Die ICF verstehen und nutzen - Gerd Grampp - E-Book

Die ICF verstehen und nutzen E-Book

Gerd Grampp

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Beschreibung

Teilhabemanagement, auf das Menschen mit Behinderungen seit Einführung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) Anspruch haben, ist ohne Kenntnis der ICF nicht möglich: »Die Ermittlung des individuellen Bedarfes des Leistungsberechtigten muss durch ein Instrument erfolgen, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit orientiert.« Art. 1 § 118 BTHG. Der Autor beschreibt die Komponenten des Klassifikationssystems und gibt Hinweise zum Verständnis und zur Nutzung der ICF. So erschließen sich die Anforderungen an die neuen Verfahren zur Teilhabeplanung, mit denen alle bis Mai 2019 vorgestellten Instrumente – BEI_NRW, BEI_BW, B.E.Ni, TIB und ITP – zur Bedarfsermittlung abgeglichen werden.

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Gerd Grampp war Professor für Theorie und Praxis der Rehabilitation in Jena und begleitete Projekte zur Umsetzung der ICF in der Praxis der Rehabilitation. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte besteht in der Konzeptentwicklung zu Inklusion und Partizipation zur Umsetzung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Aktuell gibt er vor allem Seminare zur ICF. Auf deren Inhalten und Erfahrungen beruht dieses Buch.

Gerd Grampp

Die ICF verstehen und nutzen

BALANCEBeruf

Gerd Grampp

Die ICF verstehen und nutzen

BALANCE Beruf

3.Auflage 2019

ISBN-Print: 978-3-86739-187-0

ISBN-PDF: 978-3-86739-955-5

ISBN-ePub: 978-3-86739-958-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

BALANCE buch + medien verlag im Internet:

www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2018, 2019

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Karin Koch, Köln

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln

unter Verwendung eines Bildes von ileana_bt / shutterstock.com

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Einführung:Was Sie von diesem Buch erwarten dürfen – und was nicht

Die ICF und ihre Bedeutung für die Sozialgesetzgebung

Die ICF im BTHG

Gab die Richtung vor: die BAGüS-Orientierungshilfe

Ein wichtiger Vorläufer: die ICIDH

Die ICF verstehen: Hinweise und Erläuterungen

Hintergrund der ICF

Ziele der ICF

Eigenschaften der ICF

Die Sprache der ICF

Struktur und Begriffe der ICF

Die Struktur der ICF

Die Begriffe des bio-psycho-sozialen Modells

Weitere wichtige Begriffe der ICF

Die Komponenten der ICF und das bio-psycho-soziale Modell

Die fünf Komponenten der ICF

Die einzelnen Kapitel

Klassifizierungsversuche der personbezogenen Faktoren

Die Stufung der Merkmale der ICF-Komponenten

Das bio-psycho-soziale Modell der Funktionsfähigkeit und Behinderung

Das Aktivitäts-Partizipationsmodell der Komponenten der ICF

Konzepte zur Umsetzung des bio-psycho-sozialen Modells

Die ICF nutzen: Leitlinien und Anleitungen

Direkte und indirekte Nutzung der ICF

Kodieren mit der ICF

Lebensbereiche, Aktivitäten und Teilhabe

Menschen mit Behinderungen und die ICF

Ethische Leitlinien zur Verwendung der ICF

Beziehungen zwischen den Akteuren und den gesetzlichen Vorgaben

Die ICF nutzen: ICF-basierte Instrumente und Verfahren vor dem BTHG

Die ICF im Teilhabeprozess

Die ICF und die Instrumente zur Bedarfsermittlung

ICF-basierte Instrumente in der beruflichen Rehabilitation

b3 – Basiskonzept für die Bedarfsermittlung

ICF-Praxisleitfaden 4 Berufliche Rehabilitation

Instrumente zur Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe

HMB-W (Wohnen / Freizeit) und HMB-T (Gestaltung des Tages)

Teilhabe 2015

Individuelle Hilfeplanung (IHP 3.1)

