Die Identität des Katholischen - Joseph Schumacher - E-Book

Die Identität des Katholischen E-Book

Joseph Schumacher

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was dem ökumenischen Gespräch heute fehlt, das ist zum einen die klare Begrifflichkeit und zum anderen die Respektierung dezidierter Glaubenswahrheiten. Der Philosoph Jacques Maritain († 1973) stellte fest: »Man muss einen harten Kopf haben und ein weiches Herz.« Die heute verbreiteten Lamentationen um die Barmherzigkeit sprechen eine Sprache, die nicht die Sprache der Kirche der Jahrhunderte ist. Was die Kirche und die Theologie heute vermissen lässt, ist eine eindeutige Sprache und die treue Bewahrung des Glaubens in innerer Kontinuität. Dieses Desiderat erst macht Die Identität des Katholischen aus.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 537

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

1. Auflage 2016

© Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

 

Erschienen in der Edition »Patrimonium Theologicum«

 

 

Patrimonium-Verlag

Abtei Mariawald

52396 Heimbach/Eifel

www.patrimonium-verlag.de

 

Herstellung und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz GmbH

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

 

www.verlag-mainz.de

 

 

Abbildungsnachweise

»For the record: Benedict XVI on doctrinal issues and ecumenism« –

http://4.bp.blogspot.com

 

 

ISBN-10: 3-86417-078-8

ISBN-13: 978-3-86417-078-2

 

 

 

Vorwort

 

 

 

 

 

Das Epitheton »katholisch« hat gegenwärtig keinen guten Klang. Vielfach wird es gar als Provokation empfunden. In jedem Fall weckt es Assoziationen wie Rückständigkeit, mangelnde Liberalität, Dogmatismus, Kleinlichkeit und Engstirnigkeit. Allenthalben ersetzt man es daher durch das Adjektiv »christlich« oder »kirchlich«. So wird aus der katholischen Theologie christliche Theologie und aus dem katholischen Sozialdienst ein kirchlicher Sozialdienst. Dem entspricht es, dass viele Katholiken eine verschwommene Vorstellung haben von dem, was die Prinzipien des Katholischen sind und was der katholische Glaube lehrt. Selbst viele Theologen und Verantwortungsträger der Kirche scheinen nicht mehr zu wissen, was katholisch ist, und es auch nicht mehr wissen zu wollen. Die Kenntnis der Eigenart des Katholischen ist vor allem eine unverzichtbare Voraussetzung für eine ehrliche Ökumene, für eine Ökumene, die die Unterschiede zwischen den Konfessionen nicht nur noch als verschiedene Traditionen versteht und sie ungeachtet ihrer Nichtvereinbarkeit kritiklos nebeneinander stellt. Immerhin sind die Differenzen zwischen den Konfessionen eine wesentliche Voraussetzung des ökumenischen Dialogs, der sich erübrigen würde, wenn es keine Differenzen mehr gäbe. Der selige John Henry Newman († 1890) bemühte sich vorrangig um eine Rehabilitierung des dogmatischen Prinzips in der Kirche, die nur so ihre Identität bewahren kann.

 

Diesem Anliegen schließt sich die vorliegende Untersuchung an. Heute, da die Theologie mehr und mehr in einen unbestimmten Agnostizismus abgleitet und der Glaube sich immer mehr »zu einer inhaltslosen humanen Gläubigkeit« (Leo Scheffczyk) verflüchtigt, die dann, wenn man genauer hinschaut, doch wiederum nicht so human ist, wie sie zu sein vorgibt, ist diese Form ihrer Rehabilitierung, mehr noch als im 19. Jahrhundert, eine Lebensfrage der Kirche und damit schließlich auch des Christentums. Die vorliegende Untersuchung ist aus einer Vorlesung hervorgegangen, die der Autor wiederholt an der Freiburger Universität für Hörer aller Fakultäten gehalten hat. In Form von einzelnen Artikeln ist sie in den Jahren 2006 – 2010 in der Zeitschrift »Theologisches. Katholische Monatszeitschrift« bereits im Druck erschienen. Hier wurden sie noch einmal überarbeitet und um einige wesentliche Punkte ergänzt und zur besseren Handhabung mit Registern versehen.

 

Joseph Schumacher

 

Freiburg i. Br., am 15. August 2015, dem Hochfest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel

 

 

 

 

I. Kapitel: Einführung

 

 

 

1. Das Katholische zwischen Bewunderung und Kritik

 

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb der Marburger protestantische Religionswissenschaftler Friedrich Heiler († 1970) in seinem Buch »Der Katholizismus. Seine Idee und seine Erscheinung« (1923): »Die römische Kirche übt heute eine starke Anziehungskraft auf die nichtkatholische Welt aus. Die deutschen Benediktinerklöster, besonders Beuron und Maria Laach, sind zu Wallfahrtsstätten von Nichtkatholiken geworden, die sich für die dort gepflegte klassisch-katholische Liturgie begeistern. Die im deutschen Protestantismus um sich greifende hochkirchliche Bewegung nähert sich immer mehr der römischen Kirche, einer ihrer Führer ist bereits in deren Schoß zurückgekehrt. Noch ausgedehnter ist die Konversionsbewegung in England. Ganze anglikanische Konvente und Klöster treten zur Kirche Roms über. Eine starke katholische Propaganda fördert und steigert die bereits vorhandene Neigung zum Katholizismus. Die römische Kirche macht heute gewaltige Anstrengungen, um alle von ihr getrennten Christen im Orient und Okzident zurückzugewinnen. Am Grab des hl. Bonifatius wurde eine Gesellschaft zur Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen gegründet ... voll Siegesgewissheit verkünden heute bereits katholische Stimmen den nahen Untergang des Protestantismus«1. Wenn man einmal absieht von dem fragwürdigen Wort »Siegesgewissheit«, mit der der nahe »Untergang« des Protestantismus angeblich verkündet worden ist, weil hier die Religion zur Parteisache entwürdigt und profaniert wird, so muss doch festgestellt werden, dass diese Situationsbeschreibung, die für die damalige Zeit nicht ganz unzutreffend war, doch weit weg ist von der gegenwärtigen Situation der Kirche2.

Bewundernd hebt zu damaliger Zeit der evangelische Theologe Adolf von Harnack († 1930), den man mit Fug und Recht als den einflussreichsten evangelischen Theologen seiner Zeit bezeichnen kann, dessen Bedeutung weit über das Gebiet der Theologie hinausging, an der katholischen Kirche ihre Internationalität hervor sowie die Tatsache, dass sie sich nicht mit den weltlichen Mächten verschwistert habe, wodurch sie den Gedanken der Selbständigkeit der Religion und der Kirche aufrechterhalten habe3.

Immer wieder begegnet uns in der neueren Geschichte die staunende Verehrung für das Phänomen des Katholischen, für das, was wir die katholische Kirche nennen. Dabei wird die katholische Kirche als weltumspannende Gemeinschaft bewundert und mit großer Hochachtung ihre unzerstörbare Lebenskraft herausgestellt.

So schreibt etwa der englische Geschichtsschreiber Thomas Babington Macaulay († 1859) um die Mitte des 19. Jahrhunderts – fasziniert vor allem von dem Alter der katholischen Kirche – ein wenig pathetisch: »Es gibt und gab nie auf der Erde ein Werk menschlicher Staatsklugheit, welches unserer Prüfung so wert wäre wie die römisch-katholische Kirche. Die Geschichte dieser Kirche verknüpft die beiden großen Zeitalter der menschlichen Zivilisation miteinander. Es steht kein zweites Institut mehr aufrecht, das den Geist in die Zeiten zurückversetzte, die aus dem Pantheon den Rauch der Opfer aufsteigen und im Amphitheater Vespasians Tiger und Kameloparden springen sahen. Mit der Linie der Päpste verglichen sind die stolzesten Königshäuser von gestern. Diese Linie läßt sich in einer ununterbrochenen Reihenfolge von dem Papst, der im 19. Jahrhundert Napoleon krönte, bis auf den Papst zurückführen, der im 8. Jahrhundert Pippin salbte ... Die Republik Venedig war der nächstälteste Staat, aber sie selbst muss im Vergleich zu Rom modern genannt werden, und sie ist dahingegangen, während das Papsttumfortbesteht. Das Papsttum existiert noch, und nicht im Verfall, nicht als bloßes Altertum, sondern in Lebensfülle und jugendlicher Kraft. Noch heutigentags sendet die katholische Kirche bis zu den fernsten Weltenden Glaubensboten, die ebenso eifrig sind wie jene, welche mit Augustin in Kent landeten, und noch immer treten die Päpste feindlichen Machthabern so mutig entgegen wie Leo I. Attila. Noch tritt kein Zeichen hervor, welches andeutete, dass das Ende ihrer langen Herrschaft herannahte. Sie sah den Anfang aller Regierungen und aller Kirchen, die es gegenwärtig in der Welt gibt, und wir möchten nicht verbürgen, dass sie nicht auch das Ende von allen erlebte. Sie war groß und geachtet, ehe die Sachsen in England Fuß faßten, ehe die Franken den Rhein überschritten, als die griechische Beredsamkeit noch in Antiochien blühte und im Tempel von Mekka noch Götzen verehrt wurden. Und sie mag noch in ungeschwächter Kraft bestehen, wenn dereinst ein Reisender aus Neuseeland inmitten einer unermesslichen Wüstenei auf einem zertrümmerten Pfeiler der Londoner Brücke seinen Standort nimmt, um die Ruinen der Paulskirche zu zeichnen«4.

Aufhorchen lässt das Urteil des protestantischen Erzbischofs von Uppsala, Nathan Söderblom († 1931), der sich vor allem verdient gemacht hat um die Gründung des Weltrates der Kirchen, wenn er seinen Glaubensbrüdern erklärt: »Die römische Christenheit bedeutet in ihrem Wesen etwas anderes als Machtstreben, Heiligenverehrung und Jesuitismus. Sie bedeutet im Innersten einen Frömmigkeitstyp, der andersartig ist als der des evangelischen Christentums, aber in seiner Art vollendet (ist), ja, ich füge hinzu: vollendeter als die evangelische Frömmigkeit«5.

