach Baugelände. Siebzig Jahre später hatten alle mehrmals neue Dächer erhalten und waren längst nicht mehr identisch: Viele wiesen Anbauten oder Fassadenverkleidungen auf, manche hatten einen gepflegten Rasen, bei anderen sah der Garten verwildert aus. Aber ansonsten herrschte noch der Geist sparsamer Nachkriegsuniformität in der Siedlung vor – mit kleinen Grundstücken, engen Straßen, schmalen Gehsteigen und Kurvenradien, die den Fähigkeiten von Fords und Chevys, Studebakers und Plymouths aus dem Jahr 1948 entsprachen.

Reacher und Shevick machten unterwegs an der Imbisstheke einer Tankstelle halt. Sie kauften drei Sandwiches mit Geflügelsalat, drei Beutel Kartoffelchips und drei Dosen Limonade. Reacher trug die Tüte in der rechten Hand und stützte Shevick mit der linken. So bewegten sie sich humpelnd durch die halbe Siedlung. Shevicks Heim befand sich in einer Sackgasse mit einer beengten Wendefläche, die kaum breiter als die Straße selbst war. Sein Haus stand auf der linken Seite hinter einem weißen Staketenzaun, durch den frühblühende Rosen wuchsen. Das einstöckige Ranchhaus mit den Standardmaßen aller Häuser hier hatte ein Dach aus Bitumenpappe und eine weiße Holzschalung. Es wirkte gepflegt, aber doch ein wenig vernachlässigt. Die Fenster sahen staubig aus, und der Rasen war zu hoch.

Shevick und Reacher gingen einen Weg aus Betonplatten entlang, der kaum für beide nebeneinander Platz bot. Shevick zog seinen Schlüssel aus der Tasche, aber bevor er ihn ins Schloss stecken konnte, wurde die Haustür von innen geöffnet. Auf der Schwelle stand eine Frau, die Mrs. Shevick sein musste. Sie war grau, gebeugt und abgemagert wie er, ebenfalls ungefähr siebzig, aber sie trug den Kopf hoch, und ihr Blick war direkt. Ihr inneres Feuer brannte noch. Sie starrte ihren Mann an: Stirn aufgeschürft, Nase geschwollen, angetrocknetes Blut an der Lippe.

»Bin gestürzt«, erklärte Shevick. »Am Randstein gestolpert. Hab mir das Knie aufgeschlagen. Das ist das Schlimmste. Dieser Gentleman war so freundlich, mir zu helfen.«

Die Frau schaute kurz zu Reacher, verständnislos, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihren Mann.

Sie sagte: »Wir müssen dich erst mal säubern.«

Sie trat zur Seite, und Shevick betrat die Diele.

»Hast du …«, begann seine Frau, aber sie brachte den Satz nicht zu Ende. Vielleicht machte der Fremde sie verlegen. Sie hatte zweifellos fragen wollen, ob er den Kerl bezahlt habe. Aber manche Dinge mussten privat bleiben.

Shevick sagte: »Die Sache ist kompliziert.«

Reacher hielt die Sandwichtüte hoch.

»Wir haben den Lunch mitgebracht«, sagte er. »Wir dachten, unter den Umständen sei es schwierig, in den Laden zu gehen.«

Mrs. Shevick blickte ihn an, noch immer verständnislos. Und dann leicht gekränkt. Verlegen. Beschämt.

»Er weiß Bescheid, Maria«, sagte Shevick. »Er war Kriminalbeamter in der Army und hat mich sofort durchschaut.«

»Du hast’s ihm erzählt?«

»Er hat’s selbst rausgekriegt. Dafür ist er ausgebildet.«

»Was ist kompliziert?«, fragte sie. »Was ist passiert? Wer hat dich so zugerichtet? Etwa dieser Mann?«

»Welcher Mann?«

Sie sah Reacher an.