Die ICF nutzen: Umsetzung der Anforderungen des BTHG an die Instrumente

Das BTHG, die ICF und die Anforderungen an die Bedarfsermittlung

Die ICF in der Bedarfsermittlung der Eingliederungshilfe

ICF und BTHG aus Sicht des CBP

ICF und BTHG aus Sicht der DVfR

BTHG-konforme Bedarfsermittlungsinstrumente in der Eingliederungshilfe

BEI_NRW

BEI_BW

B.E.Ni

TIB

ITP

Übereinstimmungen und Unterschiede der Instrumente

Die ICF nutzen: Ziele, Maßnahmen und Leistungen

Teilhabeleistungen in Instrumenten zur Ermittlung des Hilfebedarfs

Leistungen und Maßnahmen in der Eingliederungshilfe

Leistungen, Maßnahmen und die ICF

ICF-basierte Maßnahmen für die Feststellung und Erbringung von Leistungen

Zusammenfassung und Ausblick

Die ICF verstehen

Die ICF nutzen

Literatur

Einführung:Was Sie von diesem Buch erwarten dürfen – und was nicht

Dass die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF) zurzeit viel Aufmerksamkeit erregt, hängt damit zusammen, dass sie im »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen« (Bundesteilhabegesetz – BTHG) eine zentrale Bezugsgröße ist. Auch in der Internationalen Internationalen Klassifikation der Krankheiten für Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken (International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics; ICD) sind in der aktuellen 11. Revision Instrumente integriert worden, die die Erstellung von Funktionsfähigkeitsprofilen ermöglichen. Da mit der ICF aber nur wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im psychosozialen Arbeitsbereich vertraut sind, ist das Interesse an spezifischen Informationen groß.

Im Text finden sich an verschiedenen Stellen Zitate aus dem BTHG. Streng genommen handelt es sich dabei aber nicht um das BTHG, sondern um das in Artikel 1 des BTHG enthaltene Neunte Sozialgesetzbuch in seiner neuen Fassung (SGB IX n. F.). Das BTHG selbst ist ein Artikelgesetz, mit dem zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen viele Regelungen des SGB IX und anderer Gesetze verändert werden. Der Einfachheit halber wird weiterhin zwar vom BTHG die Rede sein, gemeint ist aber in der Regel das SGB IX in seiner neuen Fassung. Falls andere Inhalte aus dem BTHG zitiert werden, wird der entsprechende Artikel angegeben.

Dem durch das BTHG ausgelösten Interesse an der ICF wird mit dem Buch nachgekommen. Sein Inhalt ist die ergänzte, erweiterte und verdichtete Form zahlreicher Seminare, die der Autor zum Verständnis der ICF und zur Nutzung der ICF für die Verwirklichung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung durchgeführt hat.

In der dritten Auflage wurden wieder Ergänzungen vorgenommen, die sich durch die Vorstellung weiterer Instrumente der Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe ergeben haben. Im Zentrum dieses Buches stehen weiterhin die Mittel und Möglichkeiten zur Beschreibung von Zuständen einer Person und ihrer Umwelt, die die ICF bereitstellt. Daraus können dann die notwendigen Leistungen und Interventionen abgeleitet werden.

Es ist nicht so, dass die ICF selbst das Instrument zur Förderung der Teilhabe von Klientinnen und Klienten ist, sie bietet aber ein verbindliches Raster für die Entwicklung der Instrumente zur Bedarfsermittlung. Dabei ist zwischen Teil 1 (Rehabilitation) und Teil 2 (Eingliederungshilfe) des BTHG zu unterscheiden. Die Instrumente für die Rehabilitation gelten länderübergreifend. Für die Eingliederungshilfe können länderspezifische Instrumente entwickelt werden. In einigen Ländern sind die Regelungen zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht bekannt bzw. in Arbeit. Deshalb können nur die vorhanden Instrumente mit den Vorgaben des BTHG abgeglichen werden.

Die Inhalte des Buches sind nachfolgend skizziert:

Kapitel 1 stellt den Einfluss der ICF auf die Sozialgesetzgebung dar. Aktuell erhält die ICF durch das BTHG einen hohen Stellenwert, doch bereits kurz nach Erscheinen der deutschen Version der ICF 2005 wurde durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger der überörtlichen Sozialhilfe (BAGüS) auf die mögliche Bedeutung der ICF für die Eingliederungshilfe hingewiesen. Die Entwicklung der Sozialgesetzgebung wird sogar noch länger durch die WHO-Klassifikation geprägt. Bereits das SGB IX von 2001 orientierte sich an der Vorgängerversion der ICF, der »International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH)«. Ein Verständnis dieser gewachsenen Bezüge erleichtert den Zugang zur Nutzung der ICF.