Der geistreiche jüdische Literat Willy Haas († 1973) schreibt im Jahre 1962 mit großer Bewunderung über das katholische Denken: »Das Erschütternde und Großartige am Katholizismus ... ist vor allem die unbeschreiblich evidente Art, wie er die Vielheit der Welt geistig-organisch aus der obersten Einheit wachsen lässt, den Wechsel aus der Dauer ... die ewige Bewegung aus der ewigen Ruhe«6.

Was man hier bewundert hat an der katholischen Kirche, das ist ihre Unvergänglichkeit, ihre Lebenskraft, ihre Universalität (also ihre Internationalität oder besser Übernationalität) und ihre innere Konsequenz. Fasziniert ist man dabei aber auch immer wieder von der inneren Geschlossenheit der Lehre der katholischen Kirche, in der sie dem Menschen einen festen Standort gibt inmitten der Entwurzelung und Zerrissenheit der Zeit. Das gilt nicht nur für das 19. Jahrhundert.

Auch in der neueren Geschichte gibt es im protestantischen Raum und überhaupt außerhalb der katholischen Kirche nicht wenige Zeugnisse der Bewunderung für die Idee des Katholischen und ihre konkrete Verwirklichung. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Katholische des Katholizismus nicht immer wieder auch scharf kritisiert worden ist von Seiten des Protestantismus und darüber hinaus. Die Bewunderung des Katholischen und der katholischen Kirche, das ist die eine Seite. Es gibt hier aber auch nicht wenig Kritik. Das ist die andere Seite. Im Blick auf die Kritik stellt der soeben zitierte Friedrich Heiler allerdings wohlwollend fest, im Protestantismus sei sie bedingt durch die mangelnde Kenntnis im Hinblick auf das, was katholisch sei. Wörtlich sagt er: »Die protestantische Polemik sieht gewöhnlich nur bestimmte Außenwände des katholischen Doms mit seinen Rissen und Sprüngen und seinem verwitterten Mauerwerk, aber die wundersamen Kunstwerke im Innern bleiben ihr verschlossen. Die lebendigsten und reinsten Formen des Katholizismus sind bis zum heutigen Tag der protestantischen Symbolik so gut wie unbekannt geblieben; sowohl die Totalschau wie die Innenschau ist ihr verwehrt«7. Heiler ist indessen nicht der einzige, der die mangelhafte Kenntnis hinsichtlich des Katholischen bei Außenstehenden konstatiert. Wiederholt haben auch andere evangelische Theologen über ihre weite Verbreitung im Protestantismus geklagt, und sie gar als ein »Strukturprinzip des Protestantismus« bezeichnet. Wir können diese Feststellung heute ausweiten auf alle, die außerhalb der Kirche stehen, ja, selbst auf viele, die drinnen sind, zumindest dem Namen nach, und die vielleicht sogar Funktionen wahrnehmen in der Kirche, ehrenamtlich oder professionell. Aus der mangelhaften Kenntnis einer Sache gehen jedoch immer wieder verhängnisvolle Vorurteile hervor. In unserem Fall bestehen sie nicht selten in der Gleichgültigkeit, in der Abneigung und in der Verachtung gegenüber dem Katholischen.

Der Schriftsteller Julius Langbehn († 1907) – er konvertierte zur katholischen Kirche im Jahre 1900 – schreibt: »Es ist meine feste und tief begründete Ansicht, dass neun Zehntel der Protestanten und Ungläubigen (die überhaupt etwas wert sind), sofort katholisch würden, wenn sie das Wesen des Katholizismus kennen würden«8. Der isländische Schriftsteller Jón Svensson (Sveinsson) († 1944), der bekannt wurde durch die Nonni-Bü-cher, Kinder- und Jugendbücher, zitiert in seinem Buch »Wie Nonni das Glück fand«, einer Autobiographie, den evangelischen Pfarrer Magnussohn, der feststellt: »Es ist schwer für einen Protestanten, längere Zeit unter frommen, eifrigen Katholiken zu leben, ohne selbst katholisch zu werden«. Der Pfarrer fährt an dieser Stelle fort: »Wir dürfen nicht vergessen, dass die katholische Kirche die Mutterkirche ist und dass wir all das Gute, das wir überhaupt besitzen, von ihr bekommen haben ...«9.

Wenn Konvertiten über den Weg ihrer Konversion berichten, schreiben sie des Öfteren, dass sie die katholische Kirche zunächst als eine Kirche für die geistig Armen angesehen haben, die Äußerlichkeiten brauchen und sich daran festhalten. Oder sie haben die katholische Kirche zunächst als eine veraltete Form des Christentums angesehen, bis sie dann ihre innere Wahrheit und deren Kontinuität in der Geschichte wahrgenommen haben10.

 

 

2. Falsche Vorstellungen

 

Nicht selten wurde die katholische Kirche mit Machtstreben, Heiligenverehrung und Jesuitismus, mit Unwissenheit, Böswilligkeit und Heuchelei identifiziert. Jesuitismus, das bedeutet Verschlagenheit und Machtstreben in der Kirche und für die Kirche auf der Basis des fragwürdigen Axioms: Der Zweck heiligt die Mittel11. Immer wieder hat man Rom und der römischen Kirche Machtstreben vorgeworfen und geheime Machenschaften, Intoleranz und Unwissenheit, Böswilligkeit und Unehrlichkeit12.

Die Unkenntnis über das Wesen des Katholischen und über die katholische Glaubenslehre kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Früher begegnete sie uns mehr außerhalb der Kirche, heute auch innerhalb ihrer, und zwar in wachsendem Maß. Auf einer niederen Ebene verbinden sich mit diesem Faktum nicht selten abstruse Gräuelmärchen über das Katholische, die unkritisch weitergegeben werden, angefangen bei der Meinung, die Katholiken beteten Maria und gar den Papst an, bis hin zu der Meinung, der Katholik könne sich den Himmel mit Geld erkaufen. Adolf von Harnack stellt in diesem Zusammenhang fest: »Die Schüler, welche die Gymnasien verlassen, kennen allerlei aus der Kirchengeschichte, meistens, wie ich mich oft überzeugt habe, recht unzusammenhängend und sinnlos. Einige kennen sogar die gnostischen Systeme und allerlei krauses und für sie wertloses Detail. Aber die katholische Kirche, die größte religiös-politische Schöpfung der Geschichte, kennen sie absolut nicht und ergehen sich über sie in ganz dürftigen, vagen und oft geradezu unsinnigen Vorstellungen. Wie ihre größten Institutionen entstanden sind, was sie im Leben der Kirche bedeuten, wie leicht man sie missdeuten kann, warum sie so sicher und eindrucksvoll fungieren, alles das ist nach meinen Erfahrungen, seltene Ausnahmen abgerechnet, eine »terra incognita«13.

Es ist das Anliegen dieser Untersuchung, in diese »terra incognita« tiefer einzuführen. Das soll geschehen, ohne dass die religiösen Gefühle Andersgläubiger verletzt werden, »sine ira et studio«, ohne Polemik, nüchtern und sachlich, in Demut und Ehrfurcht, in Dankbarkeit und Freude, ohne Rechthaberei, aber in der unverbrüchlichen Liebe zur Wahrheit, die als solche immer absolut ist.

Dabei ist nicht zu übersehen, dass Toleranz, recht verstanden, nur geübt werden kann im Hinblick auf Personen, nicht im Hinblick auf die Irrtümer, die sie gegebenenfalls vertreten. Tolerieren darf man nicht den Irrtum, wohl aber muss man den irrenden Menschen tolerieren. Das gebietet nicht zuletzt auch das christliche Liebesgebot. Nicht der Irrtum hat ein Daseinsrecht, wohl aber der irrende Mensch. Erinnert sei hier an den berühmt gewordenen Imperativ des Kirchenvaters Augustinus von Hippo († 430): »Hasse den Irrtum, aber liebe den Irrenden«. In Abwandlung dieses Wortes erklärt der Philosoph Jacques Maritain († 1973): »Es kommt im Leben stets darauf an, dass man ein weiches Herz und einen harten Schädel hat«. Resigniert fügt er dann hinzu: »Leider neigen die Menschen dazu, ein hartes Herz und einen weichen Schädel zu haben«14.

 

 

3. Das Christliche und das Katholische

 

Im Unterschied zum Christlichen ist das Katholische das Konkrete. Im Katholischen wird das Christliche zur greifbaren Realität, verdichtet es sich zu einer geprägten Form. Während das Christentum, die Christlichkeit und die Christenheit »abstracta« sind, die ihre Existenz mehr in Gedanken, in Ideen oder in Programmen haben, begegnet uns das Katholische als konkrete Gestalt, wobei freilich nicht zu übersehen ist, dass hier auch der konkreten Gestalt jeweils eine Theorie zugrunde liegt15.

Von dem Kirchenvater Pacianus von Barcelona († um 392) stammt die Formel: »Christianus mihi nomen, catholicus cognomen«16. Sie besagt: Das Größere und Umfassendere ist das Christliche, das Christliche ist das, was für das Individuum der Familienname ist, während das Katholische das ist, was für das Individuum der Vorname ist. Im Vornamen wird das der Familie Zukommende individualisiert oder konkretisiert. Dabei ist zu bedenken, dass das Katholische ursprünglich noch nicht abgrenzend oder exklusiv gemeint war, dass es sich vielmehr erst später so entwickelt hat, dass es ursprünglich also lediglich im Sinne der allgemeinen Sichtbarwerdung des Christentums verstanden wurde17.