»Der Mann mit dem Lunch«, sagte sie. »Ist er einer von ihnen?«

»Nein, nein«, entgegnete Shevick hastig. »Absolut nicht! Er hat nichts mit ihnen zu tun.«

»Warum folgt er dir dann? Oder eskortiert dich. Er kommt mir wie ein Gefängniswärter vor.«

»Als ich gestolpert und hingeknallt bin, war er zufällig in der Nähe und hat mir aufgeholfen. Als er gesehen hat, dass ich nicht allein gehen konnte, hat er mich begleitet. Er verfolgt mich nicht. Er eskortiert mich auch nicht. Er ist hier, weil ich hier bin. Du kannst nicht einen ohne den anderen haben. Nicht im Augenblick. Weil ich mir das Knie aufgeschlagen habe. So einfach ist das.«

»Vorhin hast du gesagt, die Sache sei kompliziert.«

»Wir sollten reingehen«, sagte Shevick.

Seine Frau zögerte kurz, dann drehte sie sich um und ging voraus. Drinnen sah das Haus ähnlich aus wie von außen. Alt, gut gepflegt, aber in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Die Zimmer wirkten klein, die Flure eng. Sie betraten das Wohnzimmer, in dem es ein zweisitziges Sofa, zwei Sessel und einen Antennenanschluss, aber keinen Fernseher gab.

Mrs. Shevick fragte: »Was ist kompliziert?«

»Fisnik war nicht da«, antwortete ihr Mann. »Normalerweise sitzt er den ganzen Tag in der Bar. Aber nicht heute. Er hat mir telefonisch bestellen lassen, dass ich um sechs Uhr wiederkommen soll.«

»Wo ist das Geld also jetzt?«

»Ich hab’s noch immer.«

»Wo?«

»In meiner Tasche.«

»Fisnik wird sagen, dass wir ihnen weitere tausend Dollar schulden.«

»Dieser Gentleman denkt, dass er das nicht kann.«

Die Frau schaute Reacher nochmals an, bevor sie sich an ihren Mann wandte: »Komm, wir müssen dich ein bisschen sauber machen.« Zu Reacher sagte sie: »Bitte legen Sie den Lunch in den Kühlschrank.«

Der sich als mehr oder weniger leer erwies. Reacher stand davor, zog die Tür auf und fand einen sauberen Innenraum mit nur wenigen Frischhalteboxen vor. Er legte die Tüte ins Mittelfach und ging ins Wohnzimmer zurück, um zu warten. An den Wänden hingen Familienfotos, die wie in einer Zeitschrift in kleinen Gruppen angeordnet waren. Die ältesten Fotos waren leicht verfärbte Schwarz-Weiß-Bilder in Zierrahmen. Das erste zeigte einen GI, der mit seiner jungen Frau vor diesem Haus stand. Der Mann trug eine frisch gebügelte Khakiuniform. Ein Gefreiter. Vermutlich zu jung, um im Zweiten Weltkrieg gekämpft zu haben. Vermutlich als Besatzer in Deutschland oder Japan stationiert. Vermutlich im Koreakrieg wieder eingezogen. Die Frau hatte ein wadenlanges Kleid mit Blumenmuster an. Beide lächelten. Die weiße Holzverkleidung hinter ihnen leuchtete in der Sonne. Der Garten vor dem kleinen Haus war noch nicht angelegt.

Auf dem zweiten Foto standen sie auf Rasen und hatten ein Baby in den Armen. Das gleiche Lächeln, dieselbe Holzverkleidung. Statt Uniform trug der junge Vater eine Hose mit hoher Taille aus einer neuen Wunderfaser und ein kurzärmeliges weißes Hemd. Die junge Mutter hatte das Blumenkleid gegen einen dünnen Pullover und eine Dreiviertelhose vertauscht. Das Baby war in eine Wolldecke gewickelt, die nur unscharf sein blasses Gesicht sehen ließ.