Kapitel 2 enthält Informationen zum Hintergrund und zu den Zielen der ICF. Weiterhin werden Struktur, Eigenschaften und Sprache der ICF beschrieben. Daran schließt sich die Darstellung wichtiger Begriffe der ICF in »verständlicher« Sprache an. Sodann wird das Klassifikationssystem der ICF vorgestellt. Dazu gehört auch die in Deutschland entwickelte Klassifizierung der Komponente »Personbezogener Kontextfaktoren«, die in der ICF selbst nicht klassifiziert werden. Die Bedeutung des bio-psycho-sozialen Modells sowie anderer wichtiger Grundannahmen für das Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung wird sichtbar werden.

Kapitel 3 thematisiert die Nutzung der ICF auf der Basis der klassifikationseigenen Leitlinien und Anleitungen. Zunächst wird das Kodesystem dargestellt. Daran schließen sich Hinweise für das Kodieren an. Dabei wird auf die Unterscheidung zwischen Lebensbereichen und Aktivitätsbereichen eingegangen. Da die Nutzung eines Klassifikationssystems immer die Gefahr birgt, es über die Klientinnen und Klienten zu stülpen, die es beschreiben soll, werden entsprechende ethische Leitlinien zum Gebrauch der ICF aufgezeigt. Eine Übersicht der Beziehungen zwischen den Akteuren im Teilhabemanagement schließt dieses Kapitel ab.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Nutzung der ICF auf der Ebene der Instrumente und Verfahren. Zunächst wird die Funktion der ICF in den verschiedenen Phasen des Teilhabeprozesses verdeutlicht. Dann geht es um die Bedeutung der ICF für die Instrumente zur Bedarfsermittlung. Hierbei wird auf die spezifischen Anforderungen der Rehabilitation und der Eingliederungshilfe eingegangen. Für die Rehabilitation wird auf das b3-Projekt verwiesen, das die Schaffung eines von Rehabilitationsträgern und Leistungserbringern gemeinsam festgelegten Instrumentenpools zum Ziel hat. Für die Eingliederungshilfe werden die Anforderungen an die Instrumente der Bedarfsermittlung mit den vor dem BTHG entstandenen Instrumenten abgeglichen.

Kapitel 5 befasst sich – ausgehend von den Anforderungen an die Instrumente zur Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe – mit der Kritik, die die ICF als Orientierungsrahmen des BTHG erfährt. Einige dieser Einwände wurden in den bis Ende Mai 2019 in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg und Berlin veröffentlichten Instrumenten berücksichtigt. Ihre Darstellung und Analyse schließt dieses Kapitel ab.

Kapitel 6 befasst sich mit der Nutzung der ICF bei der Erbringung und Abrechnung von Leistungen der Eingliederungshilfe. »Maßnahmen« sind die konkret auszuführenden Verrichtungen, die gebündelt als Leistung erbracht und abgerechnet werden. Sie ersetzen die bislang verwendeten Leistungstypen als Abrechnungsgrundlage. Maßnahmen beinhalten konkrete Interventionen, die das Ziel haben, einen auf der Grundlage der ICF beschriebenen Zustand zu erreichen. Gebraucht werden dazu Items der Komponenten Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe], Körperfunktionen und Umweltfaktoren sowie Merkmale der personbezogenen Kontextfaktoren (Anmerkung: Wenn mit Teilhabe die ICF- Komponente Aktivitäten und Partizipation gemeint ist, wird dies durch die eckigen Klammern deutlich. Ohne diese Klammern steht Teilhabe im Zusammenhang mit dem BTHG). Zum Schluss wird auf zukünftige Entwicklungen im Zusammenhang mit der ICF eingegangen. Dabei geht es um die dritte gesundheitsbezogene Klassifikation der WHO, die Internationale Klassifikation der Gesundheitsinterventionen (International Classification of Health Interventions – ICHI). Neben der Darstellung ihrer wichtigsten Inhalte wird auf ihre mögliche Bedeutung für die Sozialgesetzgebung und die Umsetzung des BTHG hingewiesen.