Wenn wir das Christliche definieren, verbleiben wir im Raum des Abstrakten und des Vagen oder des Formelhaften. So können wir etwa das Christliche als die Treue und Liebe Gottes beschreiben oder als das Sein für andere oder als das radikale Menschsein des Menschen oder als den allgemeinen Appell an das soziale Engagement18. Konkrete Gestalt erhält es dann in der verfassten Glaubensgemeinschaft, die entweder katholisch oder reformatorisch oder orthodox oder orientalisch ist.

Unsere Darstellung des Katholischen ist nicht nur von platonischem Interesse. Geradezu geboten erscheint sie heute durch das ökumenische Gespräch, das immer mehr in den Vordergrund rückt. Sodann ist sie deswegen dringend notwendig, weil sich heute auch innerkirchlich ein wachsender Pluralismus etabliert, wie auch immer er sich im Einzelnen versteht oder verstanden werden muss, wie auch immer er sich faktisch darstellt und egal, welche Ursachen ihm zugrunde liegen. Dabei ist zu bedenken, dass das katholische Selbstverständnis, die katholische Identität, weithin in sich fraglich geworden ist. Zudem: Allzu viele verstehen sich heute als katholische Christen, wissen aber nicht mehr, was katholisch ist, und teilweise wollen sie es auch gar nicht mehr wissen. Wenn Friedrich Heiler vor beinahe hundert Jahren geschrieben hat: »Die wenigsten Katholiken wissen, was der Katholizismus eigentlich ist, auch die katholischen Theologen wissen es zumeist nicht«19, so dürfte das heute mehr noch seine Gültigkeit haben als zu damaliger Zeit. Der evangelische Theologe Walter von Loewenich († 1992) greift diesen Gedanken auf, wenn er im Jahre 1973 schreibt: »Man weiß nicht (auf evangelischer Seite), was eigentlich evangelisch ist ... Es scheint, dass sich nun Ähnliches im heutigen Katholizismus ereignet. Die Frage ›was ist katholisch‹ kann heute auch nicht mehr eindeutig beantwortet werden«20.

 

 

4. Der Verlust der Einheitsschau

 

Ein wichtiger Rechtfertigungsgrund für unsere Beschäftigung mit der Frage nach dem »proprium catholicum« ist auch die Tatsache, dass heute die Einheit, die Ganzheitserfassung und die Einheitsschau des Katholischen mehr und mehr verloren zu gehen droht. Das ist nicht zuletzt bedingt durch den rationalistischen Positivismus, der heute in allen Bereichen wirksam ist, nicht nur in der Theologie. Der Blick ist hier auf die Einzeldinge fixiert, und die Erkenntnis von übergreifenden Zusammenhängen und bleibenden Strukturen wird dabei als wirklichkeitsfremde Metaphysik ausgegeben. Wir beobachten hier eine ähnliche Erscheinung, wie sie uns im Spätmittelalter im Nominalismus begegnet. Dieses Denken führt dazu, dass sich auch im Raum des Katholischen heute vielfach eine Beliebigkeit von Meinungen und Standpunkten durchsetzt, die das organische Ganze des Katholischen mehr und mehr verwischen. Das Katholische wird da zu einer äußeren Klammer, die völlig disparate und inkompatible Aussagen, widersprüchliche und heterogene Elemente miteinander verbindet. Das ist besonders verhängnisvoll angesichts der Tatsache, dass das Ganzheitsdenken wesenhaft zum Katholischen dazugehört, schon von seinem Ursprung her. Heißt doch katholisch soviel wie »umfassend«, nach außen wie auch nach innen hin. Wenn die Kirche Christi sich von Anfang an als katholisch verstanden hat, so wollte sie damit auch den Gedanken zum Ausdruck bringen, dass in ihr die ganze Heilswahrheit und die ganze Heilswirklichkeit einen Ort gefunden hat, so schwierig die Realisierung dieses Anspruchs im Einzelnen auch gewesen sein mag.

Es ist nicht leicht, »das gottgewirkte Ganze mit den begrenzten Mitteln menschlichen Denkens« zu erfassen und darzustellen. Das ist sicher. Dennoch ist das eine Aufgabe, die in der Kirche immer neu in Angriff genommen werden muss, damit das Katholische nicht zu einem »gestaltlosen Konglomerat« wird21.

 

 

5. Der Anspruch der Wahrheit

 

Ein Weiteres ist hier zu bedenken. Die Darstellung der Ganzheit einer Weltanschauung, einer Philosophie oder einer Religion dient auch seiner Rechtfertigung vor dem Anspruch der Wahrheit. Die Wahrheit muss sich nämlich immer als Einheit und Ganzheit darstellen, wenn sie ihren Anspruch, ihren Wahrheitsanspruch, nicht verlieren will. Eine Wahrheit, die darauf verzichtet, ihre Ganzheit aufzuweisen, wird zu einer Teil- und Halbwahrheit. Eine solche aber ist eine gefährliche Spielart der Unwahrheit22.

Notwendig ist die Darstellung des Katholischen und seines inneren Prinzips aber auch deshalb, weil der Anspruch des Katholischen als des Allumfassenden durch die große abendländische Kirchenspaltung grundsätzlich in Frage gestellt worden ist. Von den getrennten Gemeinschaften wurde das Katholische seither zu einem konfessionell begrenzten Anspruch herabgestuft, die nun ihrerseits das andersartige Verständnis dieses Attributes durch die katholische Kirche als anmaßend empfanden. Dabei bedenkt man freilich nicht, dass der Anspruch des Katholischen als des Allumfassenden von Anfang an durch die Großkirche erhoben worden ist gegenüber Spaltungen, Sekten und Häresien bzw. gegenüber jenen Gemeinschaften, die sich von der Großkirche trennten, was ja seit eh und je der Fall gewesen ist. Bereits Klemens von Alexandrien († um 215) verwendete das Attribut »katholisch« zur Kennzeichnung der wahren Kirche im Gegensatz zu den vielen Sekten23.

Leo Scheffczyk († 2005) schreibt: »Eine ›Katholizität‹, welche ihr einigendes Prinzip nicht zu benennen vermag, ist vor dem Vorwurf nicht gefeit, doch nur ein Konglomerat oder ein Gemenge von Einzelheiten darzustellen, dem man aber ebenso beliebig auch Zusätze beigeben kann, ohne eine innere Hinzugehörigkeit oder eine Unverträglichkeit mit dem ›Kern‹ feststellen zu können, weil das Wissen um diesen Kern entschwunden bzw. nicht mehr gefragt ist«24.

In der Tat muss feststellt werden: »Viele Erscheinungen in Lehre und Leben des heutigen Katholizismus entsprechen dem hier entworfenen Bilde«, das heißt: Sie sind nicht mehr und nicht weniger als ein Konglomerat oder ein Gemenge von Einzelheiten25. Man experimentiert mit dem Glauben, indem man ihn verkürzt oder ihm etwas hinzufügt, ohne die Frage nach dem verbindlichen Maßstab solcher Operationen zu stellen. Die Folge ist die, dass das Katholische mehr und mehr seine Identität verliert.

Die klassische Symbolik26 hat aber bereits gezeigt: Mit der Bestimmung des Einigenden und des Eigentümlichen ist auch die Notwendigkeit der Abgrenzung gegenüber dem Anderen gegeben. Deshalb wird man sich unter Umständen den Vorwurf machen lassen müssen, dass man durch die Suche nach der katholischen Identität das ökumenische Anliegen gefährdet. Eine solche Meinung setzt freilich ein bestimmtes Verständnis von Ökumene voraus, ein Verständnis, das im Grunde nicht legitim ist, wenngleich es sich heute weithin durchgesetzt hat27.

 

6. Das Wesen des Katholischen

 

Man kann den Katholizismus rein religionsgeschichtlich beschreiben. Damit erreicht man aber nicht sein Wesen. Man bleibt dabei nur an der Oberfläche. Eine bloße Beschreibung ist noch keine erschöpfende Erklärung: Wenn man alle Baustoffe etwa einer lebendigen Zelle vorstellt, so hat man damit noch nicht das Leben dieses Gebildes erklärt.

Eine Wesensbeschreibung des Katholizismus setzt den Glauben voraus. Sie kann nur von innen her erfolgen. Die volle und ganze Wirklichkeit des Katholischen kann nur der erfassen, der selber in den katholischen Lebensstrom eingetaucht ist. Alles Lebendige kann man, wenn überhaupt, nur von innen her erkennen. Das Wesen eines Menschen kann man nicht in seiner Tiefe erfassen, es sei denn aus der liebenden Verbundenheit mit ihm und in der Anerkennung seines Wertes.

Deshalb wird die Frage nach dem Wesen des Katholischen bzw. der katholischen Kirche notwendig zu einem Bekenntnis, zu einem Ausdruck des katholischen Bewusstseins, zu einer Analyse eben dieses Bewusstseins, zu einer Antwort auf die Frage: Wie erlebt der Katholik seine Kirche, wie wirkt sie auf ihn?

In dem von Gustav Mensching († 1978) herausgegebenen Werk »Der Katholizismus«, einer anonymen Arbeit von katholischen Theologen und Laien, heißt es: »Der Katholizismus ist ein so kompliziertes Gebilde und besitzt zugleich eine solche Tiefendimension, dass nur der ihn wirklich kennt, der zu ihm gehört und in ihm aufgewachsen ist«28.

Wir müssen unterscheiden zwischen dem Katholizismus als Idee und seiner Erscheinung. Dass hier keine volle Kongruenz besteht, ist nicht verwunderlich. Das gehört zur Unvollkommenheit dieses unseres Äons. Die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit begegnet uns immer wieder bei Personen und Institutionen, oft als schmerzliche Enttäuschung. Alles Weltimmanente ist eben unvollkommen und unfertig. An dieser Unvollkommenheit und Unfertigkeit partizipiert auch die Kirche, sofern sie aus Göttlichem und Menschlichem, wie das II. Vatikanische Konzil feststellt, zusammenwächst29. Eine vollkommene Kirche hat es nie gegeben, auch nicht am Anfang. Auch in der Kirche des Anfangs gab es neben viel Licht auch manche Dunkelheit.