Die dritte Aufnahme zeigte diese drei schätzungsweise acht Jahre später. Hinter ihnen verdeckte wilder Wein Teile der Holzverkleidung. Das Gras unter ihren Füßen war dicht, der Mann weniger knochig, etwas stärker um die Taille, etwas breiter um die Schultern. Sein Haar war mit Brillantine zurückgekämmt und nicht mehr so voll. Die Frau wirkte hübscher als früher, aber irgendwie müde wie die meisten Frauen auf Fotos aus den fünfziger Jahren.

Bei dem vor ihnen stehenden achtjährigen Mädchen handelte es sich um Maria Shevick. Ihre Gesichtsform und der offene Blick waren unverkennbar. Sie war erwachsen, ihre Eltern waren alt geworden und gestorben, sie hatte dieses Haus geerbt. Das vermutete Reacher. Dass er recht hatte, bewies die nächste Gruppe von Fotos. Jetzt in verblassten Kodakfarben, aber am selben Ort. Auf dem Rasen vor der weißen Holzverkleidung. Eine Art Tradition. Die erste Aufnahme zeigte Mrs. Shevick mit ungefähr zwanzig Jahren neben einem gerade aufgerichteten und schlanken Mr. Shevick, ebenfalls um die zwanzig. Ihre Gesichter waren schmal und jung und von Schatten konturiert, ihr Lächeln wirkte breit und glücklich.

Auf dem zweiten Foto dieser Reihe hielt dasselbe Paar ein Baby in den Armen. Es wurde von links nach rechts und in der Reihe darunter sprunghaft größer, lernte laufen, war dann ein Mädchen von vier, sechs und acht Jahren, während die Shevicks zu engen Tanktops, Puffärmeln und Schlaghosen Frisuren aus den siebziger Jahren trugen.

Die nächste Reihe zeigte, wie dieses Mädchen ein Teenager, eine Highschool-Absolventin und eine junge Frau wurde. Dann eine ältere Frau. Inzwischen musste sie fast fünfzig sein, rechnete Reacher sich aus. Wie ihre Generation wohl hieß? Sie musste irgendeinen Namen haben. Heutzutage hatte jede einen.

»Ah, da sind Sie«, sagte Mrs. Shevick hinter ihm.

»Ich habe Ihre Fotos bewundert.«

»Ja«, sagte sie.

»Sie haben eine Tochter.«

»Ja«, sagte sie wieder.

Dann kam Shevick herein. Er hatte kein Blut mehr an der Oberlippe. Seine Schürfwunden glänzten von irgendeiner gelben Salbe. Sein Haar war frisch gebürstet.

Er sagte: »Kommt, wir wollen essen.«

In der Küche stand ein kleiner Tisch mit Aluminiumkanten und einer Laminatplatte, durch jahrzehntelanges Wischen trüb und stumpf, aber einst hell und glänzend. Dazu passend gab es drei Kunststoffstühle. Alles vermutlich erworben, als Maria Shevick ein kleines Mädchen gewesen war. Hier hatte sie gelernt, wie Erwachsene zu essen. Viele Jahre später bat sie jetzt Reacher und ihren Mann, sich zu setzen, legte die Sandwiches auf Porzellanteller, kippte die Chips in Schalen, goss die Limonaden in schmale hohe Gläser und legte Stoffservietten auf den Tisch. Sie nahm ebenfalls Platz und sah Reacher an.

»Sie müssen uns für sehr töricht halten«, sagte sie, »dass wir in diese Situation geraten sind.«

»Eigentlich nicht«, entgegnete Reacher. »Eher für glücklos. Oder für sehr verzweifelt. Offensichtlich hat diese Situation Ihre letzten Reserven aufgezehrt. Sie haben Ihren Fernseher verkauft. Sicher auch vieles andere. Ich vermute, dass Sie eine Hypothek auf Ihr Haus aufgenommen haben. Aber das war alles nicht genug. Sie mussten eine weitere Geldquelle erschließen.«

»Ja«, sagte sie.

»Dafür hatten Sie bestimmt gute Gründe.«

»Ja«, wiederholte sie.