In Kapitel 7 erfolgt eine Zusammenfassung zu den zwei Aspekten des Buches: Die ICF verstehen und nutzen.

Die ICF und ihre Bedeutung für die Sozialgesetzgebung

Die ICF ist eine wichtige Grundlage für die konkrete Ausgestaltung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Allerdings gibt es schon länger Berührungspunkte zwischen den Gesundheitsklassifikationen der WHO und der Sozialgesetzgebung. So wurde die ICF vor mehr als zehn Jahren durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) als Innovation für die Eingliederungshilfe vorgestellt. Und schon für das SGB IX von 2001 bot die Vorgängerversion der ICF eine wichtige Orientierung.

Die ICF im BTHG

Im BTHG wird die ICF in Art. 1 § 118 ausdrücklich als Orientierungsrahmen für Instrumente der Bedarfsermittlung genannt:

»Der Träger der Eingliederungshilfe hat die Leistungen nach den Kapiteln 3 bis 6 unter Berücksichtigung der Wünsche des Leistungsberechtigten festzustellen. Die Ermittlung des individuellen Bedarfes des Leistungsberechtigten muss durch ein Instrument erfolgen, das sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit orientiert. Das Instrument hat die Beschreibung einer nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Aktivität und Teilhabe in den folgenden Lebensbereichen vorzusehen:

Lernen und Wissensanwendung,

allgemeine Aufgaben und Anforderungen,

Kommunikation,

Mobilität,

Selbstversorgung,

häusliches Leben,

interpersonelle Interaktionen und Beziehungen,

bedeutende Lebensbereiche und

Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.«

(Deutscher Bundestag 2016b, S. 3271)

Über diese direkte Einbeziehung hinaus wird auf die ICF an weiteren Stellen Bezug genommen, so in Art. 1 § 1 mit der Förderung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe als Zweck des BTHG, in Art. 1 § 2 mit der Definition von Behinderung, die sich an der ICF-basierten Formulierung in Artikel 1 der Behindertenrechtskonvention der UN (UN-BRK) orientiert. In Art. 1 § 13 wird für das Instrument zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs gefordert, dass es individuell und funktionsbezogen sein muss.

Gab die Richtung vor:die BAGüS-Orientierungshilfe

Die ICF ist mit der Erwähnung im Bundesteilhabegesetz (BTHG) zu einem viel diskutierten und wichtigen Thema in der Rehabilitation und der Eingliederungshilfe geworden. Allerdings wurde ihr Potenzial für die Eingliederungshilfe schon kurz nach der Veröffentlichung der deutschen Version von der BAG der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) hervorgehoben. Sowohl im Entwurf (2006) als auch in der Endversion (2007) und der Revision (2009) der BAGüS-Orientierungshilfe »Der Behinderungsbegriff nach SGB IX und SGB XII und dessen Umsetzung in der Sozialhilfe« wird mit Blick auf SGB XII § 53 auf die ICF verwiesen.

Dabei geht es um eine Definition von Behinderung als wesentliche Einschränkung der Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben. Teilhabe an der Gesellschaft wird im Sinne der ICF als Einbezogensein in eine Lebenssituation oder einen Lebensbereich verstanden. Die Einschränkungen der Teilhabe bzw. des Einbezogenseins beruhen auf person- und umweltspezifischen Faktoren, die Inhalte der ICF sind. Sie beziehen sich auf die Durchführung von (fremdbestimmten) Aufgaben oder (selbstbestimmten) Handlungen durch eine Person. Die Einschränkungen können in allen Bereichen auftreten, die den Kapiteln der Klassifikation Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe] der ICF entsprechen.

In der Fassung der BAGüS-Orientierungshilfe von 2009 wird zur Verwendung der ICF ausgeführt: »Der Schwerpunkt der Umsetzung der ICF liegt derzeit auf der Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells und der Begrifflichkeiten der ICF« (BAGüS 2009, S. 9). Für die Eingliederungshilfe wird auf die positiven Aspekte der ICF verwiesen.