Von daher hat sich die Kirche stets als »Ecclesia semper renovanda« verstanden. Zuletzt hat das II. Vatikanische Konzil diesen Gesichtspunkt nachdrücklich hervorgehoben. Die ständige Reform ist ein Wesensmoment der Kirche. Besonders notwendig war die Reform der Kirche in jenen Zeiten, in denen sie dieses Wesensmoment aus dem Auge verlor.

Die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit ist in der Geschichte stets eine Belastung gewesen für die Kirche. Immer wieder hat sie ihre innere Glaubwürdigkeit nach außen, aber auch nach innen hin in Frage gestellt.

Wenn wir hier nach der Eigenart des Katholischen fragen, so geht es uns nicht nur um das, was das Katholische von den anderen christlichen Bekenntnisformen unterscheidet, um das »proprium catholicum« als solches, sondern darüber hinaus um die beherrschende Grundidee des Katholischen und um die Kräfte, die von daher ihren Ausgang nehmen. Es geht uns also auch um den einheitlichen Grundgedanken der hinter den verschiedenen Elementen, hinter den zuweilen verwirrenden Bestandteilen des Katholischen sichtbar und wirksam wird30.

Wir gehen dabei aus von der Erkenntnis, dass sich das katholische Christentum formal wie auch material von den anderen Realisierungen des Christlichen unterscheidet durch sein grundlegendes Verständnis des Christentums und – daraus resultierend – durch eine Reihe von spezifischen Inhalten. Um beides geht es uns hier, um den Geist und den Charakter des katholischen Christentums, um seine wesentlichen Strukturen, einerseits und andererseits um die spezifischen Lehren dieser Form des Christentums.

Wir werden uns demnach Gedanken machen über die Prinzipien und die spezifischen Überzeugungen des katholischen Christentums, wodurch es sich von den anderen Christentümern unterscheidet. Dabei stehen im Vordergrund jene Formen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, denn die Reformation stellt den eigentlichen Bruch in der Geschichte des Christentums dar. Ihr gegenüber sind das morgenländische Schisma und die vielen kleineren Gruppierungen, die immer wieder im Laufe der Geschichte entstanden sind, eigentlich unbedeutend. Einerseits beschäftigen uns hier die Formelemente des Katholischen, andererseits die wesentlichen Inhalte, die spezifischen Überzeugungen des Katholischen.

Im Einzelnen geht es hier um das katholische »und«, das dem evangelischen »allein« gegenübersteht, und um die vier Wesensmerkmale des Katholischen, wie sie im Nicaeno-Constantinopolitanum ihre bleibende Gestalt gefunden haben, ferner um die positive Wertung der »ratio« und der Willensfreiheit und um das Verhältnis von Philosophie und Theologie im katholischen Denken, um die sakramentale oder inkarnatorische Struktur des Katholischen und um das Verhältnis von Schrift und Tradition im katholischen Denken. Endlich soll hier noch ein Blick auf die entscheidenden Inhalte des Katholischen geworfen werden, in denen sich die wesentlichen Formelemente des Katholischen konkretisieren. Da geht es dann um das Christentum als Lehre, um den Gottesdient und die Liturgie, speziell die eucharistische Liturgie, um das Bußsakrament und den Ablass, um die Heiligenverehrung und den Marienkult, um das Mönchtum und die Askese und um die Eschatologie und die Jenseitsorientierung.

 

 

7. Das Katholische als Synkretismus

 

Man hat die katholische Glaubenslehre in ihrer Gesamtheit, namentlich in protestantischen Kreisen, als eine »complexio oppositorum« bezeichnet, als eine Vermengung fremder, ja, gegensätzlicher Elemente31. Das hat man oft kritisch eingewendet gegen die katholische Kirche. Dieser Vorwurf steht auch heute noch im Raum. Friedrich Heiler erklärt, die katholische Glaubenslehre sei die Zusammenfügung einer Fülle von kontradiktorischen, also von miteinander nicht vereinbaren Elementen, sie sei somit ein gigantischer Synkretismus. In ihr würden evangelische und unevangelische, jüdische, heidnische und primitive Auffassungen zusammengefügt, in ihr seien alle religiösen Formen miteinander vereinigt worden, in denen jemals suchende Menschen ihre religiöse Sehnsucht und ihre religiöse Hoffnung niedergelegt hätten. Von daher spricht Friedrich Heiler von dem »Riesenphänomen des Katholizismus«32. Diesen Gedanken greift Adolf von Harnack auf, wenn er die katholische Glaubenslehre als einen »Mikrokosmos der Welt der Religion« bezeichnet33. Heiler versteht den »gigantischen Synkretismus« des Katholischen nicht als »ein bloßes Gefüge von Dogmen und Kirchengesetzen, Kultformen und frommen Übungen«, sondern als einen lebendigen Organismus, »in dessen Innerem die zartesten und feinsten religiösen Regungen sich abspielen«34. Im Einzelnen bestimmt er ihn durch die folgenden Gegensatzpaare: Universalismus und Einheit, Kontinuität und Fortschritt, Toleranz und Exklusivität, Gemeinschaftsgebundenheit und Personalismus, Supranaturalismus und Inkarnationalismus oder Transzendenz und Immanenz35. Dabei ist er der Meinung, dass diese Antagonismen implizit enthalten sind in dem paulinischen Terminus vom Leib Christi einerseits und in der in den Evangelien dominanten Idee vom Reich Gottes andererseits. Von daher verdeutlicht er das Wesen des Katholizismus durch die beiden urchristlichen Formeln »Gottesreich auf Erden« und »mystischer Leib Christi«36, rechtfertigt damit allerdings in gewisser Weise den »gigantischen Synkretismus« des Katholischen, den er jedoch im Ganzen negativ beurteilt und nicht für schriftgemäß hält.

Mit dem Synkretismus wird im Grunde die Totalität des Katholischen zurückgewiesen. Bei ihr geht es jedoch in Wirklichkeit um die Realisierung des paulinischen Imperativs »pánta dè dokimázete, tò kalòn katéchete«, »prüfet alles, das Gute aber behaltet« (1 Thess 5, 21), und die angeblich kontradiktorischen Gegensätze erweisen sich im Einzelnen als konträre oder komplementäre Gegensätze. Es ist nicht zuletzt auch ein Anliegen dieser Darstellung, durch die Gesamtschau des Katholischen den Vorwurf der »complexio oppositorum« zu entkräften.

 

8. Die Ganzheit des Katholischen

 

In der Geschichte der katholischen Theologie hat man sich stets um den Erweis der Ganzheit der theologischen Erkenntnisse und Einsichten bemüht, besonders im 19. Jahrhundert. Unter diesem Aspekt entstand damals die sogenannte theologische Enzyklopädik als eine eigene Disziplin innerhalb der Theologie. In dem Begriff Enzyklopädik steckt der Begriff kreisförmig, wodurch bereits angedeutet wird, dass es sich hier um eine Zusammenfassung und Ganzheitsschau des theologischen Wissens handelt. Die Enzyklopädik hat eine besondere Heimat gefunden in der katholischen Tübinger Schule des 19. Jahrhunderts. So vor allem bei den Theologen Johann Sebastian von Drey († 1853) und Franz Anton Staudenmaier († 1856). Johann Sebastian von Drey schrieb in den Jahren 1812 und 1813 die Abhandlung »Ideen zur Geschichte des katholischen Dogmensystems oder Vom Geist und Wesen des Katholizismus«, die allerdings erst im Jahre 1940 gedruckt wurde37. Franz Anton Staudenmaier schrieb eine »Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften«38 und eine Abhandlung mit dem Titel »Das Wesen der katholischen Kirche«39. In dem Werk »Das Wesen der katholischen Kirche« erklärt er, gewissermaßen als Höhepunkt und Essenz seiner Überlegungen: »Katholische Kirche und Christentum ... sind und wollen nur eines, das höhere Leben der Menschheit, und zwar sowohl durch Mitteilung der göttlichen Wahrheit als auch durch Zurückführung des (Menschen-) Geschlechtes in die ursprüngliche Heiligkeit und Gerechtigkeit«40.

Wird die Frage nach der Ganzheit des Katholischen im 19. Jahrhundert stärker theoretisch-wissensmäßig angegangen, so drängt sie sich uns heute eher religiös-existentiell auf. Nachdrücklich hat man unter diesem Aspekt das Ganzheitliche am Katholizismus in der jüngsten Vergangenheit und auch in der Gegenwart in Frage gestellt, wiederum freilich mit dem Hinweis darauf, dass es sich hier lediglich um ein synkretistisches System handle. Stellvertretend für viele steht hier der evangelische Theologe Rudolf Bultmann († 1976), der allerdings nicht nur das katholische Christentum unter dieses Verdikt gestellt hat, sondern das Christentum in seiner Gesamtheit. Er erklärt: »Das Urchristentum ist ein komplexes Phänomen, dessen Ursprung im Schoße der spätjüdischen Religion liegt, dessen Wachstum und Gestalt alsbald befruchtet und bestimmt worden sind durch die geistigen Kräfte des heidnischen Hellenismus ... aber auch durch das Einströmen der vorderasiatischen Religionen bewegt und bereichert wurden«41. Die Konsequenz, die sich daraus für Bultmann ergibt, ist die, dass er nach dem sucht, was ihm innerhalb des Christentums als originell erscheint. Das sind dann für ihn jene Elemente, in denen sich das moderne Existenzverständnis ausdrückt. Solche Gedanken führen heute viele zu einer »partiellen Identifikation« mit dem Christentum oder auch mit dem katholischen Christentum, auch im Hinblick auf wesentliche Elemente.