Danach schwieg sie. Ihr Mann und sie aßen langsam, einen kleinen Bissen nach dem anderen, zwei, drei Chips, einen Schluck Limonade. Als wollten sie diesen neuen Genuss auskosten. Oder weil sie fürchteten, sie könnten sich den Magen verderben. In der Küche herrschte Stille. Es gab keine vorbeifahrenden Autos, keinen Straßenlärm. Die Wände waren teils gekachelt, teils mit einer Blumentapete bedeckt, die an das Kleid von Mrs. Shevicks Mutter auf dem ersten Foto erinnerte. Der Boden bestand aus Linoleum, in dem Stilettoabsätze Vertiefungen hinterlassen hatten, die im Lauf der Zeit fast wieder eingeebnet worden waren. Herd und Kühlschrank hatte man erneuert; sie schienen aus der Zeit von Nixons Präsidentschaft zu stammen. Doch die Arbeitsplatten waren vermutlich noch original. Sie bestanden aus blassgelbem Laminat mit feinen Wellenlinien, die an ein EKG erinnerten.

Mrs. Shevick aß ihr Sandwich auf. Sie trank ihre Limonade aus. Sie nahm die letzten kleinen Stücke Kartoffelchips mit einem feuchten Zeigefinger auf. Sie tupfte ihre Lippen mit der Serviette ab. Sie sah zu Reacher hinüber.

Sie sagte: »Danke.«

Er sagte: »Bitte sehr.«

»Sie denken, dass Fisnik keine weiteren tausend Dollar verlangen kann.«

»Ich glaube, dass er kein Recht dazu hat. Ob er’s tut, steht auf einem anderen Blatt.«

»Ich denke, wir werden zahlen müssen.«

»Ich bin gern bereit, das mit dem Mann zu diskutieren. In Ihrem Auftrag. Wenn Sie möchten. Ich könnte verschiedene Argumente vorbringen.«

»Und Sie wären bestimmt überzeugend. Aber mein Mann hat mir erzählt, dass Sie sich nur auf der Durchreise befinden. Morgen sind Sie nicht mehr hier. Wir aber schon. Zahlen ist vermutlich sicherer.«

Aaron Shevick sagte: »Wir haben das Geld nicht.«

Seine Frau gab keine Antwort. Sie spielte mit den Ringen an ihrem Finger. Sicher unbewusst. Sie hatte einen schmalen goldenen Ehering und einen kleinen Brillantring. Reacher konnte sich vorstellen, dass sie ans Leihhaus dachte. Vermutlich in einer schäbigen Straße in der Nähe des Busbahnhofs. Aber für tausend Bucks würde sie mehr als einen Ehering und einen kleinen Solitär brauchen. Vielleicht hatte sie noch etwas Schmuck von ihrer Mutter. In einer Kommodenschublade mit weiteren kleinen Erbstücken von Onkeln und Tanten: Broschen und Nadeln, Uhrketten und Manschettenknöpfe.

Sie sagte: »Diese Brücke überqueren wir, wenn wir sie erreichen. Vielleicht ist er vernünftig. Vielleicht verlangt er keinen Aufschlag.«

Ihr Mann sagte: »Das sind keine vernünftigen Leute.«

Reacher fragte ihn: »Haben Sie dafür direkte Beweise?«

»Nur indirekte«, antwortete Shevick. »Ganz zu Anfang hat Fisnik mir die verschiedenen Strafen erläutert. Er hatte Fotos und ein kurzes Video auf seinem Handy. Ich musste es mir ansehen. Daher haben wir uns mit keiner Zahlung verspätet. Jedenfalls bis heute nicht.«

»Haben Sie je daran gedacht, zur Polizei zu gehen?«

»Natürlich. Aber wir haben den Vertrag freiwillig geschlossen. Wir haben uns Geld von ihnen geliehen. Wir haben ihre Bedingungen akzeptiert. Ich hatte auf Fisniks Handy gesehen, welche Strafen es gibt. Insgesamt war uns das zu riskant.«

»Bestimmt klug«, sagte Reacher, obwohl er es nicht so meinte. Er rechnete sich aus, dass Fisnik statt Vertragstreue einen Kinnhaken brauchte. Und er musste vielleicht mit dem Gesicht auf seinen Ecktisch geknallt werden. Andererseits war Reacher weder siebzig noch gebrechlich noch halb verhungert. Bestimmt klug.