»•Sie systematisiert mit ihrer Philosophie rehabilitatives Denken [und zeigt] neue Perspektiven für rehabilitatives Handeln [auf].

•Sie eröffnet insbesondere durch die Einbeziehung der Kontextfaktoren im Sinne von Barrieren und / oder Förderfaktoren die Möglichkeit für die notwendige Differenzierung im Einzelfall.

•Sie [ermöglicht] die personzentrierte Planung von Rehabilitationsprozessen, sowie die passgenaue Gestaltung und Entwicklung von Hilfen und Angeboten.

•Sie bietet […] eine geeignete Grundlage für eine dynamische Betrachtung von rehabilitativen Leistungen und deren Wirksamkeit« (BAGüS 2009, S. 9)

Zur Ermittlung von Teilhabeeinschränkungen wird kein Instrument empfohlen. Es wird aber betont, dass

» Verfahren dann geeignet [sind], wenn sich hieraus die Frage des Vorliegens einer wesentlichen Beeinträchtigung der Teilhabe beantworten lässt. [Dazu] ist eine Beschreibung von Aktivität und Teilhabe bzw. deren Beeinträchtigung zumindest in den Bereichen

•Selbstversorgung, (Körperpflege, Toilettenbenutzung, An- und Ausziehen, Essen und Trinken,

•häusliches Leben / Haushaltsführung, (Einkaufen, Zubereitung von Mahlzeiten, Haushaltsführung, Ordnung halten einschl. Reinigung),

•Mobilität (Bewegungsfähigkeit),

•Orientierung (zur Person, zeitlich, örtlich, Verkehrssicherheit), Kommunikation (Hören, Sprechen, Schreiben, unterstützte Kommunikation),

•Interpersonelle Interaktion und Beziehung (Sozialverhalten gegenüber vertrauten / fremden Personen / Gruppen) notwendig.« (BAGüS 2009, S. 9 f.)

Als »Schweregrade der Einschränkung von Aktivitäten und Partizipation« [Teilhabe] werden genannt: Ausführung mit Nutzung von Hilfsmitteln; Ausführung mit personeller Hilfe bzw. Unterstützung; Ausführung nicht möglich.

Ein wichtiger Vorläufer: die ICIDH

Die Verbindung von Gesundheitsklassifikationen der WHO und der Sozialgesetzgebung reicht weit zurück in die Entstehungszeit des SGB IX. Zu diesem Zeitpunkt war die Vorgängerversion der ICF, die ICIDH (International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps) in Kraft. Sie erklärt Behinderung auf der Grundlage eines »Krankheitsfolgenmodells«. Das bedeutet, die Krankheit einer Person ist eine Schädigung, die Fähigkeitsstörungen bei dieser Person auslöst. Diese führen zur Behinderung, die als soziale Beeinträchtigung ein Merkmal der Person darstellt (vgl. WHO 2005, S. 5). Nach SGB IX, § 2, Abs. 1 sind »Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit [Schädigung und Fähigkeitsstörung] mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft [soziale Beeinträchtigung] beeinträchtigt ist«. (Deutscher Bundestag 2001, S. 5)

Die ICF verstehen:Hinweise und Erläuterungen

Hinweise zum Verständnis der ICF sind in der ICF selbst im Kapitel »Einführung« und in den »Anhängen« zu finden. Diese ICF-Teile enthalten Informationen zum Hintergrund und zu den Zielen der ICF. Bevor diese erläutert werden, sollen aber die Begriffe im Titel der ICF: Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit kurz charakterisiert werden:

Funktionsfähigkeit beschreibt kompetenzorientiert in neutraler Sprache den Zustand der Teilhabe einer Person im Zusammenwirken mit dem Zustand ihrer Umwelt. Dabei werden alle Komponenten der ICF berücksichtigt: Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe], personbezogene Kontextfaktoren und Umweltfaktoren.

Behinderung beschreibt defizitorientiert die Einschränkungen der Teilhabe und sie beeinflussende Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, Schädigungen der Körperstrukturen, der nicht klassifizierten Merkmale der personbezogenen Kontextfaktoren und der Barrieren in ihrer Umwelt.