Ähnlich wie Bultmann das Christliche oder das Christentum von seiner Entstehung her als ein »mixtum compositum« charakterisiert, führt der protestantische Theologe Paul Althaus († 1966) das Katholische auf drei Wurzeln zurück, nämlich auf den Judaismus, den Paganismus und den Romanismus42. Er sieht darin dann jedoch illegitime Wurzeln des Christentums, übersieht dabei aber, dass in diesen Strömungen durchaus positive Elemente enthalten sind, die das Christentum assimilieren konnte und tatsächlich assimiliert hat.

 

 

9. Das Katholische, von außen her betrachtet

 

In solcher Beurteilung wird der Katholizismus nicht mehr aus der Sicht des Theologen beurteilt, sondern aus der Sicht des Religionswissenschaftlers. Der Religionswissenschaftler beurteilt die Religion von außen her. Aber was sich dem Außenstehenden als ein Konglomerat der verschiedenartigsten religiösen Elemente, als »religionsgeschichtliches Mischprodukt ohne eigentliche Originalität«43 darbietet, muss das nicht auch sein, wenn man es von innen her betrachtet. Tatsächlich ist es so, dass der Schein oftmals trügt. Das gilt auch hier. Im Grunde ist der Vorwurf des Synkretismus gegenüber dem Katholischen die negative Version des Vorzugs der katholischen Weite, der inneren Universalität des Katholischen. Verständlich ist er, dieser Vorwurf, wenn man das Phänomen des Katholischen von außen her betrachtet, wenn man es aus der Sicht des Religionswissenschaftlers betrachtet.

Was man hier nicht berücksichtigt, das ist die Tatsache, dass Gott auch natürliche Faktoren in seine Offen­barung einbeziehen kann und dass natürliche Wahrheiten der Offenbarung assimiliert werden können, dass die Assimilations­kraft der Kirche von daher geradezu ein Ausdruck ihrer göttlichen Stiftung bzw. ihres geistgewirkten Ursprungs sein kann. Warum auch sollte Gott nicht natürliche Faktoren in seine Offenbarung einbeziehen?

Um diesen Gedanken noch ein wenig weiterzuführen: Friedrich Heiler wertet das Katholische in seiner Gesamtheit zwar positiver, als Bultmann und Althaus es tun, hält aber fest an der Behauptung der »complexio oppositorum«. Er rühmt den Katholizismus zwar als ein »monumentales Gebilde von vollendeter Einheitlichkeit«, bezeichnet ihn aber gleichzeitig als ein »kompliziertes Gefüge verschiedener Religionsformen und Religionsstufen«44.

Nach Heiler setzt sich die katholische Glaubens- und Lebenswelt aus sieben Grundelementen zusammen, »aus der primitiven Religion, aus dem Gesetzesdienst und der Werkgerechtigkeit, aus der juridisch-politischen Kircheninstitution, aus der rationalen Theologie, aus der Mysterienauffassung im Kult, aus dem asketisch-mystischen Vollkommenheitsstreben in der Moral und zuletzt auch aus einem Element evangelischer Religiosität mitten im gänzlich Anderen des Katholischen«45. Er glaubt demnach, im Katholizismus sieben bedeutende heterogene Elemente des, wie er es nennt, »katholischen Konglomerats« namhaft machen zu können, wenn er ihn charakterisiert als primitive Volksreligion (1), als starke Gesetzesreligion (2), als politische Rechtsreligion (3), als rationale Theologenreligion (4), als esoterische Mysterienreligion (5), als evangelische Heilsreligion (6) und endlich als sublime Mystik (7)46. Dabei konzediert er freilich, dass diese typisierende Gliederung nur »ein künstliches Hilfsmittel ist, das dazu dient, die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens zu überblicken«47. Das einigende Moment, das diese gegensätzlichen Elemente, diese »complexio oppositorum« zusammenhält, ist für Heiler in der äußeren Macht der Hierarchie, des Dogmas und der einheitlichen Liturgie zu sehen. Das Einheitsprinzip ist für ihn also ein äußeres Moment der Macht.

Dazu ist zu sagen: Zum einen entspricht das nicht dem Selbstverständnis des Katholischen, zum anderen ist es gar nicht denkbar, dass eine geistige Einheit durch äußere Macht hinreichend erklärt werden kann, zumal nicht Jahrhunderte hindurch bzw. zwei Jahrtausende hindurch. Zum anderen lässt sich im Einzelnen, wenn man genauer hinschaut, zeigen, dass die Gegensätze, die zugegebenermaßen vorhanden sind in der Kirche und in ihrer Lehre, nicht kontradiktorischer, sondern konträrer Natur sind, dass sie komplementär sind. Dadurch entsteht eine gewisse Spannung. Aber gerade sie erklärt die besondere Vitalität der katholischen Kirche und ihrer Lehre48.

 

 

10. Die Tendenz zum Inklusiven und zur Assimilation

 

Der Katholizismus verbindet zwar Gegensätze miteinander, das ist nicht zu bestreiten, aber bei diesen handelt es sich, wie gesagt, nicht um unvereinbare Gegensätze, also um kontradiktorische, sondern um konträre Gegensätze. Konträre Gegensätze begegnen uns überall im organischen Bereich, in der Sphäre des Natürlichen, sie begegnen uns überall da, wo Lebendiges ist. Durch sie entsteht zwar eine gewisse Spannung, aber gerade in der immer neuen Überwindung dieser Gegensätze, die als komplementäre Gegensätze verstanden werden müssen, entfaltet sich in der Welt des Lebendigen das Wachstum in der Gestalt der immer neuen Assimilation fremder Stoffe49. Warum sollte Gott nicht auch natürliche Faktoren in seine Offenbarung einbeziehen? De facto tut er es auch immer wieder. Uns begegnet darin die Assimilationskraft der Kirche, in der wir einen Ausdruck der göttlichen Stiftung der Kirche oder ihres geistgewirkten Ursprungs erkennen dürfen.

Faktisch ist es so, dass sich der Katholizismus im Wesentlichen als Bejahung versteht, als Bejahung aller Werte, wo immer sie sich finden. Letztlich ist das bedingt durch das Prinzip der inneren Katholizität. In ihm geht es um die Tendenz zum Inklusiven und zur Assimilation. Das katholische Denken ist zutiefst bestimmt durch die Lehre von den Wahrheitskeimen (»rationes seminales«) in den verschiedenen geistigen Systemen. In ihr entfaltet es eine starke assimilative Kraft.

Seit den Urtagen der Kirche verdanken die Abspaltungen von der Kirche ihre Existenz der Negation, der Negation oder einer partiellen Leugnung von Wahrheiten, einer subjektiven Auswahl aus dem Ganzen. Solche Gedanken haben die Kirchenväter immer wieder thematisiert. Stets konstituierten sich die Gemeinschaften, die sich von der Kirche trennten, durch eine partikuläre Leugnung und Verneinung, durch eine subjektive Auswahl. Mit Nachdruck heben die Kirchenväter die Negation als das einheitliche, als das verbindende Prinzip der Abspaltungen hervor, wie verschieden sie sich auch sonst im Einzelnen darstellen. So sagt Tertullian († ca. 220) in seinem Werk »De praescriptione haereticorum« von den Häretikern: »... lehren sie auch untereinander verschieden, so sind sie sich doch einig in der Bekämpfung der einen Wahrheit«50. Ähnlich sagt Augustinus († 430) in einer seiner Predigten: »Untereinander sind sie sich uneinig, einig sind sie sich aber in ihrer Position gegenüber der Einheit«51.

Darauf nimmt auch der Terminus »Häresie« Bezug. In ihm ist nämlich das griechische Verbum für »herausnehmen«, »auswählen« oder »vorziehen«, das Verbum »hairéo« oder »hairéomai« enthalten. »hairéo« bedeutet »nehmen«, »ergreifen«, »hairéomai« »herausnehmen«, »auswählen«, »vorziehen«.

Das katholische Christentum steht für die ganze Wahrheit und für alles Wahre, egal, in welcher Religion es sich findet. Von daher versteht es sich als die positive Religion schlechthin.

Die Geschichte der Kirche erweist sich, wie Karl Adam († 1966) in seiner Monographie über das Wesen des Katholizismus feststellt, als »die Geschichte des rücksichtslosen, folgestrengen, umfassenden Jasagens zur ganzen vollen Wirklichkeit der Offenbarung, zur Fülle des in Christus aufgebrochenen Gottesgeistes nach allen Weiten Seiner Entfaltung. Er ist das rücksichtslose, unbedingte, umfassende Ja zum ganzen vollen Leben des Menschen, zur Gesamtheit seiner Lebensbeziehungen und Lebenswurzeln. Das unbedingte Ja also vor allem zu unserem tiefsten Seinsgrund, zum lebendigen Gott«52. Der Katholizismus ist, um Karl Adam noch einmal zu zitieren, »ursprüngliche Bejahung ohne Abstrich und im Vollsinn, ursprüngliche These«53. Demgegenüber sind alle nichtkatholischen Bekenntnisse im Grunde »ursprünglich Antithese, ursprünglich Kampf, Widerspruch, ursprüngliches Nein«54.

Die grundsätzliche Positivität des katholischen Denkens ist die eigentliche Quelle der Fruchtbarkeit der Kirche. Die Negation ist naturgemäß immer unfruchtbar, das Nein ist von seinem Wesen her stets unproduktiv. Ihm fehlt das Schöpferische, das Ursprüngliche. Das gilt für alle nichtkatholischen Denominationen. Zumindest entfalten sie nicht jene Fruchtbarkeit, wie sie die katholische Kirche entfaltet. Es ist die Positivität des Katholischen, die in der Vergangenheit viele Konvertiten hervorgebracht hat. Auch heute noch ist sie nicht selten wirksam bei Konversionen55.