Mrs. Shevick sagte: »Wo wir stehen, wissen wir um sechs Uhr.«

Den ganzen Nachmittag lang schnitten sie dieses Thema nicht wieder an. Das war eine Art unausgesprochener Vereinbarung. Stattdessen machten sie höflich Konversation, indem sie Biografien austauschten. Mrs. Shevick hatte das Haus tatsächlich von ihren Eltern geerbt, die es damals unbesehen über die GI Bill gekauft hatten, weil auch sie sich dem Nachkriegsdrang zur Mittelschicht nicht entziehen konnten. Wie der Rasen auf dem Foto zeigte, war sie selbst ein Jahr später geboren worden und hier groß geworden; dann waren ihre Eltern gestorben, und sie hatte im selben Jahr ihren späteren Mann kennengelernt. Er war Feinmechaniker, hoch spezialisiert, in der Nähe aufgewachsen. Ein wichtiger Beruf, sodass man ihn nicht einzog und nach Vietnam schickte. Genau wie ihre Eltern zuvor bekamen sie binnen eines Jahres eine Tochter, die hier in zweiter Generation aufwuchs. Sie war gut in der Schule, bekam einen ordentlichen Job. Nie verheiratet, also leider keine Enkel. Reacher fiel auf, wie ihr Tonfall sich veränderte, je näher die Story der Gegenwart kam. Ihre Stimme klang ausdrucksloser, gepresster, als gäbe es Dinge, die nicht ausgesprochen werden durften.

Die Uhr in seinem Kopf sprang auf 17.00 Uhr um. Eine Meile bedeutete eine Viertelstunde für ihn und zwanzig Minuten für die meisten Leute, aber bei Shevicks Tempo würden sie fast eine Stunde brauchen.

»Wir müssen los«, sagte er.

5

Reacher half Shevick wieder vom Randstein hinunter, über die Straße, den Randstein hinauf und über den Gehsteig bis zum Eingang der Bar. Auch diesmal ging er als Erster hinein. Aus demselben Grund wie zuvor. Ein Unbekannter, der unmittelbar vor der Zielperson hereinkam, wurde unbewusst zehnmal weniger mit ihr in Verbindung gebracht als ein Unbekannter, der gleich nach ihr eintrat. Das lag in der menschlichen Natur. Überwiegend Bullshit, aber ab und zu war doch ein Treffer dabei.

Hinter der Theke stand derselbe fette Kerl. Außer ihm waren jetzt neun Gäste anwesend. Zwei Paare und fünf Einzelgänger, die allein an separaten Tischen saßen. Einer von ihnen hatte schon vor sechs Stunden dagehockt. Zu den einzelnen Gästen gehörte auch eine Frau von etwa achtzig Jahren. Sie hielt ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit zwischen den Händen. Vermutlich kein Wasser.

An dem Vierertisch in der hinteren Ecke saß ein Mann.

Eine große, massige Gestalt, ungefähr vierzig und so blass, dass sein Gesicht im Halbdunkel zu leuchten schien. Er hatte helle Augen und bleiche Augenbrauen. Sein maisgelbes Haar war so kurz geschnitten, dass es glitzerte. Seine dicken weißen Handgelenke ruhten auf der Tischkante, und weiße Pranken lagen auf einem großen schwarzen Kassenbuch. Zu einem schwarzen Anzug trug er ein weißes Oberhemd und eine schwarze Seidenkrawatte. Unter dem Kragen lugte eine Tätowierung hervor. Irgendein Wort in unbekannter Schrift. Vermutlich Kyrillisch.