Gesundheit wird in der ICF nicht definiert. Allerdings findet sich der Begriff Wohlbefinden im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand einer Person. Er verweist auf die Definition der WHO von 1946: »Gesundheit ist der Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen« (WHO 1946; S. 1).

Hintergrund der ICF

In der Einführung zur ICF wird auf die »von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte ›Familie‹ von Klassifikationen für die Anwendung auf verschiedene Aspekte der Gesundheit« hingewiesen (WHO 2005, S. 9). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung besteht die »Familie« aus der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und der Internationalen Klassifikation der Gesundheitsinterventionen (ICHI).

Die ICD wird benutzt, um Krankheiten in 21 Kapiteln (vgl. DIMDI 2019) zu klassifizieren, in der aktuell gültigen 10. Version geschieht dies wie folgt:

A00 – B99 Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten;

C00 – D48 Neubildungen;

D50 – D90 Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems;

E00 – E90 Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten;

F00 – F99 Psychische und Verhaltensstörungen;

G00 – G99 Krankheiten des Nervensystems;

H00 – H59 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde;

H60 – H95 Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes;

I00 – I99 Krankheiten des Kreislaufsystems;

J00 – J99 Krankheiten des Atmungssystems;

K00 – K93 Krankheiten des Verdauungssystems;

L00 – L99 Krankheiten der Haut und der Unterhaut;

M00 – M99 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes;

N00 – N99 Krankheiten des Urogenitalsystems;

O00 – O99 Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett;

P00 – P96 Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben;

Q00 – Q99 Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien;

R00 – R99 Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind;

S00 – T98 Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen;

V01 – Y84 Äußere Ursachen von Morbidität und Mortalität;

Z00 – Z99 Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen

Diese Krankheiten und Störungen sind Ursache von Gesundheitsproblemen. Gesundheitsprobleme haben über die Körperfunktionen und Körperstrukturen Auswirkungen auf die Teilhabe von Personen. Der Zusammenhang wird im Bundesteilhabegesetz (BTHG) in Art. 1 § 2 verdeutlicht. Danach wird eine Einschränkung der Teilhabe vor allem durch Beeinträchtigungen von Körperfunktionen der Person und Barrieren in der Umwelt verursacht. Die Körperfunktionen und Umweltfaktoren werden als Komponenten der ICF klassifiziert. Infolgedessen ist die ICF dazu geeignet, die Funktionsfähigkeit bzw. Behinderung einer Person zu beschreiben. In der Einführung zur ICF heißt es dazu:

» Deshalb ergänzen die ICD-10 und die ICF einander, und Anwender sind aufgerufen, beide Klassifikationen der WHO-Familie der Internationalen Klassifikationen gemeinsam zu verwenden. So ergibt sich ein breiteres und angemesseneres Bild über die Gesundheit von Menschen […], welches zu Zwecken der Entscheidungsfindung herangezogen werden kann.« (WHO 2005, S. 9 f.)

Hier ist zu ergänzen, dass die ICD-11 einen Teil enthält, der die Einschätzung der Funktionsfähigkeit ermöglicht (https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f231358748). Das bedeutet, dass aktuell für die oben beschriebene Ergänzung von ICD und ICF die Voraussetzung geschaffen wird.

Die dritte gesundheitsbezogene Klassifikation der WHO ist die Internationale Klassifikation der Gesundheitsinterventionen (ICHI). Nach ihrer Verabschiedung, voraussichtlich 2020, wird die ICHI für Mitgliedsstaaten der WHO frei verfügbar sein. Mit ihr wird die ICPM (International Classification of Medicine Procedures) erweitert. Die ICPM ist in Deutsch als »Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS)« erschienen. Die Erweiterung beinhaltet Interventionen, die sowohl Verbesserungen der Zustände einer Person mit einem Gesundheitsproblem herbeiführen können als auch geeignet sind, die Zustände der sie umgebenden Umwelt positiv zu beeinflussen. Im vorletzten Kapitel werden die Interventionen vorgestellt, die für die praktische Umsetzung des BTHG Hilfestellungen bieten könnten.

Ziele der ICF