 

 

11. Warenhaus-Katholizismus, subjektivistische Verfremdung des Katholischen

 

Wenn wir hier nach dem »specificum catholicum« fragen, geht es uns um die Identität des Katholischen, die heute mannigfachen Belastungen ausgesetzt ist und mehr denn je auch gar grundsätzlich in Frage gestellt wird. Faktisch wird das Gesicht des Katholizismus in der Gegenwart mehr und mehr durch einen wachsenden Subjektivismus bestimmt, der dazu führt, dass der Einzelne sich im Hinblick auf seinen Glauben wie in einem Warenhaus nach seinem persönlichen Geschmack bedient und sich so mit der Kirche und ihrer Glaubenslehre nur noch »teilidentifiziert«. Das führt zu einem Synkretismus, der nicht selten Elemente weltanschaulicher oder religiöser Art zusammenbringt, die nicht mehr miteinander kompatibel sind, der gedankenlos kontradiktorische Gegensätze nebeneinander stellt.

Der gleiche Subjektivismus bestimmt in der Gegenwart weithin auch die Glaubensverkündigung, in der Pastoral wie auch in der Mission. Da ist dann immer wieder die Rede von den Glaubenserfahrungen, die man gemacht haben will und von denen man erzählt, um die anderen daran teilhaben zu lassen. Der Missionar verkündet dann nicht mehr Christus als den Kýrios oder den Heiland der Welt, sondern er legt Zeugnis darüber ab, wie Jesus ihn geheilt hat. So brachte es unlängst der ehemalige Obere einer Missionsgesellschaft in einer Rundfunksendung zum Ausdruck56. Der Missionar erzählt dann »nicht länger die Geschichte von Gott«, sondern er erzählt, wie diese Geschichte unwiderruflich mit seiner eigenen Geschichte »verwoben ist«57.

Zu solchem Subjektivismus tendiert auch die Rede von der Weitergabe des Glaubens, die heute oft an die Stelle der Evangelisierung oder der Mission getreten ist. Da wird nicht mehr die »Frohe Botschaft« von der Gottesherrschaft entsprechend dem großen Missionsbefehl des Auferstandenen (Mt 28, 18 – 20) heroldhaft, das heißt verbindlich, verkündet, sondern unverbindlich über sie gesprochen58. De facto hat man sich da von der Wahrheit und ihrem ehernen Anspruch verabschiedet und sich auf das »was macht das mit mir« zurückgezogen59.

 

 

12. Selbstdarstellungen des Katholizismus

 

Der Katholizismus zeigt heute eine gewisse Angst vor dem Anderssein. Das wird jedoch vielmals theologisch verbrämt. Verständlich ist diese Angst auf dem Hintergrund einer uniformistischen und kollektivistischen Welt, die zwar immer neu den Pluralismus beschwört, ihn im Grunde jedoch gar nicht kennt und auch gar nicht will, die den Anspruch erhebt, tolerant zu sein, in Wirklichkeit jedoch äußerst totalitär ist in ihrem Denken und auch in ihrer Praxis.

Immerhin sind Selbstdarstellungen des Katholizismus, wie wir sie noch bei Karl Adam in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und bei Bernhard Poschmann († 1955) in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts finden, heute selten geworden60. Stattdessen gibt es in der Gegenwart eine Reihe von Büchern, die bemüht sind, das Katholische als christlich zu erweisen61. Die Legitimität solcher Versuche soll nicht in Frage gestellt werden, dennoch ist es bezeichnend, dass man den Blick lieber zunächst auf das Christentum als auf das Katholische richtet62. Diese Tendenz erhält ihre Bestätigung durch die Tatsache, dass es in der Gegenwart sowohl auf evangelischer wie auf katholischer Seite nicht wenige Bücher gibt, die dem Wesen des Christentums im weitesten Sinn gewidmet sind63.

Drei Bücher seien hier genannt, die sich in neuerer Zeit allgemein mit der Eigenart des Katholischen befassen: Bernhard Scherer, Katholische Fülle, Würzburg 1972, Heinrich Schlier, Ein Versuch über das Prinzip des Katholischen, Münster 1970, und Leo Scheffczyk, Katholische Glaubenswelt. Wahrheit und Gestalt, Aschaffenburg 1977. Die zwei ersteren Werke gehen ihren Gegenstand weniger grundsätzlich an. Sie sind nicht bestrebt, das Ganze der katholischen Lebenswelt verstehbar zu machen und zum Kern vorzustoßen, wie das bei dem Letzteren der Fall ist64. Das Werk von Leo Scheffczyk versucht, sehr tiefgründig, das Ganze der katholischen Glaubenswelt verstehbar zu machen und den Kern des katholischen Denkens freizulegen. In gewisser Weise kann man in diesem Zusammenhang auch auf den »Katholischen Erwachsenenkatechismus«65 hinweisen und auf den Weltkatechismus66.

Wenn heute Bücher, die sich mit dem »specificum catholicum« beschäftigen, seltener geworden sind, so hat das nicht zuletzt auch darin seinen Grund, dass man das spezifisch Katholische in der Gegenwart weithin als unwesentlich ansieht und als peripher und dass viele der Meinung sind, die Hervorhebung des spezifisch Katholischen schade der Einheit des Christentums und unterlaufe die Ökumene. Demgemäß stellt man in dem Bemühen um die Ökumene immer wieder fest, das, was uns eine, sei unendlich mehr als das, was uns trenne, und unterstellt damit, dass das Trennende unwesentlich ist, was jedoch in Wirklichkeit eben nicht zutrifft, wenn man das katholische Selbstverständnis zugrunde legt.

Wenn man heute das »specificum catholicum« vernachlässigt, wenn nicht gar verachtet, so hat das schließlich auch darin seinen Grund, dass der Terminus »katholisch« gegenwärtig einen schlechten Klang hat und bei vielen negative Assoziationen weckt. Das führt auch dazu, dass selbst die Theologie das Epitheton »katholisch« nach Möglichkeit meidet. Statt von katholischer Theologie spricht man heute im Allgemeinen von christlicher Theologie, statt von der katholischen Kirche spricht man heute lieber von der christlichen Kirche. Dabei übersieht man, dass sich die katholische Theologie in ihrem überkommenen Selbstverständnis von der christlichen Theologie unterscheidet: Während der Gegenstand der christlichen Theologie die Heilige Schrift ist, ist der Gegenstand der katholischen Theologie der Glaube der Kirche, der mehr ist als die Schrift, zumindest in formaler Hinsicht. Und von einer christlichen Kirche zu sprechen ist nicht angemessen, da im überkommenen Verständnis die Kirche eine Konkretion des Christlichen darstellt, weshalb man bestenfalls nur die verschiedenen christlichen Konfessionen als Kirchen bezeichnen kann.

Sofern man das Katholische heute partiell darstellt in der Literatur, solche Darstellungen gibt es noch häufiger, stellt man es fast ausschließlich negativ dar. Das geschieht dann unter einem Zwang »zur Anpassung und zur Selbstkritik, die manchmal schon einer Selbstverachtung nahekommt67. Als Beispiel für Schriften dieser Art sei hier das Werk von Horst Herrmann genannt: »Die sieben Todsünden der Kirche«68. Horst Herrmann war ursprünglich Professor für Kirchenrecht in Münster in Westfalen, ist dann jedoch schon bald aus der Kirche ausgetreten, seither ist er ein rühriges Mitglied der Humanistischen Union.

Darlegungen über das »proprium catholicum« sind jedoch nach wie vor notwendig und aktuell, denn die Kirche schuldet es der Welt, sich in ihrer inneren Konsistenz und Sinnhaftigkeit wie in ihrer äußeren Durchsichtigkeit und Transparenz zu präsentieren, auch wenn sie damit nicht immer gefällig wirken kann. Das gilt besonders angesichts der fundamentalen Glaubenskrise und angesichts der wachsenden Negation alles Religiösen in unserer säkularen Welt. Die Kirche ist es aber auch sich selber schuldig, dass sie ihre Identität und ihre spezifische Eigenart thematisiert und sich bei aller Bejahung des Wahren und Guten in den verschiedenen christlichen Denominationen diesen gegenüber auch abgrenzt. Tut sie es nicht, kann sie nicht ernst genommen werden. Gerade darin, in dem »Ernstgenommenwerdenwollen«, bekundet sich heute eine Sorge, deren Berechtigung immer mehr hervortritt. In diesem Kontext muss gezeigt werden, dass die Kirche primär ein religiöses Anliegen hat, dass ihre übernatürliche Komponente das entscheidende Element ihres Glaubens und ihres Wirkens ist. Mit Recht stellt der US-amerikanische Soziologe Peter L. Berger (* 1929) einmal fest, eine Verlagerung des christlichen Interesses in den sozialen Prozess hinein könne nur die Selbstpreisgabe der Kirche befördern69, ja, sie würde ihre Selbstpreisgabe bedeuten, und zwar naturnotwendig70.

Die Zurückhaltung gegenüber dem Katholischen oder gegenüber dem Konfessionellen, wie wir sie im katholischen Raum heute beobachten, ist bei den Protestanten, im Bereich der evangelischen Theologie, unbekannt. Hier gibt es eine große Zahl von Selbstdarstellungen des eigenen konfessionellen Standpunktes. So ist etwa zu erinnern an das Werk von Werner Elert »Zur Morphologie des Luthertums«, ein Werk, in dem mit allen Mitteln des modernen philosophischen, soziologischen und theologischen Denkens versucht wird, eine Strukturanalyse und Synthese des Luthertums vorzulegen, die weit über die Symboliken des 19. Jahrhunderts wie auch über die mehr oder weniger generalisierende Konfessionskunde des 20. Jahrhunderts hinausgeht71. Andere bedeutende Werke ähnlicher Art sind die Werke: Emmanuel Hirsch, Das Wesen des reformatorischen Christentums72, Heinrich Bornkamm, Das bleibende Recht der Reformation, Grundregeln und Grundfragen des evangelischen Glaubens73, Walter Künneth, Fundamente des Glaubens74, Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Hrsg. von Werner Jentsch, Hartmut Jetter, Manfred Kießig, Horst Reller75. Diese Werke sind im Kontext unserer Fragestellung nicht uninteressant, ganz im Gegenteil. Zum einen sind sie im Kontext unserer Fragestellung interessant aus ökumenischen Gründen, zum anderen aus Gründen der Selbstvergewisserung des eigenen Glaubensstandpunktes. Anhand solcher Darstellungen kann man nämlich auch eine Selbstprüfung vornehmen. Zudem kann man diese Werke auch zum Prüfstein nehmen, um festzustellen, »ob man ihnen auf intellektueller Ebene wirklich etwas entgegenzusetzen hat und ob man noch aus voller intellektueller Redlichkeit katholisch ist«76.

Auf katholischer Seite ist die Zurückhaltung gegenüber dem Konfessionellen auf jeden Fall größer als auf protestantischer Seite. Aber auch sonst zieht man es heute im katholischen Raum vor, über das Christliche anstatt über das Katholische zu reden oder zu schreiben. Man meidet das Attribut »katholisch« oder, wenn man es verwendet, verwendet man es in einem polemischen Kontext. Im soziologischen Kontext weckt es bei vielen Assoziationen von Rückständigkeit, mangelnder Liberalität, Kleinlichkeit und Engstirnigkeit.

 

 

13. Das »proprium catholicum« und das ökumenische Gespräch

 

Wenn wir uns hier mit der Verwirklichung des Christentums in der katholischen Kirche, mit der katholischen Glaubenswirklichkeit, mit dem eigentümlich Katholischen, beschäftigen, beschreiben wir damit zugleich die Andersartigkeit des katholischen Christentums gegenüber den anderen christlichen Konfessionen und gegenüber den Weltanschauungen und Religionen. Hier begegnet man heute jedoch des Öfteren der Meinung, dass die Unterschiede zwischen den Konfessionen in Glaube und Kult nebensächlich und unerheblich seien. Diese Auffassung geht aus einem Indifferentismus hervor, der sich aus der Unkenntnis des Katholischen herleitet und letztlich seine Ursache in einer schlechten oder falschen Philosophie oder in der Resignation gegenüber der Wahrheitserkenntnis des Menschen hat.

 

Das »proprium catholicum« ist von großer Bedeutung gerade auch für das ökumenische Gespräch, wenn es ehrlich und redlich und in Verantwortung vor der Wahrheit geführt wird oder werden soll. Bereits Johann Adam Möhler († 1838), der Begründer der Symbolik im 19. Jahrhundert, wehrte sich gegen eine Vermischung der Bekenntnisse und gegen eine Verwischung der Unterschiede. Er schreibt in seiner Symbolik: »Die Ansicht, es seien keine erheblichen und ins Herz des Christentums eingreifende Unterscheidungen vorhanden, kann nur zur gegenseitigen Verachtung führen; denn Gegner, denen das Bewusstsein einwohnt, dass sie keine ausreichenden Gründe haben, sich zu widersprechen und es dennoch tun, müssen sich verachten«. Möhler betont, in diesem Fall halte man »eine künstlich gereizte Stimmung gegen die entgegenstehende Konfession für einen wahren Schmerz über die Verkennung der Wahrheit von Seiten der Anhänger derselben«77. Ohne Umschweife erklärt er, die Versuchung zur Gleichmachung der Konfessionen rühre letztlich vom Schwinden des Glaubens her, und er fährt fort: »Wie jetzt geglaubt wird, glaubten auch die Heiden«. Dabei betont er, wo man nicht glaube, sei auch nicht an eine Vereinigung im Glauben zu denken, da sei lediglich an eine Vereinigung im Unglauben zu denken, diese aber brauche nicht herbeigeführt zu werden, weil sie ja schon da sei78. Das leuchtet an sich ein, wird aber oft nicht genügend bedacht.

Man hat verschiedentlich versucht, einen Generalnenner ausfindig zu machen, auf den man den katholisch-evangelischen Gegensatz bringen kann. In der Auseinandersetzung des katholischen Philosophen und Theologen Erich Przywara († 1972) und dem evangelisch-reformierten Theologen Karl Barth († 1968) kam man dabei auf das Gegensatzpaar der »analogia entis« und der »analogia fidei«. Johann Adam Möhler sah den Generalnenner in den verschiedenen Anthropologien hüben und drüben. Andere sprachen von dem Gegensatz von Wort und Sakrament, von Rechts- und Liebeskirche, von sapientalem und existentiellem oder auch von objektivem und subjektivem Denken79. In der Gegenwart ist man eher geneigt, im ökumenischen Gespräch die Differenzen im Glauben zu nivellieren. Entweder sagt man, sie seien nicht mehr kirchentrennend, oder man sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner und hält ihn mit Berufung auf das Zeitalter des Pluralismus für hinreichend im Hinblick auf eine Vereinigung der Getrennten.

Der Optimismus, dass die Einheit von Katholiken und Protestanten bereits in den wesentlichen Punkten vorhanden sei oder dass sie ziemlich leicht herbeigeführt werden könnte, wird auch durch das oberflächliche Studium der Konvergenzpapiere, die aus den offiziellen ökumenischen Gesprächen hervorgegangen sind, genährt. Es ist unbestreitbar, dass diese Papiere oftmals sehr optimistisch abgefasst sind und von daher falsche Hoffnungen nähren. So spricht etwa das Malta-Papier aus dem Jahre 1972, das unter dem Titel »Das Evangelium und die Kirchen« erarbeitet worden ist, von einem »weitgehenden Konsens in der Rechtfertigungsfrage«, der bei gewissenhafter Prüfung des Dokumentes so nicht erkennbar ist.

Ähnlich optimistisch äußert sich beinahe drei Jahrzehnte später die Gemeinsame Erklärung zur Frage der Rechtfertigung aus dem Jahre 1999. Schon bald nach diesem Datum stellt jedoch der Ökumene-Beauftragte der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands), der bayerische Landesbischof Friedrich, fest, die Praxis der Selig- und Heiligsprechung in der katholischen Kirche verletze die Vereinbarung von Augsburg, weil sie der Aussage widerspreche, dass die Rechtfertigung allein aus Gnade erfolge80.

In äußerst positiven Wendungen hinsichtlich der Gemeinsamkeiten in der Lehre ergehen sich auch andere Dokumente, wie z. B. das Dokument »Das Herrenmahl« aus dem Jahre 1978 oder das Dokument »Das geistliche Amt in der Kirche« aus dem Jahre 1981. Wenn man jedoch genauer hinschaut, sieht man, dass in diesen Dokumenten die bestehenden Unterschiede sauber herausgearbeitet worden sind, dass der Optimismus der Worte in der Sache weniger oder eigentlich überhaupt nicht fundiert ist.

 

Häufiger wird heute im Kontext der Ökumene festgestellt, die Trennung im Glauben sei in der Reformation nicht bis in die Wurzeln vorgedrungen, wenn man nicht gar behauptet, infolge des ökumenischen Gespräches gebe es heute eigentlich keine kirchentrennenden Glaubensunterschiede mehr. Da stellt sich die Frage, welche Glaubensunterschiede bestehen und was »kirchentrennend« bedeutet. Kein Geringerer als Karl Rahner († 1984) schreibt im Jahr 1980 im Theologischen Jahrbuch, den Kirchen sei der kirchentrennende Dissens abhanden gekommen, nur wüssten es die Kirchenleitungen noch nicht, die Theologen wüssten es auf jeden Fall schon lange81. Einige Jahre später, 1983, erklärt er in dem 100. Band der »Quaestiones Disputatae« unter dem Titel »Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit«, den er zusammen mit Heinrich Fries († 1998) herausgegeben hat, es sei die Einheit der Kirche nur in den Grundwahrheiten zu erreichen, aber dieser gemeinsame Nenner genüge völlig. Das sei zwar ein theologischer Minimalismus, aber im Zeitalter des Pluralismus gehe es nicht anders82. Gut vier Jahrzehnte zuvor hatte Hans Küng (* 1928) in seiner Dissertation bereits erklärt, die lutherische Rechtfertigungslehre sei kein Hindernis mehr für die Wiedervereinigung der getrennten Christenheit83. Selbst die katholische Ablasslehre und die katholische Lehre vom Bußsakrament halten manche heute für durchaus vereinbar mit der lutherischen Rechtfertigungslehre84.

Die Theologen streiten miteinander über die Frage, ob die eigentlichen Differenzen zwischen den Konfessionen in der Theorie gegeben sind oder in der Praxis. Die einen meinen, wir seien näher beieinander in der Theorie, die anderen meinen, die größere Nähe sei in der Praxis gegeben. Der evangelische Theologe Edmund Schlink († 1984), Konzilsbeobachter auf dem II. Vatikanischen Konzil85 meint, im Bereich des Gebetes und im Bereich der Verkündigung über Anthropologie, Soteriologie und Ekklesiologie sei man sich schon lange einig – also praktisch –, während man sich im Bereich der dogmatischen Aussagen noch darüber streite. Der evangelische Theologe Hans Asmussen († 1968) vertritt dagegen die entgegengesetzte Meinung, wenn er feststellt, die streitenden Parteien seien sich zur Zeit der Reformation in den theologischen Formulierungen näher gewesen als im Gebet und im Frömmigkeitsleben, das gelte zum Teil auch noch heute. Beides stimmt hier irgendwie. Manchmal ist die Einigung in der Theologie leichter als in der Praxis, manchmal aber ist es auch umgekehrt. Aufs Ganze gesehen dürfte das praktische Auseinander jedoch wohl das wichtigere Moment sein, deutet doch die Praxis besser an, was wirklich geglaubt wird und widersetzt sie sich doch eher der Schönfärberei.

Im Jahre 1530 kommt Martin Luther († 1546) in seiner »Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg«86, als die altgläubigen Theologen manche Formulierungen der Confessio Augustana für als katholisch vertretbar halten, auf die Diskrepanz zwischen Theologie und Praxis zu sprechen. Da stellt er fest, alles habe sich geändert, und fragt, ob man überhaupt noch dasselbe Verständnis von Gnade, Sünde, Geist, christlichem Leben und Buße haben könne, wenn das Messopfer, das Fegfeuer, die Seelenmessen, die Heiligenverehrung, der Zölibat, die Kirchen- und Altarweihen, das Ehesakrament, das Priestertum und die Firmung, die Beichte, die Genugtuung, die Fastenzeit, das Kruzifix, der Taufstein, die Monstranz, die Bilder, die Altartücher, die Chorhemden, die Messgewänder, die Prozessionen, das Chorgebet und das Ciborium, wenn all das in Wegfall gekommen sei87.

In der Tat kann man bei identischem Wortlaut gar Entgegengesetztes aussagen. Wenn zwei dasselbe sagen, ist es noch nicht unbedingt dasselbe. Bei Luther begegnet uns wiederholt die Feststellung »aequivocatio est mater omnis erroris«88. Von Äquivokation sprechen wir, wenn wir mit ein und demselben Wort zwei verschiedene Wirklichkeiten zum Ausdruck bringen.

 

 

14. Die Vertuschung von Abgründen in der Ökumene

 

In der Ökumene werden oft mit schönen Worten Abgründe vertuscht. Das merkt man, sobald man tiefer bohrt. Der protestantische Soziologe Gerhard Schmidtchen (* 1925) hat darauf hingewiesen, dass die »Bewusstseinsstrukturen« von Protestanten und Katholiken außerordentlich verschieden sind. In seinem Buch »Protestanten und Katholiken«89 und in seinem Aufsatz »Trägt die Konfession die Persönlichkeit?«90 hat er an vielen Beispielen aufgezeigt, wie sich die Verschiedenheit der Bewusstseinsstrukturen im Lebensstil und in der Lebensauffassung bei Protestanten und Katholiken verdeutlicht. Das gilt, wie er aufzeigt, sogar noch für jene, die keinen direkten Kontakt mehr mit ihrer Kirche haben bzw. aus ihr emigriert sind. Unter anderem stellt er fest, die Protestanten seien bereitwilliger als die Katholiken, alles Mögliche zu glauben, weil sie grundsätzlich nur wenig glauben müssten, sie seien politisch unzuverlässig und sie produzierten wegen ihrer unaufhörlichen Berufung auf die Autonomie des Gewissens immer neue Überzeugungen91.

Nachdrücklich hat auch Karl Barth auf den Unterschied der Denkstile und der Denkformen der evangelischen und der katholischen Theologie hingewiesen. In seinem Buch »Die Theologie und die Kirche« stellt er fest: »Darum, weil wir so anders, aliter, sehen, sehen wir dann auch wirklich anderes, alia« und »so kommt zu dem Streit über das quale hinzu der prinzipielle Streit über das quantum«92. Barth möchte den Unterschied in den Sachen, also in den Lehren und in den Glaubensaussagen, bereits in die verschiedenen Denkstile und Denkformen zurückverlegen93.

Den Grundstil des katholischen Denkens hat Karl Barth durch die »analogia entis« vorgebildet gesehen. Auf sie führt er alle Glaubensunterschiede zwischen Katholiken und Protestanten zurück94. Gemäß der »analogia entis« besteht eine Entsprechung zwischen Gott und der Welt, und zwar derart, dass alles Endliche in sich ein Abbild des Unendlichen trägt, weshalb der Menschengeist vom Endlichen zum Unendlichen aufsteigen kann. Da gilt das Gesetz, dass der Schöpfer den Geschöpfen seinen Stempel aufprägt. In der Konsequenz dieser Grundeinstellung kommt das katholische Denken nach Karl Barth zu einer Einheitsauffassung von Gott und Welt, in der sich der Mensch Gottes bemächtigt. Barth meint, die Konsequenz des Katholischen sei von daher ein selbstherrlicher Naturalismus, ein grundsätzlicher Rationalismus. In seiner kirchlichen Dogmatik schreibt er: »Ich halte die analogia entis für die Erfindung des Antichrist(en) und denke, dass man ihretwegen nicht katholisch werden kann«95. Der Vorwurf des selbstherrlichen Naturalismus und des grundsätzlichen Rationalismus ist nicht nur von Karl Barth gegen den Katholizismus erhoben worden, immer wieder hat der Protestantismus ihn sich zu eigen gemacht. Die Charakterisierung des Katholischen von der »analogia entis« her hat Karl Barth später abgewandelt oder auch ergänzt, wenn er dann am katholischen Denken kritisiert hat, dass es immer dem Prinzip des »sowohl – als auch« folge und dass es so stets eine Theologie des »und« treibe96. Diese Theologie des »und« oder des »sowohl als auch« hat er als die »Dialektik des Katholischen« bezeichnet. Was er meint, ist nicht die Dialektik – der Begriff ist hier nicht angemessen –, sondern die Polarität des Katholischen, denn die Gegensätzlichkeit bezieht sich im Katholischen nicht auf kontradiktorische Gegensätze, sondern auf konträre oder komplementäre. Dieses Problem wurde bereits thematisiert im Zusammenhang mit dem Synkretismus-Vorwurf97.

Es kann hier nicht darum gehen, die Gräben zwischen den Konfessionen zu vertiefen, vielmehr muss es hier darum gehen, dass das Unaufgebbare des Katholischen bewahrt wird. Der entscheidende Gesichtspunkt ist dabei die Treue zur Offenbarung Gottes, wie sie im Alten und im Neuen Testament ihren Niederschlag gefunden hat. Sie darf nicht einer pragmatischen Verständigung zum Opfer fallen. Es geht um den Dienst an der Wahrheit, die im Vergleich mit der Liebe den höheren Stellenwert hat, denn auch die Liebe ist wertlos, wenn sie nicht in der Wahrheit fundiert ist und im Geist der Wahrhaftigkeit gelebt wird. Dabei ist jede rechthaberische Siegesgewissheit zurückzuweisen. Diese ist im Zusammenhang mit der Religion ohnehin verfehlt. Da kann es nur Demut, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Freude geben, das Zeugnis für die Wahrheit und die Bitte an Gott, allen das Herz für die Wahrheit zu öffnen98. Zudem ist hier zu bedenken, dass Rechthaberei immer im Formalen verbleibt – ganz abgesehen davon, dass sie immer dem zentralen Liebesgebot entgegensteht – und sich nicht oder nicht mehr grundlegend an den Realitäten orientiert.

 

 

15. Versuch einer Symbolik

 

Was hier versucht werden soll, könnte man auch mit dem Terminus »Symbolik« kennzeichnen. Die Symbolik wurde im 19. Jahrhundert als eine eigene theologische Disziplin entwickelt. Heute spricht man statt von Symbolik für gewöhnlich von Konfessionskunde. Diese Konfessionskunde, die heute einen geringen Stellenwert hat im Reigen der theologischen Disziplinen, geht davon aus, dass das Christentum sozusagen unter den Händen zerrinnt, wenn es nicht konkret bzw. konfessionell oder kirchlich gefasst wird. Bereits diese Vorgabe macht sie unpopulär. Immerhin hat auch der evangelische Theologe Helmut Thielicke († 1986), der vor Jahrzehnten publizistisch stark hervorgetreten ist, darauf hingewiesen, dass ein »christianismus vagus« zu einem kontur- und substanzlosen Gedankengebilde wird, zu einem Sammelbegriff, der alles in sich vereinigt, von den Bibelforschern bis zum römischen Katholizismus«99.

Die evangelische Theologie war es, die am Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Symbolik begann. Sie wollte darin die spezifische Kirchlichkeit aus den eigenen Bekenntnisschriften erheben und lehrhaft begründen und so das Eigene auch abgrenzen gegenüber dem Spezifischen der anderen Konfessionen. Es waren nicht wenige protestantische Theologen, die im 19. Jahrhundert das Eigentümliche im Bekenntnis der Reformation herauszuarbeiten suchten. Nur drei Namen seien hier genannt für viele andere: David Friedrich Schleiermacher († 1834), Philipp Konrad Marheineke († 1846) und Ferdinand Christian Baur († 1860). In den verschiedenen protestantischen Entwürfen der Symbolik zeigte sich jedoch mehr und mehr ein Zug zum Relativismus, der weder der eigenen Konfession noch dem interkonfessionellen Anliegen dienen konnte. Diesem Mangel wollten katholische Theologen wie Johann Adam Möhler († 1838) und Franz Anton Staudenmaier († 1856) entgegentreten, weshalb sie ein anderes Konzept der Symbolik entwickelten. Sie wollten aber auch weniger die Details als die Grundideen hervorheben, weniger, als das in der protestantischen Symbolik der Fall war. Daher erklärt Möhler in seiner Symbolik: »Die einzelnen Sätze eines Lehrgebäudes müssen in ihrer gegenseitigen Verknüpfung und in ihrem organischen Zusammenhang dargestellt werden … immer müssen die Teile eines Systems in ihrer Stellung zum Ganzen angeschaut werden und auf die Grundidee, die alles beherrscht, bezogen werden«100. Für Möhler liegt das Prinzip des Gegensatzes im Vergleich der Konfessionen miteinander, besser: des Unterschiedes zwischen den Konfessionen, in der verschiedenartigen Auffassung über das Verhältnis des Menschlichen und Göttlichen, in der »Art und Weise, in der sich der gefallene Mensch mit Christus in Gemeinschaft setzen und der Früchte der Erlösung teilhaftig werden«101 kann. Als das entscheidende Prinzip des katholischen Systems versteht er demgemäß das »gottmenschliche Werk«, in dem sich »die göttliche und die menschliche Tätigkeit durchdringen«102. Im Gegensatz dazu sieht er die Wurzel der reformatorischen Glaubensauffassung in dem Grundsatz, »dass in den wahren Christen der göttliche Geist ohne menschliche Mitwirkung«103